Das Wunder des Lebens von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 20: Schulkind --------------------- XX. Schulkind Gus Herz klopfte schnell in seiner Brust. Ein Teil von ihm wollte auf dem Absatz kehrt machen und zurück zu seinen Vätern rennen, sich hochheben und nach Hause tragen lassen. Ein anderer Teil wollte voran, alles sehen, den Klassenraum, die Lehrerin, die anderen Kinder. Er wand den Kopf. Sein Vater lächelte ihm vom anderen Ende der Halle aufmunternd zu, Justin tat es ihm nach. Oma Nathalie, Opa Russel und Oma Joan waren auch da. Sie hatten sich zusammen die Begrüßungsveranstaltung für die neuen Schüler angesehen, da war geredet worden und Kinder hatten gesungen und Musik gemacht. Papa und Justin würden auch noch da sein, wenn er hier fertig sein würde, das hatten sie versprochen. Aber wäre es nicht besser, ganz sicher zu gehen? Da zu bleiben, damit sie ganz gewiss nicht verschwänden wie Mama und Mama? Dann würden sie enttäuscht sein. Sie wollten ja, dass er zur Schule ging, Sachen lernte wie Lesen und Schreiben und Rechnen. Und er wollte das ja auch alles lernen. Zeichnen und Malen und Dinge Bauen konnte er ja schon ganz gut. Und Fußball spielen. Ob die anderen Kinder auch schon Sachen konnten? Besser als er? Vielleicht… aber ganz bestimmt nicht Fußball spielen. Er drehte sich nach wieder nach vorne. Der komische Ranzen, den Papa gekauft hatte – der aus doofem Leder statt Spongebob –fühlte sich merkwürdig auf seinem Rücken an. Aber es war ein richtiger Schulranzen. Und er war jetzt ein richtiges Schulkind, nicht klein wie Jenny und Lilly. Und er trug eine richtige Schuluniform wie die anderen Kinder hier ja auch. Nein, er durfte nicht heulend weglaufen wie ein Baby. Sie würden später da sein, wie sie versprochen hatten. Ganz sicher. Er musste jetzt zur Schule gehen. Er lief mit den anderen Kindern, die in seine Klasse gehen sollten, hinter der Lehrerin her. Sie hatte rote Haare, die sie mit bunten Zopfgummis und Klammern zusammen gebunden hatte. Und sie hatte Sommersprossen. Das sah lustig aus. Ob sie nett war? Ob sie ihnen heute schon etwas beibrachte? Und was? Ein bisschen Lesen vielleicht? Das könnte er dann nachher Papa und Justin zeigen, das wäre gut. Die Schule war ganz schön groß. Überall waren große Räume, Klassenzimmer, und es war voller Kinder, die meisten waren älter als er. Aber er war ja auch erst in der ersten Klasse. In die 1 c solle er gehen, hatte die Schulleiterin gesagt. „C“ war ein Buchstabe. Es gab noch mehr erste Klassen. Ob die 1 c eine gute Klasse war? Er stolperte beinahe, weil er so in Gedanken war, als der Tross, der hinter der Lehrerin her marschierte, zum Halten kam. Gus stand ziemlich weit hinten, aber das machte nichts, weil er größer als die anderen Kinder war. Er konnte auch von hinten gut sehen. „So, Kinder“, sagte die Lehrerin und lächelte. „Das hier ist euer Klassenraum. Der mit der gelben Blume an der Tür, seht ihr? Da müsst ihr jetzt jeden Morgen hin. Wollen wir hinein gehen?“ Gus schloss sich dem allgemeinen Jaaaaa! an. Die Lehrerin machte die Tür auf und schob sie einen nach dem anderen hinein, damit sie sich in ihrem Eifer nicht gegenseitig über den Haufen rannten. Mit großen Augen schaute sich Gus um. Das waren richtige Schultische und Stühle wie bei Spongebob in der Fahrschule. Vorne war eine Tafel. An den Fenstern hingen Bilder aus Transparentpapier. Justin könnte das viel besser. Wo sollte er hin? Hilfesuchend sah er sich um. Die Lehrerin brachte jeden zu seinem oder ihren Platz. Gus setzte sie in die letzte Reihe. Klar. Er war ja der Größte, sonst könnten die hinter ihm nichts sehen. Als jeder saß, ging sie nach vorne, lächelte und läutete mit einer kleinen Glocke, während sie mit dem Finger auf den Lippen zeigte, dass sie still sein sollten. Gus hielt die Luft an. Einige andere Kinder redeten immer noch. Diese Doofköppe! Sie sollten ruhig sein, sahen die das denn nicht? „Pssst!“ machte Gus bestimmt. Na bitte, ging doch. Der Junge, der als letzter geredet hatte, drehte sich zu ihm um und starrte ihn mit offenem Mund an. Selber schuld, dachte Gus, du hast geredet, nicht ich. „Guten Morgen Kinder“, sagte die Lehrerin. „Ich bin eure Lehrerin. Ich heiße Mrs. Springrose.“ Einige Kinder lachten vergnügt über den Namen. „Jeden Tag, wenn ich in den Klassenraum komme, sagen wir uns erst einmal guten Morgen. Das wollen wir jetzt einmal üben. Steht bitte alle einmal auf und stellt euch hinter euren Stuhl, so wie ich das euch gerade vor mache. Und dabei sind wir alle ganz leise. So ist es gut.“ Gus stand in Sekundenschnelle. Von hier hinten hatte er einen guten Überblick. Mann, waren die anderen lahm… Sie übten es ein paar Mal. „Guten Morgen, liebe Kinder!“ – „Guten Morgen, Mrs. Springrose!“… Jajaja, er hatte es verstanden, ging es jetzt weiter? Als nächstes war das Melden dran. Alles klar. Bücher auspacken. Federtasche auspacken. Das war leicht. Ging es jetzt los mit dem Lernen? „Prima“, lobte Mrs. Springrose, „jetzt wisst ihr schon einiges von den Dingen, die ihr jeden Tag brauchen werdet. Jetzt wollen wir uns ein wenig kennenlernen. Ihr wisst ja schon meinen Namen, aber ich kenne eure ja gar nicht. Und danach gehen wir durch die Schule, damit ihr lernt, wo ihr was findet, die Sporthalle zum Beispiel.“ Sporthalle, das war gut. Sportunterricht brachte bestimmt Spaß. Er musterte seine Mitschüler neugierig. Wer wollte von ihnen sein Freund sein? Eigentlich hatte er ja bisher ja gar keine Freunde. Manchmal spielte er mit Jack, aber das zählte nicht richtig, weil Jack ja sein Cousin war. Der musste ja sein Freund sein. „Ich heiße Adelaide Springrose. Meine Mama und mein Papa sind auch Lehrer, genau wie ich. Ich mag gerne lesen, tanzen und kochen. Und du?“ Das kleine Mädchen in der ersten Reihe begriff sofort. Sie war die kleinste der Klasse, trug eine riesige Brille und hatte zwei etwas schief sitzende Pferdeschwänze. „Ich heiße Georgia Carlson. Meine Mama ist Biologin und mein Papa ist Zahnarzt. Ich mag gerne Spongebob im Fernsehen sehen, schwimmen und mit meinem Hund Carl spielen, der heißt wie mein Opa.“ „Ich heiße Felix Yates. Meine Mama hat einen Laden für Unterwäsche, mein Papa ist Pilot und meine Stiefmamas sind Stewardessen. Ich mag gerne essen, schlafen und Fernsehen“, sagte ein pummeliger Junge mit leichtem Silberblick. Gus war kurz dankbar, dass ihm Papa und Justin die Nougatcreme rationiert hatten. „Ich heiße Emilie Stern. Meine Mama ist Ärztin und mein Papa hat sich scheiden lassen. Ich glaube er ist Versager von Beruf? Ich mag gerne meine Bilderbücher, im Garten im Sandkasten spielen und Blockflöte spielen.“ Ein dürres Mädchen mit langem strähnigen Haar in einem dunklen Blond und einer spitzen Nase. „Ich heiße Jim II. Stockwell Junior. Meine Mama ist Mama und mein Papa ist Polizist oder Politiker oder so. Ich mag gerne Fußball spielen, mit Papa angeln gehen und mit meinen Geschwistern spielen“, sagte der Junge, der vorhin geredet hatte. Fußball? Super, dachte Gus. Der war gut. Aber Georgia mochte Spongebob, das war auch gut. Das würde er klären müssen. Er war dran. Er fühlte ein leichtes Lampenfieber. „Ich heiße Gus Taylor-Kinney. Mein einer Papa ist Werbekaufmann und der Chef. Mein anderer Papa ist Künstler. Ich mag auch gerne Fußball spielen, Spongebob und meine Meerschweinchen, Ted und Emmet.“ „Du hast zwei Papas?“ quatschte Jim dazwischen. „Du musst dich melden“, erwiderte Gus. Jim meldete sich wie wild. „So ist es gut, Jim“, lobte Mrs. Springrose. „Wenn ihr eine Frage habt, dann immer schön melden. Ja, Jim?“ „Warum hat Gus zwei Papas?“ „Magst du darauf antworten, Gus?“ „Ich weiß nicht… Felix hat ja auch mehrere Mamas?“ Das leuchtete allen ein. „Was ist denn mit deiner Mama?“ „Ich hatte zwei Mamas. Aber sie sind tot...“ „Oh! Das ist ja doof!“ meinte Jim. „Dann ist es ja gut, dass du trotzdem noch zwei Papas übrig hast.“ „Ja, stimmt“, befand Gus. Die Vorstellungsrunde wurde beendet. Es waren außer Gus noch neunzehn andere Kinder in der Klasse, elf Mädchen, der Rest Jungen. Mrs. Springrose ordnete sie an, dass sie immer zu zweit Hand in Hand in einer Schlange hinter ihr her marschieren konnten, während sie ihnen die Schule zeigte. Gus schob sich neben Jim. „Du magst auch Fußball?“ „Ja. Du auch?“ „Ja. Total. Ich spiele sogar im Verein, und mein Papa übt immer ganz viel mit mir. Er war früher auch ganz toll im Fußball“, erzählte Gus stolz. „Toll“, meinte Jim. „Mein Papa übt auch mit mir oder mein großer Bruder.“ „Wie heißt dein Bruder?“ „Auch Jim. Und mein Vater auch.“ „Das ist komisch.“ „Finde ich auch. Aber mein Opa hieß auch Jim. Irgendwie heißen bei uns alle immer Jim. Deswegen nennen mich auch alle Jimmy, damit man uns auseinander halten kann. Du darfst mich auch Jimmy nennen.“ „Okay.“ „Wir könnten ja Freunde sein, oder?“ „Ja, das ist gut“, meinte Gus und nahm Jimmys Hand, um der Kolonne hinter Mrs. Springrose her zu folgen. Die Zeit verging wie im Fluge, Gus Kopf schwirrte. Die Cafeteria, die Musikzimmer, die Kunstzimmer, die Pausenhalle, der Pausenhof, die Sporthalle, der Sportplatz… Mann, war das viel… bloß nicht verirren… Aber er konnte ja auch andere Kinder fragen, wenn er den Weg nicht wusste? Jimmy an seiner Hand schien es nicht besser zu gehen. Zurück im Klassenzimmer verteilte Mrs. Springrose einen Haufen Zettel, die sie ihren Eltern geben sollten. Da war auch der Stundenplan dabei. Sie hatten Englisch, Mathe, Sachkunde (was war das denn? Papa fragen…), Kunst, Musik und Sport, erklärte die Lehrerin. Ganz schön viel. Aber er musste ja auch ganz viel lernen. Am Schluss half Ihnen Mrs. Springrose in ihre Tornister. Georgia hat den Spongebob-Ranzen… Aber dafür hatte er den Füller. „Gehst du jetzt zu deinem Papa und deiner Mama?“ fragte Gus Jimmy, während sie wieder zurück in die Eingangshalle geführt wurden. „Mein Papa musste arbeiten und meine Mama ist im Krankenhaus, weil sie auf Jims Rollschuhen ausgerutscht ist und sich ein Bein gebrochen hat. Ich bin mit meiner Oma hier.“ „Ach so. Meine Omas waren auch hier, aber nicht alle.“ „Wie viele Omas hast du denn?“ „Oma Nathalie, Oma Joan und Oma Jennifer.“ „Und Opas?“ „Opa Russel und Opa Craig.“ „Dann bekommst du bestimmt immer ganz viele Geschenke zum Geburtstag?“ „Ja… Aber auch, weil Papa so gerne einkaufen geht. Er kauft immer viel zu viel.“ „Mein Papa mag kein Einkaufen.“ „Dafür mag mein Papa – der eine – immer nichts essen, weil er nicht dick werden will.“ „Das ist bei meiner Mama auch so. Und dann nimmt sie mir die Schokolade weg, damit ich auch nicht dick werde.“ „Ja. Das macht mein einer Papa auch immer.“ „Und der andere?“ „Der isst die Schokolade dann auf.“ „Das ist ja gemein! Ist er dann dick?“ „Nein.“ „Dann stimmt das ja gar nicht, dass man von Schokolade dick wird!“ „Papa sagt immer, dass Justin – das ist mein anderer Papa – ein Fass ohne Boden ist, das auch von einem Tanklastzug Walfischspeck nicht zunimmt.“ „Ihhh… echt?“ „Weiß ich nicht. Bisher hat Justin noch nie Walfischspeck gegessen, glaube ich. Aber irgendwie wird er nicht dicker.“ „Das ist ja ungerecht.“ „Ja, das findet Papa auch.“ In der Eingangshalle herrschte dichtes Gewusel, überall waren Kinder, ihre Eltern, Großeltern, Geschwister und weitere Anverwandte sowie eine Reihe Lehrer. Gus erspähte die hochgewachsene Gestalt seines Vaters in der Menge und winkte ihm zu. Brian entdeckte ihn und winkte zurück, während er versuchte, sich durch die Menschenmasse zu schieben. „Da ist mein Papa. Ich muss los. Bis Morgen!“ rief Gus und sauste davon. Er streckte die Arme aus und wurde wie erwartet aufgefangen und hoch gehoben. Sein erster Schultag… Das hatte er ganz allein geschafft! Und Papa war da, wie versprochen, und Justin, der sich gerade zwischen zwei bärtigen Großvätern durch schlängelte. „Na, mein Großer. Wie war’s?“ „Toll! Lass mich wieder runter, ich kann alleine gehen, ich gehe ja jetzt zur Schule!“ „Sicher.“ Er wurde wieder abgestellt. Papa konnte ja Lilly tragen, wenn er wollte. Aber die war ja gerade bei Oma Jennifer und Molly. „Hallo Justin!“ „Hallo Gus. Alles klar?“ Gus ließ sich von ihm drücken. Justin roch immer so lecker. Lag wahrscheinlich daran, dass er so viele Süßigkeiten aß, folgerte er. Sie verließen das Schulgebäude, Justin machte noch ein weiteres Foto von ihm und Papa vor dem Eingang. Gus krabbelte auf die Rückbank von Papas grünem Auto, das immer ein wenig böse aussah, wie er fand, und schnallte sich an. Das konnte er allein. Papa setzte sich hinters Steuer, Justin saß auf dem Beifahrersitz und wandte sich lächelnd zu ihm um. „Na, sag schon Gus, was hast du denn alles erlebt?“ fragte er. „Ganz viel! Aber mit dem richtigen Lernen fangen wir erst morgen an. Ich bin in der 1c! Ich sitze ganz hinten, weil ich so groß bin! Es gibt eine Cafeteria und eine Sporthalle! Carla hat den Spongebob-Ranzen! Ich habe einen richtigen Stundenplan und kann mich melden! Und ich habe einen Freund, der auch Fußball mag!“ „Das ist toll, Gus“, sagte Papa und fuhr das Auto die leere Hauptstraße von Green Tree Richtung Zuhause hinunter. „Wie heißt er denn?“ „Jimmy. Aber eigentlich heißt er Jim, Jimmy ist nur ein Spitzname. Jim Stockwell.“ Es gab ein quietschendes Geräusch, als Papa eine Vollbremsung machte. Papa und Justin drehten sich zu ihm um und schauten ganz komisch. „Wie heißt dein Freund?“ fragte Papa. „Jimmy…?“ „Nein, mit richtigem Namen!“ „Jim Stockwell…?“ Was war denn los mit Papa und Justin? Stimmte irgendetwas nicht mit Jimmy? Die waren doch doof! „Ich fasse es nicht“, sagte Justin und schüttelte den Kopf. „Was ist denn los?“ fragte Gus verunsichert. Papa lächelte, aber es sah eher so aus, als würde ihm jemand mit zwei Bindfäden die Mundwinkel hoch ziehen. „Nichts“, sagte Papa. „Alles in Ordnung mit Jimmy.“ „Warum seid ihr dann so komisch?“ wollte Gus wissen. „Ach weißt du, Gus“, antwortete Justin. „Mit dir und Jimmy ist alles in Ordnung. Aber dein Papa und Jimmys Papa – die mögen sich gar nicht gern…“ „Warum?“ „Äh… sie haben sich ganz doll gestritten…“ „Dann sagt man Entschuldigung!“ „Das… äh… geht nicht so leicht, Gus…“ „Stimmt doch gar nicht! Entschuldigung! Seht ihr! Ganz leicht!“ Justin lächelte, während Papa noch immer Grimassen zog. „Ich weiß Gus, das ist ganz doof. Aber manchmal streiten sich Leute so schlimm, dass das nicht funktioniert.“ „Und worüber hast du dich mit Jimmys Papa gestritten, Papa?“ „Äh… über die Art und Weise, wie Leute leben sollen und dürfen…“ „Hört sich doch gar nicht so schlimm an.“ „Ach, Gus. Das ist eines der Schlimmsten überhaupt… Das wirst du noch lernen…“ Jetzt war er Mal wieder zu klein… Er war ein Schulkind! „Lerne ich das in der Schule?“ „Ja… Das wohl auch.“ „Darf ich trotzdem Jimmys Freund sein?“ „Du entscheidest, mit wem du befreundet sein möchtest“, sagte Papa und startete den Wagen wieder. Gus sah, wie Justin ganz komisch die Augen verdrehte. Erwachsene waren manchmal echt merkwürdig. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)