Das Wunder des Lebens von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 18: König für einen Tag, Teil 2 --------------------------------------- XVIII. König für einen Tag, Teil 2 Während Gus noch akribisch seinen Eislöffel abschleckte, klingelte das Telefon. Klar…. Wer auch immer es daheim probiert haben mochte oder bei Kinnetic hatte Brian nicht erreichen können. Er schaute aufs Display. Auch das war klar gewesen. „Hallo Mikey“, meldete Brian sich, während er sich den Rest der zartbitter-Orange Eiscreme von der Lippe leckte. „Brian! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag von mir und Ben und James und Jenny! Sechsunddreißig, lieber Himmel!“ „Äh, ja danke, dass du mir die Zahl noch mal so deutlich unter die Nase gerieben hast. Ich hatte sie gerade erfolgreich verdrängt.“ „Ach was, es ist doch toll älter zu werden! Reifer, weiser….“ Das meinte Michael wahrscheinlich ernst, war zu befürchten. „Ich habe heute Vormittag das Wohnzimmerfenster mit einem Fußball zerdeppert. Kann ich jetzt zwanzig Jahre abziehen?“ „Eher dreißig… du hast was?“ „Muss ich das jetzt ernsthaft wiederholen?“ „Schon gut! Du bist nicht in der Firma – feierst du schön?“ Ja, ich bin König von Beknackten-Land, und das offensichtlich völlig verdient. „Ja, ich bin mit Gus und Lilly ein Eis essen.“ „Ach… Lilly ist so süß! Gus natürlich auch. Aber Jenny ist meine Tochter und sie… ach ja…“ Brian biss sich auf die Zunge. Jenny mochte Michaels Knopfaugen abbekommen haben. Aber er hoffte, dass sie in geistiger Hinsicht eher nach ihrer Mutter schlug. In Hinblick auf Taktgefühl würde in jedem Falle nicht viel zu holen sein. „Äh, ja…“ „Und, feierst du?“ „Was denn?“ „Deinen Geburtstag? Lilly?“ Beides lag nicht in Brians Sinn. Seinen eigenen Geburtstag feierte er bereits. Und in Hinblick auf Lillys sich langsam abzeichnende Ähnlichkeit mit Justin und ihm wollte er die Beäug-Frequenz möglichst gering halten, solang es irgend ging. Was sollten sie sagen, wenn es offensichtlich würde? Kein Schwein würde ihnen noch glauben, dass sie das Ergebnis einer völlig fremden Liaison adoptiert hatten. Lillys Augen waren bereits dabei, sich zu verdunkeln. Erste braune und grüne Sprenkel zeigten sich im Blau. Sein Anteil, sein von Daphne sorgfältig isoliertes Erbe. Was hatte sie noch von ihm…? Ansonsten schien sie im Augenblick äußerlich ja eher nach Justin zu schlagen, so hellhäutig und blond, wie sie war. Aber wer weiß, was da noch kam. „Ich bin nicht so in Feierlaune“, sagte er schließlich. Er hörte Michael am anderen Ende des Telefons schwer durchatmen. Tut mir leid… aber es geht nicht anders. „Mann… Es ist doch nur eine Zahl…“ Stimmt Mikey. Aber das ist hier gar nicht das Problem. Aber ich hab’s dir gesagt… ich kann es nicht… „Stimmt schon… Auf jeden Fall danke und Gruß an… die Familie. Geht es euch gut?“ „Ja, alles bestens. James wurde fürs Mathematik-Studium angenommen, Ben bereitet eine Vorlesung fürs nächste Semester vor – homosexuelle Stereotypen in der Trivialliteratur – und Jenny redet wie ein Wasserfall und…“ Da war sie nicht allein. Brian ließ Michael weiter erzählen. Das war nicht seine Welt. Diese Selbst-Ghettoisierung, die die betrieben, während sie verzweifelt versuchten, althergebrachte Familienmodelle zu kopieren. Das Ding war ja gar nicht, dass sie geheiratet hatten, dass sie Kinder hatten. Oberflächlich gesehen hatte er genau dasselbe getan. Sondern wie sie es taten. Er hatte sich daran gestört, dass Michael sein Lebensmodell nicht verstand, nicht wertschätzte. Aber war es anders herum nicht genau so? Aber da war noch was… zwischen Mikey und ihm. Aber das Wesentliche war hier, ohne Mikey, das waren nur Justin und Gus und er. Sogar seine durchgedrehte Mutter war mehr Teil davon als Mikey. Weil sie seine Mutter war? Vielleicht. Weil sie eher sterben würde, als ein falsches Wort der falschen Person gegenüber zu verlieren? Wahrscheinlich. Weil ihr Blut auch durch Gus‘ und Lillys Ader floss? Er wusste es nicht. Welche Rolle spielte biologische Verwandtschaft? Das war ihm nie ein Kriterium gewesen. Dennoch war da… etwas. Letztendlich waren sie alle wahrscheinlich darauf gepolt, die eigenen Gene weiter zu geben? Nach Michael ereilte ihn noch Debbies und Emmets Anruf, Jennifer und Molly meldeten sich, auch Joan sandte ihm unterkühlte Glückwünsche und nötigte John und Jack, es ihr gleich zu tun. Gus begann unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Brian zahlte und stand auf. Kurz spielte mit dem Gedanken, Justin auch ein Eis mitzubringen, doch das würde zu Brei zerschmolzen sein, bis sie zu Hause angekommen sein würden, obwohl es ja nicht weit war. Justin würde es überleben, wenn auch wahrscheinlich nur knapp. Er legte Lilly zurück in ihr Tragekörbchen und warf sich die Tasche mit den gesammelten Mit-Kindern-unterwegs-Sachen über die Schulter. Gus spielte versunken mit dem Papierschirmchen, das sein Eis verziert hatte. „Ach… junge Eltern… wie wundervoll“, kam eine Stimme von der Seite. „Äh… ja…“, erwiderte Brian reflexartig. Wer um Himmels Willen hielt ihn den hier gerade für ein Vorzeigeexemplar kinderreichen Familienglücks? Man hatte ihn ja schon für einiges gehalten, aber das… Er drehte sich um. Kurz war er verwirrt, weil an der Stelle, von der die Stimme gekommen war, niemand zu sehen war. Dann schaute er nach unten. Vor ihm stand eine winzige alte Frau, sie mochte nicht mal einen Meter fünfzig messen. Sie war dezent, aber teuer gekleidet, eine dicke Brille ruhte auf ihrer zierlichen Nase, dass sie ein wenig wie eine Eule aussah. Ihr graues Haar war zu einem gepflegten Dutt zusammen gebunden. Mit dem Kopf im Nacken lächelte sie zu ihm hoch. „Wenn ich mich vorstellen darf, ich bin Veronica Carlson, Green Tree-Urgestein sozusagen.“ „Freut mich… Brian Taylor-Kinney, das ist mein Sohn Gus und das hier meine Tochter Lilly“, wahrte Brian die Form. Gus gab auf einen scharfen Blick von Brian hin artig die Hand. Was wollte die von ihnen…? Mrs. Carlson schüttelte Gus‘ wahrscheinlich recht klebrige Pfote. „Schön dich kennenzulernen, Gus“, sagte sie ernsthaft. „Ich habe Sie hier schon ein paar Mal gesehen – Sie sind in das alte Lambreaux-Anwesen gezogen?“ „Ich kenne die Namen der Vorbesitzer nicht…“ „Da haben Sie nichts verpasst. Eine uralte Familie französischer Herkunft, die sich mit Vorliebe auf ihre angeblich adligen Vorfahren berief. Als der alte Lambreaux mit fast hundert im vorletzten Frühling dann doch diese Erde verlassen hat, konnten die Erben es gar nicht erwarten, die Immobilie unter den Hammer zu bringen. Das Grundstück ist wundervoll mit den alten Bäumen, dem Obsthain, dem Teich, aber es war ganz schön runter gewirtschaftet. Schön, dass da wieder Leben eingezogen ist, sonst stände zu befürchten, dass Green Tree bald nur noch von Fossilien wie mir bewohnt wird. Ich hoffe, Sie fühlen sich hier wohl?“ Brian setzte ein charmantes Lächeln auf, obwohl er innerlich ziemlich ratlos war. Was wollte die von ihm…? Einfach nur ausquetschen und voll labern? „Ja… Meiner Familie und mir gefällt es sehr gut hier“, antwortete er vorsichtig. „Das ist schön zu hören! Aber bevor Sie denken, ich sei nur ein altes tratschsüchtiges Weib: Ich bin die Vorsteherin der Town Hall-Versammlung des Viertels, die Bürgermeisterin sozusagen, in diesem Sinne möchte ich Sie herzlich begrüßen. Wenn es Streitigkeiten unter Nachbarn gibt, oder Sie sich wegen lokaler Bauvorschriften im Unklaren sind – oder Sie mehr über die Geschichte und Tradition unseres Ortes erfahren wollen – wenden Sie sich gerne an mich.“ „Danke, das werde ich machen. Ich habe gesehen, der ehemalige Polizeipräsident Stockwell wird nächste Woche in der Town Hall sprechen?“ fragte Brian. „Ja, jedes Mitglied dieser Gemeinde hat das Recht, dort zu sprechen. Das Interesse an solchen Auftritten ist durchaus gewachsen, seitdem ich klar gemacht habe, dass ich nicht mehr ewig das Mädchen für alles von Green Tree sein werde.“ Jetzt war Brian ernsthaft neugierig geworden, obwohl Gus unduldsam an seiner Hand zerrte. „Stockwell will Bürgermeister werden? Schon wieder?“ fragte er. „Naja“, antwortete Mrs. Carlson, „Green Tree ist nicht Pittsburgh, obwohl wir stolz auf unsere Unabhängigkeit sind. Und Mr. Stockwell hat ja politische Erfahrung zu bieten, auch wenn die Bedingungen seiner Wahlniederlage und seines Rücktritts als Polizeipräsident mehr als fragwürdig waren.“ So konnte man es formulieren… Der Kerl hatte aus falsch verstandener Loyalität den Mord an einem verwahrlosten Jungen unterschlagen, als habe dessen Leben gar nichts gezählt. Man hatte es Stockwell zwar nie nachweisen können, dazu hatte der Vertuschungsapparat zu gut funktioniert und der Mörder hatte sich via Suizid aus der Affäre gezogen. Dennoch war Stockwells Glaubwürdigkeit arg lädiert gewesen, das hatte gereicht, um ihn daran zu hindern, Pittsburgh in Saubermannhausen zu verwandeln. „Ja, in der Tat“, bestätigte Brian. „Da kamen doch berechtigte Zweifel auf, dank der Initiative „Besorgte Bürger für die Wahrheit“.“ Eine Rufmordkampagne edelsten Zuschliffs, auch wenn sie die Wahrheit gesagt hatte. Und ihn in den Ruin getrieben… und einen Neustart ermöglicht. „Da muss jemand ganz gründlich etwas gegen John Stockwell gehabt haben. Wie auch immer, es steht ihm wie jedem anderen zu, sich um meinen Posten zu bewerben, vor dem Gesetz ist er ohne Schuld, vielleicht wurde ihm nur übel mitgespielt. Wenn Sie die Sache interessiert, kommen Sie doch zur nächsten Versammlung. Und bringen Sie ihre Frau mit, wir würden uns freuen, Sie in unserer Mitte begrüßen zu dürfen.“ Brian räusperte sich und sah die vierzig Zentimeter hinab in ihre Augen. „Ich bin interessiert, dennoch dürfte das schwierig werden, meine „Frau“ ist nämlich ein Mann.“ Sie zuckte mit keiner Wimper. „Oder so“, sagte sie. „Dann bringen Sie ihn eben mit. Dieser blonde junge Mann, mit dem ich Sie und die Kinder hier schon ein paar Mal gesehen habe? Habe mich schon gefragt, wie das zusammen passt.“ „Was uns angeht: bestens. Und was Green Tree angeht?“ „Green Tree heißt Sie herzlich willkommen.“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………….. Als sie wieder zuhause ankamen, waren die Glaser gerade dabei, ein neues Fenster einzusetzen, Justin hatte ganze Arbeit geleistet. Nun ja, war ja auch sein Job als folgsamer Untertan. Sie fanden den Geplagten auf der Terrasse am Pool, wo er seinen von Brian geforderten Lilly-Zeichnungen gerade eine Fixierung verpasste. Als sie nahten, stand Justin auf und schenkte ihnen ein strahlendes Lächeln. Er schien sogar noch mehr zu leuchten als sonst, da die hoch stehende Sonne auf sein natürlich aufgehelltes Haar und die neu erworbene leicht goldene Bräune schien. Ein leichter Wind war aufgekommen, der die Blätter der Bäume rascheln ließ und leichte Kühlung versprach. „Willkommen daheim, Majestät!“ sagte Justin, reckte sich nach oben und gab Brian einen Kuss, den kurzen Moment der Ablenkung nutzend, um dem heimkehrenden Monarchen wieder das Zeichen seiner Herrschaftsmacht auf den Kopf zu drücken. Brian wollte kurz protestieren, dann erwischte ihn Gus selbstzufriedener Blick und er verkniff es sich. Wenn es Gus glücklich machte, dann lief er eben als Trottel herum, was sollte es. Und Justin schien es auch zu beglücken, wenn auch auf eine etwas andere Art… „Hier“, sagte Brian und drückte Justin die inzwischen in den höchsten Tönen heulende Lilly in den Arm, „einmal füttern und sauber machen.“ „Kommt sofort…“ Brian ließ sich auf seinen Liegestuhl sinken und schloss kurz die Augen. „Und ich?“ wollte Gus wissen. „Du kannst mir meine Sonnenbrille, das Sonnenöl und meine Badehose holen, wenn du die Sachen nicht findest, frag Justin.“ „Ja, Papa!“ Weg war er. So sollten Kinder sein… Gemütlich hier im Liegestuhl… Aber das ließ sich durchaus noch weiter optimieren. Gus kam mit den bestellten Sachen wieder angetrabt, Justin hatte ihn bei der Gelegenheit offensichtlich bereits eingekremt und in seine eigene Badehose gesteckt. Es ging doch nichts über vorauseilenden Gehorsam. Er zog sich um und ließ sich von Gus den Rücken einschmieren. „Und jetzt?“ „Jetzt holst du deine Legosteine und baust mir ein Schloss, wie es sich gehört.“ „Alles klar, Papa!“ Das würde eine Weile dauern. Brian lehnte sich wieder zurück, streckte sich ein wenig und sah sich Justins Zeichnungen an. Wenn alle Stricke rissen, konnte Justin ihnen ihre Brötchen immer noch als Touristen-Porträt-Maler verdienen. Technisch waren sie perfekt, doch Justin hatte sich den Spaß gemacht, das Motiv breit zu variieren. Es gab eine Rötelzeichnung, die aussah wie die Studie eines niederländischen Renaissancemalers für das Christuskind, bis darauf, dass Lillys Deckchen den überbetonten Schriftzug „Prada“ trug. Lilly in achtfacher Version, knallfarbig ausgemalt wie Warhols Bohnenbüchsen. Und am Schluss eine mit hartem Strich gezeichnete Ansicht eines über Aztekentempeln fliegenden Rage mit einer Comic-Lilly im Arm. So hatte er sich in Mexiko zwar ganz und gar nicht gefühlt, aber dennoch fühlte er sich geschmeichelt und musste lachen. Justin kam, gleichfalls in Gartenmontur, mit der jetzt versöhnten Lilly zurück, die er unter das Netz im Schatten des Schirms beförderte. Brian lugte ihn über den Rand der Brille hinweg an. Justin setzte sich in den Holzstuhl neben ihm. Brian wartete, bis er seine Beine ausgestreckt hatte. Dann sagte er breit grinsend: „Also irgendwie ist mir nach einer Erfrischung…“ Folgsam rappelte sich Justin wieder auf: „Was willst du?“ „Mmm… Ein Mineralwasser…“ „Okay.“ „… mit einer frisch ausgepressten Zitrone darin und einem Minzblatt.“ „Äh… Aber wir haben weder Zitronen noch Minze im Haus – tut‘s nicht auch eine Orange und ein Bündel Petersilie?“ „Nö.“ „Okay, okay… Ich geh ja schon…“ „Bevor du dich an die Arbeit machst – bring mir doch vorher die Zeitung.“ „Die liegt schon auf dem Tisch.“ „Soll ich etwa aufstehen?“ „Natürlich nicht…“ Justin musste gerannt sein, trotz der Hitze, denn eine halbe Stunde später hatte er sein Wasser und einen etwas rot angelaufenen Ehemann. Gus murmelte, während er versuchte, einen Schlossturm zu konstruieren. Brian nahm einen Schluck. „Schon besser“, meinte er, während sich Justin erneut setzte. Brian räkelte sich, sich Justins höchst interessierten Blicks auf seine Brustmuskulatur durchaus bewusst. „Noch irgendwelche Wünsche, oh mein gnädiger Herr und Meister?“ fragte Justin. „Ja… Ein wenig… Entspannung wäre jetzt gut… Ich glaube seit dem Schuss von vorhin ist mein rechter Fuß ganz verkrampft… und dem linken geht es auch nicht viel besser…“ Ohne die Sache weiter zu kommentieren kniete sich Justin auf den Boden neben der Liege und machte sich ans Werk. Künstlerhände… mmm… Brian nippte an seinem Zitronenwasser und stöberte in der Zeitung, während Justin seine malträtierten Füße knetend und streichelnd bearbeitete, und Gus ihm sein Domizil baute. Er lehnte das gekrönte Haupt zurück. Eine einsame Biene brummte vorbei. Seine Lider sanken herab. Als er wieder zu sich kam, stand die Sonne schon deutlich tiefer. Justin planschte mit Gus im Pool, der mittlerweile kurze Strecken zu bewältigen in der Lage war. Brian sah ihnen eine Weile zu, während der Dösel in seinem Kopf sich zurück zog. Was hatte er damals im Geschichtsunterricht gelernt? Teile und herrsche hatte Machiavelli den Fürsten seiner Zeit geraten. Er stand auf. „Ich bin noch Mal eine Stunde weg. Solange könnt ihr auf den Tischen tanzen“, verkündete er. Justin kam gerade prustend an die Oberfläche. „Okay… sollen wir irgendetwas machen?“ „Nein, einfach weitermachen, bis gleich – ich nehme Lilly mit.“ „Bis dann… Komm Gus, nochmal.“ „Bis dann, Papa… Weiter! Ich kann das!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)