Freundschaften, Feindschaften von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 10: Eklig wäre untertrieben ----------------------------------- X. Eklig wäre untertrieben Brian blätterte die Geschäftsberichte durch. Toronto sah gut aus. Absolut plausibel. Echt. Er lächelte. Die Verträge standen. Gut. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Du wolltest mich sprechen?“ Michael nippte an seinem Bier. Justin saß ihm gegenüber an einem der etwas versifften Tische im Woody’s und betrachtete ihn verhalten. Justin war… vertraut. So viele Jahre war er jetzt schon… da. Erst wie ein impertinenter, unbelehrbarer Schatten. Dann Brians ständiger Begleiter, den er mit aller Macht wollte, immer und immer wieder… obwohl er streng genommen eigentlich gar nicht sein Typ war. Zu jung. Zu blond. Zu… schmal und zierlich. Sein Stalker. Irgendwann Brians… Freund, obwohl er diese Bezeichnung mied, wie der Teufel das Weihwasser. Kein Anhängsel mehr… Und Justins Augen begannen diesen harten Blick zu zeigen, der keine Widerworte akzeptierte. Und irgendwann… Brian liebte ihn… seit wann…? Lange schon. Auch Brian war keine steinerde Eiche – auch er war gefallen, Justin hatte ihn niedergemäht. Wie auch immer. Und an einen Ort gebracht, wo es für ihn, Michael, keinen Platz mehr gab. Michael musterte ihn. Auf den ersten Blick wirkte er wie das Klischee eines blonden Twinks. Wenn da bloß dieser Blick nicht wäre… der jetzt unverwandt auf ihn gerichtet war. „Ja“, sagte Justin langsam und setzte die Bierflasche an die Lippen. Er fing von überall her Blicke, nicht weniger als Brian. „Du könntest etwas tut… nicht für mich – sondern für Brian. Es ist etwas heikel…“ Micheal runzelte die Stirn. „Was meinst du?“ wollte er wissen. „Wir wollen verhindern, dass das, was passiert ist, sich wiederholt.“ „Verstehe…“, meinte Michael. „Ihr wisst, wer es war.“ Keine Frage, eine Feststellung. Justin schaute ihn schweigend an. Michael seufzte. „Du wirst es mir auch nicht sagen.“ „Das ist etwas zwischen Brian und dir“, meinte Justin nur. „Wir waren so lange Freunde…“, hob Michael an. „Ihr seid es noch.“ „Da bin ich mir inzwischen nicht mehr so sicher… Er vertraut mir nicht.“ „Doch, das tut er.“ „Aber nicht in dieser Angelegenheit.“ „Nein. Du hast dich einfach ein paar Mal zu oft verplappert. Das Risiko ist zu hoch.“ Michael musste schlucken. Ein Teil von ihm wollte Justin die Meinung geigen. So direkt auf den Kopf zugesagt tat es ganz schön weh. Und dann auch noch von Justin… Er riss sich zusammen und tat sein Bestes, sein Temperament zu zügeln. Brian brauchte ihn, seine Hilfe. Und er wusste, dass Brian nicht zögern würde, wenn es sich umgekehrt verhielte. Was hatte seine Mutter gesagt…? Das hier könnte eine Chance sein, die Dinge zu richten… aber es würde niemals wieder sein, wie einst. „Was soll ich machen?“ fragte er Justin. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Das Haus lag weitestgehend in Dunkelheit, alles Leben schien gewichen. Justin war im Loft oder trieb sich irgendwo herum. Gus war mit den Petersons für drei Tage an die See gefahren. Der Kamin im Wohnzimmer war kalt. Brian durchlief die Räume, sorgsam immer wieder das Licht hinter sich löschend. Es hatte einiges an Arbeit gekostet, die Spuren von Justins steter Anwesenheit vorübergehend zu verwischen. Der Schnappschuss von der Hochzeit an der Kühlschranktür. Das Familienbild, das Gus für Justin zu Weihnachten gemalt hatte, im Atelier, das jetzt wie leergefegt aussah. An Justins dämlicher Tanzstange war er schier verzweifelt, bis er das verfickte Ding endlich aus der Verankerung hatte. Es war beinahe sechs Uhr. An der Haustür klingelte es. Brian öffnete. „Guten Abend, Mutter, guten Abend John, kommt doch herein…“, begrüßte er seine Anverwandten übertrieben freundlich. Joan verpasste ihm einen scharfen Blick und schob John vor sich durch die Tür, der „Guten Abend, Onkel Brian“ nuschelte. Die beiden legten ab, während Brian sie eingehend musterte. Joan drückte ihm ihre Taschen in die Hand. Auf seine Mutter war Verlass. Sie trug ein graues Kostüm, ihre Haare wirkten wie eine Stahlkappe, in ihren Ohren leuchteten blasse Perlohrringe. Ihr Gesicht war wie eingefroren. Perfekt. John ließ sich noch optimieren. Die Stöpsel eines MP3-Players, die unter seinem mit dem Emblem irgendeiner Metall-Band bedruckten Kapuzenshirt hinaus lugten, waren immerhin ein Anfang. „John?“ „Ja, Onkel Brian…“ „Hast du kein Kaugummi?“ „Doch… Aber Oma sagte, das sei ungehörig…“ „Rein damit! Und schön mit offenem Mund kauen, verstanden?“ „Jaaaaa, Onkel Brian.“ „Dann zeige ich dir Mal dein Zimmer… Willkommen daheim!“ Joan verpasste ihnen einen weiteren Blick, der einen Umweg über die Küche nahe legte, um dort ihre Taschen abzuladen. Gegen acht war alles bereit. Mit vornehmen fünf Minuten Verspätung klingelte Lance an der Eingangstür. Im Haus herrschte völlige Ruhe, nur ein angenehmer Geruch nach Essen drang durch die Luft. Brian strich sich ein letztes Mal durch die Haare und warf einen kritischen Blick in den großen Spiegel neben der Garderobe. Er trug eine enge – aber nicht zu enge – schwarze Hose und dazu ein elegant geschnittenes Seidenhemd in dunklem Bordeaux. Zufrieden grinste er. Er sah zum Anbeißen aus, da bestand kein Zweifel… Er beschwor vor seinem inneren Auge das Bild, wie Gus am Beginn ihres… nun ja… „Urlaubs“ Justin um den Hals gefallen war, und spürte ein Lächeln in sich aufsteigen. Er hielt es fest und öffnete die Tür. „Lance!“ „Brian…“ Lance Pupillen hatten sich bei seinem Anblick geweitet, Brian hielt den Blick fest und deutete ihm, sein Heim zu betreten. Brian half seinem Gast formvollendet aus dem Kaschmir-Mantel, nicht ohne - rein versehentlich - kurz seinen Nacken zu berühren. Er hörte, wie Lance kurz schneller einatmete. Ja, mein Lieber… du sollst es wollen… so sehr, dass du meinst, den Verstand zu verlieren, wenn du es nicht bekommst. Brian geleitete Lance ins Wohnzimmer und bot ihm einen Drink an, den dieser dankbar entgegen nahm. „Es riecht hier so wundervoll…“, meinte Lance. „Du hast doch nicht etwa gekocht?“ Brian hielt sein Lächeln und schüttelte den Kopf: „Dann würde es hier nicht so gut riechen, ich bin ein grauenvoller Koch. Aber ich habe mich um unser leibliches Wohl gekümmert. Essen, weiß du, ist immer etwas Gemeinschaftliches für mich… Es berührt die Sinne…“ „Wie die Austern?“ fragte Lance, der den Anblick des diese schlürfenden Brians nur zu gut erinnerte. „Ja“, stimmte Brian zu. „Aber heute Abend gibt es etwas Besonderes… das kann ich dir versprechen…“ „Ich kann es kaum erwarten!“ Das glaube ich gern, dachte Brian. Aber wie hieß es so schön? Bedenke gut, was du dir wünschst, denn es könnte in Erfüllung gehen… „Aber zunächst kann ich dich ja ein bisschen herumführen, wenn du magst?“ „Gerne. Ich würde sehr gerne sehen, wie du lebst.“ Brian trat zu ihm und reichte ihm die Hand zum Aufstehen, ohne sie hinterher loszulassen. Das Haus war riesig, Brian gewährte Einblick in die Räume, die er aktuell nutzte oder die ihm besonders vorzeigbar erschienen. Geordnet, luxuriös, aber dezent, schnörkellos, doch mit einem unverwechselbaren Charakter versehen. Lance konnte nicht umhin, Brians Stilgefühl zu bewundern. Ein weiterer Punkt, die den anderen Mann so passend für ihn machten. Lediglich beim Anblick des weitläufigen Kinderzimmers musste er zucken, auch da sie ein grässliches Geschrei begrüßte, als sie eintraten. „Was… was ist das denn?“ entfuhr ihm. „Ach“, beschwichtigte Brian. „Das sind bloß Ted und Emmet, Gus‘ Meerschweinchen.“ Er zog Lance hinter sich her und nötigte ihn damit, den Viechern überflüssige Aufmerksamkeit zu widmen. Lance wandte rasch wieder die Augen gen Brian, der die Tierchen beseligt anlächelte. „Weißt du“, sagte er, „ich liebe Tiere! Das haben Gus und ich auf jeden Fall gemeinsam. Das Haus ist so groß und der Garten erst… Sobald das Wetter besser wird, werden wir den Laden hier beleben. Es gibt so viele Tiere, die unsere Hilfe brauchen, vernachlässigt, verwahrlost… Ein paar Hunde haben hier schon Platz. Und draußen… der Stall ist auch noch völlig ungenutzt… vielleicht Pferde und Ponys, die ein Gnadenbrot brauchen? Oder ein paar Schafe, dann muss man noch nicht mal mehr Rasen mähen.“ Brian lachte über diesen Witz. Lance starrte auf seinen schiefen Zahn. Es war ihm egal, was Brian redete, wenn er so dabei aussah. Aber ein Zoo… pfui Teufel! Tiere waren zum Essen da, was sollte diese Vermenschlichung? Als hätten sie auch Gefühle… Aber das konnte man ja Brian auch wieder ausreden… Er könnte behaupten, allergisch zu sein… Aber nicht jetzt… „Das hört sich wundervoll an, Brian!“ stimmte Lance zu. „Ja, nicht wahr?“ Wieder so ein Strahlen… „So, jetzt zeige ich dir das Schlafzimmer…“ Von unten war ein Bimmeln zu hören. „Was war das denn?“ fragte Lance irritiert. Brian hatte die Hand schon auf der Klinke der Schlafzimmertür, zog sie aber nun zurück. „Später…“ versprach er mit einer Stimme wie ein Hauch, die Lance eine Gänsehaut verpasste. Dann brüllte Brian plötzlich: „Wir kommen schon, Mutter!“ Mutter? Mutter? Wie…? Lance entglitten etwas die Züge. „Ach“, sagte Brian, „du musst nicht aufgeregt sein… Ich weiß, vielleicht hätte ich es dir vorher sagen sollen, aber dann wäre die Überraschung ja im Eimer gewesen… Du weißt ja, ich bin ein Familienmensch. Und du…“, er schenkte Lance einen fast verschämten Blick, „stehst mir nahe, deshalb bedeutet es mir viel, wenn du sie kennen lernst – und sie dich! Ich könnte nie mit jemandem…, der sich mit meiner Mutter nicht verträgt! Sie hat auch für uns gekocht… du wirst begeistert sein, unsere Familienspezialitäten!“ Lance war hin und her gerissen. Nähe… Bedeutung… das war gut – aber gleich die Mutter? Und was war mit ihrer Zweisamkeit? Er kam nicht recht dazu, sich zu sammeln, da wurde er schon von Brian ins Esszimmer geschoben. Dieser Raum war zuvor noch nie genutzt worden, sie aßen meist in der Küche. Die Einrichtung war funkelnagelneu. Ein geschwungener Esstisch aus hellem, leicht gemasertem Holz, dazu ein Ensemble aus Stühlen im Bauhaus-Stil. Oder waren sie direkt Bauhaus? Die Leuchtkörper, perfekt angepasst. Das Geschirr war von Rosenthal erkannte Lance mit Kennerblick. Das einzig verspielte war ein kleiner Blumenstrauß in der Mitte der Tafel. Gedeckt war für vier Personen. Vier…? War Gus etwa doch hier…? „Lance, darf ich dir vorstellen, meine Mutter, Mrs. Joan Kinney!“ „Lance Whinefourt, angenehm, Ma’am“, sagte er höflich und schüttelte der Frau die Hand. Er blickte ihr einnehmend lächelnd ins Gesicht, was seine übliche Wirkung jedoch total verfehlte. Ihre Augen waren eisig und bohrten sich in ihn, ihr Mund war abschätzig nach unten verzogen. „Möge der Herr Ihnen verzeihen, junger Mann“, sagte sie nur. „Äh… ja, danke…?!“ erwiderte Lance etwas verwirrt. „Hol doch bitte John, damit wir mit dem Essen beginnen können“, sagte Joan zu Brian. „Er hat bestimmt wieder diese grässlichen Stöpsel in den Ohren und hört nichts!“ „Sicher Mutter“, erwiderte Brian folgsam und entschwand. Lance fand sich mit Joan allein gelassen. Er versuchte es erneut mit einem Lächeln, was sich jedoch als völlig zwecklos erwies. „Es ist schön, Sie kennenlernen zu dürfen, Mrs. Kinney“, versuchte er es. Sie maß ihn erneut mit Blicken. Dann sagte sie: „Es ist besser so. Auf diese Weise kann John sie auch schon einmal kennenlernen.“ „John?“ fragte Lance, der allmählich das Gefühl bekam, dass hier irgendetwas deutlich schief lief. „Mein anderer Enkelsohn, Brians Neffe. Er ist vom rechten Pfade abgekommen… Aber wir werden ihm helfen, ganz besonders Brian. Mein Sohn hat die Adoption beantragt, nachdem Johns Eltern so kläglich an ihm versagt haben. Hat Brian Ihnen noch nichts davon erzählt?“ „Äh… nein…“, konnte Lance nur hervorbringen. „Vom rechten Pfad…?“ „Verwahrloste Kinder tun manchmal schlimme Dinge. Ins Jugendgefängnis hat ihn das gebracht… Diebstahl... Raub… Erpressung… Sie wissen schon… Gut, dass sich Brian seiner annimmt, das ist seine letzte Hoffnung auf Erlösung.“ Lance war sprachlos. Hunde, Pferde, Ponys, Schafe und jetzt auch noch ein krimineller Neffe!? Aber er kam nicht dazu, sich zu sammeln, denn in diesem Augenblick betrat ein recht pickeliger Teenager den Raum. Er trug Kleidung, die ihn nach Lance Vorstellung schon aussehen ließ, wie einen Berufsverbrecher, und schmatzte ungepflegt auf einem Kaugummi herum. Er starrte Lance abfällig ins Gesicht und sagte: „Na super, noch so ein Arschficker! Was geht ab, Alter?“ „W… wa… was?“ stammelte Lance. „John!“ fuhr Joan dazwischen. „Der Herr sieht es nicht gerne, wenn du solche Wörter benutzt! Entschuldige dich bei Mr. Whinefourt, oder du kannst heute Nacht draußen im Stall schlafen!“ John verdrehte die Augen und stopfte seine Hände in die Hosentaschen. „Tut mir echt leid“, sagte er schnodderig und absolut nicht aufrichtig. „Schon gut“, murmelte Lance. Arschficker?! Niemand nannte ihn ungestraft so – diese kleine Ratte würde sich schon noch umsch… „Gut“, meinte Brian, der wieder hinzu getreten war. „Dann lasst uns doch Essen! Lance, setzt dich doch hier hin!“ Brian zog ihm höflich den Stuhl zurück. Die anderen rutschten in ihre Plätze. „Lasst uns beten!“ befahl Joan. Ehe Lance sich versah, hielt er die Hände seiner Nachbarn. „Oh Herr!“ begann Joan. „Wir danken Dir dafür, dass du uns heute hier zusammen geführt hast. Dass du uns Wärme gibst und Speis‘ und Trank! Dass du die Blinden sehend machst, und die Verirrten zurück in die Herde bringst! Wir bitten für all jene, die ein solches Glück nicht miteinander teilen können, wie wir es dank Deiner Gnade das unsrige nennen! Denn wir wissen, wir sind auch nicht ohne Schuld! Habgier und Wollust mögen so manchen aus unserer Runde in Versuchung geführt haben. Wir flehen um deine Vergebung. Lass uns teil haben an deiner Barmherzigkeit und leuchte uns den Pfad! Amen!“ „Amen!“ fielen die anderen insbrünstig ein, Lance schaltete eine halbe Sekunde zu spät. „Ich gestehe, oh Herr, mein Herz heute gegen die Not eines armen Bettlers verschlossen zu haben! Nimm meine Reue an und vergib mir!“ führte Joan fort. „Ich gestehe, heute tiefen Zorn verspürt zu haben, als ein Auftrag nicht an Kinnetic, sondern an die Konkurrenz gegangen ist. Der Herr möge mir meine Missgunst vergeben!“ fiel Brian ein. „Okay… Ich habe Dingensda „Arschficker“ genannt… Ist das auch ne Sünde…? Keine Ahnung, egal. Tut mir aber voll leid, oh Herr“, folgte John. Alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf Lance. „Äh… Also ich gestehe… Äh… Meiner Sekretärin heute nicht richtig zugehört zu haben, weil ich ihre Liebeskummer-Geschichten langweilig fand…? Vergib mir Herr!“ sog Lance sich aus den Fingern. „Amen!“ „Amen!“ „Amen!“ „Amen!“ „Sei doch bitte so gut und hohl die Terrine aus der Küche!“ orderte Joan zu Brian, der sofort aufsprang. John schmatzte auf seinem Kaugummi und bedachte Lance mit einer obszönen Geste, als seine Großmutter kurz nicht hinsah. Lance fühlte sich innerlich leicht gelähmt. Brian stellte die große Suppenschüssel ab, aus der ein merkwürdiger Geruch drang. „Was isn das?“ wollte John wissen. „Omas Spezialsuppe“, erklärte Brian. „Lecker!“ freute sich John. „Warum gibt es sowas Gutes immer nur, wenn wir Besuch haben?“ „Weil man seinen Besuch immer mit dem Besten bewirtet, John“, erklärte Brian. „Weil Zuneigung – wie Liebe – nun mal auch durch den Magen geht“, ergänzte er mit einem tiefen Blick auf Lance. Kurze Zeit später starrte Lance irritiert in seinen Suppenteller. Was zur Hölle war das denn…? Und es stank…? Mutig nahm er einen Löffel voll. Oh Gott… das war ja widerlich! Aber er konnte es unmöglich nicht essen. Brian verzog genüsslich das Gesicht. Auch seine Mutter und sein Neffe aßen mit Hingabe. „Ganz köstlich, Mrs. Kinney!“ log er formvollendet. „Was ist es denn?“ „Oh“, sagte die Angesprochene emotionslos, „ein altes Familienrezept, noch aus der Zeit der großen irischen Hungersnot in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die auch unsere Vorfahren zur Auswanderung getrieben hat. Algensuppe mit Kutteln.“ „Fantastisch! Familientraditionen sollten viel mehr hoch gehalten werden, besonders wenn sie so gut schmecken!“ versuchte Lance zu punkten. Innerlich wollte er kotzen. Kutteln! Das war Pansen! Sowas servierte man vielleicht einem Hund! Himmel, war das Zeug zäh. Und die Algen fühlten sich wie gammeliger Schleim in seiner Kehle an. Er versuchte den Geschmack mit Wasser runter zu spülen, aber es war hoffnungslos. Der nächste Gang sah vielversprechender aus und roch auch besser. Irgendein Eintopf mit Kartoffeln. „Irish Stew?“ fragte er hoffnungsvoll. „Ja“, antwortete Joan, „allerdings auch in unserer Familienvariation.“ Lance füllte sich auf. Er erhaschte etwas aus dem Augenwinkel und zwinkerte. Er starrte erneut auf seinen Teller. Es war immer noch da. „Das Stew ist nicht mit Hammel, sondern mit Huhn. Da auch dieses Rezept aus der Notzeit stammt, tue ich traditionell die Teile hinein, die normalerweise nicht verarbeitet werden. Seltsamerweise, denn Sie werden bemerken, wie wohlschmeckend sie sind, besonders in Kombination mit sehr viel Minze. Man kann sagen, dass die Zubereitung dieses Gerichtes mein ganzer Stolz ist!“ „Es ist köstlich Mutter!“ lobte Brian begeistert. „Lecker Oma!“ fiel auch John ganz brav ein. Lance schaute zurück auf seinen Teller. Nein, das war wohl doch keine Sinnestäuschung. Da ragte ein Hühnerfuß aus seinem Stew. „Du hast Glück gehabt“, meinte Brian, seinem Blick folgend. „Die Füße sind das Beste!“ Das war… das Beste!? Was zur Hölle war denn da noch drin! Wenn er das nicht aß, würde hier Zapfenstreich sein… Brian hatte klar gemacht, dass sein Wohl und Wehe davon abhing. Er linste zu dem anderen hinüber, der gerade mit entzücktem Gesicht auf etwas herum kaute, das wie ein Hühnerherz ausgesehen hatte. Er biss die Zähne zusammen und fing an. Es schmeckte tranig und impertinent nach Minze. Und es war unglaublich fettig, kleine Fettaugen trieben ihn anglotzend an der Oberfläche. Und die Fleischteile waren so zäh, dass ihm beinahe das Gebiss zerbarst. Den Fuß sparte er sich bis zuletzt auf. Gerade wollte er erleichtert aufatmen, dass er das Ekelzeug endlich runter gewürgt hatte, ohne dass die anderen seinen Widerwillen bemerkt hatten, da lud ihm Brian ungefragt einen weiteren von seinem eigenen Teller hinüber. „Warum bekommt der noch einen?“ protestierte John. „Das Beste für den Besuch!“ mahnte Joan. „Genau, hör auf deine Großmutter!“ bestätigte Brian. Dann strahlte er Lance an. „Das… das ist doch nicht nötig, das war doch dein Fuß…“, versuchte dieser sich zu retten. „Keine Widerrede! Du bist der Gast! Du wirst verwöhnt!“ surrte Brian. Lance hatte keine Ahnung, wie er diesen Nachschlag überlebt hatte. Aber irgendwann hatte er es geschafft. Er wollte gar nicht wissen, wie es inzwischen in seinem Magen aussehen mochte. Er wagte schon gar nicht, darüber nachzudenken, was es wohl sein mochte, als John ihm auf Befehl seiner Großmutter unwirsch den Nachtisch vor die Nase knallte. Es sah aus wie Vanille-Pudding, aber eigentlich hatte er die Hoffnung auf etwas Genießbares schon aufgegeben. Er wurde nicht enttäuscht. Nur jahrelange Übung hielt ihn davon ab, sich postwendend zu übergeben. Er hatte nicht geirrt. Es war Vanillepudding. Mit Lachs. Ihm war klar, dass dieser Fisch sehr beliebt in der irischen Küche war. Aber im Pudding! Er hätte ja fast gedacht, dass man ihn hier verarschte, wenn der Rest der Runde diese Scheußlichkeit nicht mit absoluter Begeisterung verdrückte. Er fühlte sich zittrig. Ihm war übel. „Whiskey?“ fragte Brian. „Ja! Bitte!“ war alles, was Lance hervorbringen konnte. Inzwischen war ihm klar, warum die Iren dieses Zeug gern eimerweise in sich hinein schütteten. Anders konnte man diese Küche wohl kaum überleben. Oder sich ausdenken. Wie auch immer. „Hat es Ihnen geschmeckt?“ fragte Joan. „Ganz ausgezeichnet!“ würgte Lance hervor. „War super Oma!“ bestätigte John. „Ja, einfach toll! Ich weiß, dass du stundenlang daran gekocht hast – wir alle danken dir, Mutter!“ meinte Brian. „Kann ich jetzt wieder in mein Zimmer?“ wollte John wissen. „Nichts da, junger Mann!“ fuhr ihn Brian streng an. „Du bist hier, um zu lernen! Und Lance möchte dich schließlich kennen lernen, jetzt, da er ein Teil von uns werden möchte!“ Ein Teil von… was? Um Gottes Willen! Er wollte kein Teil dieses… Irrenhauses werden! John formte hinter Brians Rücken erneut das Wort „Arschficker“ stumm mit den Lippen in Lances Richtung. „Gut“, sagte Joan. „Ich habe das Programm ausgesucht. Gehen wir ins Wohnzimmer.“ Diese Frau kannte wohl nur Kommandos… „Whiskey?“ fragte Brian. „Ja, bitte!“ konnte Lance nur wiederholen. Stunden später war ihm immer noch schlecht. Das Essen schien sein Körper allmählich verkraftet zu haben, stattdessen war er jetzt völlig betrunken. Der Genuss der „Passion Christi“ von Mel Gibson hatte auch nicht gerade zu seinem Wohlbefinden beigetragen. John hatte jede Gelegenheit genutzt, ihn unbemerkt zu beleidigen. Als ihm schließlich erlaubt wurde, in sein Zimmer zu verschwinden hatte er sich mit einem scheinheiligen Grinsen und den Worten „Gute Nacht, Papa Lance!“ von ihm verabschiedet. Lance hatte ihn in dringendem Tatverdacht, während des Films ständig serienweise stinkende Fürze direkt vor seiner Nase abgelassen zu haben. Eher würde die Hölle zufrieren, bevor er der „Papa“ dieser Missgeburt würde. Oder dieser Rotznase Gus. Allmählich begann er zu begreifen, was Brians blonder Gespiele mit „deine verkackte Familie“ gemeint haben mochte. Joan stand auf und verabschiedete sich, um sich in ihr Zimmer zurück zu ziehen. Wohnte die jetzt auch hier? Inzwischen wunderte ihn gar nichts mehr. Er sah hinüber zu Brian. Dieser lag entspannt ausgestreckt in einem der Sessel und lächelte ihn verträumt an. Er hatte während des Films die oberen Knöpfe seines ihn umspielenden Hemdes gelöst, so dass der obere Teil seiner bronze glänzenden Brust frei lag. Lance musste an den Anblick des fast nackten Brian im Freizeitpark denken. Himmel, war er schön gewesen, begehrenswert… Sein Hirn klinkte kurz aus… Aber dann schaltete es wieder an. Was gab es dazu? Nervtötende Blagen. Ungenießbares Essen. Masochistische Gebete. Ein alterslahmer Streichelzoo. Eine alte Hexe. War es das wert…? Ein Teil von ihm riet zur Vorsicht – oder wollte schreiend davon laufen. Ein anderer Teil jubilierte… Brian wollte ihn… vertraute ihm… Er musste... Er stand auf und trat hinüber zu dem malerisch dahin geworfenem anderen. Er beugte sich herab und legte sanft die Fingerspitzen auf die warme Haut Brians verführerisch entblößter Brust. Brian saß zu ihm hinauf. Seine Augen waren feucht verschleiert, der sinnliche Mund war leicht geöffnet. „Lance…“, sagte er leise. „Brian…“, flüsterte er heiser zurück. Brian umfasste seine tastende Hand und hielt sie fest, hob sie von seiner Haut. „Lance…“, sagte er erneut. Es war etwas Bittendes in seinen Zügen. „Du weißt, dass du mir viel bedeutest?“ fragte er. Lance nickte. Oh bitte… er wollte die Berührung… was war…? „Ich… ich kann das jetzt nicht…“, sagte Brian entschuldigend. „Ich will nicht, dass es… kaputt geht…“ „Was?“ fragte Lance, die Augen fest auf Brians Lippen geheftet. „Wir… Dass das mit uns…“, meinte Brian. „Was meinst du?“ flüsterte Lance, in den Anblick versunken. „Ich will das nicht… überstützen. Mit Justin, das war… immer nur Sex, Sex und wieder nur Sex… Ich will nicht, dass es wieder darauf hinaus läuft. Dass wir uns so… erniedrigen… Ich möchte etwas… Wahrhaftiges…“ Lance nickte erneut langsam: „Was meinst du?“ „Ich will… dass wir es langsam angehen. Nichts überstützen. Uns weiter kennen lernen… Ein paar meiner Familienmitglieder kennst du ja schon, meine Freunde noch gar nicht… Und was ist mit deiner Familie…? Es wäre schön, wenn wir uns… spirituell näher kommen würden… Ich fühle da so eine Verbindung, etwas Unglaubliches… wachsen. Und Sex würde das zu Nichte machen! Ich möchte fürs erste gar nicht… Ich habe mir geschworen… Um das Alte hinter mir zu lassen, neu zu beginnen, frei… und die alten Sünden wieder gut zu machen, vor Gott… dass ich…“ Brian atmete tief durch und schloss die Augen. „Was… was meinst du?“ fragte Lance sanft. „Eine Reinigung… Ich habe es vor Gott geschworen! Ich muss das… ich brauche das… Ich kann jetzt keinen Sex haben, ein Jahr, so lautet mein Deal mit dem großen Schöpfer… Aber das ist auch Zeit, in der etwas anderes wachsen kann… mit uns… wenn du warten kannst?“ Ein Jahr?! Spirituelle Nähe?! Deal mit Gott?! Jetzt war es amtlich… Brian hatte ein Rad ab. Es war ja klar gewesen…Da traf er den perfekten Mann – und dann war er irre! Was hatte Blondchen gesagt? Du bist nicht auszuhalten… Oh Gott, das war wirklich nicht auszuhalten. Nie im Leben würde er diesen Zirkus, den Brian seine Familie schimpfte, überleben, wenn er obendrein ihre Nähe nur auf „spiritueller“ Ebene erfahren durfte! Er starrte Brian an. So wunderschön… er wollte, wollte ihn so sehr… „Aber Sex ist doch nichts Schmutziges…“, versuchte er es. „Ich weiß“, meinte Brian. „Aber nach dem, was war, brauche ich das… und ich habe geschworen… Ansonsten sehe ich keine Grundlage… für uns. Ich weiß, das ist viel verlangt…“ In der Tat. Zu viel. Die ganze Scheiß-Mühe für die Katz. Lance seufzte. „Ich muss darüber nachdenken“, meinte er. Aber das war gelogen. „Ich verstehe“, meinte Brian und sah ihn warm und dankbar an. „Ich sollte jetzt gehen…“ „Bist du sicher? Du kannst auch hier schlafen, einfach nur bei einander liegen…“, lockte Brian. Die Versuchung war groß. Zu groß. Das würde er nicht überleben. Lance schüttelte den Kopf. „Kannst du mir ein Taxi rufen?“ fragte er. „Sicher“, erwiderte Brian. …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Brian starrte aus dem Wohnzimmerfenster. Die Rücklichter Lances Taxi waren in der Dunkelheit verschwunden. Ein Luftzug zeigte an, dass jemand in den Raum trat. Das lavendellastige Parfüm verriet ihm wer. „Und?“ wollte Joan wissen. „Perfekt!“ stellte Brian fest. „Und danke für das widerliche Essen.“ „Du fandest mein Essen doch sowieso immer widerlich.“ „Stimmt. Weil du es mit so viel Zuneigung bereitet hast wie für einen toten Hamster, nicht weil die Zutaten falsch waren. Ausgenommen die Schokoladentorte“ „Hast du deshalb immer diesen… Fraß bei den Novotnys in dich hinein gestopft?“ „Ja. War zwar meist nur Nudel. Aber das war egal. Aber, Muttilein…“, unterbrach Brian sich selbst und grinste, „dein Fraß mit der geheimen Zutat Rache hat heute wirklich punkten können. Dagegen hätte Debbies Makkaroni-Auflauf nie anstinken können. Das war mit Abstand das Ekelerregenste, das ich je zu mir genommen habe!“ „Danke“, meinte Joan nur trocken. „Und dieses Dessert. Hölle, war das… ich weiß auch nicht… eklig wäre untertrieben. Brechreizerregend? Gedärmeumkrempelnd? Toll, einfach toll!“ lobte Brian, fleißig in die Kerbe hauend. „Ich bin ja so geschmeichelt… Hat es denn funktioniert?“ „Oh ja! Wie hat es Whinefourt geschafft, nicht auf den Tisch zu kotzen? Also, ich war kurz davor. Respekt. Aber der ist mürbe… glaube mir…“ „Was hast du ihm erzählt?“ „Dass ich ein Keuschheitsgelübde abgelegt habe… Aber ihn gerne das ganze kommende Jahr rein platonisch ergründen würde…“ „Wer glaubt dir denn sowas, bitte?“ „Jemand, der mich nicht kennt… Wie du, lange Zeit.“ Das stimmte. Brian war in ihrer Gegenwart immer merkwürdig asexuell geblieben. Bis sie ihn mit Justin erwischt hatte. Das war dann nicht mehr so asexuell gewesen… „Und was hast du jetzt vor?“ wollte Joan wissen. „Was wohl? Ich fühle doch so eine innige Verbindung zu ihm… Wie könnte ich ihn da ziehen lassen.“ „Brian… Woher hast du das bloß?“ „Ich habe bei einer Meisterin gelernt…“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Justin war noch vor dem zweiten Läuten am Telefon. „Brian?“ „Ja!“ kam es wohl gelaunt. Justin grinste: „Es ist gut gelaufen.“ „Kann man so sage. Bereit für Phase drei?“ „Ich bin vorbereitet. Bevor du es sonst wie erfährst: Michael ist mit von der Partie.“ „Michael… Aber…“ „Keine Panik. Er weiß nur, was er wissen muss. Aber er wird helfen.“ „Warum?“ „Warum was? Weil er dein Freund ist?“ „Wir waren uns nicht besonders grün…“ „Euer Bier. Ich springe da garantiert nicht zwischen die Fronten. Aber er will dir helfen – und er wird.“ „Mmm… wenn du meinst…“ „Es ist sinnvoll.“ „Nun gut, du König der Logik… Hoffentlich geht das jetzt rasch über die Bühne.“ „Wird schon. Geduld.“ „Geduld? Genau das habe ich Lance erzählt. Und das hat ihm wahrscheinlich den Rest gegeben. Ich will mich nicht gedulden. Ich will dich ficken. Und zwar jetzt.“ „Wenn dein Schwanz nicht um einige Kilometer zugelegt hat, wird das schwierig.“ „Setzt deinen Arsch in Bewegung. Wir treffen uns.“ „Äh… ach ja?“ „Ich, du, ein siffiges Stundenhotel…?“ „So schlimm?“ „Ja! Geht es dir etwa besser?“ „Naja…“ „Lügner!“ „Okay! Ich bin schon unterwegs! Wo soll ich hin?!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)