Herbst von Parsaroth ================================================================================ Kapitel 1: Herbst ----------------- „Ich lege jetzt auf, Pa.“ Sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung und dann legt sein Sohn auf. Er hält den Hörer noch einen Augenblick lang am Ohr, horcht in die Stille, erwartet gleichermaßen jedes monotone Tuten, er fühlt sich nicht gestört davon; er hört, weil er froh ist, überhaupt zu hören. Der Stuhl knarzt, als er sich erhebt und einige Wirbel knacken, er hat längst nicht mehr die Kraft, sich nach dem Sitzen erholt zu fühlen, er ist langsam, steht. Die Uhr an der Wand tickt vor sich hin, er betrachtet das Wohnzimmer mit der angrenzenden Küche, den Flur, die aufgestellten Bilder, die längst vergangene Zeiten festhalten, es fällt graue Helligkeit durch die Fenster, er macht selten Licht, er sieht ohnehin nicht mehr so gut, manchmal ist ihm das Licht zu hell. Er läuft langsam, ohne Ziel, beschaut sich Dies und Jenes, hält sich an Nichts auf, denkt nichts Bestimmtes, es gibt ja Nichts mehr, mit dem er sich beschäftigen müsste. Die kleinen Kinderschritte auf dem Holzboden, das schallende Gelächter und nächtliche Weinen, die fröhliche, einen bis in den Schlaf verfolgende Musik, die aus der Küche dringenden Kochgeräusche, das Geplänkel der Tiere, die wutentbrannt zugeschlagenen Türen, das vertraute Beisammensein, all das gibt es in diesem Wohnzimmer nicht mehr, auch nicht in der Küche, nicht im Flur. Das Haus hat seine Sprache verloren, es schweigt, nur er hat diese Geräusche noch im Ohr, hat die Momente noch vor Augen. Er zögert kurz, ersetzt dann seine Hausschlappen durch die alten, einst guten Schuhe, greift langsam nach seinem Mantel, zieht ihn sich an, atmet von Zeit zu Zeit erschöpft auf, hustet, schweigt. Er braucht lange, für alles was er tut, braucht er lange, sein Sohn hat schon aufgelegt, noch bevor er diesem eine schöne Weihnachtszeit wünschen kann, wo ist seine Schnelligkeit hin, denkt er bei sich, wohin ist seine Jugend verschwunden und wann. Er tritt aus der Tür, kühle Herbstluft schlägt ihm entgegen, er verschließt das Haus, geht langsam, er hat es nicht mehr eilig, er kann ohnehin nicht mehr viel machen. Die Straße in der das Haus steht ist ruhig, einzelne Blätter fallen mit einem Windzug hinunter auf den Asphalt, es ist feucht, er fröstelt. Ihm kommt der Gedanke, wie viele Herbsttage er schon verlebt hat, wie oft er noch auf den Frühling warten wird; er weiß die Antwort nicht, es kümmert ihn auch nicht sonderlich. Er läuft vor sich hin, eine Melodie hat sich in seinen Gedanken festgesetzt, er summt sie leise vor sich hin, seine Stimme klingt kratzig und beinahe unbenutzt, er denkt nicht darüber nach, dass sie nicht fröhlich klingt. In der Ferne ertönen warnende Sirenen, eine Katze überquert unbeeindruckt dessen die Straße, sie hat nichts zu befürchten, hier ist niemand außer ihm und er ist zu alt, um irgendetwas zu tun außer zu gehen, während der Wind seine dünnen und ergrauten Haare umspielt. Eine Mütze hätte er mitnehmen sollen, denkt er sich, und verharrt kurze Zeit später, weil ihm einfällt, dass er die Mütze in der Manteltasche mit sich herum trägt. Früher hat er nie Kopfbedeckungen gebraucht, sein Kopf, seine Hitzköpfigkeit wärmte ihn selbst, er ist länger nicht mehr draußen gewesen, der Herbst wird bald zum Winter werden, er bekommt Vieles nicht mehr mit. Seine faltige Hand öffnet eine Pforte, er ist wie selbstverständlich hierher gekommen, wohin soll er auch sonst gehen, kein Ort ist passender für einen alten Mann wie ihn, vielleicht wird er morgen ebenfalls hier eintreffen, wer kann das schon wissen, er weiß es nicht. Die Blumen welken bereits, er beschaut sich die unterschiedlichen Farben und das immer wiederkehrende Braun, er sieht nicht mehr oft in den Spiegel, und wenn er es tut, ist das Braun seiner Augen längst glanzlos. Seine Schritte führen ihn an Beeten und Steinen vorbei, es ist still, er geht langsam, gemächlich, er weiß, wohin er geht, niemanden sonst kann er ausmachen, aber das soll nichts heißen, seine Augen sind längst unscharf und er ebenso. Er hält vor einem großen Stein, die Kälte hat sich längst in seinen alten Gliedern festgesetzt, er hustet müde und bekommt keine Antwort darauf, der Stein schweigt, Steine antworten nie, und auch die Worte und Ziffern starren ihm stumm entgegen. Sein Blick streift jeden Buchstaben, er hat die kalten Hände in den Manteltaschen, der Wind ist nicht Schuld daran, dass er friert, die Kerze auf dem Stein leuchtet schon seit Jahren nicht mehr, vielleicht schon nicht mehr seit Jahrzehnten. Zuletzt ist er hier gewesen, als man einen anderen Menschen verabschiedet hat, er hat sich damals nicht lange hier aufgehalten, er wird es auch heute nicht tun, bald muss er sich ohnehin wieder setzen. Er weiß nicht, weshalb es ihn hierher verschlägt, weshalb er hierher kommt, weshalb er genau hier steht und das, seit es diesen Platz gibt. Vielleicht, weil an diesem Ort Stillstand herrscht, weil sich nichts verändert, weil es ihn beruhigt, zu wissen, dass es irgendwann endet und man selbst auch. Vielleicht, weil er sich hier an früher zurückerinnern kann, als er ganz anders war, als Alles ganz anders war und man sich auf den nächsten Tag gefreut hat, früher, damals, als er nicht einmal vorhatte, überhaupt so alt zu werden, ebenso wenig, wie Derjenige, dem dieser Platz zugedacht ist. Sie sind immer ganz unterschiedlich gewesen, haben immer verschiedene Entscheidungen getroffen, oder haben mehr Mut gehabt als der Andere, haben mehr Licht gesehen und mehr Wärme gefühlt. Der Ort ist kalt und er friert, während er, wie jedes Mal, wenn er hier ist, darüber nachdenkt, was ein Mensch, der sein Leben lang gefroren hat, in seinen letzten Stunden tut. Seto Kaiba ist nicht alt geworden. Er ist beinahe unverändert gegangen; vielleicht, überlegt er, vielleicht hat er sich nicht vorstellen können, sich zu verändern, obgleich er nach wie vor gefroren hätte. Er hat niemals verloren, hat stets darauf geachtet, diesen Schein zu wahren, und hat letztendlich doch aufgegeben, und er weiß noch, dass er das Gefühl gehabt hatte, zu fallen, als er davon hörte, damals, als er selbst noch nicht alt war und sein Leben erst anfing. Jetzt, das hat er schon vor einiger Zeit festgestellt, jetzt kann er Kaibas Entscheidung verstehen, und trotzdem wird er weiterhin anders sein. Er kann nicht mehr zurück, also wird er weiter gehen, das hat er immer getan, das hat er sich für Andere immer gewünscht, auch für Kaiba. Dennoch muss er zugeben, obgleich ihn auch nie jemand danach fragt, dass er Kaiba für den Umstand dankbar ist, dass dieser in seiner Erinnerung nach wie vor unverändert ist, dass er niemals ein anderes Bild als das scheinbar Perfekte ermöglicht hat. Er weiß, dass diese Gedanken abstrus sind, aber niemand sonst hört sie ja, also darf er sie ruhig denken, es liegt so viele Jahrzehnte zurück, vielleicht kümmert es auch niemanden mehr. Ihn aber beschäftigt Kaiba immer noch, das ist der Grund, weshalb er herkommt und sich wünscht, dass Kaiba in seinen letzten Stunden nicht gefroren hat, so wie er es gerade tut, während er vor dessen Grabstein steht und sich an die Zeiten zurückerinnert, in denen er einfach nur ein Junge war und kein alter Mann, derer es so viele gibt und von denen so viele längst schweigen. Er denkt daran, dass er als junger Mensch so viele Stunden mit unsinnigen Dingen verbracht hat, dass ihm so Vieles ein Rätsel war und das er auch jetzt nicht Alles weiß, und er denkt daran, dass es manchen Menschen widerfährt, dass sie in solchen Augenblicken, wie dem Seinigen hier, Zeuge eines wundersamen Moments werden, von dem sie dann annehmen, er sei nur für sie passiert. Joseph Jay Wheeler geschieht nichts dergleichen. Er betrachtet noch eine Weile das Grab, dann geht er weiter. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)