Das Wunder des Lebens von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 22: Wort- und zahnlos ----------------------------- XXII. Wort- und zahnlos Fast ein ganzes Jahr war vergangen, seitdem er das letzte Mal hier gewesen war. Und eigentlich spielte es auch keine Rolle, ob hier oder anderswo, dieser Ort hatte nichts zu bedeuten, diente er doch nur den Bedürfnissen derer, die gedachten. Wie auch beim letzten Mal schien der Ort vor tierischem Leben zu strotzen, Eichhörnchen sprangen wagemutig durch die Kronen der Bäume, Vögel trillerten und stritten sich, Bienen waren emsig unterwegs, um den Nektar der Blüten des Grabbewuches zu sammeln. Die Petersons hatten sich alle Mühe gegeben, eine üppige Hecke fasste die Grabstätte ein, frische Schnittblumen standen vor dem Stein. Aber da war nur noch der Name, die Daten und irgendwo dort unten das, was der Sturz und die Zeit von ihrem Körper übrig gelassen hatten. Sie war fort. Warum war er hier? Er könnte dies doch überall, zu Hause oder bei der Arbeit… aber nein. Nicht in der Welt der Lebenden. Dieser Ort hier… er gehörte nicht dazu. Er blieb stehen und starrte herab. Er versuchte es. „Hi Lindz“, dachte er, „ein hübsches Plätzchen hast du dir hier ausgesucht.“ Okay, das war jetzt vielleicht doch nicht so gelungen. Lindsay könnte vermutungsweise auf dieses „hübsche Plätzchen“ gut verzichten, wäre lieber daheim bei ihrer Frau und ihren Kindern. Aber davon war nichts mehr übrig. Der Hausstand war lang schon aufgelöst. Die Kinder waren Teil zweier verschiedener Familien, sahen sich zwar noch regelmäßig, wie das Testament es wollte, doch ihre Beziehung war kaum die zweier Geschwister, die gemeinsam aufwuchsen. So war es eben. Dafür hatte Jenny Hunter und Gus Lilly. „Tja…“, dachte er. „Wie du siehst, habe ich keineswegs derart versagt, wie Mel das wahrscheinlich orakelt hat. Was hat sie eigentlich dazu gesagt, als du die Verfügung zu meinen und Justins Gunsten ins Testament gesetzt hast? Oder war das mit Justin ihre Idee, damit mir jemand auf die Finger haut? Wie auch immer… Gus geht es gut, obwohl er dich… euch… vermisst. Er geht jetzt zur Schule. Kommt im Alphabet schon bis „J“ – nicht übel, was? Mit dem Rechnen geht es auch voran – leider. Du hättest ihm echt beizeiten beibringen können, dass Qualität ihren Preis hat! Immer nur diese scheiß ethischen Werte… Warum nicht auch was Sinnvolles?“ Brian beugte sich herab und setzte sich auf einen nahen Stein. Die Sonne blendete ihn durch die Blätter der Bäume. „Und was sonst so? Ich hab‘ geheiratet, nun doch. Aber das weißt du wahrscheinlich schon, oder? Und es ist gar nicht so grauenvoll. Liegt wahrscheinlich daran, dass Justin ficken kann wie ein Karnickel. Was meinst du…? Nun werde mal nicht sentimental… Okay, ich geb’s zu… Aber reit gefälligst nicht drauf rum! Und außerdem… Ich bin nochmal Vater geworden, verrückt, nicht wahr? Ja, echt verrückt… Sie heißt Lilly… Wusstest du, dass Babys nicht nur schlafen, fressen, einnässen und brüllen können, sondern auch lächeln? Ja wusstest du. Hast du ja bei Gus gesehen. Ja, verdammt… Dachte immer, jeder soll sich gefälligst um sich selbst kümmern und nicht anderen die Verantwortung aufdrücken. Das haut bei Gus und Lilly aber nicht hin… Ich meine, die würden doch verhungern oder so ohne mich…?“ Er hielt eine Weile inne. Im Ast über ihm saß eine Meise, die ihn aus irgendwelchen Gründen wüst beschimpfte. Schließlich folgte er seinem Gedankenfluss weiter. „Das ist es wohl mehr oder weniger… Schon alles sehr merkwürdig, hätte ich nie gedacht… Aber schon okay. Hab immer gedacht, das sei langweilig. Ist es aber nicht, nicht… so. Justin hat vorgestern Bilder von mir gemacht… Ich musste nackt und mit Öl beschmiert über einen Riesenhaufen Äste und Stämme kriechen, die aussahen, als hätte Gott bei der Schöpfung gesoffen, ich glaube, ich habe immer noch Späne im Arsch… Wozu? Mal sehen. Aber sowas meine ich. Nicht langweilig. Hab auch keine Zeit, mich zu langweilen, ist ja immer was. Wie auch immer. Ich wollte nur… Also Gus geht es gut, du musst dir keine Sorgen machen, okay? Ich… wir… bekommen das hin. Er wird nicht so verkorkst enden wie ich, kannst du Mel ausrichten. Naja… Ich muss dann Mal wieder…“ Er stand auf und klopfte sich den leicht lädierten Hintern ab. „Danke für alles, Lindz“, sagte er laut und ging davon. …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… „Justin!“ „Ja…?“ Gus hatte ihn am Ellenbogen gepackt. Justin war dabei gewesen, das mittlerweile Mal wieder recht chaotische Atelier aufzuräumen, während er über sein neustes Projekt sinnierte. Gus hatte am Tapeziertisch am Fenster gesessen und seine Schreibübungen gemacht. So konnten Stunden vergehen, Gus ließ nicht locker, bis alles absolut zu seiner Zufriedenheit war, selbst Spongebob führte ihn da nicht in Versuchung. Erstaunlich. Sowas schien also durchaus erblich zu sein. Jetzt stand der kleine Junge hinter ihm, und zupfte etwas käsig um die Nase an ihm. „Was ist denn, Gus?“ fragte Justin und wandte ihm seine volle Aufmerksamkeit zu. „Mein Zahn!“ brachte Gus hervor, riss den Mund auf und zeigte auf seinen linken Eckzahn. „Was ist denn damit?“ Justin beugte sich zu ihm herunter. „Er wackelt! Er fällt aus! Ich muss zum Zahnarzt!“ quetschte Gus leicht panisch hervor. Justin kniete sich nieder, spähte in Gus‘ weit aufgerissenen Mund und tickte dann mit dem Zeigefinger den Übeltäter an. „Auuu! Justin!“ fuhr Gus empört auf. „Gus… Du musst dich nicht aufregen. Das ist nur ein Wackelzahn“, beruhigte ihn Justin. „Wackelzahn?! Mein Zahn soll damit aufhören! Er soll nicht wackeln! Sonst fällt er noch aus! Dann seh‘ ich aus wie Oma Nathalie ohne Gebiss!“ Gus war kurz davor zu heulen. „Gus, ganz ruhig, okay? Es ist alles in Ordnung. Das ist bei allen Kindern so… Die Zähne, die du im Mund hast, sind noch nicht deine richtigen… Das sind Milchzähne, Kinderzähne… die fallen aus, wenn man größer wird, wenn man ein Schulkind ist“, erklärte Justin so ernsthaft wie möglich, obwohl der Anflug von Panik um sein Äußeres Gus ein wenig arg nach seinem Vater aussehen ließ. So würde das also aussehen, wenn Brian sich nicht zusammen risse… Justin verkniff sich ein Lachen. „Und was dann? Fallen die jetzt alle aus?“ schniefte Gus. „Ja – aber nicht alle gleichzeitig! Dann hast du erst mal Zahnlücken, aber dann kommen deine richtigen, deine Erwachsenenzähne“, fuhr Justin duldsam fort. „Zahnlücke? Wie lange?“ wollte Gus wissen. „Nicht lange, keine Angst. Und dann hast du richtige Zähne wie Papa und ich, das ist doch toll!“ „Ja…“, antwortete Gus wenig überzeugt. „Aber es tut voll weh!“ „Das ist nur das Zahnfleisch, das drückt ein wenig, aber das ist nicht so schlimm – oder hältst du es nicht aus?“ hakte Justin geschickt nach. „Klar, halte ich das aus!“ erwiderte Gus würdevoll. „Sicher, du bist ja ein tapferer Junge. Das weiß die Zahnfee zu schätzen“, lächelte Justin. „Zahnfee?“ wollte Gus interessiert wissen. „Ja… Sie bringt Kindern, denen ein Wackelzahn ausgefallen ist und die ganz tapfer waren, Geschenke, wenn man abends den heraus gefallenen Zahn unters Kopfkissen legt…“ „Was denn so?“ „Alles Mögliche… Kleinigkeiten nur - für jeden Zahn…“ „Zum Beispiel den Anakin Skywalker für Lego?“ „Zum Beispiel.“ „Gut“, sagte Gus, fasste sich an den Zahn und begann zu zerren. Justin schnappte nach ihm, zumindest versuchte er es, doch Gus nahm Reißaus. „Halt Gus! Doch nicht so! Du musst warten, bis er von alleine…“ „Aua!!!“ „Lass den Zahn los, Gus! Der wird noch von selbst lockerer! Komm her, du!!!“ Justin raste hinter ihm her, kam aber über einem offen stehenden Farbeimer ins Straucheln. Die grüne Farbe spritzte über den Boden und über seine Unterschenkel. Er kam ins Rutschen. „Gus! Lass das! Gus!“ „Auuuu!“ „Gus! Gus! Lass den Zahn los! Gus!!!“ Doch Gus war nicht mehr zu halten. Er schaffte es, gleichzeitig über Justins bekleckerte Misere zu lachen, als auch über den Schmerz in seinem Kiefer zu heulen. Aber er ließ nicht locker. „Gus! Hör auf!!! Das eilt doch nicht! Ist doch egal, ob die Zahnfee heute oder Morgen oder Übermorgen…“ Mit einem letzten leisen Aufjaulen kam Gus zum Erfolg. Tränen liefen über sein Gesicht. Zugleich grinste er stolz, seine Beute zwischen den Fingern triumphierend hoch haltend. Aus seinem Mundwinkel sickerte ein feiner Blutfaden. „Zahnfee naja…“, brachte er hervor, „aber ich bin tapfer! Und ich warte nicht, bis der blöde Zahn das macht, ich mache das!“ Justin schnappte sich einen Lappen und schaffte es endlich, zu ihm zu gelangen. Er begann den nun wieder artig still haltenden Jungen notdürftig abzutupfen. „Gus, das ist doch… Jetzt hast du dir weh getan, das musste doch nicht sein!“ schimpfte er. „Nicht so schlimm“, erwiderte Gus, obwohl er immer noch heulte. „Ich habe das gemacht! Nicht der blöde Zahn!“ Justin biss die Zähne zusammen. Meist war Gus ja sehr pflegeleicht. Oder es fiel ihm einfach nicht so auf, weil er ja Brian gewohnt war. Wie hieß es so schön? Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Aber immerhin ließ es sich Gus widerspruchslos gefallen, von ihm geputzt und verarztet zu werden, da war Brian schon ein schwierigerer Fall. Nachdem er Gus wieder einigermaßen zusammen geflickt hatte und den Milchzahn sicher gestellt hatte, widmete er sich Lilly, die den ganzen Trubel sauber ignoriert hatte. Gus dampfte mit stolz geschwellter Brust in sein Zimmer ab, um sich dort nach getaner Arbeit den angenehmen Dingen des Lebens zu widmen. Justin putzte die Sauerei im Atelier einigermaßen auf, dann griff er zum Telefon. „Hallo Justin…?“ „Hallo… spreche ich mit der Zahnfee?“ „Du sollst doch in Gegenwart der Kinder keine kleinen bunten Pillchen einschmeißen.“ „Als würde ich sowas tun! Ist auch gar nicht nötig, da die Brut mich auch so an die Grenzen des Seins zu befördern in der Lage ist.“ „Was ist los?“ „Oh, Gus hat Mal wieder das Schicksal in die Hand genommen.“ „Braver Junge.“ „Ja, ganz genau… Wie auch immer, besorge bitte auf dem Rückweg den Lego Anakin-Skywalker.“ „So schlimm ist es schon? Also wenn du Interesse an einem wahrhaft endzeitlichen Lichtschwerter-Duell hast, dann…“ „Ahh… obwohl? Naja, nein, Gus erwartet Besuch von der Zahnfee!“ „Wie das? Hat er einen Wackelzahn? Seit wann denn das?“ „Seit vor zwei Stunden. Und der richtige Terminus ist „hatte“.“ „So schnell geht das?“ „Wenn man dran zerrt, dass das Blut nur so spritzt, dann ja.“ „Geht es Gus gut?“ „Ja… Der platzt vor Stolz über seinen Sieg. Aber frag mal nach mir…“ „Ach was, du kannst das ab.“ „Dein Vertrauen rührt mich…“ „Anakin Skywalker?“ „Ja.“ „Der sieht scharf aus in dieser Ledermontur.“ „Das ist Darth Vader.“ „Ist das nicht derselbe?“ „Ja, schon. Willst du jetzt über Star Wars diskutieren?“ „Nicht wirklich, obwohl Zen-Ben wahrscheinlich einen ziemlich interessanten Vortrag über den homoerotischen Subtext des Ganzen zu bieten hätte.“ „Nur weil unsereins bei allem, was länger als breit ist, an einen Schwanz denkt?“ „Ich liebe deine scharfsinnigen Analysen postmoderner Unterhaltungsmedien.“ „Aber das mit den Laserschwertern…“ „Ich weiß, du Sau.“ „Mmm… ja, gib mir Kosenamen!“ „Dazu bin ich nicht betrunken genug. Ich besorg dann mal den verkappt schwulen Lego-Knilch mit seiner leuchtenden Schwanzattrappe. Reicht das, oder hat Gus überhaupt keine Zähne mehr im Rachen, wenn ich nach Hause komme?“ „Ich garantiere für gar nichts.“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Gus schlummerte bereits seit einer Stunde selig, den herausgefallen wordenen Milchzahn unter dem Kissen. Im Garten war es dunkel, nur das gelegentliche Glimmen der Zigarette verriet, dass Brian am Rande des Pools saß. Leise trat Justin zu ihm. Brian drehte sich nicht um, bot ihm lediglich mit ausgestrecktem Arm einen Zug an. Justin nahm die Zigarette aus Brians Fingern und setzte sich neben ihn. Er tat es Brian gleich, indem er seine Jeans ein Stück hoch krempelte und die Füße im von der Tagessonne aufgeheizten Pool versenkte. Stumm reichten sie die Zigarette hin und her, bis sie runter gebrannt war. Brian löschte sie im Pool und legte den Stummel neben sich auf den Beckenrand. „Heute vor einem Jahr ist es passiert“, brach Justin schließlich leise ihr Schweigen. „Ich weiß“, antwortete Brian nur. „Wir haben es hin bekommen.“ „Haben wir wohl, ja.“ „Ich denke immer daran, wenn… Gus erster Milchzahn, das hätten sie bestimmt gerne…“ „Haben sie aber nicht. Hör auf damit.“ „Schon gut…“ „Das hier darf ich wohl bald nicht mehr machen.“ „Was?“ „Kippen rumliegen lassen.“ „Wie kommst du denn jetzt darauf?“ „Habe ich heute im Internet gelesen. Sobald Lilly anfängt zu krabbeln, steckt sie sich alles ins Maul. Ganz wie du.“ „Ich bin da inzwischen wählerischer geworden.“ „Mit dem Alter kommt wahrscheinlich der Sinn für Qualität.“ „Soll ich’s dir beweisen?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)