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Familienbande

von

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Die Schuld der Joan Kinney

I. Die Schuld der Joan Kinney
 

Ted schoss der heiße Kaffee über den frisch gereinigten Anzug, als er sich genötigt sah, trotz seines beschwingten Schrittes eine Vollbremsung hinzulegen. Er unterdrückte einen Aufschrei, als die heiße Flüssigkeit auf seine Haut traf. Von seinem frisch gebügelt und gestärktem Hemd würde er sich wohl obendrein verabschieden können. Aber er war ja selber schuld. Er hatte sich über Monate angewöhnt, morgens, mittags und abends in Brians Büro bei Kinnetic einzuschneien, um nach seinem Freund und Boss zu schauen, immer bewaffnet mit einem heißen Kaffee als Vorwand. Brian hatte wie ein Besessener gearbeitet, aber es ging ihm nicht gut, das hätte auch jemand weniger Sensibles als Ted bemerkt. Aber nur Ted sah ihn jeden Tag und besaß so viel Taktgefühl, nicht ungefragt in ihn zu dringen, sondern ihm dezent da zu helfen, wo er es nicht als zudringlich oder fordernd begreifen konnte. Und Brian hatte es ihm auf seine wortlose Art gedankt.
 

Aber die Zeiten Brians Einsamkeit waren genauso vorüber wie Teds, zumindest hoffte der leitende Angestellte, der er inzwischen war, das inständig. Das Herz schlug ihm warm in der Brust, wenn er an die Nähe, den Frieden, die Vertrautheit dachte, die er heute Morgen beim Aufwachen verspürt hatte, als er Blakes schlafwarmen Atem auf seiner Brust gefühlt hatte. Und an die anderen Gefühle, die ihm den Atem geraubt hatten, als er danach noch deutlich mehr von Blake bekommen hatte als nur die Luft aus seinen Lungen.
 

Die Mittagspause war inzwischen kein günstiger Zeitpunkt mehr, um Brian mit Kaffee und dringenden geschäftlichen Belangen abzulenken. Dafür war jetzt nicht mehr Ted zuständig, sondern Brians… Ehemann. Ted musste immer noch ein wenig verwundert den Kopf darüber schütteln, dass diese Hochzeit schlussendlich doch stattgefunden hatte, obendrein noch mit ihm als Trauzeugen. Brian und Justin hatten das mit ihrer üblichen kompromisslosen Art und Weise knallhart durchgezogen, nicht als Zugeständnis wie beim ersten Anlauf. Ted fand es immer wieder verblüffend, wie gegensätzlich die beiden auf den ersten Blick schienen – und wie ähnlich sie bei näherem Hinsehen doch einander waren. Sie waren beide starke Persönlichkeiten. Sie waren beide, wenn auch auf grundverschiedene Art, ausgesprochen attraktiv. Sie waren beide intelligent. Und sie hatten beide mindestens eine Schraube locker. Ted seufzte. Fast sechs Jahre lang hatte er immer wieder in der ersten Reihe des Brian-liebt-Justin- Brian-liebt-Justin-nicht- Justin-liebt-Brian- Justin-liebt-Brian-nicht-Theaters gesessen, dass er fast die Hoffnung aufgegeben hatte, dass irgendwann doch noch ihre Herzen – oder wenigstens der Hauch von klaren Verstand, den sie in der Gegenwart des anderen aufzuraffen vermochten – siegen könnten. Und nun stand er, verbrüht und eingesaut, vor der verriegelten Bürotür. An der Wand neben Cythias leerem Schreibtisch lehnte Justins tragbare Staffelei, eine diskrete Warnung, ihnen jetzt bloß vom Leibe zu bleiben.
 

Cythia hatte sich in die Mittagspause verdrückt und würde frühestens in einer halben Stunde zurück kehren. Die anderen Angestellten wagten sich sowieso nur im äußersten Notfall oder auf direkte Einladung in die Nähe der Höhle des Löwen. Brian war ein fairer Boss, aber er war auch knallhart und hatte trantütige Praktikantinnen mit seiner scharfen aber berechtigten Kritik schon mehr als ein Mal zum Heulen gebracht. Brian respektierte Leute, die ihm auch in der Niederlage erhobenen Hauptes begegnen konnten – mit Faulenzern, Lahmärschen oder Dumpfbacken mit mehr Ego als Verstand kannte er allerdings keine Gnade. Genauso wenig wie aktuell mit Justins Arsch, wenn Ted die leise durch die Tür dringenden Geräusche richtig deutete.
 

Er seufzte. So ging das jetzt schon seit einer Woche mit absoluter Regelmäßigkeit. Nachdem sie Lindsay und Melanie zu Grabe getragen hatten, waren Justin und Brian wieder in wilden Aktionismus verfallen. Viel Anderes war ihnen auch nicht übrig geblieben. Es war ihnen gelungen, Gus ehemalige Kindergärtnerinnen aus dem überaus pädagogisch und auch sonst wie wertvollen Kinderhort soweit einzuwickeln, dass Gus bis zu seiner Einschulung unter der Woche zumindest halbtags wieder mit den anderen Kindern der frühkindlichen Förderung frönen konnte. Normalitäten wie diese und die Gesellschaft anderer Kinder taten dem Kleinen bestimmt gut, das musste Ted zugeben. Brian tauchte seitdem mindestens halbtags, manchmal auch etwas länger bei Kinnetic auf und nahm das Ruder wieder in die Hand, auch wenn er parallel vom Schreibtisch noch diverse andere Dinge managte, die seine neu geschmiedete Familie betrafen. Justin widmete sich von daheim ähnlichen Aktivitäten oder zog mit seinen Malutensilien durch die Stadt.
 

Wenn Justin malte, kannte er kein Pardon. Vor drei Tagen war Ted, von der Wäscherei kommend, Zeuge geworden, wie Justin, wohl einer plötzlichen Inspiration folgend, mitten im nahe gelegen Einkaufzentrum vor einer MacDonalds-Filiale seine Staffelei aufgebaut und völlig versunken die Leinwand bearbeitet hatte. Die Leute waren freudig herbei geströmt in der Erwartung, dass dieser putzig aussehende junge Mann ihnen ein paar süßliche Porträts oder wenigstens ein paar Einhörner und Regenbögen hin zaubern würde. Sie waren ziemlich verstört gewesen, als Justin stattdessen abstrakte Formen mit einer Gewalt auf die Malfläche gehämmert hatte, die einen Jackson Pollock wie einen lebensfrohen Bauernmaler aussehen ließen. Der Himmel wusste, was in Justin vorging, dass er diese Werke zustande brachte, die in Zusammenhang mit seiner sonst doch recht sonnigen Persönlichkeit gelinde gesagt irritierend wirkten. Aber vielleicht war es Ted einfach nicht vergönnt, diesen Teil von Justin zu sehen.
 

Er setzte sich geduldig in Cynthias Drehstuhl und musterte ihr neustes Blumenarrangement , das ihr ihr aktueller Verehrer hatte zukommen lassen. Cynthia war keine Schönheit, soweit Ted das beurteilen konnte, aber sie musste irgendetwas an sich haben, das die Kerle wie Motten anzog. Irgendein finsteres Geheimnis, das sie wahrscheinlich mit Brian teilte und in das er nie eingeweiht worden war. Ihm war‘s egal, er hatte eigentlich nie viele Kerle gewollt, sondern nur den einen, den Richtigen – blöderweise fiel der ja nicht einfach so vom Himmel.
 

Er wippte ein wenig auf dem luxuriösen Bürostuhl hin und her und verfolgte die Uhr. Abgesehen von dem Kaffee musste er Brian dringend wegen einer neuen Kampagne sprechen, die ein Bettwäsche-Konzern aus New York angefragt hatte. Sie wollten im Bereich der gesamten Ostküste werben, ein dicker Fisch, und erwarteten noch heute ein Gespräch mit dem Boss von Kinnetic persönlich. Tja, das würde wohl nichts werden, solange der in ganz anderen Angelegenheiten versunken war…
 

Er lehnte sich zurück und wartete. Das Rumpeln hinter ihm wurde lauter. Tja, mit Gus an der Backe ins Loft gepfercht blieb ihnen wohl nicht viel anderes übrig, bis sie das Landhaus bezugsfertig gemacht hatten. Er schielte auf die Uhr. Der Nachwuchs des Haushaltes Taylor-Kinney musste in einer knappen Stunde abgeholt werden, macht hin, da drin! Ted kannte Brians Unterlagen, auch die Tatsache, dass Justin und Brian – wenn auch diskret und ohne es raus zu posaunen – sich einen gemeinsamen Nachnamen zugelegt hatten. Damit würde Brian wohl von jetzt an alle relevanten Verträge unterzeichnen müssen, damit sie juristisch gültig waren.
 

Ted schüttelte eine Schneekugel mit einem Bergpanorama, die Cynthia außer Brians Sicht auf der Ablage deponiert hatte. Er fiel beinahe vor Schreck vom Stuhl und schrie kurz darüber auf, als von drinnen plötzlich „Oh Gott!!! JA! Brian! Jetzt! Justin! Ohhhh…. Jaaaaa! Ah! Ah! Ah! Jaaaaa!!!“ erschallte, gefolgt von einem lauten Schlag. Kurz war es still. Dann erschall Brians Stimme, noch immer etwas atemlos: „Ted, du perverser alter Spanner! Hängst du etwa mit einem umgedrehten Glas an der Wand? Oder hast du gleich ein Loch durchgebohrt?“
 

Ted räusperte sich und erwiderte: „Das ist ja wohl kaum nötig bei dem Rabatz! Lebt Justin noch? Was war das für ein fürchterlicher Lärm?“
 

„Du meinst die Laute unserer ungebremsten Leidenschaft?“ meldete sich Justin.
 

„Nein, ich meinte eher dieses Geräusch, als ob irgendetwas zu Bruch ginge…?“
 

„Ach das…“, kam etwas kleinlaut zurück, „äh Ted, könntest du fix einen Elektriker anrufen, während wir uns hier wieder startklar machen…?“
 

Zehn Minuten später wurde Ted gnädiger Weise empfangen. Brian und Justin wirkten beide immer noch leicht verschwitzt und gut durchblutet. Die verdepperte Stehlampe hatten sie dezent ins Badezimmer entsorgt.
 

Justin grüßte Ted mit einem Nicken und sagte dann, seine Jacke und seine Malutensilien an sich raffend: „Ich muss los, Gus vom Kindergarten abholen.“ Er trat auf seinen Mann zu, zog sein Gesicht zu sich hinunter und verpasste ihm einen Kuss, dass man hätte denken können, die beiden hätten sich seit Jahren nicht gesehen geschweige denn gevögelt – und nicht erst vor wenigen Minuten. Brian jagte seinem jungen Gatten die Zunge vermutlich bis zu den Mandeln hinein und kniff ihm dabei beidhändig in die Hinterbacken.
 

„Nur weil ihr euch zuhause zusammen reißen müsst, müsst ihr euch hier doch nicht aufführen wie die Karnickel!“ protestierte Ted.
 

„Mmm“, murmelte Brian in Justins Mund, „Karnickel? Komm mir bloß nicht mit Pelztieren… Apropos, du bist am Sonntag eingeladen.“
 

„Ich will euch in meiner Freizeit nicht beim Ficken zuhören oder gar –sehen!“
 

„Wer’s glaubt… Nein, mein Lieber, als mein heiß verehrter Trauzeuge unserer Familie zutiefst verbunden darfst du am Sonntag Gast bei Gus‘ Geburtstagsfeier sein.“
 

„Äh…?“
 

„Genau“, bestätigte Justin, während er Brian anzüglich angrinste und nun seinerseits in den Hintern kniff – na sowas? – „ wir laden dich herzlichst zum Kindergeburtstag ein.“
 

Ted lächelte: „Oh, natürlich komme ich gerne! Wünscht sich Gus irgendetwas Spezielles?“
 

Brians Gesicht bekam einen gequälten Zug, der Justin zum Lachen brachte.
 

„Nein, du hast die freie Auswahl. Und bring bloß keine Sahnetorte mit, die mir auf die Hüften hauen könnte, sonst darfst du beim Topfschlagen nicht mitmachen!“
 

„Ihr macht Topfschlagen???“
 

„Mal sehen… vielleicht… haben schon lange nicht mehr zu Hause auf irgendetwas eingehämmert…“ Brian leckte Justins Ohrmuschel, dass dieser beinahe schnurrte.
 

„Ihr seid einfach unverbesserlich! Wartet’s nur ab – entweder färbt das unbewusst auf Gus ab oder es ist sowieso erblich. Ihr werdet euch noch umschauen, wenn euer Sohn in die Pubertät kommt! – Und ne Hete ist!“
 

„Oh Graus!“ entfuhr es Justin und Brian gleichzeitig.
 

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Michael wiegte Jenny lächelnd auf dem Schoß, während er darauf wartete, dass der Computer seine aktuellen Verkaufsstatistiken hoch lud. Er hatte beschlossen, sich schwerpunktmäßige auf den Handel mit Sammlerstücken und Raritäten per Internet zu verlegen, was ihm ermöglichte, von zu Hause aus zu arbeiten. Er hatte zwei Angestellte für den Laden angeheuert, die die Tagesgeschäfte führten. Bisher schien alles zu klappen, der Rubel rollte. Er hatte sich erst einmal in die internationalen Versandregelungen einarbeiten müssen, aber seit ein paar Tagen kamen auch positive Rückmeldungen von Kunden in Europa und Asien. Gepriesen sei die Globalisierung! Er hörte, wie unten die Tür ging. Hunter kam die Treppe hinauf gehastet und blieb tief atmend vor ihm stehen.
 

„Was ist los, James?“ Sie hatten sich angewöhnt, ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen, auch wenn er sich zuerst gesträubt hatte, weil er ihn mit seiner unseligen leiblichen Mutter in Verbindung brachte. Aber Hunter war sein Name als Stricher gewesen, das sollte er nicht sein Leben lang mit sich herum tragen. Er sollte einen wirklichen Namen haben, seinen, wenn er je mit sich ins Reine kommen wollte, hatte Ben argumentiert. Und Hunter hatte schließlich zugestimmt.
 

Der Junge hielt ihm japsend ein Heft unter die Nase. Michael nahm es ihm vorsichtig ab und schlug es auf. Es war eine Mathematikarbeit. Er hatte ein A+.
 

„Oh James! Das ist ja wundervoll! Du bist ja ein richtiges Mathematik-Genie! Also von mir hast du das nicht!“
 

James grinste. „Ihr Nulpen kennt euch ja nur mit Wörtern und Bildern aus. Einer hier muss ja auch mal eins und eins zusammen zählen können…“ Michael lächelte trotz James harscher Worte. Der Unterton verriet, wie stolz der junge Mann auf seine Leistung war – und wie froh darüber, dass Michael sie würdigte.
 

„Ich dachte… also… wenn die Noten stimmen… Ich würde gerne ans College, Mathe studieren…?“
 

Michael strahlte. „Aber ich weiß, das ist zu teuer…“, wandte James ein und senkte den Kopf.
 

„Nein, James, warte!“ sagte Michael, als Hunter sich zum Gehen wandte. „Vergiss nicht, dein Vater ist Professor am College. Wäre doch gelacht, wenn wir dich da nicht rein bekommen! Und mach dir wegen des Geldes keinen Kopf!“ Sie hatten es zwar nicht so dicke, aber für die Studiengebühren an einem normalen College würde es schon reichen.
 

James hob den Kopf. Auf seinen Zügen lag ein hoffnungsvoller Schimmer. „Was, echt jetzt?“ fragte er atemlos.
 

Michael nickte. Der Junge sollte glücklich sein, eine Zukunft haben, wie er es verdient hatte. Es würde ihnen schon etwas einfallen.
 

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Joan Kinney lag auf dem Rücken auf der mit winzigen Blüten verzierten Tagesdecke ihres Bettes. Das Ehebett hatte sie der Wohlfahrt gespendet, als Jack gestorben war. Sie fühlte den Alkohol in ihren Blutbahnen. Er gab ihr nicht die ersehnte Erlösung. Claire und ihre Enkelsöhne waren Gott sei Dank nicht da. Die Kinder waren in der Schule – oder sie trieben sich herum. Claire jobbte in einem Supermarkt und scharwenzelte dort um den Geschäftsführer herum. Ihre Tochter hatte wirklich keinen Funken Würde im Leib. Aber immer noch besser als ihr Sohn.
 

Sie lachte bitter. Brian war immer so perfekt gewesen. Alle hatten ihm abgenommen, dass er der Klügste, der Talentierteste, der Charmanteste sei. Alle hatten sie um ihn beneidet. Und dann das. Er war homosexuell. Und er schämte sich nicht einmal dafür. Als sei das nichts, gegen das man nicht kämpfen könne, kämpfen müsse.
 

Sie schloss gequält die Augen. Jetzt wussten es alle. Die Heiratsanzeige. Ihre alten Freundinnen, sie lachten sich garantiert ins Fäustchen. Ihre Söhne waren alles Versager, Säufer, hohle Angeber, genau wie ihre Väter, wie Jack. Nur Brian hatte es geschafft, hier rauszukommen, wo ihre Familien schon seit Generationen festhingen. Und warum? Damit er in aller Seelenruhe kleine Jungs betatschen konnte. Wie diesen kleinen Blonden. Justin Taylor. Das war er doch gewesen, damals, nackt in Brians Bett, wütend und anklagend in ihrem Wohnzimmer. Und den meinte Brian nun geheiratet zu haben in dieser abartigen Parodie einer Ehe.
 

Sie zog sich das Kissen über den Kopf. Sie sah den kleinen Jungen vor sich, der mit riesigen braun-grün schimmernden Augen zu ihr aufgeschaut hatte, um ein Zeichen der Zuneigung bettelnd. Jedes Mal, wenn ihre Liebe für ihr Kind drohte hoch zu kochen, hatte sie einen Riegel davor geschoben. Sie wusste, was mit Liebe geschah. Sie wusste, dass der Hass wie ein brüllendes Tier in ihrem Windschatten lauerte und nur darauf wartete, herausgelassen zu werden. War sie daran schuld, dass Brian so geworden war?
 

Joan setzte sich auf. Wenn dem so war – war es dann nicht ihre Pflicht, etwas zu unternehmen? Brian zu retten?

Die Frage bleibt: Warum?

II. Die Frage bleibt: Warum?
 

Craig stand auf der Vorderveranda des gepflegt aussehenden Häuschens, das seine Ex-Frau mit seiner Tochter bewohnte, und drückte den Klingelknopf. Jennifer hatte es in den letzten Jahren als selbständige Immobilienmaklerin zu bescheidenem Wohlstand gebracht, der es ihr ermöglicht hatte, für sich und ihre Tochter ein Eigenheim zu erwerben, das sie mit der für sie typischen Liebe zum Detail hergerichtet hatte. Das Ergebnis war auf eine geschliffene und wohl durchdachte Art sehr weiblich.
 

Es war anfangs nicht leicht für sie gewesen. Zwar hatte er seine Schuldigkeit getan und regelmäßig Unterhaltzahlungen an sie überwiesen, aber der Betrag war dank seiner geschickten Anwälte nicht allzu üppig gewesen. Als sie begann, auf eigenen Füßen zustehen, hatte sie auf ihn verzichtet. Er wusste nicht, ob sie es daher getan hatte, weil sie das Gefühl der Abhängigkeit von ihm los werden wollte oder auch weil sie einen endgültigen Schlussstrich unter ihr altes Leben als gutbürgerliche Hausfrau hatte ziehen wollen. Nicht dass er verärgert darüber gewesen wäre. Sie hatte ihn verlassen, wutschäumend die Scheidung eingereicht, als Justin endgültig mit ihm gebrochen hatte. Und auch er war außer sich gewesen, hatte die Schuld bei ihr gesucht und bei seinem Sohn.
 

Er erinnerte sich daran, wie sie sich kennen gelernt hatten auf dem College. Sie hatte eine kluge Eleganz verströmt, eine lachende Willensstärke, eine ruhige Aufrichtigkeit und zugleich eine fast mutwillige Energie. Und er hatte sie wunderschön gefunden, ihre zarten Formen, das damals noch lange üppige blonde Haar, die blitzenden blauen Augen. Sie hatte ihn fasziniert, weil sie aus so ganz anderen Verhältnissen stammte als er. Finanziell gaben sich ihre Familien nicht viel. Aber die Taylors waren Handwerker, Praktiker mit einem gewissen kaufmännischen Geschick. Ihre Eltern hingegen hatten ein Haus voller Bücher, an den Wänden hingen richtige Gemälde, keine Reproduktionen aus dem Einkaufzentrum. Sie gingen ins Museum, ins Theater. Jennifers Vater war Dozent für Geschichte gewesen, ihre Mutter freischaffende Journalistin. Seine Mutter war Hausfrau gewesen. Jennifers Eltern waren kurz hintereinander gestorben, als Justin noch zur Schule ging, er an Lungenkrebs – er hatte sein Leben lang riesige Pfeifen geraucht, dass man den Verdacht bekam, sie seien an ihm festgewachsen – sie an Herzversagen.
 

Jennifer hatte sich für Kunstgeschichte und Literatur eingeschrieben. Brotlos, hatten Craigs Eltern kommentiert, als er ihnen von ihr berichtete. Sie hatte ihm von ihren Büchern erzählt, von den Bildern, die sie so liebte. Es hatte ihn ein wenig verschüchtert aber zugleich fasziniert. Eine fremde Welt. Eine Welt, die sie liebte.
 

Kurz vor ihrem Abschluss war Jennifer schwanger geworden. Er liebte sie und fragte, ob sie ihn heiraten wolle. Sie sagte ja. Er stieg zunächst ins Geschäft seines Vaters ein, ein kleiner Laden für Elektrogeräte von der Art, die von den großen Konzernen ruiniert wurden. Aber Craig war geschickt gewesen. Er hatte den persönlichen Kontakt zu seinen Kunden gesucht, dass sie ihn um seinetwillen riefen, auch wenn er keine Dumping-Preise liefern konnte. Dann war er Schritt für Schritt expandiert. Hatte selbst begonnen, die Kleineren zu schlucken. Sein Vater überließ ihm mehr und mehr die Kontrolle. Es war viel Arbeit gewesen. Jennifer sagte, dass sie sich erst Mal um das Baby kümmern wolle, dann sei immer noch Zeit für ihre Karriere. Aber dazu sollte es in ihrer gemeinsamen Zeit nie kommen.
 

Das Kind wurde im Winter geboren, in einer eisigen Nacht Anfang Februar. Draußen waren fast zwanzig Grad unter Null gewesen. Dennoch war ihm, als sei die Sonne aufgegangen, als er seinen kleinen Sohn in die Arme gelegt bekam. Jennifer sah völlig erschöpft aus, aber sie lachte vor Glück. „Wie wollen wir ihn nennen?“ hatte Craig gefragt, während er sich nicht sattsehen konnte an dem winzigen Geschöpf, aus dessen zerknittertem Gesicht ihn strahlend blaue Augen musterten. „Ich dachte an Justin“, hatte Jennifer gesagt. „Justin?“ hatte er gefragt, weil er wusste, dass seine Frau nichts ohne Grund tat. „Justin, von lateinisch Justinius, der Gerechte“, hatte sie mit geschlossenen Augen, immer noch lächelnd unter der verschwitzten Frisur, erwidert. „Der Gerechte“, hatte Craig zurück gelächelt, „das finde ich wunderschön. Gerechtigkeit gibt es immer zu wenig auf dieser Welt. Vielleicht ist heute ein wenig mehr davon auf diese Erde gekommen.“ Sanft hatte er die zarten Wangen seines kleinen Jungen gestreichelt und ihn vorsichtig gewiegt. Er hatte den Kopf gesenkt und diesen unglaublichen Geruch eingeatmet, den nur das eigene Kind verströmt. „Justin“, hatte er wiederholt, „willkommen in dieser Welt. Ich bin dein Papa. Und ich schwöre dir, ich werde dich immer lieben, immer für dich da sein.“
 

Es sei denn du bist schwul und ein Teenager, schoss Craig mit einem eiskalten Schauder über den Rücken genau in dem Augenblick, als Jennifer die Tür öffnete.
 

„Oh“, sagte sie, etwas überrascht, „du bist früh dran, Molly ist noch nicht wieder daheim. Aber komm doch rein.“
 

Sie musste selbst heute Morgen bereits gearbeitet haben, sie trug ein seriös aussehendes, ihrer Figur ausgesprochen schmeichelndes graublaues Business-Kostüm. Er folgte ihr ins Wohnzimmer. Ihr Geschmack war hier voll zum Tragen gekommen, klassisch mit verspielten Details. So hatte ihr Zuhause auch immer ausgesehen. Sie hatte sich ja darum gekümmert, während er gearbeitet hatte.
 

Er setzte sich auf die Couch, während sie ihm, einem uralten Ritual folgend, wortlos einen Kaffee reichte.
 

„Danke“, sagte er und nahm vorsichtig einen Schluck aus dem dampfenden Becher.
 

Sie setzte sich in den Sessel, die Beine in den seidenen Strumpfhosen akkurat neben einander gestellt, die Hände im Schoß gefaltet, den Rücken aufrecht durchgedrückt.
 

Er senkte den Blick. „Wie geht es Justin?“ fragte er möglichst beiläufig.
 

„Gut“, sagte sie einsilbig, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
 

„Wie ist seine Ausstellung gelaufen?“ bohrte er nach. Molly hatte ihm davon erzählt.
 

„Sehr erfolgreich. Seine Bilder verkaufen sich ausgezeichnet. Er hat einen festen Vertrag mit einer der Top-Galerien in New York. Katlin’s. Er ist dabei, sich einen Namen zu machen“, berichtete sie.
 

„Das ist gut“, nickte er. „Und sonst so?“ fragte er harmlos.
 

Jennifer atmete tief durch. „Du weißt es doch“, sagte sie und richtete den Blick fest auf ihn.
 

Er schloss kurz die Augen, dann nickte er tonlos.
 

Sie schwiegen. Craig nahm einen weiteren Schluck Kaffee. Dann straffte er sich und sah Jennifer, einst seine Jennifer, jetzt diese aufrechte, immer noch bildschöne Frau in den mittleren Jahren, die sich meilenweit von ihm entfernt zu befinden schien, an. Dann sagte er als Feststellung und nicht als Frage: „Er hat ihn geheiratet.“
 

„Ich weiß“, sagte Jennifer, „ich war dabei.“
 

Craig lachte kurz auf, ob aus Schmerz oder Verzweiflung, wusste er nicht. Aber Häme fühlte er nicht. „Warum?“ fragte er die einzige Frau, die er je geliebt hatte, „warum?“
 

Jennifer schüttelte bedächtig den Kopf: „Aus vielen Gründen. Ich kenne sie nicht alle. Aber vor allen Dingen, weil sie sich lieben.“
 

Craig starrte in seinen Becher. Er hatte es damals versucht. Versucht, Justins Homosexualität zu akzeptieren. Aber dieser Kinney hatte es ihm unmöglich gemacht. Mit seinen Perversitäten. Mit seinem Besitzanspruch. Komm Justin, wir gehen. Mit seinem Auftreten, seiner Gegenwart, seiner ganzen Persönlichkeit. Das war fast sechs Jahre her. Und er war immer noch da.
 

Er richtete die Augen auf seine Ex-Frau. „Warum?“ fragte er fast flehentlich. „Ich begreife es einfach nicht. Dieser Kinney war doch ein gestandener Mann. Der hatte doch sein eigenes Leben. Warum hat er sich ausgerechnet Justin ausgesucht?“
 

„Hat er nicht“, antwortete Jennifer, „die beiden haben einander ausgesucht. Gegen jeden Willen und jede Vernunft. Glaub nicht, mir sei es leicht gefallen, das zu akzeptieren. Aber es war schlichtweg nichts daran zu ändern.“
 

Craig sah sie an: „Und… ist er glücklich?“
 

Jennifer musterte ihn prüfend. „Ja“, sagte sie schließlich, „ich denke, das ist er. Seit wann interessiert dich das?“
 

Craig schluckte. „Es war mir nie… egal“, sagte er schließlich.
 

„Dann hattest du eine komische Art, das zu zeigen“, erwiderte Jennifer hart.
 

„Ich weiß“, sagte er nur. Nach einer kurzen Pause schloss er an. „Ich begreife es nur nicht. Ich kenne ihn nicht mehr. Ich sehe ihn vor mir, und er ist immer noch mein kleiner Junge. Unser kleiner Junge. Aber er ist erwachsen geworden, nicht wahr? Warum liebt er diesen… Mann?“
 

Jennifers Züge bewegten sich in Richtung eines schmerzhaften Lächelns: „Warum haben wir uns geliebt?“
 

Craig sah sie an. Dann fragte er: „Und warum haben wir damit aufgehört?“
 

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Ben beobachtete Michael, der sorgsam eine muskelbepackte Action-Figur in Seidenpapier einschlug. Gus‘ Geburtstagsgeschenk. Jenny schlummerte, würde aber gewiss bald wieder hungrig werden.
 

Es war ungewohnt, ein Baby um sich zu haben. Ben war ein Einzelkind. Seine Eltern hatten sich in Florida zur Ruhe gesetzt. Er hatte ihnen nichts von seiner Krankheit erzählt. Er hoffte, sie zu überleben, um ihnen den Kummer zu ersparen. Und selbst wenn nicht – was würde es ihnen helfen, davon zu erfahren? Nur unnötiger Kummer würde daraus erwachsen.
 

Aber Jenny… war ein Geschenk des Himmels. Er konnte sich nicht sattsehen an ihr, ihren kleinen Fäusten, der winzigen Nase, den dunklen Augen, die glänzten wie Michaels. Er war ein Vater. Ein zweifacher Vater – wider aller Erwartung, wider aller Hoffnung. Michael hatte das möglich gemacht, hatte ihm die Stärke gegeben, für Hunter zu kämpfen, hatte ihn mit Jenny gesegnet. Er hatte es mit Philosophie probiert, mit Religion, wollte nach Tibet pilgern, um inneren Frieden und Versöhnung mit seinem Schicksal zu finden – aber all das hatte nicht wirklich geholfen gegen die Verzweiflung, die Versuchung, einfach aufzugeben, sich in den Verfall, den Tod zu schicken. Aber jetzt hatte er einen Sinn. Seinen Mann. Seinen Sohn. Seine Tochter. Er musste leben. Nicht nur, um mit ihnen zusammen sein zu können. Sondern weil sie ihn brauchten. Ihn liebten. Verzweifelt wären, wenn sie ihn verlören. Er würde jeden Kampf aufnehmen, um das möglich zu machen.
 

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Michael hatte Jenny mit in der Mikrowelle erwärmter Kunstmilch gefüttert. Seine leibliche Mutter würde ihn für dieses Synthetik-Zeug wahrscheinlich eines Tages von seiner wohlverdienten Wolke in den Abgrund der Hölle schubsen, aber es ließ sich nicht ändern. Seine Brustwarzen hatten nun mal leider rein dekorative Funktion. Sie waren durchaus zu gebrauchen – aber nicht gerade zum Füttern des Nachwuchses.
 

Ben hatte sich die Brille auf die Nase gesetzt und korrigierte die Arbeiten seiner Absolventen. Michael beobachtete ihn und lächelte. Wir sehr er ihn liebte. Es hatte ihn so viele Jahre gekostet, bis er endlich in der Lage gewesen war, dieses Gefühl aufrichtig in sich wachsen zu lassen. So lange hatte er sich hinter Brian versteckt.
 

Michael hatte Angst gehabt in der High School. Er war klein gewesen. Schüchtern. Einsam. Ein Comic-Freak, der selbst im Schach-Club keinen Pokal gewinnen konnte. Und dann war da plötzlich Brian Kinney an seiner Seite gewesen. Brian, der von allen beneidet wurde. Brian, dessen Freund jeder sein wollte und keiner war. Brian, der jede Huldigung gnädig entgegen nahm, ohne wirklich darauf etwas zu geben. Brian, der Klassenbeste. Brian, der Sportstar. Und dieser Brian hatte seine Nähe gesucht, instinktiv, als wüsste er, dass sie etwas verband, das ihn wirklich berührte.
 

Er erinnerte sich, wie Brian eines Tages vor ihrer Haustür gestanden hatte. „Guten Tag“, hatte er strahlend zu Debbie gesagt, „ich bin Brian. Michaels Freund.“ Und das war er gewesen. Brian hatte ihm zugehört, wenn er über Captain Astro fantasiert hatte. Er hatte gelacht, aber ebenso viel mit ihm wie über ihn. Er hatte die Comics gemustert. „Coole Muskeln!“ hatte er gesagt. Dann hatten sie gemeinsam überlegt, was sie tun würden, wenn sie die Superhelden wären. Die Schule in die Luft jagen. Joan Kinney dazu zwingen, den ganzen Tag zu lächeln. Coach Stephenson dazu zu zwingen, nackt in den Unterricht zu kommen, ohne es zu bemerken.
 

Dann war der Tag des Patrick Swayze gekommen. Brian hatte ihn… berührt. Atemlos. Dann war Debbie hinein geplatzt gekommen. Er hatte nie mehr bekommen. Nur die Hoffnung. Sein Herz schmerzte. Er hatte sich verliebt. Zwei Tage später hatte Brian ihm erzählt, dass er Coach Stephenson unter der Dusche einen geblasen hatte. Er hatte die langen Glieder auf Michaels Bett ausgestreckt und mit genüsslichem Grinsen berichtet, wie er es gemacht hatte, wie es sich angefühlt hatte, wie das fremde Sperma auf seiner Zunge geschmeckt hatte. Michael hatte zugehört, während etwas in ihm zerriss. Er wollte, dass Brian ihn berührte, von seinem Geschmack betört war. Und er wollte Brian, der aufrecht seines Wege ging und sich nicht in seine Niederungen hinab begab. Der über alles hinweg flog und nur landete, wenn er es wollte. Wie Captain Astro. Damit hatte es begonnen.
 

Brian, der mit verzückt-verächtlichem Gesicht seine Audienz im Darkroom gab. Brian, der den Trick von letzter Nacht auslachte, wenn er ihn wiedersehen wollte, und dann mit Michael nach Hause zog. Brian, der ihm, betäubt von Ectasy, die Zunge in den Hals drückte, um dann lachend seine forschende Hand fort zu schlagen, als würde sich Michael einen Witz erlauben. Brian auf der Jagd.
 

Dann war Justin gekommen. Und Justin hatte keinen Captain Astro gesehen. Keine Legende. Keinen unnahbaren Gott. Jeder hatte ihm gesagt, dass Brian ein hoffnungsloser Fall sei, dass Brian Lichtjahre jenseits der Reichweite eines minderjährigen, unerfahrenen Twinks sei. Justin hatte sich ihre Reden angehört. Und hatte sich nicht darum geschert. Er kannte die Spielregeln nicht. Erschuf sich seine eigenen. Stapfte einfach unbeirrte nach vorn. Michael begriff nicht. Justin rannte durch Wände, einfach weil er deren Existenz ignorierte. Da waren Mauern, durch die auch er nicht hindurch kam und ihn straucheln ließen. Aber da war er schon jenseits aller Wälle gewesen, die Michael je zu Gesicht bekommen hatte. Dieser kleine Blonde grinste Brian einfach frech ins Gesicht und machte unbeirrt weiter. Und Brian ließ ihn gewähren. Das war es wohl, was Michael in jener Anfangszeit, als er noch immer gnadenlos zwischen Nähe und Ferne an Brian gefesselt gewesen war, so wahnsinnig gemacht hatte. Nicht der Umstand, dass Justin es versuchte. Das hatten schon ganz andere getan. Sondern dass er damit durchkam. Dass Brian ihm Einlass gewährte, wo er vor Michaels Nase seit vielen Jahren die Tür zuschlug. Und Justin ließ auch dann nicht locker, als Brian versuchte, die verbleibenden Mauern aufrecht zu erhalten. Nach und nach fielen sie, auch gegen Brians Willen. Und das hatte Michael erst Recht erbost, ratlos gemacht. Brian war zum ersten Mal, seit sie sich kannten, wehrlos, gleichgültig, wie sehr er um sich trat. Justin hatte ihn erledigt ebenso wie er Justin zur Strecke gebracht hatte. Schon lange, bevor er in der Lage gewesen war, es sich einzugestehen oder gar danach zu handeln. Zu dem Zeitpunkt war Michael bereits frei gewesen. Frei zu lieben. Er liebte Brian als Freund. Er hatte ihn bis zum verrückt werden begehrt. Aber er hatte ihn nie als Partner geliebt. Das gehörte Ben. Und Brians Liebe gehörte Justin. Warum auch immer. Er gönnte ihnen ihr Glück. Aber er verstand sie nicht wirklich. Er hatte immer gewusst, dass es Teile von Brian gab, zu denen er keinen Zugang hatte. Teile, die Brian schon früh mehr oder minder bewusst hatten erkennen lassen, dass Justin eben keine austauschbare Dutzendware war. Justin war zweiundzwanzig Jahre alt und dabei, ein Begriff in der internationalen Kunstszene zu werden. Er war in Hollywood gewesen, auch wenn das Projekt geplatzt war. Er hatte unter zweitausend Bewerbern einen von zwanzig Studienplätzen am PIFA ergattert. Sein Vater hatte ihn rausgeschmissen und ihm jegliche Unterstützung versagt, als er gerade siebzehn gewesen war. Justin war trotzdem durchgestartet. Nicht wegen aber mit Brians Hilfe. Als Michael zweiundzwanzig gewesen war hatte er im Big Q angefangen.
 

Aber inzwischen war es nicht mehr von Bedeutung. Er hatte sein Glück gefunden. Seine Familie. Aber er wünschte sich, begreifen zu können. Er wünschte seinem Freund nur das Beste. Aber er würde es gerne mit ihm teilen können. Brian hatte sich über sein Glück in der Vergangenheit schrecklich abfällig geäußert. Stepfordhausen. Ob er das immer noch so sah? Und wie wollte er seine eigene Zukunft anpacken, schließlich hatte er jetzt auch Familie? Wie sollte das funktionieren?
 

Michael seufzte. Er sehnte sich nach einem Teil der alten Nähe. Ted war Brians Trauzeuge gewesen, nicht er. Unglaublich. Brian hatte ihm nicht genug Vertrauen entgegen gebracht in einem der wichtigsten Momente seines Lebens. Hatte nicht gewollt, dass er über sein Glück wachte. In Michael zog es sich zusammen. Die Frage blieb: Warum?

Zwei Wochen

III. Zwei Wochen
 

Justin und Brian wurden förmlich aus dem Tiefschlaf katapultiert, als etwas mit Vehemenz begann, auf ihrer Matratze auf und nieder zu springen.
 

„Aufwachen! Aufstehen! Ich habe heute Geburtstag“, jubelte Gus, während er über sie und recht schmerzhaft auf ihnen hopste.
 

Sie waren beide in die Höhe geschossen, das Haar von der Nacht in alle Richtungen stehend. Brian fing sich als erster und schnappte sich seinen außer Rand und Band durch die Luft sausenden Nachwuchs. Er schlang beide Arme um ihn und zog ihn, sich wieder hintenüber fallen lassend, an seine Brust. „Was?“ sagte er. „Wirklich? Du hast heute Geburtstag? Das sollen wir dir glauben?“ Er lachte breit.
 

Gus quietschte und strampelte: „Hab ich wohl! Und du weißt das auch! Ich habe heute Geburtstag!“
 

„Mmm, was soll ich dir bloß schenken?“ grübelte Brian demonstrativ die Stirn in Falten legend. „Ach jetzt fällt es mir ein, ein fröhliches Lachen ist das beste Geschenk!“ Er kitzelte Gus, dass dieser laut aufschrie und ihm wild zappelnd einen Tritt verpasste. Glücklicherweise erwischte er nur Brians Schenkel. Er hielt den japsenden Jungen fest in den Armen und streichelte über sein schimmerndes braunes Haar: „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Kleiner. Jetzt bist du schon sechs Jahre alt. Das ist… unglaublich.“ Er drückte seinem kichernden Sohn einen Kuss auf die Stirn.
 

„Jetzt bin ich schon fast so groß wie du!“ stellte Gus breit grinsend fest.
 

„Du träumst wohl!“ sagte Brian zärtlich.
 

„Justin!“ rief Gus und schnappte den immer noch etwas betäubten Blonden am Arm.
 

Justin lächelte warm und rutschte zu den beiden anderen hinüber. Gus robbte auf ihn und umschlang ihn. Justin setzte sich halb auf und wiegte den inzwischen gar nicht mehr so leichten Jungen, der sich um ihn geknotet hatte, hin und her. „Herzlichen Glückwunsch, Gus!“ stieß er etwas atemlos hervor. Gus strahlte ihn an und forderte seinen Geburtstagskuss.
 

Brian lachte und strubbelte Justins Haar, was Gus sofort mit Schalk in den Augen nachmachte, bis Justin aussah, als habe er Bekanntschaft mit einem Tornado gemacht.
 

„Und was ist mit meinen Geschenken?“ fragte der Kleine praktisch veranlagt.
 

Justin robbte aus dem Bett und streckte sich, während Gus ihn mit flehenden Blicken verfolgte. Justin merkte, wie sein Gesicht, ohne dass er sich hätte bremsen können, zu einem Lächeln dahin schmolz. Gus kindliche Züge leuchteten vor Begeisterung und Neugierde, Justin sah Lindsays Fröhlichkeit durch sie schimmern und eine vertrauensvolle Unbefangenheit, die auch Brian einst so besessen haben musste. Brian bemerkte mit hochgezogener Braue Justins verklärte Mimik, krabbelte hinter Gus her, legte seine Wange an die seines Sohnes und kopierte dessen Blick mit einem leicht hinterhältigen Unterton. Justin starrte sie einige Herzschläge völlig gebannt an. Dann schlug er sich die Hände vor die Augen und lachte: „Ihr macht mich echt fertig!“ „Du bist so leicht, Sonnenschein…“ sagte Brian, sich auf die Unterlippe beißend, als seine Mundwinkel nach oben zuckten.
 

„Geschenke?“ brachte Gus sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, den Dackelblick nun auf Brian gerichtet. Diesmal war es Brians Gesicht, das sich gegen ein leicht weggetretenes Strahlen nicht erwehren konnte. Justin witterte seine Chance, beugte sich herab, legte sein Kinn auf Gus‘ Schulter und verpasste Brian einen seiner unschuldig-wissenden Augenaufschläge, dass dessen Hirn kurzzeitig zu Watte wurde.
 

Justin grinste triumphierend und bemerkte: „Wie gut, dass du gegen dergleichen natürlich völlig immun bist.“
 

Brian schüttelte sich ertappt, bedachte Justin mit einer leichten Grimasse und zog Gus beim Aufstehen mit sich in die Höhe. Gus gab übermütige Laute von sich und schlang die Arme um den Nacken seines Vaters. Brian schwenkte ihn herum, und Gus wand sich von ihm um Justin, immer noch glucksend. Justin hielt ihn und lehnte sich vornüber, dass Gus, die Beine um seine Hüften geklammert, fast kopfüber hing und gleichzeitig lachte und flehte. „So“, sagte Brian, „viel Spaß ihr beiden. Ich verschwinde kurz aufs Klo. Und dann,“ fuhr er fort, Gus empörten Blick erhaschend, „gibt’s erst mal Frühstück.“
 

„Neiiiin!“ jaule Gus auf, „Justin!“ Raffiniertes Kind, wenn er bei einem Elternteil auf Granit biss, dann musste halt‘ das andere herhalten.
 

„Nix da“, sagte Justin, sich um Strenge bemühend, „erst Frühstück – dann gibt’s Geschenke.“
 

„Biiiiiiteeee!“ versuchte es Gus und bekam erneut Kulleraugen. Justin rollte die Augen hilfesuchend gen Decke.
 

„Nein, Gus!“ blieb er eisern, auch wenn es ihm höllisch schwer fiel. „Erst gibt es dein Lieblings-Frühstück, das ist doch auch schon ein Geschenk, dann putzt du Zähne und ziehst dich an, und dann haben wir alle jede Menge Spaß beim Geschenke auspacken, okay?“
 

Gus schaute etwas miesepeterig, sah aber ein, dass er hier nicht weiter kam: „Gibt’s Blaubeer-Pfannkuchen?“
 

„Ja“, lockte Justin und stellte ihn zurück auf den Boden, wo die kleinen nackten Füße platschend aufsetzten.
 

„Von Papa?“ fragte der Kleine misstrauisch.
 

„Nein, von mir“, antwortete Justin grinsend.
 

„Oh, gut“, antwortete Gus erleichtert.
 

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Gus stopfte die Pfannkuchen in sich hinein, dass selbst Justin drohte, dagegen blass auszusehen. Er fiel beinahe vom Stuhl, während er ungeduldig darauf wartete, dass auch Brian mit dem einen, den er sich zur Feier des Tages gegönnt hatte, fertig war. Brian schien nicht zu bemerken, dass er seinen Sohn beinahe in den Wahnsinn trieb, indem er die selten genossene Kalorienbombe filetierte wie einen Fago-Fisch und sich auf der Zunge zergehen ließ.
 

„Mmm, lecker“, lobte Brian geistesabwesend kauend.
 

„Äh, danke, Übung macht den Meister, sage ich da nur“, antwortete Justin mit einem scharfen Blick auf seinen kochunwilligen und ziemlich unbegabten Gatten.
 

„Den seinen gibt’s der Herr im Schlaf“, konterte Brian elegant mit einem gleichermaßen hohlen Sinnspruch.
 

„Dass du nicht kannst, wird dir vergeben, doch nimmermehr, dass du nicht willst!“ verpasste ihm Justin.
 

„Geben ist seliger denn nehmen!“
 

„Liebe geht durch den Magen!“
 

„Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu!“
 

„Ich will ins Bad!“ fuhr Gus dazwischen, der genauestens verfolgt hatte, wie Brian den letzten Bissen hinunter geschluckt hatte.
 

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Gefühlte dreißig Sekunden später waren sie alle gereinigt und angekleidet. Als sie hinter Gus her ins Badezimmer geschlurft waren, hatte der Kleine bereits Zahnpasta auf allen drei Bürsten verteilt gehabt und sie mit absoluter Bestimmtheit mit dem Kommando „Putzen!“ begrüßt.
 

Jetzt saß er vor Ungeduld fast platzend auf dem Sofa und starrte auf die Päckchen, die vor ihm von Justin wohlverschnürt auf dem Tisch lagen.
 

„So“, sagte Brian und schnappte sich ein etwas unförmiges Bündel und überreichte es Gus. Gus griff blitzschnell danach und begann wild an den Schnüren zu zerren.
 

Justin reichte ihm lächelnd eine Schere, die Gus würdevoll entgegen nahm. Geschickt zerschnitt er die Bänder. Das ließ auf Lindsays Gene hoffen. Ein enttäuschter Gesichtsausdruck flackerte kurz auf seinem Gesicht auf. Er hielt ein Meerschweinchen in der Hand, aber es war ein Stofftier. Edel, ohne Frage – so teuer, dass Justin sich gefragt hatte, ob es vielleicht mit echtem Feenhaar gestopft worden war – aber nichts Lebendiges.
 

„D… danke“, würgte er hervor.
 

Justin zwinkerte ihm zu und sagte: „Schau mal, was hat es denn da um den Hals?“
 

Gus beäugte vorsichtig die kleine Karte, die an dem Tier befestigt war. Er schaute sich fragend um, da er noch nicht lesen konnte.
 

„Mmm“, sagte Justin, „was steht denn da?“ Gus starrte ihn erneut hoffnungsvoll an. „Da steht, dass ich und Papa mit dir in den Zooladen fahren, sobald wir in unser neues Haus gezogen sind. Und dann darfst du dir selbst zwei Meerschweinchen aussuchen, die dann bei dir wohnen werden. Die du lieb haben darfst. Um die du dich kümmern musst. Und solange du noch warten musst, bleibt dieses Stofftier bei dir, damit es dich daran erinnert, dass du bald zwei echte Tiere haben wirst.“ Sie hatten sich erkundigt, Meerschweinchen sollte man nicht alleine halten. Nicht gerade zu Brians Entzücken.
 

Gus Gesicht war bei diesen Worten wieder aufgeglüht. Überschäumend sprang er auf und jubelte: „Danke! Danke! Wann ziehen wir um?“
 

Brian lächelte und sagte: „In zwei Wochen geht es los.“
 

Gus legte den Kopf schief und schien zu rechnen. „Das ist aber noch ewig hin!“ Für Gus‘ kindliche Wahrnehmung waren zwei Wochen eine unendliche Zeitspanne.
 

„Aber solange hast du doch… George“, sagte Justin in Gedenken an sein Kindheits-Meerschweinchen.
 

Gus musterte das Stofftier jetzt deutlich begeisterter, dann nickte er zufrieden und streichelte das Spielzeug: „Stimmt. Hallo George.“ Er versenkte sich in den Anblick, dann sagte: „Das ist das allerbeste Geschenk!“
 

Brian drückte seinen Sohn von hinten an sich. Der Gedanken, sein Heim mit diesen grenzdebilen Mümmlern teilen zu müssen, behagte ihm zwar noch immer ganz und gar nicht, aber zugleich sah er die Freude, die Gus wie ein Leuchten zu umhüllen schien und auch irgendwie ihn wärmte. Das war wahrscheinlich der Unterschied zwischen einem Opfer und einem Geschenk.
 

„Nun“, sagte Brian, „reicht das Gus? Dann magst du deine anderen Geschenke wahrscheinlich gar nicht mehr.“
 

Gus Augen blitzten augenblicklich auf, ohne dass er jedoch George losgelassen hatte. „Nein!“ entfuhr es ihm.
 

Justin lachte. „Nun, was willst du denn als nächstes auspacken?“
 

Gus musterte den Geschenkestapel, dann sagte er: „Das Runde!“
 

Justin reichte es ihm, wusste aber nicht, was sich darin verbergen mochte. Brian hatte es, im Laden bereits verpackt, mitgebracht. Gus griff danach und rupfte das Papier ab. Er bekam große Augen.
 

„Ein Ball!“ strahlte er. Justin schaute verdattert.
 

„Ja, Gus, ein Ball. Ein Fußball“, erklärte Brian, „mit so etwas habe ich mit meinem Vater immer gespielt, als ich klein war.“
 

Gus drehte den Lederball andächtig hin und her. „Wie spielt man das?“ fragte er.
 

Brian erklärte die Regeln in Kurzfassung, dass Justin der Kopf begann zu brummen. Aber Gus schien jedes Wort aufzusaugen. Er stand vom Sofa auf, legte George vorsichtig auf den Tisch und platzierte den Ball vor sich auf den Boden. Brian und Justin schauten ihm stumm zu. Eigentlich hätten ihnen warnende Worte entfahren müssen, als Gus begann den Ball anzuvisieren, aber sie waren gebannt von der plötzlichen Konzentration, die der kleine Junge an den Tag legte. Dann machte Gus zwei rasche Schritte, die kaum mehr kindlich-tapsig waren, traf das Leder und schoss es in hohem Bogen durch die Wohnung. Der Ball donnerte mit einem nicht zu verachtendem Rums gegen die Badezimmertür, prallte ab, tangierte ohne größere Schäden anzurichten den Esstisch und kullerte wieder brav zu ihnen zurück. Justin war reflexartig hinter der Sofalehne in Deckung gegangen.
 

„Toll!“ sagte Gus.
 

Justin starrte Brian etwas fassungslos an. „Ein Fußball?!“ fragte er ungläubig.
 

„Tja“, sagte Brian „damit wäre wohl geklärt, wer im Tor stehen muss. Im Abfangen harter Stöße bist du doch immer schon Weltklasse gewesen.“
 

Die nächste Stunde verbrachten sie damit zu verfolgen, wie Gus sich sorgsam von Päckchen zu Päckchen grub. Brian hatte die Gelegenheit genutzt, Gus nach seinen Vorstellungen neu einzukleiden. Justin drehte innerlich lachend die Augen. Der arme Gus konnte sich im Gegensatz zu ihm gegen die Junior-Armani-Flut kaum zur Wehr setzten. Hoffentlich klaute ihn nicht irgendwer, der ihn mit einem der Söhne David Beckhams verwechselte… Gus nahm den edlen Zwirn zur Kenntnis, bedankte sich artig und räumte ihn dann zur Seite, um im Wechsel wieder verliebte Blicke auf George und den Fußball zu werfen. Deutlich erfreuter reagierte er auf eine üppige Sammlung an Disney-Filmen, auf die Brian mit den Worten „Noch einmal Ariel und ich häng‘ mich auf!“ bestanden hatte. Justin war im Buchladen gewesen und hatte einige Werke erstanden, an die er sich selbst noch aus seiner Kindheit erinnerte oder deren eher anarchische Charme in angesprochen hatte. Brian lugte hinein, er kannte sie nicht. Bei ihnen zu Hause hatte es nur die erbauliche Lektüre gegeben, die die Kirchengemeinde für den Nachwuchs empfohlen hatte. „Der Katz mit dem Latz“ und „Wo die wilden Kerle wohnen“ waren definitiv nicht darunter gewesen. Beim Durchblättern ging ihm so einiges über Justins Wurzeln und die Gründe seines Wesens auf. Justin hatte noch ein weiteres Geschenk für Gus, das er ihm aber erst zu einem anderen Zeitpunkt geben wollte, wenn er es wirklich brauchte.
 

Gus saß etwas erschlagen in einem Haufen Geschenkpapier, als er die materiellen Bezeugungen väterlicher Zuneigung endlich abgearbeitet hatte. Einige nutzbringende Dinge waren noch zutage gekommen und Sachen, die Gus hoffentlich gleichermaßen gefielen wie sie sinnvoll waren. Es war nicht einfach gewesen, Brian zum Kauf eines Kinder-Schreibtischsets mit Spongebob-Motiven statt von in dezentem Dunkelgrün gehaltenen Montblancs zu überreden. Justin stand auf und begann das Papier in eine Tüte zu stopfen, Brian las Gus aus „Der Katz mit dem Latz“ vor und bekam dabei selber große Augen. Justin konnte sich lebhaft vorstellen, was Brian mit einem nur mit einem Zylinder und einem Hemdkragen bekleidetem Kater angestellt hätte, wenn der gewagt hätte, in seinem Loft aufzutauchen und alles in Schutt und Asche zu legen. Nun, Gus mit seinem neuen Fußball könnte das durchaus auch ohne fremde Hilfe hin bekommen, aber da war Brian ja selber schuld dran. Justin war immer noch etwas irritiert über dieses Geschenk.
 

Sie ließen den Morgen mit einem Kaffee ausklingen und überredeten den ausgepowerten Gus zu einem Nickerchen, um auch ordentlich fit zu sein für seine Party. Dieses Jahr würden bis auf Molly, Hunter und Jenny keine Kinder kommen, da Gus gerade erst im Kindergarten begonnen hatte sich wieder einzufügen und noch nicht nach einer Kinderfeier verlangt hatte. Das würde sich ändern, aber bis dahin mussten sie sich „nur“ mit einer Horde selber recht farbenfroher Erwachsener herumschlagen. Man konnte nur hoffen, dass die ebenfalls nicht auf die Idee kommen würden, sich gegenseitig die Torte ins Gesicht zu klatschen.
 

Viel Ruhe war ihnen nicht vergönnt, die Wohnung wollte für den Besuch hergerichtet werden. Brian brach auf, um Gus‘ Geburtstagstorte abzuholen, während Justin sich ans Räumen machte. Gegen Viertel vor Drei, gerade rechtzeitig, hatten sie es mit vereinten Kräften und mit tatkräftiger Unterstützung des wieder zu voller Energie erwachten Gus geschafft, die Bude präsentabel zu machen. Brian wollte sich gerade ächzend in die Kissen plumpsen lassen, da schrille es schon an der Tür. Er atmete tief durch… na, wer mochte das wohl sein…
 

Justin öffnete die Tür. „Hallo Sonnenschein!“ strahlte ihm Debbie entgegen und verpasste ihm erst einmal eine weiche und zugleich ziemlich rippenquetschende Umarmung. „Hallo Debbie! Carl! Emmet! Schön, dass ihr da seid! Kommt doch rein!“ keuchte er hervor, als er aus der Umklammerung entlassen worden war. „Wo ist denn das Geburtstagskind! Gus! Komm her und lass dich drücken!“ Keine Chance für Gus, der geballten Liebe zu entkommen.
 

Offensichtlich war es Usus, zu Kindergeburtstagen mit einem perversen Maß an Pünktlichkeit zu erscheinen, stellte Brian fest. Kaum waren die ersten Drei mit Kaffee und Sitzplätzen versorgt, trafen die Großeltern Peterson ein. Nathalie und Russel musterten augenbrauenzuckend das Loft und die illustren Gäste, enthielten sich aber, der Abmachung entsprechend, jeden Kommentars. Sie überreichten Gus ein riesiges Paket, das sich als ein Schlagzeugset für Kinder entpuppte. Pädagogisch im Sinne frühkindlicher musischer Erziehung bestimmt sehr wertvoll. Zugleich aber garantiert auch bestens dazu geeignet, ihm und Justin den letzten Nerv zu rauben. Na herzlichen Dank. Die Novotny-Bruckners fielen ein, dann Ted, Jennifer und Molly. Brian kredenzte Russel ein Glas von seinem teuersten Whiskey und ließ ihn dann auf Ted los, der sich artig mit ihm über die aktuellen Tendenzen auf dem Immobilienmarkt unterhielt. Nathalie setzte sich zu Jennifer, deren zivilisiertes Auftreten ihr wahrscheinlich etwas Seelenfrieden schenkte. Emmet unterhielt die Runde am Tisch mit Anekdoten aus seinem Caterer-Alltag, der ihm seltene Einblicke in das Reich derer gewährte, die sich selbst für reich und schön hielten. Russel erkannte ihn als den „Queer Guy“ aus den lokalen Nachrichten, was ihn, bereits leicht angesäuselt, dazu veranlasste, ihn auf Strich und Faden nach Drew auszuquetschen, bis Emmet sich wand. Michael und Ben kreisten wie Asteroiden um Jenny und erzählten dem geduldig nickenden Justin über die Tücken der Fürsorge für ein Baby. Hunter und Molly spielten mit dem aufgeregt hin und her flitzenden Gus. Sie bekamen die Erlaubnis, eine halbe Stunde mit dem Jungen in die nahe gelegene Grünanlage zu entschwinden, damit er ihnen seinen Ball vorführen konnte. Debbie eilte mit Carl im Schlepptau zwischen den einzelnen Gruppen hin und her. Brian und Justin sorgten dafür, dass alle versorgt waren und wanderten ebenfalls zwischen ihren Gästen herum. Die Zeit verflog. Gegen sechs Uhr abends holte Brian die Torte, er hatte eine Schokoladentorte ausgesucht, aus dem Kühlschrank und entzündete die Kerzen. Justin half dem kleinen Jungen diskret, sie alle zugleich auszupusten. Gus schloss die Augen, sein kleiner Mund verzog sich fast schmerzhaft, und wünschte sich stumm etwas. Brian und Justin sahen einander an. Auch in den Augen der anderen blitzte erneut die Trauer auf. Als Gus die Augen wieder öffnete, lächelte er tapfer und wurde erneut von allen geherzt. Brian ging dazu über, die Anwesenden mit Alkohol zu versorgen. Ein paar Haschkekse oder seine Spezialbowle hätten die Stimmung wahrscheinlich für einen Kindergeburtstag zu sehr angeheizt… Und auf eine Debbie, die alte Zeiten wieder aufleben ließ, konnten wahrscheinlich alle ganz gut verzichten. Die Stimmung war dennoch einigermaßen harmonisch… eine Bezeichnung, die Brian noch nie für eine seiner Feiern erhofft hatte, über die er aber unter den gegenwärtigen Umständen recht dankbar war. Es wurde wirklich Zeit, mal wieder ein wenig die Sau raus zulassen, dachte er sehnsüchtig mit Blick auf Justin, der gerade auf allen Vieren kriechend Gus‘ Ball unter dem Tisch heraus angelte. Michael verpasste ihm einen leichten Knuff in die Seite, als er Brians Blick auffing. Er grinste: „Ihr müsst nur Bescheid sagen. Wir passen gern ein paar Stunden auf Gus auf, wenn ihr Mal wieder… ein erwachsenes Gespräch führen wollt.“
 

Brian räusperte sich: „Danke, Mikey, wir kommen schon klar…“
 

Michael musterte ihn amüsiert: „Mein Angebot steht. Eh es dir beginnt aus den Ohren raus zu blubbern…“
 

„Danke für dieses eklige Bild! Damit hat sich mein Bedürfnis nach… erwachsenen Gesprächen fürs erste wieder gelegt!“ brummte Brian und nippte an seinem Bier.
 

„Pah“, erwiderte Michael unbeeindruckt, „für fünf Minuten vielleicht. Dafür sind Freunde doch da. Um einander zu helfen.“
 

„Sehe ich aus wie die sprichwörtliche Jungfrau in Nöten?“
 

„Jungfrau nun nicht gerade…“
 

Brian zog eine Grimasse und beide mussten lachen. Der größere Mann schlang einen Arm um Michaels Schultern: „Vielleicht komme ich irgendwann darauf zurück. Falls ich in Gefahr zu laufen drohe, dass mir das verbleibende Ei platzt…“
 

„Igitt. Jetzt hab ich keine Lust mehr auf erwachsene Gespräche – lass uns Gus Schlagzeug testen!“
 

Gegen halb neun verabschiedete sich der letzte Gast. Debbie und Russel hatten beide eine leichte Schlagseite aufgewiesen, waren aber dennoch unter Wahrung ihrer Würde entschwunden.
 

Sie waren zu dritt auf dem Sofa zusammen gebrochen und hatten das Aufräumen auf Morgen verschoben.
 

„Ich hab noch was für dich“, sagte Justin schließlich zu dem an ihn gekuschelten Gus. Dieser öffnete müde die Augen und wurde wieder neugierig.
 

„Moment“, Justin ging hinüber ins Schlafzimmer und holte etwas aus dem Schrank. Es war eine Papierrolle ohne weitere Verpackung. Gus nahm sie aufmerksam schauend entgegen und rollte sie auf. Es war eine Zeichnung, die ihn mit seinen Müttern und seiner Schwester zeigte, technisch perfekt aber naturalistisch. Sie war wie die Bilder, die Justin als Teenager gezeichnet hatte, nur ausgereifter. Gus schaute sie lange an. Brian fühlte ein inzwischen wohlvertrautes Würgen in seiner Kehle. Dann rollte Gus die Zeichnung wieder vorsichtig zusammen und presste sie an sich. Er sagte nichts, streckte nur seine Arme nach Justin aus und drückte seinen Kopf in die Halsbeuge des jungen Mannes. Justin hielt ihn und streichelte ihm über den Kopf. Dann nahm er sorgsam die Rolle aus Gus Händen und sagte: „Vielleicht möchtest du es irgendwann einmal aufhängen. Aber es gehört dir, ich bewahre es nur für dich auf. Du kannst es haben, wann immer du willst.“ Gus nickte schweigend, dann streckte er erneut die Arme nach Justin aus und ließ sich von ihm ins Bett bringen.
 

Brian wartete, bis Justin wieder zurück kehrte. Justin setzte sich zu ihm auf die Sofakante und ließ sich nun seinerseits von Brian an dessen Brust ziehen. Sie saßen eine Weile still da, die wieder gewonnene Stille in der Wohnung genießend.
 

Sechs Jahre.
 

Justin wandte seinen Kopf. Sie küssten sich langsam und genüsslich. Es saß ihnen niemand – und nichts – im Nacken, das sie hetzte. Und mehr war leider ja auch nicht drin. Schließlich ließ sich Justin erneut seufzend gegen die warme, duftende Brust fallen. Seine Augen waren halb geschlossen. Er sagte: „Erzähl mir von dem Fußball.“
 

Brian atmete ruhig weiter. Schließlich sagte er: „Ich hatte ein Sportstipendium. Ansonsten hätte ich nie aufs College gekonnt. Ich war richtig gut. Hätte das professionell machen können. Sie haben es mir angeboten. Aber was sollte ich als Schwuchtel zwischen den ganzen Heten? Den Kopf in den Sand stecken und mir ein Alibi-Weibchen anschaffen? Heimlich rumficken und hoffen, dass es keiner rauskriegt? So wollte ich nicht leben. Ich habe gerne gespielt – aber nicht gern genug, um deshalb einen auf Klemmschwester zu machen. Nicht wie Drew Boyd. Der ist nichts ohne seinen Sport. Für mich gab es auch anderes, also habe ich abgelehnt und habe aufgehört. Entweder ganz oder gar nicht, habe ich mir damals gedacht.“
 

„Hast du es vermisst?“
 

„Ein wenig. Aber nicht genug. Und irgendwie hat es auch gut getan, das endlich los zu sein. Es hatte keine Zukunft, aber dafür jede Menge Vergangenheit.“
 

Justin lagen die Fragen auf der Zunge, aber er zügelte sich.
 

Brian schwieg ein paar Minuten. Dann sagte er: „Der Fußball, das war das einzige, das mich mit meinem Vater wirklich verbunden hat. Und für mich baute es schlussendlich auf einer Lüge. Und Gus… für ihn muss es nicht so sein. Über das Feld zu laufen, den Ball zu spüren, sich zu spüren, zu handeln, zu schießen… Vielleicht gefällt es ihm ja. Vielleicht ist es etwas, was ich mit ihm… teilen kann. Ohne Lügen.“
 

Justin nickte nur. Dann rappelte er sich abrupt auf, schwang sich breitbeinig auf Brians Schoss und küsste seinen Mann mit allem, was er empfand. Liebe. Lust. Freude. Vertrauen. Brian war eine Sekunde lang etwas überrumpelt, dann straffte er sich und erwiderte den Kuss, ließ ihn Lippen, Zunge, Zähne spüren, bis sie sich atemlos voneinander lösten.
 

„Wir schulden uns einen Jubiläumsfick – und das war der Gutschein!“ sagte Justin.
 

„Wann kann ich den einlösen?“ fragte Brian, Justins Hintern begehrlich knetend.
 

„Wenn Gus bei Oma und Opa ist… Oder als Großereignis, wenn wir umgezogen sind“, murmelte Justin mit zuckenden Hüften.
 

„Wann ziehen wir nochmal um?“
 

„In zwei Wochen.“
 

„Das ist ja noch ewig hin!“

Pforten

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Sturheit, dein Name ist Taylor

V. Sturheit, dein Name ist Taylor
 

Craig saß ergeben auf einem pink ausgepolsterten Hocker und konzentrierte sich darauf, Ruhe zu bewahren. Eine wohlbeleibte Mutter mit zwei trotz ihres jugendlichen Alters ebenfalls schon recht properen Töchtern im Schlepptau walzte, beladen mit Bergen greller Kleidungsstücke, an ihm vorbei. Unwillkürlich zog er den Bauch ein. Die Luft im Einkaufzentrum roch schal unter den künstlich frischen Aromen, die die Luftbefeuchter ausspuckten.
 

„Papa?“
 

Erleichtert blickte er auf. Molly kam aus der Umkleidekabine stolziert und drehte sich um die eigene Achse, den Blick kritisch in ihr Spiegelbild versenkt. Sie war jetzt Dreizehn, würde bald Vierzehn werden, und hatte ihr Faible für Mode entdeckt. Die kindlichen Zöpfe waren verschwunden, ihr schönes blondes Haar, das sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder gemein hatte, schwang jetzt frei über ihre Schultern. Ihr Körper hatte begonnen, sich weiblich zu runden. Craig seufzte schwer. Einerseits war es schön, die eigenen Kinder erwachsen werden zu sehen, andererseits tat es weh zu verfolgen, wie kindliche Unschuld allmählich dem Körper und Wesen eines erwachsenen Menschen wich. Eines Menschen, bei dem die Gefahr bestand, ihn eines Tages nicht mehr zu erkennen. Aber nein. Nochmal durfte, konnte ihm das nicht geschehen. Er hatte wohl etwas geistesabwesend ausgesehen, denn Molly bohrte nach: „Papa? Hörst du mir überhaupt zu? Diese oder die hellblaue Hose?“
 

Craig riss sich zusammen. Die Hosen sahen für ihn ziemlich identisch aus. Aber Mollys Teenager-Augen sahen gravierende Unterschiede, das war ihm klar. Er runzelte die Brauen und bemühte sich, angestrengt grübelnd aus zu schauen.“Ich glaube die, die du gerade anhast, ist besser“, wagte er sich ins Gefecht.
 

„Ja, nicht wahr? Sie sitzt besser am Hintern, und die Nähte sind schöner?!“
 

„Genau, Schatz!“ antwortete Craig erleichtert. Da war ihm das Schicksal ja hold gewesen. Andererseits hatte er auch eine gewisse Übung, er hatte bereits ein Kind durch die Pubertät begleitet. Und versagt.
 

Er starrte auf seine Hände, während Molly wieder in der Umkleidekabine verschwand. Er hatte versagt. Justin war siebzehn gewesen, fast erwachsen – aber eben nur fast. Aber er war auch kein Kind mehr gewesen. Der Gedanke, dass das eigene Kind die körperliche Liebe entdeckte mit einer fremden Person, war an sich schon gruselig. Aber wenn diese Person vom gleichen Geschlecht, zwölf Jahre älter war und am Telefon über Riesendildos geiferte, machte das die Situation nicht gerade einfacher. Verdammter Kinney. Wenn es jemand Gleichaltriges gewesen wäre, ein Junge, der mit Justin zusammen seine Sexualität entdeckte – vielleicht hätte er das irgendwie hin bekommen. Aber nein, es war Brian, immer wieder Brian. Brian, Brian, Brian. Auch wenn er nie nachgefragt hatte, war dieser Name doch immer wieder aus Jennifers und Mollys Erzählungen heraus gepurzelt, weil er allgegenwärtig geblieben war. Eigentlich hatte er Molly angeboten gehabt, mit ihr zusammen ihr erstes Ballkleid auszusuchen. Aber sie hatte ihn gedrückt, ihm gedankt und ihm dann gesagt, dass das schon Justin und Brian erledigen würden. Dieser Scheißkerl war ein Teil seines Lebens geworden, obgleich er sich das garantiert nicht gewünscht hatte. Kein Justin ohne Brian. Und auch keine Jennifer, keine Molly ohne Brian. Aber ohne ihn. Er wusste einfach nicht, was von diesem Menschen zu halten war. Er hatte ihn gesehen und mehr als genug von ihm gehört. Kinney war ausgesprochen attraktiv, beruflich erfolgreich, selbstbewusst. Auf den ersten Blick jemand, der auf der Gewinnerseite des Lebens stand. Was hatte er von seinem minderjährigen Sohn gewollt? Der hätte doch jeden haben können. Hatte er wahrscheinlich auch. Aber dennoch war er noch immer mit Justin zusammen. War sein… Ehemann. Er erinnerte sich an seinen ersten Eindruck. Ein Narzisst. Jemand, dessen Denken nur um sich selbst kreiste. Darin hatte er wohl falsch gelegen, Kinney hatte, alle Eitelkeit beiseite, zu seinem Jungen gestanden, war geblieben, hatte sich um ihn gekümmert, wenn er hätte rennen können, verbrannte Erde hinterlassend. Die Dinge wären leichter gewesen, wenn Kinney Justin das Teenagerherz gebrochen und sich dann aus dem Staube gemacht hätte. Aber aus irgendwelchen Gründen hatte er das nicht getan. Und Justin war auch niemand, der sich beliebig viel gefallen ließ. Er dachte an dieses Gesicht, das sein Sohn bei der Demonstration vor seinem Zentralladen gezeigt hatte. Fremd. Entschlossen. So sah niemand aus, der sich rumschubsen ließ. Und unter Justins Fröhlichkeit, seiner Verspieltheit und seiner jugendlichen Naivität hatte es schon früh begonnen, sich zu formen, ohne dass er es wahrgenommen hatte. War es das, was Kinney gesehen hatte? Er dachte an sich und Jennifer. Er hatte sich in sich verliebt, weil in ihrer zugegebenermaßen bezaubernden Hülle, in dieser hinreißenden kleinen Blondine so unendlich viel mehr gewesen war. Aber es wollte ihm einfach nicht in den Kopf, was Justin an Kinney fand, dass er über so viele Jahre, seit seiner Teenagerzeit, bei ihm geblieben war und offensichtlich nicht vorhatte, daran etwas zu ändern. Und es surrte in ihm, wenn er darüber nachdachte, was Kinney in Justin sah. Er hatte sein Bestes versucht, einen Schlussstrich zu ziehen. Unter Justin, Jennifer, seine gescheiterte Ehe. Er konnte es unterdrücken. Vielleicht bis an sein Lebensende, vielleicht anderweitig glücklich werden. Eine neue Frau, eine neue Familie, neue Kinder. Aber etwas in ihm wollte das nicht, ansonsten hätte er es längst Wirklichkeit werden lassen. Er wollte begreifen. Er wollte kein neues Leben. Er wollte Jennifer, er wollte seine Kinder. Er dachte daran, wie Justins Augen in einem hellen Blau gefunkelt hatten, als sie das letzte Mal aneinander geraten waren. Wie Jennifers, als sie ihn in jenen scheußlichen Tagen, die ihrer Trennung voran gegangen waren, angebrüllt hatte. Er hatte sie verloren.
 

Craig blickte auf und sah, dass Molly mit einem zufriedenen Lächeln, die ausgesuchte Hose in der Hand, auf ihn zu trat. Er hatte nicht alles verloren. Er hatte immer noch seine Tochter.
 

„Und jetzt“, sagte sie, „brauche ich noch ein passendes Oberteil!“
 

Craig nickte ergeben, obwohl der Gedanke an einen noch längeren Aufenthalt in der Abteilung für weibliche, modebewusste Teenager ihm den Schweiß auf die Stirn jagte. Aber es war ein geringer Preis dafür, Teil ihres Lebens sein zu können.
 

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Jennifer konnte ein lautes Lachen nicht unterdrücken, als Tucker über und über mit Matsch bekleckert die Einfahrt hinauf geschritten kam. Er kam direkt von einer Runde Motorcross zu ihr, ein Hobby, für das er Feuer und Flamme war. Was das anging, war er wie ein kleiner Junge. Er grinste sie lausbübisch an, als er ihren Blick bemerkte.
 

„Hallo, meine Schöne, lass dich umarmen…!“
 

Sie quietschte auf und trat den geordneten Rückzug an, als er androhte sich in seiner besudelten Lederkluft um sie zu werfen.
 

„Komm mir bloß nicht zu nahe, du Dreckmonster!“ rief sie und ging in Deckung.
 

„Du brichst mir das Herz“, sagte Tucker und schenkte ihr einen Hundebabyblick, bei dem sie beinahe weich geworden wäre.
 

Lachend ließ sie ihn ein. Er beugte sich vorsichtig vor und gab ihr einen schallenden Kuss, Gnade mit ihrem gepflegten Kostüm habend. Allerdings nutzte er die Lage, um ihr flugs mit halbwegs sauberen Fingern in den Hintern zu kneifen. Jennifer wand sich ein wenig und konnte ein Kichern einfach nicht unterdrücken. Sie fühlte sich wie ein verknalltes Schulmädchen, wenn sie mit ihm zusammen war. Alles war so… leicht, lustig und frei. Keine drückende Vergangenheit lag über ihnen. Keine Jahre, in denen die Liebe unter der Last des Alltags verschüttet worden war. Keine tiefgreifenden Probleme, die man bewältigt hatte - oder an denen man gescheitert war. Kein Druck, eine Familie zu gründen, die große Liebe zu finden, die Zukunft zu planen. Das hatte sie alles schon hinter sich. Sie war im hier und jetzt. Tucker ließ ihre Lippen nicht los, während er noch im Flur seinen Lederanzug von sich schälte. Er roch nach Herbst, nach frischem Schweiß, nach Mann. Jennifer bog sich durch, ließ ihre Hände über den muskulösen Körper wandern, fühlte sich heiß umklammert, spürte die pulsierende Härte an ihrem Schenkel. Ihre Sinne reagierten augenblicklich. Sie keuchte auf, als er sie packte, ihre Beine schlangen sich um ihn, als er sie hinüber zum Sofa schleppte, auf dem sie als ein wildes Bündel aus Erregung und Ungeduld übereinander herfielen.
 

Eine gefühlte Ewigkeit später kamen sie langsam wieder zu Sinnen. Jennifers Kopf lag auf Tuckers Brust, er ließ seine Hand langsam über ihren Rücken auf und ab gleiten. Das hatte verflucht gut getan. Hier war sie nicht Mama. Oder die Ex-Frau. Oder die gediegene Immobilienmaklerin. Die Frau, die immer an alles dachte, alles im Griff hatte. Hier war sie nur sie, ließ ihren Körper sprechen, wie sie nie gedacht hätte, dass es möglich sein könnte. Sie mochte Tucker gern. Er war intelligent, gut aussehend, sie konnten miteinander lachen. Aber Heiraten? Nein danke, einmal und nie wieder. Es war gut, solange es ihr gut tat. Tucker riss nicht an ihrem Herzen, wie es Craig einst getan hatte. Für Tucker würde sie sich nicht selbst aufgeben, wie sie es für Craig getan hatte. Aber konnte sie das ihrem Ex-Mann wirklich anlasten? Die Versuchung war groß, aber wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie selbst es zugelassen hatte. Craig hatte sie nicht dazu gezwungen, Hausfrau zu werden, ihre Träume immer wieder auf später zu verschieben. Sie war feige gewesen und hatte sich hinter dem Mäntelchen der Gutbürgerlichkeit versteckt. Und Craig hatte ihr den passenden Rahmen dazu geboten. Aber sie hatte andere Dinge bekommen, die nicht ihrer ursprünglichen Planungen entsprochen hatten. Zwei wundervolle Kinder. Und jetzt – hatte sie sich frei gestrampelt. Sie war von niemandem mehr abhängig. Es war ihr gelungen, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen. Anders, als sie sich das als Studentin vorgestellt hatte – aber auf seine Weise großartig.
 

Die Eskalation rund um Justins Coming Out hatte ihr damals deutlich gemacht, wie sehr sie sich selbst verraten hatte. Und der Punkt war erreicht gewesen, wo sie das nicht mehr länger ertragen konnte. Es ging nicht mehr bloß um ihre eigene Freiheit – sondern auch um die ihres Sohnes. Er hatte gewagt, gegen die Spielregeln ihres wohlsituierten Vorstadtlebens zu revoltieren und dabei auch ihr eine Pforte aufgestoßen. Er hätte ihnen auch weiter vorheucheln können, was sie hatten sehen wollen. Solange sie es irgend hätten ignorieren können, hätten sie es ihm willfährig abgenommen. Solange er es nicht laut ausgesprochen hätte. Er hatte es ihnen um die Ohren gebrüllt. Jennifer hatte sich selbst gesehen, ihre eigene jugendliche Energie, ihre eigene – wohl naive – Überzeugung, dass man nur aufrichtig sein müsse, mit sich selbst, mit anderen, damit sich alles zum Guten wende. Sie war es schließlich gewesen, die Justin das eingetrichtert hatte. Und er hatte danach gehandelt. Sie nicht. Und Craig auch nicht.
 

Tucker seufzte und küsste sie ein weiteres Mal, dann rappelten sie sich vom Sofa auf. Der jüngere Mann arbeitete als Ingenieur in der Baufirma seiner Familie. Diese privilegierte Situation ermöglichte es ihm, seine Arbeitszeiten flexibel zu gestalten, dass ihm immer auch Zeit für Jennifer blieb. Aber jetzt musste er los, eine weitere Stippvisite bei einem der laufenden Projekte lag an. Jennifer ordnete ihre Kleidung und kontrollierte ihre Frisur im Spiegel. Oh weh, sie sah wirklich aus wie gerade vernascht. Das war sie ja auch. Sie musste wieder grinsen. Tucker folgte ihrem Blick und sagte: „Ich liebe es, wenn du nach dem Sex so ein kleines bisschen schlampig aussiehst.“
 

„Was?“ entfuhr Jennifer entsetzt. Dann schüttelte sie sich. Warum nicht. Sie war niemandem Rechenschaft schuldig. In ihrem Haus mit ihrem jüngeren Liebhaber konnte sie sich den Luxus erlauben, auch mal ein wenig schlampig zu sein. Und sich so zu fühlen.
 

Tucker hatte sich derweil zurück in seinen verschmierten Anzug gezwängt. Jennifer lächelte ihn an. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm an der Tür einen letzten Kuss, dann wandte er sich strahlend ab, winkte ihr zu und stieg auf sein schweres Motorrad.
 

„Also Mrs. Taylor“, kam plötzlich eine vertraute Stimme von links, „Sie sind ja eine ganz schön Wilde! Aber wer könnte bei diesem Leckerbissen in Biker-Kluft schon nein sagen?“ Sie fuhr herum und sah Emmet, der von ihr unbemerkt die Auffahrt hinauf gekommen sein musste. Sie war ja auch ein wenig abgelenkt gewesen. Sie schaute ertappt, dann rief sie sich zur Raison.
 

„Hallo Emmet“, begrüßte sie ihn, „schön, dich zu sehen! Was verschafft mir die Ehre?“
 

„Oh“, sagte er, „ich war grad auf der Rückfahrt – Firmenjubiläum mit dickem Buffet – da fiel mein Blick auf Ihr Haus und ich dachte mir, vielleicht mag Mrs. Taylor ja die übrig gebliebenen Desserts mit mir verkosten – bevor ich sie wegschmeiße oder, noch schlimmer, ganz allein verdrücke.“
 

„Du willst mich mästen?“ fragte sie, die Augenbraue neckend hochgezogen.
 

„Mit Tuckers Hilfe sind die Kalorien doch im Handdrehen wieder verbrannt“, grinste er sie mit einem charmanten Augenzwinkern an.
 

Jennifer bemerkte, wie ihr die Röte leicht ins Gesicht schoss. Der offenherzige Umgang mit intimen Details, wie Emmet ihn zuweilen pflegte, irritierte sie manchmal doch noch ein wenig. Aber über das Stadium des Schocks war sie lange hinweg. Sie erinnerte sich mit Grausen an Justins Ich-mag-Schwänze-Rede.
 

„Komm rein Emmet“, lud sie ihn ein, „ein bisschen Gesellschaft fände ich jetzt auch sehr nett. In einer Stunde kommt mein Ex-Mann und liefert Molly wieder ab, solange können wir es uns gemütlich machen.“
 

Emmet stolzierte mit dem Süßspeisentablett an ihr vorbei ins Wohnzimmer, zog grinsend die Augenbraue angesichts des etwas derangierten Sofas hoch, sagte aber sonst nichts dazu. Der große schlanke Mann hatte ein feines Gespür für Situationen und Menschen, das schätzte Jennifer sehr an ihm.
 

Sie ließen sich nieder, Emmet kredenzte ihr eine Reihe unterschiedlicher Mini-Törtchen, die sie vorsichtig probierte. Ihr Gespräch blieb bei Alltagsdingen. Sie saßen entspannt auf den Polstern und amüsierten sich über Jennifers Beschreibung ihrer letzten Kunden, eine laute Frau mit ihrem schwerhörigen Gatten, als es klingelte. Jennifer schaute überrascht auf die Uhr. Die Zeit war wie im Fluge vergangen. Emmet stand mit ihr auf. „Ich werde denn mal meine Flügelchen ausstrecken und gen Heimat entfleuchen.“
 

Er zog seinen mit Kunstpelz verzierten Parker über und griff nach dem Tablett. Jennifer öffnete die Tür. Molly kam herein geschossen, mehrere dicke Tüten in der Hand. Sie trug das selige Lächeln eines Teenagers im Konsumrausch auf den Lippen.
 

„Hallo Mama! Hallo Emmet!“ strahlte sie.
 

„Früh übt sich, was eine Diva werden will, Süße. Glaub mir, ich spreche da aus Erfahrung.“
 

„Schau mal! Hat Papa mir gekauft!“ Sie hielt ihm ein mit hellblauen Strasssteinchen überzogenes Oberteil unter die Nase.
 

„Wow! Da muss ich mich ja jetzt in Acht nehmen, du sägst schon ganz kräftig an meinem Thron!“
 

„Ach, Emmet, das schafft doch keiner!“ lachte sie und trabte mit ihrer Beute in Richtung ihres Zimmers davon, offensichtlich eine längere Sitzung vor Kleiderschrank und Spiegel im Visier habend.
 

Jennifer schaute derweil die Verandatreppe hinab, wo ihr Ex-Mann mit tief in den Jackentaschen vergrabenen Händen stand. Er sah ganz schön erledigt aus, kein Wunder, wenn sie an seine Nachmittagsbeschäftigung dachte. Aber sie sah auch keinen Grund für überzogenes Mitleid. Früher war immer nur sie es gewesen, die den pubertierenden Nachwuchs durch die Wunderwelt der Läden hatte begleiten dürfen. Und Justin hatte ziemlich viel Kondition besessen. Und ein verdächtiges Faible für zu enge Klamotten, die seinen Hintern wie einen in Zellophan verpackten Apfel kurz vor der Explosion hatten aussehen lassen. Sie hatte geglaubt, dass das jetzt wohl so Mode war bei den Jungs. War es auch. Bei den schwulen Jungs mit Knackarsch.
 

„Jennifer“ sagte Craig und nickte ihr zu.
 

„Craig“, antwortete sie nur.
 

„Alles in Ordnung bei dir?“ fragte er.
 

„Alles Bestens. Und bei Dir?“
 

„Auch alles gut.“
 

Die Unterhaltung brach ab. Mehr hatten sie sich nicht zu sagen? Nein, dachte Jennifer. Da gab es jede Menge. Aber es war besser, es nicht auszusprechen.
 

Emmet kam aus der Tür marschiert. Craigs Augen weiteten sich eine Sekunde. Emmet war für seine Verhältnisse recht zivil gekleidet, dennoch ergab der purpur farbende Parka mit Pelzbesatz eine ziemlich frohe Mischung mit seiner knallblauen Stoffhose.
 

Emmet nickte ihm etwas unterkühlt zu: „Mr. Taylor.“
 

Craig nickte wortlos zurück. Craig kannte seinen Namen von gelegentlichen Nennungen seiner Tochter und seiner Ex. Irgendjemand aus Justins Dunstkreis. War der nicht als Queer Gay in den Nachrichten aufgetreten? Er erinnerte sich dunkel, dass er damals dabei gewesen war, als er Kinneys Rippen bearbeitet hatte. Der Kerl sah für ihn aus wie ein wandelndes Klischee. So jemanden, nur in älter, dicker, abstoßender, hatte er sich vorgestellt, als Jennifer ihr von einem älteren Liebhaber Justins erzählt hatte. Eine Tunte. Nun, das war Kinney nicht. Was die Sache auch nicht einfacher gemacht hatte.
 

„Mach‘s gut, Jennifer!“ sagte der Mann und wandte sich zum gehen.
 

„Mach’s gut, Emmet“, sagte Jennifer, „und danke für die Leckereien und die Gesellschaft!“
 

„Immer gerne!“ erwiderte Emmet und lief lächelnd die Auffahrt hinunter.
 

Craig räusperte sich. „Nun denn, ich muss dann auch wieder. Ich wollte mit Molly am Sonntag ins Kino, wenn das okay ist?“
 

„Klar“, antwortete Jennifer.
 

„Ich hole sie um 2 Uhr ab. Bis dann, Jennifer.“
 

„Bis dann, Craig.“
 

Er lief hinüber zu seinem Wagen. Der Mann… Emmet hatte die Türen eines Lieferwagens aufgestoßen, der vor ihm geparkt war, und verstaute sein Tablett im Inneren. Craig führte den Schlüssel ins Schloss und startete den Wagen. Ein merkwürdig hustend-würgendes Geräusch kam unter der Kühlerhaube hervor, das dann abrupt erstarb. Er versuchte es noch einmal. Der Wagen gab keinen Mucks von sich. Genervt atmete er durch. Er hatte das Auto gerade erst aus der Werkstatt geholt, wo es vor dem Winter durchgecheckt worden war. Das hatten die ja großartig gemacht. Innerlich fluchend stieg er aus und klappte die Kühlerhaube nach oben. Er spürte, wie jemand neben ihn trat. Er schaute nicht auf. Als ob der eine Ahnung von Technik hätte.
 

„Da waren aber Vandalen am Werke“, sagte dieser überlange Kerl in den grausigen Klamotten zu ihm, „die Kabel da stecken ja völlig falsch. Ein Wunder, das Sie es bis hierher geschafft haben, ohne dass ihnen der Kram um die Ohren geflogen ist.“
 

Craig grumpfte in sich hinein. Der andere hatte ja recht. Er würde den Wagen abschleppen lassen müssen. Die in der Werkstatt konnten sich auf etwas gefasst machen.
 

„Ich kann Sie mitnehmen, wenn sie zurück in die Stadt wollen“, bot Emmet ihm an.
 

„Ich weiß nicht, ob…“, versuchte Craig sich zu wehren.
 

„Ich fahre sowieso. Oder haben Sie Angst, dass ich Ihnen an die Wäsche gehe? Weil alle Schwulen ja so perverse Säcke sind, dass sie alles betatschen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist?“ sagte der größere Mann in eisigem Tonfall.
 

„Nein, das habe ich doch gar nicht… Wenn es Ihnen nichts ausmacht…“, stammelte Craig etwas ratlos. Genau genommen war es ja das, was er immer über Schwule gedacht hatte. Bis Justin plötzlich auch einer war. Und dieser Mensch war ein Freund von Justin. Und offensichtlich auch von Jennifer. Molly redete vertraut mit ihm. Er biss die Zähne zusammen. Es waren ja nur ein paar Kilometer mit dem Wagen.
 

„Honeycutt“, stellte der andere sich ihm vor, „Emmet Honeycutt.“
 

„Craig Taylor“, antwortete er und reichte ihm die Hand.
 

„Ich weiß“, sagte Honeycutt nur.
 

Immer noch etwas vage auf den Beinen kletterte Craig auf den Beifahrerersitz des Lieferwagens. Honeycutt war als Caterer tätig, soviel hatte er auch mitbekommen.
 

Das Auto sprang an und Emmet fädelte in den Berufsverkehr ein. Die Straßen waren voll, es ging stockend voran, schließlich standen sie im Stau. Craig starrte schweigend durch die Frontscheibe.
 

„Sie sind ein Freund von Justin?“ fragte er schließlich.
 

Honeycutt bedachte ihn mit einem undurchdringlichen Blick. „Ja, das bin ich“, sagte er nur.
 

Sie schwiegen wieder.
 

Dann fragte Craig: „Wie geht es ihm?“ Er wusste nur das, was Jennifer und Molly ihm mehr oder weniger – eher weniger – mitteilten. Und dieser Honeycutt kannte seinen Sohn gut.
 

„Warum fragen Sie Ihn nicht selbst?“ antwortete der andere unerbittlich.
 

Craig kniff die Lippen zusammen. Was hatte er auch anderes erwartet. Er fühlte, wie der andere ihn musterte.
 

„Tut es Ihnen leid?“ fragte er Craig.
 

Craig zuckte zusammen. Sein erster Reflex war es zu sagen, dass es ihn wohl überhaupt nichts anginge. Er dachte nach: „Es tut mir leid, keinen Sohn mehr zu haben.“
 

„Sie haben immer noch einen Sohn. Denselben, den sie immer hatten. Den Sie zur Hölle gejagt haben, weil er nun mal schwul ist. Ich würde mich ja darüber aufregen, wenn ich diese Geschichte nicht in tausend Variationen, immer und immer wieder gehört und erlebt hätte, von so vielen Menschen.“
 

Craig senkte den Kopf. Er war unbarmherzig gewesen, das wusste er. Aber er hatte den einmal eingeschlagenen Weg einfach nicht mehr verlassen können. Alles war zusammen gebrochen. Er konnte nicht zurück.
 

„Ich hab’s versucht. Aber es hat nicht gereicht. Wenn’s nicht ausgerechnet dieser Kinney gewesen wäre…“
 

„Dann wäre es ein anderer gewesen. Hätte das etwas geändert?“
 

„Ich weiß es nicht. Vielleicht hätte mir jemand anderes nicht am Telefon erzählt, dass er plane, mir, meinem Sohn oder Sonstwem einen Gummischwanz in den Arsch zu schieben.“
 

Emmet zuckte zusammen. „Er hat... was?“ fragte er entgeistert.
 

„Ich hab bei ihm angerufen. Er hat nicht abgewartet, bis ich meinen Namen gesagt hab‘, sondern mir sogleich seine perversen Pläne unterbreitet.“
 

„Ach du Scheiße!“ sagte Honeycutt, dessen Gesicht zwischen Entsetzten und Gelächter hin und her zu schwanken schien. „Typisch Brian. Wenn er schon mal ein Fettnäpfchen mitnimmt, dann aber auch richtig.“
 

„Ein Fettnäpfchen? Er wollte meinem minderjährigen Sohn einen überdimensionalen Kunststoffdödel in den Hintern stopfen! Wahrscheinlich hat er es sogar getan! Und weiß der Himmel, was sonst noch! Das verstehe ich nicht unter einem Fettnäpfchen! Dafür hätte ich ihn in den Knast stecken lassen können!“
 

Honeycutts Gesicht wurde wieder blank: „Haben Sie aber nicht. Sie haben ihren eigenen Weg gewählt, nicht wahr?“
 

Craig senkte den Blick und nickte. „Und Justin hat sich entschieden. Er hat diesen Fremden, der Gott-weiß-was mit ihm angestellt hat, der ihn ansonsten nicht Mal wirklich wollte, uns vorgezogen. Unserem Leben, unserer Familie.“
 

„Sie haben ihn vor die Entscheidung gestellt, ich war dabei. Und was haben Sie erwartet? Er war ein Teenager. Ein schwuler, verliebter Teenager.“
 

„Ich wollte ihn beschützen vor diesem Wahnsinn, den er im Begriff war sich einzubrocken, weil er ein schwuler, verliebter Teenager war!“
 

„Haben Sie ja super hinbekommen.“
 

„Hätte ich das einfach dulden sollen? Er war minderjährig!“
 

„Ich begreife, dass Sie nicht einfach die Hände in den Schoß legen konnten. Ich gebe zu, dass ich, wenn ich ein Kind hätte, in einer solchen Situation auch nicht gerade vor Freude steppen würde. Aber wenn sie es auch nicht verstehen konnten und auch nicht verhindern – konnten Sie Justin dann nicht zumindest vergeben, dass er, die Sinne total hormonvernebelt, den Aufstand geprobt hat? Darum geht es doch auch, nicht wahr? Nicht nur, dass Justin sich als schwul geoutet hat und sich von Brian hat vö.. äh sie wissen schon… lassen, sondern auch, weil er ihrer schönen Bilderbuchwelt den Stinkefinger gezeigt hat, oder? Machen das nicht alle Teenager?“
 

„Oh Gott, hoffentlich nicht!“
 

Emmet lachte kurz auf angesichts Craigs entsetztem Gesichtsausdruck. „Mmm, Justin ist ein ganz schönes Kaliber. Immer mit dem Kopf durch die Wand, auch wenn es noch so weh tut. Von wem hat er das eigentlich?“
 

Craig schüttelte den Kopf. Was dieser Paradiesvogel da sagte, traf. Justin war stur. Wie er.
 

„Rein interessehalber: Wollen Sie das eigentlich bis in alle Ewigkeit durchziehen?“
 

„Was?“
 

„Diese Ich-habe-keinen-Sohn-mehr-Geschichte. Der Umstand, dass sie versucht haben, mich zu löchern deutet zumindest darauf hin, dass ein Teil von Ihnen sehr wohl weiß, dass sie nämlich nach wie vor sehr wohl einen haben.“
 

„Ja. Ich weiß. Ich habe mir jahrelang versucht klar zu machen, dass, was war, nicht ungeschehen gemacht werden kann. Justin hat seinen Weg gewählt. Irgendwann muss doch auch Schluss sein.“
 

„Sie sind Vater. Ist damit irgendwann mal Schluss? Sagen Sie es mir, ich habe davon keine Ahnung.“
 

Craig schwieg.
 

„Nun, wenn das mit dem Schlussstrich ziehen offensichtlich nicht besonders gut klappt, sollten Sie vielleicht in Erwägung ziehen, etwas anderes zu versuchen.“
 

Craig zog die Stirn in Falten. Er wusste, worauf Honeycutt hinaus wollte. Wollte er das? Konnte er das?
 

„Justin würde mir die Tür vor der Nase zuschlagen“, sagte er dann.
 

„Wahrscheinlich. Ich könnte es ihm nicht verübeln. Er mag die Pest gewesen sein, aber sie waren der Erwachsene. Und glauben Sie mir, ein Coming Out ist niemals witzig. Leute, auf die man jahrelang gebaut hat, deren Liebe und Freundschaft man sich sicher gewesen war, behandeln einen plötzlich wie einen Aussätzigen. Selbst wenn man Glück hat, ist es hart. Viele schaffen es nicht. Verkriechen sich, lügen oder versinken im Selbsthass. Und selbst danach muss man immer wachsam sein. Der Alltag steckt voller Fallen. Die Leute flüstern, zeigen mit dem Finger nach einem. Und einige begnügen sich damit nicht, wer wüsste das besser als Justin?“
 

Craig sank in sich zusammen. Tausend Antworten lagen ihm auf der Zunge. Rechtfertigungen, warum er richtig gehandelt hatte, die er immer wieder vorgebracht hatte. Trotzdem spürte er, wie etwas in ihm aufstieg, das sich kalt anfühlte und ein Würgen hervorrief.
 

„Warum musste er es provozieren?“ fragte Craig etwas verzweifelt.
 

„Sie meinen, er sei schuld daran, dass ihn dieser Hobbs beinahe umgebracht hat? Wie der Richter es ja auch gesehen hat. Weil er kein Feigling war? Weil er nur das gewollt hatte, was alle anderen auch selbstverständlich hatten? Weil er ein Teil der normalen Welt sein wollte, indem er ihre Rituale auf seine Weise teilen wollte? Er hat seine Antwort bekommen.“
 

Craig schnaufte: „Das alles mag stimmen. Aber nicht nur. Er wollte sie auch provozieren. Er wusste, dass einige im Saal das überhaupt nicht lustig finden würden. Leute, mit denen er schon vorher aneinander geraten war. Das war nicht nur ein Betteln um Akzeptanz – das war ein wohlkalkulierter Stinkefinger. Es mag mutig gewesen sein – aber es war auch schrecklich dumm und leichtsinnig.“
 

„Tja, Teenager-Justin war wirklich nicht ganz ohne.“
 

„Und es war wieder Kinney. Der hatte nicht die Entschuldigung, ein rebellierender Heranwachsender zu sein. Kinney war erwachsen – und ist da aufgekreuzt und hat mit Justin eine schöne Show hingelegt, die meinen Sohn fast das Leben gekostet hätte. Hat schön im Mittelpunkt gestanden, ich wette, das hat ihm gefallen. Den Preis musste er ja nicht zahlen.“
 

„Sie haben Brian echt gefressen… Ich habe es bis heute immer noch nicht begriffen, warum Brian das gemacht hat. Brian ist niemand, der jedem unter die Nase reibt, dass er schwul ist. Er leugnet es nicht, aber er rennt auch nicht mit Handzetteln durch die Gegend, damit es auch der letzte mitbekommt. Er hat das nicht aus Eitelkeit getan, das glaube ich nicht. Ich glaube vielmehr, dass er es für Justin getan hat. Weil er es sich so sehr gewünscht hat. Hätte man Brian damals gefragt, ich denke nicht, dass er hätte sagen können, warum er zum Abschlussball gegangen ist. Und Brian hat gezahlt. Ich habe ihn in der Zeit danach gesehen. Er war ein Wrack. Er hat sich die Schuld gegeben.“
 

„Zu Recht.“
 

„Vielleicht. Er hätte es besser wissen müssen. Aber er war es nicht, der den Schläger geschwungen hat.“
 

„Sie haben geheiratet“, stellte Craig fest.
 

Emmet sah ihn nur kurz an, dann blickte er zurück auf die Straße.
 

„Wenn ich Justin richtig verstanden habe, sind Sie nicht gerade ein ausgemachter Fan homosexueller Ehen.“
 

„Ich denke, dass eine Ehe etwas ist, das sich nicht mit einer gleichgeschlechtlichen… Verbindung auf eine Stufe stellen lässt. Aber in Hinsicht darauf kommen wir wahrscheinlich nie auf einen Nenner. Allerdings gibt es auch in diesem Staat nicht eben wenig Leute, die Mr. Ich-schiebe-dir-einen-Riesendildo-in-den-Arsch-Kinney jetzt für meinen Schwiegersohn halten.“
 

„Ach ja: Herzlichen Glückwunsch dazu nochmal!“ grinste Honeycutt ihn an.
 

Er seufzte: „Sechs verdammte Jahre. Und der Kerl ist immer noch da.“
 

„Ich würde mich an ihrer Stelle von dem Gedanken verabschieden, dass sich daran jemals etwas ändern wird. Das heißt, falls Ihnen am Glück ihres Sohnes etwas liegt. Und ich glaube, dass es das tut. Die beiden haben sich schon gegenseitig verdient.“
 

„Wie meinen Sie das?“ fragte Craig misstrauisch.
 

„Uff“, antwortete Emmet, „darüber könnte ich Jahre philosophieren. Wahrscheinlich muss man es gesehen haben, um eine Idee davon zu bekommen. Sie sind irgendwie mehr, als die Summe ihrer Teile. Wie sagt man so schön: Die passen zusammen wie Arsch auf Eimer.“
 

„In dieser Unterhaltung kommt für meinen Geschmack zu häufig das Wort „Arsch“ vor.“
 

„Sie waren doch derjenige, der es ständig ausgesprochen hat…“
 

„Nur als Zitat!“
 

„Jaja… Also wenn Sie meine bescheidene Meinung hören möchten, würde ich Ihnen vorschlagen, dass Sie Ihren Arsch Mal in Bewegung setzten, um mit ihrem Sohn ins Reine zu kommen. Selbst wenn er ihnen einen Tritt in selbigen versetzten sollte – oder wollen Sie sich den Rest ihres Lebens das Hirn darüber zermartern?“
 

Craig schüttelte verhalten den Kopf. Nein, das wollte er nicht. Er würde seinen kleinen Jungen nicht wieder bekommen. Justin war inzwischen ein erwachsener Mann. Den er so gut wie gar nicht kannte. Dann fiel ihm noch etwas ein: „Und Kinney?“
 

Honeycutt biss sich in die Lippe: „Tja, mit dem werden Sie dann wohl leben müssen. Seine Verwandtschaft kann man sich bedauerlicherweise nicht immer aussuchen. Wäre vielleicht ein guter Anfang, sich bei ihm wegen der angeknacksten Rippen zu entschuldigen.“
 

„Nur, wenn er sich für die Schweinereien entschuldigt!“
 

„Sturheit, dein Name ist Taylor… Wenn Brian sich für seine gesammelten Schweinereien entschuldigen soll, dürfte das ein längeres Gespräch werden. Sagen Sie Bescheid, wenn’s losgehen soll, da würde ich doch wirklich gerne Mäuschen spielen.“

Offenbarungen

VI. Offenbarungen
 

Joan Kinney blickte die von hohen alten Bäumen gesäumte Straße hinab. Der Wind hatte sie hier, wo kaum Häuser ihn bremsten, schon fast vollständig entblättert. Sie war mit dem Bus gekommen, hatte den Blick wandern lassen über die prunkvollen Häuser und riesigen Gärten, die Green Tree zur Heimat derer machten, die ihren Reichtum in Reichweite der Stadt aber jenseits des Fußvolkes genießen wollten. Es hatte schon früher Kinneys in diese Gegend verschlagen. Als Gehilfen des Gärtners, als stummer Geist, der unsichtbar die Räume vom Staub befreite. Green Tree war jenseits ihrer Welt gewesen, jenseits ihrer Vorstellungskraft. Und Brian hatte sich, wie auch um alles andere, nicht geschert. Neben der grußeisernen Gartenpforte hing ein provisorisches Schild am Briefkasten. Taylor-Kinney. Sie atmete tief durch. Kein Peterson. Aber ein Name wie der eines Ehepaares. Hieß er jetzt so? Taylor-Kinney? Brian Aidan Taylor-Kinney? Jack hatte Glück, das nicht mehr miterleben zu müssen. Die Tür war unverschlossen. Sie trat in den Garten, ohne zu klingeln. Das Grundstück war weitläufig, aber verwildert. Hier hatte schon lange niemand mehr Hand angelegt. Brian lebte erst seit kurzem hier, er war wohl noch nicht dazu gekommen, sich um den Garten zu kümmern. Ihr Sohn hasste Unordnung. Sie hatte ihm nie sagen müssen, dass er sein Zimmer aufräumen solle wie andere Mütter. Efeu rankte sich über die Front des riesigen Gebäudes am Ende der Auffahrt. Ihr Haus würde fünfmal in diesen Kasten passen, mindestens. Direkt vor der Eingangstür aus schwerem Eichenholz, die nur angelehnt zu sein schien, war ein kleines Stückchen Rasen bereits gemäht worden. Ein Kind tollte darauf herum, ein kleiner Junge, der einen Fußball versunken hin und her trat. Ein Kind? Hatte sie sich in der Hausnummer geirrt? Aber die Namen hatten an der Pforte gestanden. Hatte Brian Besuch? Aber wer würde denn sein Kind Leuten wie… ihnen überlassen? Es stand auch kein Auto auf dem Vorplatz, obwohl Reifenspuren davon zeugten, dass vor kurzem hier ein Wagen entlang gefahren war. Ein Nachbarsjunge, den sie hierher gelockt hatten? Joan trat näher. Der kleine Junge war so versunken in sein Spiel, dass er sie erst bemerkte, als sie schon fast direkt neben ihm stand. Erschrocken fuhr er auf, der Ball kullerte davon. Joan erstarrte. Das Kind starrte zurück.
 

„B… Brian?“ flüsterte sie. Das war unmöglich. Hatte sie den Verstand verloren? Aber es stimmte nicht ganz. Dieselbe Nase, derselbe Mund, aber die Brauen waren schmaler, geschwungener, die Haut heller, die Augen etwas dunkler.
 

Der Kleine blickte sie noch immer verängstigt an. Dann sagte er mit quietschiger Stimme: „Ich bin nicht Brian, ich bin Gus. Brian ist mein Papa.“
 

„Das… kann nicht sein…“, entfuhr ihr.
 

„Doch“, erwiderte der Kleine aufgeregt, während er zwei Schritte in Richtung Eingangstür machte, „Brian ist mein Papa. Und Justin.“
 

Sie bemühte sich um ein freundliches Lächeln. „Wie heißt du, mein Kleiner?“
 

„Gus! Hab ich doch schon gesagt! Und wie heißt du?“ ein leicht trotziger Unterton hatte sich in sein Stimmchen geschlichen.
 

„Ich…“, antwortete sie, „ich heiße Joan. Joan Kinney.“
 

„Oh“, erwiderte der Junge, „ich heiße auch Kinney. Taylor-Kinney. Früher hieß ich Peterson. Aber dann sind meine Mamas gestorben. Sie sind jetzt an einem anderen Ort, von dem sie nicht zurück kommen können. Papa und Justin sind jetzt meine Eltern. Bist du Papas Mama?“
 

Joan drehte sich der Kopf. Brian hatte ein Kind. Ein leibliches Kind. Das er mit seinem Liebhaber aufzog. Und das er ihr gegenüber nie auch nur mit einer Silbe erwähnt hatte.
 

Der Kleine war immer noch vorsichtig, aber in seinen Augen blitzte jetzt Neugierde „Bist du auch meine Oma?“ fragte er.
 

Auch? Wie viele Omas hatte der Junge denn? Bei den chaotischen Verhältnissen, wer wusste schon, wen er alles für seine Oma hielt. Aber sie war es. Das da war ihr Enkelsohn. Etwas in ihr war sich dessen völlig sicher. Er hatte nichts von der Kinneyschen Grobschlächtigkeit abbekommen, die ihre anderen missratenen Enkel bereits im Kleinkinderalter aufgewiesen hatten. Er ähnelte Brian erschreckend, aber etwas Feineres war darunter gemischt – das Erbe seiner Mutter? Wer war diese Frau? Sie war tot? Wie hatte Brian ein Kind zeugen können, wenn er sich doch zu einem Leben in Widernatürlichkeit und Todsünde entschlossen hatte? Oder bestand doch noch Hoffnung, war Brian nur verwirrt, weil die Mutter seines Kindes gestorben war? Der Junge hatte gesagt, dass seine Mütter tot waren? Zwei? Hatte Brian in seiner Fehlgeleitetheit zwei ebenso verirrten Frauen zu Nachwuchs verholfen? Aber wie war das geschehen? Und wann? Und warum wusste sie nichts davon?
 

„Bist du meine Oma?“ bohrte der Kleine nach.
 

„Äh“, sagte sie, „ja, ich bin deine Oma.“
 

Ein Lächeln erschien auf dem Kindergesicht. Brians Lächeln. Sein echtes Lächeln, nicht das, mit dem er allen vorgegaukelt hatte, jemand zu sein, der er war. Das er ihr geschenkt hatte, ohne dass sie es hätte erwidern können. Und das irgendwann erloschen war. Ihr war, als sei sie durch die Zeit zurück gefallen. Aber das war nicht Brian. Das war Gus. Etwas griff nach ihrem Herzen. Ihr erster Reflex war es, danach zu schlagen, es zu verscheuchen, so wie sie es über so viele Jahrzehnte getan hatte. Sie schluckte. Ihr… Enkelsohn. Wie auch immer er auf diese Welt gekommen war. Sie atmete tief durch. Dann versuchte sie es. Jack war tot. Alle waren fort gegangen. Aber dieses Kind lächelte sie an. Es tat weh. Aber es tat auch gut. Sie lächelte Gus an. Zugleich loderte es in ihr. Es war alles so… sinnlos gewesen. Ich hoffe, du brätst in der Hölle, Jack Kinney.
 

In diesem Moment wurde die Eingangstür vollständig aufgezogen. Sie zuckte zusammen. Gus löste seinen Blick von ihr und hopste aufgeregt auf die Gestalt zu, die im Begriff war hinaus zu treten.
 

„Gus, wer…?“ hob die Person an, dann erkannte er sie, das konnte sie aus seinen Augen lesen. Sein blondes Haar war zu lang, nicht mädchenhaft, aber zu weich und zu golden, um erwachsen zu wirken. Die Gesichtszüge waren fein, die Haut wie Porzellan. Er entsprach nicht dem Ideal des herben, harten, draufgängerischen Mannes, mit dem sie aufgewachsen war. Er war zu zierlich, zu stupsnasig, zu… Dennoch war er auf eine irritierende Weise ausgesprochen schön. Er trug ein weites Hemd und eine Jeans, als sei er damit beschäftigt gewesen, im Haus herum zu werkeln. Wenn er doch bloß ein Mädchen gewesen wäre. Der Blick seiner blauen Augen hingegen sprach eine andere Sprache. Er war klar und hart. Nichts Kindliches oder Niedliches lag in ihm.
 

Gus rannte auf ihn zu. Der junge Mann fing ihn geübt auf und hielt ihn auf dem Arm. „Justin“, erklärte Gus aufgeregt, „die Frau ist meine Oma!“
 

Justin lächelte das Kind an, dann heftete er seinen Blick wieder auf Joan. „Mrs. Kinney“, sagte er verhalten, „Brian ist nicht zu Hause.“
 

„Ist das…?“ fragte sie, obgleich sie die Antwort schon kannte.
 

Der Blonde nickte nur stumm. Dann gab er sich einen Ruck. Sein Kinn straffte sich. „Möchten sie reinkommen?“ fragte er.
 

Sie zögerte. Was wollte sie hier? Sie hatte mit Brian sprechen wollen. Aber diese Situation war etwas völlig anderes. Justin war einen Schritt zur Seite gegangen, um ihr Einlass gewähren zu können. Sie wollte da nicht hinein. Aber sie konnte jetzt nicht einfach gehen. Sie musste… wissen.
 

Wie von selbst trugen sie ihre Füße nach drinnen. Justin hatte Gus wieder abgesetzt und nahm ihr den Mantel ab.
 

„ich habe gerade Kaffee gemacht. Möchten Sie einen?“ Sie nickte, während sie sich umschaute. Man sah es der Einrichtung an, dass dieses Haus gerade erst bezogen worden war. Es wirkte noch leer, überall klafften Lücken. Die Möbel hatten klare Linien, hier gab es nichts Verspieltes. Dennoch strahlte es etwas Warmes aus. War es das, was sich Brian gewünscht hatte…? Sie folgte dem jungen Mann ins Wohnzimmer. Im Kamin verglimmte ein Feuer. Es roch angenehm nach Holz.
 

Justin reichte ihr eine Tasse und setzte sich neben sie auf die Couch. Gus war auf sein Zimmer im Obergeschoss verschwunden, nachdem der junge Mann ihm geduldig erklärt hatte, dass er sich mit Oma unterhalten müsse. Beklommen musterte sie ihn. Er strahle gar nichts… Perverses aus. Das Kind vertraute ihm, nein, es liebte ihn, das hatte sie in seinem Blick gesehen. Aber liebten Kinder nicht auch die, die es nicht verdient hatten? Andererseits, hätte er irgendwann vor ihrer Tür gestanden und sich als Babysitter angeboten, sie hätte ihm vertraut. Man sah den Menschen ihre Verworfenheit nicht an.
 

„Wie…?“ fragte sie.
 

„Gus wurde im Reagenzglas gezeugt. Seine Mutter, Lindsay Peterson, und ihre Lebensgefährtin, Melanie Marcus, hatten sich ein Kind gewünscht. Brian war seit dem College mit Lindsay befreundet. Als sie ihn fragte, ob er der Vater sein wolle, hat er ja gesagt. Gus ist bei seinen Müttern aufgewachsen. Erst hier, dann in Toronto, nachdem seine Mütter es wegen der wachsenden Feindseligkeit gegen Homosexuelle in diesem Staat das Land verlassen hatten. Sie hatten es satt, wie Menschen zweiter Klasse vor dem Gesetz und vor ihren Mitmenschen da zu stehen. In Kanada ist das anders. Zumindest hofften sie das. Vor ein paar Wochen sind sie bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. In ihrem letzten Willen wurde das Sorgerecht für Gus an Brian und mich weiter gegeben.“
 

„Und Sie…?“
 

„Ich bin Brians Freund, seit vielen Jahren schon. Wir haben inzwischen in Kanada zivilrechtlich geheiratet, obwohl das hier nicht anerkannt wird. Ich kenne Gus seit der Stunde seiner Geburt. Nicht nur vor dem Gesetz sondern auch… in mir… ist Gus mein kleiner Junge, mein Kind. Ich liebe ihn.“
 

Joan schluckte hart. Es gab so vieles, was dagegen stand. Aber sie musste mehr wissen.
 

„Brian hat ihn mir gegenüber nie erwähnt“, sagte sie bitter.
 

„Das müssen Sie mit Brian klären. Nicht mit mir.“
 

„Sie sind doch selber fast noch ein Kind!“
 

Er lachte heiser auf, dann bohrte sich sein Blick in ihren. „Wirklich?“ fragte er. Nein. Er war kein Kind. Sie hatte kurz das Gefühl, als sei sein Äußeres nur Illusion und würde etwas anderes verschleiern… Etwas lauerte dahinter und entzog sich ihr geschmeidig.
 

Wer war dieser Mann, von dem ihr Sohn nicht lassen konnte? Nutzte er Brian, seinen Reichtum, nur aus? Nein, das war niemand, den man mit materiellen Reizen ködern konnte, das spürte sie instinktiv. Was auch immer er von Brian wollte, es war nicht das Geld.
 

„Ich muss jetzt gehen“, sagte sie.
 

Justin stand auf. „Sie können hier auf Brian warten, wenn sie möchten.“
 

Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte das jetzt nicht.
 

„Könnte ich… Gus…?“ fragte sie.
 

Brians merkwürdiger Gefährte lief kurz nach oben und kam mit dem kleinen Jungen zurück zu ihr.
 

Sie kniete vorsichtig nieder. „Auf Wiedersehen, Gus“, sagte sie leise und streckte vorsichtig die Hand nach ihm aus, strich durch das weiche Kinderhaar.
 

Er schaute sie an, dann lächelte er wieder, dass sich alles in ihr zusammen krampfte. „Auf Wiedersehen, Oma“, sagte er treuherzig.
 

Joan erhob sich und nickte Justin zu. Er erwiderte die wortlose Verabschiedung.
 

Sie hätte später nicht sagen können, wie sie nach Hause gekommen war.
 

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Brian parkte die Corvette vor dem Haus. Er öffnete den Kofferraum und schnappte sich eine Ladung seiner Einkäufe. Justin hatte ihm eine detaillierte Liste mit gegeben, die er dem Angestellten im Baumarkt nur vor die Nase hatte halten müssen. Eine Spezialbohrmaschine, Schrauben, Nägel, Werkzeuge, deren Namen nur zu denken sein Hirn sich weigerte, Pinsel, Lacke. Vielleicht sollte er Justin sagen, dass es nicht nötig war, das Haus abzureißen und eigenhändig komplett neu zu bauen. Aber Justin werkelte gerne, da kam man ihm besser nicht in die Quere. Es war wie mit seiner Kocherei. Justin war auf erschreckende Weise handwerklich geschickt. Jack hätte ihn geliebt. Wenn Brian eine Frau gewesen wäre, hätten sie Sonnenschein garantiert als perfekten Schwiegersohn angebetet. Aber so hätte sich die Liebe trotz aller Begabung doch arg in Grenzen gehalten. Er war etwas besorgt, dass Justin seine Hand überanstrengte. Die motorischen Verknüpfungen in seinem Hirn hatten langwierige Schäden davon getragen. Justin hatte dagegen gekämpft wie gegen einen Drachen. Aber es war immer noch da, das Zittern und Krampfen, wenn er sich überforderte. Was er jedoch selten tat, es sei denn, sein Tatendrang ging mit ihm durch. Brian hasste es, wenn dieser frustrierte Ausdruck in Justins Augen stand, während er verzweifelt seine revoltierende Hand knetete. In diesen Momenten war er jedes Mal versucht loszuziehen und Chris Hobbs Dinge anzutun, die diesem weniger gefallen hätten. Dieser bigotte Dreckskerl. Erst scharf auf Justin sein und dann feige auf ihn einzuknüppeln, um bloß nicht in einen Topf geworfen zu werden. Dieser erbärmliche Wurm. Aber es half nichts. Die Gesellschaft in Gestalt dieses grenzdebilen Tattergreises von Richter hatte Hobbs ja sogar noch recht gegeben. Es war völlig okay, auf Schwuchteln einzudreschen, wenn sie nicht artig in ihrem finsteren Eckchen blieben. Wenn sie es wagten, die Nase rauszustrecken und zu behaupten, so normal wie jeder andere auch zu sein. Dann war es völlig gerechtfertigt, ihnen den Schädel einzuhauen. Er schluckte seine Wut runter und konzentrierte sich darauf, mit dem Ellenbogen die Klingel zu erwischen. Er war beladen wie ein Kuli während einer Himalaya-Erkundung, da konnte keiner von ihm erwarten, auch noch mit dem Schlüssel rum zu jonglieren. Justin öffnete rasch und nahm ihm von seiner Fracht ab. Er bekam einen feuchten Kuss auf die Wange geschmatzt und musste grinsen.
 

„Und was wäre gewesen, wenn ich rungetrödelt hätte? Hättest du mir dann eins mit dem Nudelholz verpasst?“
 

„Ich verpass dir sowieso was, egal ob du pünktlich bist oder nicht“ grinste Justin frech.
 

„Oha, na dann kann ich mich ja auch rumtreiben, wenn ich gleichgültig, was ich mache, was abbekomme.“
 

„Überleg dir das gut. Wenn du artig bist, bekommst du ja auch was verpasst, das dir gefällt. Wenn nicht…“
 

Brian zog die Augenbrauen hoch und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
 

„Mmm“, schnurrte Justin bei diesem Anblick und küsste ihn ein weiteres Mal auf den Mund. „Später“, flüsterte er.
 

„Später“, hauchte Brian zurück.
 

Gus saß vor dem neu installierten Fernseher und kicherte über eine Folge Spongebob, die gerade auf dem Kinderkanal lief. Sie trugen gemeinsam die Sachen aus dem Auto.
 

„Wir brauchen noch nen Wagen“, bemerkte Brian, „sonst sitzt du hier fest, wenn ich bei Kinnetic bin.“
 

„Du könntest mit dem Bus fahren“, schlug Justin vor.
 

Brian bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick.
 

„Das Geld aus den Galerieverkäufen ist allmählich auf meinem Konto. Ich geh nächste Woche mit Emmet los und such mir was.“
 

„Um Gottes Willen!“ entfuhr Brian.
 

„Keine Panik – ich ersteh schon keinen pinken Cadillac… Emmet ist nur zur seelischen Unterstützung da.“
 

„Ihr beide in diesem Hetenzirkus… Sag Bescheid, damit ich mich auch garantiert am anderen Ende der Stadt befinde!“
 

„Jeder fährt Auto. Wieso Hetenzirkus?“
 

„Sonnenschein, manchmal schätze ich deine gottgegebene Naivität. Höre meine Worte und gedenke ihrer: Autohäuser sind so schwul wie Football-Meisterschaften oder das Grillen von Würstchen.“
 

„Football ist auch schwul – denk an Drew Boyd! Und mit dem heiß machen von Würstchen kennst sich unsereins doch bestens aus… Woher willst du das überhaupt wissen?“
 

„Ich bin Mal mit dem Probewagen durch die Fassade des Autohauses gebrettert, weil die behauptet haben, dass die Karre, die ich wollte, viel zu schwul für so einen braven Familien-Papi wie mich aussähe.“
 

Justin prustete los: „Du bist… was?“
 

Brian lächelte unschuldig: „War ein teurer Spaß. Aber das war’s mir wert.“
 

„Du bist echt irre. Aber ich liebe deinen Wahnsinn.“
 

Brian legte die Arme um seine Taille und zog ihn an sich: „Ich weiß. Ich liebe deine Beknacktheit auch.“
 

Justin lachte, dann wurde er wieder ernst.
 

„Aber bekomm keinen Schlag. Ich will kein schwules Auto. Sondern ein Gebrauchtes, Praktisches, mit dem ich Gus und meine Malsachen transportieren kann.“
 

„Mir wird jetzt schon schlecht. Das Wort „praktisch“ oder auch „gebraucht“ verursachen bei mir schwere allergische Reaktionen.“
 

„Sorry, ein Tuntenmobil ist echt das Letzte, was ich brauche.“
 

„Tuntenmobil? Diskriminierst du hier gerade meinen Jeep?“
 

„Ich frage mich, warum die damals da extra „Schwuchtel“ drauf geschmiert haben. Ich meine, die Karre hat das doch auch so prima zum Ausdruck gebracht.“
 

Brian schaute ihn beleidigt an: „Und wer ist da schneller rein gehopst als der Blitz, um seine Jungfräulichkeit an den erstbesten loszuwerden?“
 

„Du warst der Erste. Und bleibst der Beste.“
 

„Das nenne ich mal elegant aus der Affäre gerettet… du Schleimer!“
 

Justin lachte ihn an, und ihm wurde warm ums Herz. Er mochte Justins Schlagfertigkeit. Das hatte ihn bereits als Teenager von all den anderen Kerlen unterschieden. Seine geistige Wendigkeit, seine durch alle verliebte Verklärtheit durchblitzende Intelligenz. Und sein Mut, danach zu handeln, ohne Rücksicht auf Verluste.
 

Dann sagte er plötzlich: „Deine Mutter war hier. Sie weiß von Gus.“
 

Brian verschluckte sich. Er starrte Justin fassungslos an: „Was? Was hast du da gerade gesagt?“
 

„Deine Mutter war hier. Sie hat Gus gesehen und eins und eins zusammen gezählt.“
 

Justin hätte schwören können, dass er sah, wie die Haare an Brians Körper, die er nicht hatte wegwachsen lassen, sich aufstellten.
 

„Was wollte sie hier?“ zischte Brian.
 

„Ich weiß es nicht. Sie wollte zu dir. Ich glaube, Gus hat sie ziemlich aus den Socken gepustet.“
 

„Hat sie’s überlebt?“
 

„Ich denke, ja.“
 

„Mist.“
 

„Brian, sie ist deine Mutter…“
 

„Sie ist ein hartherziger, bigotter, selbstgerechter Haufen Scheiße!“
 

Justin starrte ihn an. „Du hasst sie, oder?“
 

„Wie könnte ich nicht? Sie war eine beschissene Mutter. Oh, sie hat gekocht, mir saubere Unterwäsche angezogen, ist artig zu allen Schulfesten gedackelt, den selbstgemachten Kuchen in der Hand. Mein Vater war wenigstens so ehrlich, mir direkt eins in die Fresse zu hauen. Sie nicht. Hat immer dagesessen, kalt wie ein Fisch, und so getan, als wüsste sie, was das alles bedeutet!“
 

„Was… was bedeutet?“
 

„Zuhause. Familie. Liebe. Hat immer so getan, als ob. Aber da war nichts. Nur ihr verschissener Bibelkreis, der ihr gesagt hat, was man tun soll und was nicht. Und sie hat’s gemacht, ganz brav. Vorbildlich. Aber vielleicht hätte ihr Mal jemand sagen sollen, dass das alles nichts zählt, wenn man selber gar nichts… fühlt.“
 

Justin schaute ihn erschrocken an. „Du meinst… sie hat dich nicht geliebt?“
 

„Kein Stück. Mein Vater war ein totaler Versager. Hat gesoffen wie ein Loch. Ständig mit irgendwelchen Schlampen rumgemacht. Mir ständig erzählt, was für eine Nullnummer ich bin. Aber er war ehrlich. Er hat mich nicht gewollt. Als ich da war, hat er es probiert. Ich bin ihm zuweilen echt auf den Keks gegangen. Er hat mich auch gerne Mal als Punching-Ball für seinen Frust benutzt. Aber wie sollte man nicht frustriert sein, wenn man Joan an der Backe hat? Aber wenn er etwas gut fand – meist beim Fußball – dann hat er es auch gemeint. Wenn’s nach ihm gegangen wäre, wäre ich nie geboren worden. Aber trotzdem waren seine Gefühle mir gegenüber… ehrlich. Und auf seine Weise hat er mich geliebt, auch wenn es unmöglich war, es ihm recht zu machen. Joan nicht. Kein böses Wort. Kein gutes Wort. Nichts. Nur füttern, waschen, Bibelstunde.“
 

Justin fröstelte. „Aber etwas war da, als sie… Gus gesehen hat.“
 

Brian schüttelte sich: „Sie soll weg bleiben von Gus. Von uns.“
 

Justin musterte ihn aufmerksam. Erst nach und nach setzten sich die Puzzelsteinchen zusammen. Wie tief Brian verletzt war. Welcher Schmerz sich hinter seiner Coolness, seiner Stärke verbarg. Und warum es ihm so schwer fiel, sich auf andere Menschen einzulassen. Zu vertrauen. Die Kontrolle abzugeben. Aber Brian vertraute ihm. Aber es hatte Jahre gedauert, bis er dazu bereit gewesen war. War das alles Joan Kinneys Schuld? Brian ähnelte seiner Mutter sehr. Die Züge, die aufrechte Haltung, vielleicht auch der Fatalismus. Joan hatte graue Augen, aber dieselben langen Wimpern wie ihr Sohn. Und Gus.
 

Justin schluckte schwer. Er dachte an seine Mutter. Sie hatte ihn immer aufrichtig geliebt. Immer. Es hatte nie einen Zweifel daran gegeben, obwohl er es ihr weiß Gott nicht leicht gemacht hatte. Sein Vater hatte verbrannte Erde hinterlassen. Aber auch er hatte ihn geliebt, einst. Justin konnte sich kaum vorstellen, wie es war, aufzuwachsen in dem Bewusstsein, dass die eigene Mutter einen nicht liebte. Dass der eigene Vater ihn am liebsten abgetrieben hätte.
 

Er trat um den Küchentresen herum und sah Brian ernsthaft an: „Was zwischen deiner Mutter und dir abläuft, ist eure Sache. Ich werde mich nicht einmischen. Aber da war etwas in ihrem Gesicht, als sie Gus gesehen hat… ich weiß auch nicht. Aber ich will, dass du dir klar machst, dass das die Vergangenheit ist. Ich liebe dich, mehr als alles andere in der Welt. Für mich bist du alles. Nichts, für das ich mich erwärmen muss, weil es nun mal da ist. Nichts, was ich ertrage, weil es nicht anders geht, oder weil ich zu feige bin, anderswo mein Glück zu suchen. Ich bin genau da, wo ich sein will. Bei dir. Zuhause. Mit Gus. Es gibt keinen Ort, keinen Zeitpunkt, der mich mehr verlockt als jetzt, hier.“
 

Brian schaute gebannt in Justins zu ihm aufgeschlagenen Augen. Es war… wahr. Er wurde geliebt. So sehr, dass er zurücklieben konnte, ohne wenn und aber. Justin hatte das möglich gemacht. Er wusste nicht, womit er das verdient hatte. Aber vielleicht war das nichts, was man sich verdienen konnte. Vielleicht war es eine Gnade, ein Geschenk. Vielleicht gab es doch einen Gott, aber nicht diesen erbsenzählenden, rachsüchtigen Kerl, den man ihm immer präsentiert hatte. Er war dabei, sich ein Zuhause zu schaffen. Ein Leben, ein wirkliches Leben.
 

Wortlos schlang er erneut seine Arme um Justin und versenkte seine Nase in dessen duftendem Haarschopf. Er hatte das Gefühl, als würde er zittern. Vielleicht tat es das auch. Es tat fast weh loszulassen. Und aufgefangen zu werden. Es war ungewohnt. Seine Hände streichelten wie von selbst über Justins Körper.
 

„Danke“, flüsterte er, „danke.“
 

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„Brian hat einen Sohn“, sagte Joan unvermittelt.
 

Claire erstarrte abrupt, das Bügeleisen fiel ihr beinahe aus der Hand.
 

„Was?“ fragte sie perplex.
 

„Brian hat einen Sohn“, wiederholte Joan, als würde sie mit einer Schwerhörigen reden.
 

„Aber“, entfuhr es Claire, „er ist doch schw… homosexuell.“
 

„Seit wann wusstest du das eigentlich?“
 

„Er ist mein Bruder.“
 

„Ist das etwa eine Erklärung?“
 

Claire verdrehte entnervt die Augen.
 

„Lag doch ziemlich auf der Hand“, sagte sie, „er hat sich nie auch nur einen Hauch für die Mädchen interessiert. Meine Freudinnen fanden ihn immer so super-klasse und lagen mir ständig auf den Ohren wegen ihm. Aber bei ihm landen konnte nie eine. Wenn er also kein Heiliger gewesen sein sollte, dann war er wohl eher schwul.“
 

„Und das hat dich so sicher gemacht. Deine Freundinnen waren nichtsnutzig. Vielleicht konnte er auch einfach nichts in ihnen sehen.“
 

„Er ist ein Mann, Mama. Es wäre ihm egal gewesen, dass sie dumme Hühner sind, wenn er nicht schwul gewesen wäre.“
 

„Es gibt auch anständige Männer!“
 

„Ich bin begeistert. Sag mir, wenn du einen siehst, ich hatte bisher nicht das Vergnügen!“
 

„Nun, das kann ich bestätigen!“
 

„Als hättest du es besser gemacht!“
 

„Ich habe mich immerhin nicht scheiden lassen und anschließend rumgehurt!“
 

„Pah“, sagte Claire verächtlich, „als hätte das die Sache besser gemacht. Und nur zu deiner Information: Ich hure nicht herum. Ich habe einen Freund. Willkommen in einer Zeit jenseits des Mittelalters! Und was soll das heißen, dass Brian ein Kind haben soll? Dem fällt doch der Schwanz ab, wenn er nur an eine Frau denkt!“
 

„Claire! Habe ich dich so vulgär erzogen? Wohl kaum! Er hat ein Kind gezeugt mit einer… Lesbe. Er heißt Gus. Ist fünf oder sechs.“
 

Claire begann zu lachen: „Das ist doch wohl ein Witz, oder?“
 

„Nein“, sagte Joan böse, „das ist kein Witz. Ich habe ihn gesehen. Er sieht fast aus wie Brian in dem Alter. Brian hat das Sorgerecht zusammen mit seinem… Was-auch-immer. Die Mutter ist tot.“
 

Claire stellte das Bügeleisen ab: „Was? Brian hat einen Sohn? Und einen Freund? Wann ist das denn passiert?“
 

„Es ist dieser Blonde. Der hier war, als John, du weißt schon… Hier, sieh dir das an.“
 

Sie schob die Zeitungsseite, die sie sorgfältig aufbewahrt hatte, hinüber zu ihrer Tochter. Claire las. Ihr fiel der Unterkiefer runter.
 

„Ach du heilige Scheiße!“
 

„Claire!“
 

„Er hat ihn geheiratet! Er hat ihn allen Ernstes geheiratet! Wir werden niemals was von seiner Kohle zu Gesicht bekommen!“
 

„So siehst du deinen Bruder? Als Gelddruckmaschine? Streng dich besser selber an, wenn du Reichtum haben willst!“
 

Claire schnaubte verächtlich: „Ich bin alleinerziehend mit zwei Kindern. Ich habe keine Berufsausbildung! Wie bitte soll das gehen?“
 

„Setzt dich in Bewegung. Es ist nie zu spät!“
 

Claire knirschte mit den Zähnen: „Das musst du gerade sagen!“ Sie lachte verächtlich.
 

Joan schluckte. Es war immer zu spät gewesen. Zu spät für Liebe. Zu spät für Hass. Zu spät zum Leben. Sie dachte an Gus. Ein neues Leben, voller Möglichkeiten. Ihr Enkelsohn. Gus. Er hatte sie angelächelt… Er war nicht Brian. Sie konnte…
 

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Michael saß auf der Veranda, obwohl ein Herbststurm tobte. James hockte immer noch an seinen Hausaufgaben. Seitdem er sich berechtigte Hoffnungen machte, aufs College zu gehen, strengte er sich an wie ein Besessener. Ben hatte Jenny gefüttert und ins Bett gebracht. Er saß im Wohnzimmer auf der Couch und las. Michael fand es wundervoll zu sehen, wie tief sein Mann in seiner Lektüre versinken konnte.
 

Die kühle Luft rann angenehm über sein Gesicht. Er genoss die Stille. Aber zugleich auch die Nähe. Aus den Häusern ihrer Nachbarn drangen Wärme, Laute, Licht. Er mochte diese Gemeinsamkeit. Er musste an Brian, Justin und Gus denke. Drei Gestalten in einem riesigen Haus, fernab vom nächsten Nachbarn. So würde er nicht wohnen wollen. Er hatte ihnen beim Umzug geholfen, aber der Gedanke daran versetzte ihm einen Stich. Brian hatte das Haus schon zu jenem ersten Hochzeitstermin gekauft gehabt. Aber er, Michael, hatte nichts von seiner Existenz gewusst. Wie von vielen anderen Dingen auch. Ihre Beziehung… Justin in New York und Brian hier, einsam… aber dennoch. Warum hatte er ihm nichts gesagt? Und die Hochzeit… Er hatte ihn nicht als Trauzeugen gewollt, ihn nicht einmal eingeladen, als ginge es ihm nichts an. Brian, sein Anker, sein Fels, über so viele Jahre. War das nun vorüber. Ja. Zuviel hatte sich geändert. Und nein. Brian war doch immer auch… sein Brian.

Ted und Emmet

VII. Ted und Emmet
 

„Taylor“, meldete sich Jennifer am Telefon. Sie saß gemütlich unter einer kuscheligen Mohair-Decke zusammengerollt auf dem Sofa im Wohnzimmer. Ein heißer Tee zog vor ihr auf dem Stövchen und duftete angenehm. Hinter ihr lag ein arbeitsamer Tag, jetzt genoss sie ihren Feierabend. Molly war bei einer Freundin, andernfalls hätte das Telefon auch nicht klingeln können. Seit ihre Tochter fleißig vor sich hin pubertierte, hing sie gerne stundenlang an der Strippe, um mit ihren Freundinnen jedes noch so kleine Detail des Tages auszudiskutieren. In der Zeit hätten sie sich gut und gerne drei Mal in persona treffen können. Aber darum ging es wohl nicht. Sie hatte Molly die Erlaubnis gegeben, heute bei ihrer Freundin Sally zu übernachten. Tucker war beruflich in New York. Sie hatte sturmfreie Bude und endlich mal Zeit, die Seele baumeln zu lassen und ein wenig faul zu sein.
 

„Hallo Jennifer“, ertönte Craigs Stimme aus dem Hörer. Jennifer seufzte. Soviel zum Thema Ruhe.
 

„Hallo Craig“, antwortete sie, „was gibt’s? Molly ist nicht zu Hause.“
 

„Mmm, ich wollte auch eigentlich mit dir sprechen“, Craig klang irgendwie nervös. Sie kannte ihn zu gut, um das nicht zu bemerken.
 

„Worüber denn?“ fragte Jennifer misstrauisch.
 

„Ähm, ich würde das ungern am Telefon machen. Wäre es okay, wenn ich vorbei kommen würde?“
 

Jennifer zog die Augenbrauen zusammen. Was um Himmels willen wollte ihr Ex-Mann? Eigentlich hatte sie wenig Lust, sich mit ihm auseinander zu setzten. Andererseits war Craig nun wirklich nicht der Mensch, der einen häufig von sich aus um eine Unterredung bat. Irgendetwas brannte ihm auf der Seele.
 

„Okay“, sagte sie wenig begeistert, „ich bin zuhause. Komm vorbei, wenn du willst.“ Damit hatte sich der faule Abend wohl erledigt. Aber vielleicht verschwand er auch flott wieder, und sie hätte noch Zeit, sich ihrem Entspannungsprogramm zu widmen.
 

„Bis gleich!“ sagte er und legte auf.
 

Sie rappelte sich auf und ging hinauf ins Schlafzimmer. Eigentlich könnte sie auch ihre Wohlfühl-Klamotten anbehalten, es war ja nicht so, dass er sie in dergleichen nicht kannte. Aber sie waren schon lange kein Paar mehr. Er kam zu Besuch, da wollte sie anständig aussehen.
 

Sie war kaum fertig damit sich umzukleiden, da klingelte es schon an der Tür. Himmel, war er geflogen?
 

Rasch lief sie die Treppe herab und öffnete. Craig trug einen eleganten Anzug, er musste von der Arbeit aus angerufen haben, was sein schnelles Kommen erklärte. Er stand ihm gut, ließ ihn dynamisch aussehen und verlieh ihm einen Hauch der alten Jungenhaftigkeit, die sie früher so anziehend an ihm gefunden hatte.
 

„Danke, dass du so rasch für mich Zeit hattest“, sagte er, als sie ihn einließ, „hier, das ist für dich. Ich dachte, die passen gut in dein Wohnzimmer.“ Er überreichte ihr einen kleinen Blumentopf mit ein paar violett blühenden Pflanzen darin. Verblüfft nahm sie ihn entgegen. Er hatte recht, die Blüten passten perfekt und gefielen ihr ausnehmend gut. Es war ewig her, dass er sie mit einer kleinen Aufmerksamkeit wie dieser bedacht hatte. Als sie jung und verliebt gewesen waren, hatte er dergleichen getan. Später hatte er gemeint, sie könne sich ja selber besorgen, was sie wolle, das wisse sie selbst doch auch besser. Einer der kleinen Nägel im Sarg ihrer Ehe.
 

„Danke“, murmelte sie, immer noch ein wenig perplex, und stellte die Blumen auf dem Wohnzimmertisch ab. Sie bot ihm den Sessel an.
 

„Möchtest du was trinken?“
 

„Gerne, was hast du denn?“
 

„Ich war gerade dabei, mir einen Rotwein zu öffnen, aber ich habe auch Bier.“ Für Tucker, ergänzte sie in Gedanken. Aber sie konnte ja welches nachkaufen.
 

„Bier wäre toll. Ich muss auch heute nicht mehr fahren, das Auto ist in der Werkstatt. Ich rufe mir später ein Taxi.“
 

„Wieso ist dein Auto denn schon wieder in der Werkstatt?“
 

„Weil diese Kurpfuscher Mist gebaut haben. Ist zusammen gebrochen, als ich letzte Woche Molly hergebracht habe. Dieser Honeycutt hat mich dann mit in die Stadt gekommen.“
 

„Emmet?“ fragte Jennifer. Ihr Ex-Mann und Emmet in einem Auto – was für ein Bild.
 

„Mmm, ja, genau“, murmelte Craig nur.
 

Jennifer holte die Getränke und setzte sich aufs Sofa.
 

Craig prostete ihr zu. Sie sah, dass er angespannt war.
 

„Du wolltest mit mir reden?“ half sie ihm.
 

Er sah sie an und biss sich in die Lippe: „Ja, über… Justin.“
 

„Was ist mit ihm?“ fragte Jennifer fast abweisend.
 

Craig atmete tief durch und rutschte im Sessel hin und her: „Ich würde gerne… wieder Kontakt mit ihm haben.“
 

Jennifer starrte ihn an. Sie bemerkte, wie die Wut in ihr begann zu flackern. „Ach ja?“ fragte sie kalt.
 

„Und ich wollte… Ich wollte dich fragen, ob du mir… helfen kannst“, würgte er heiser hervor und goss dann hektisch einen großen Schluck Biers in sich hinein.
 

Jennifer krallte sich an ihr Weinglas. Sie biss die Zähne zusammen: „Warum, Craig? Warum kommst du jetzt damit an, nach all der Zeit? Und warum glaubst du, sollte ich dir helfen?“
 

Er schaute sie mit weit aufgerissenen Augen an. Dann sagte er: „Ich weiß, dass du keine Veranlassung dazu hast. Aber ich bitte dich… bitte dich wirklich darum. Ich habe es versucht. Einen Schlussstrich zu ziehen. Neu zu beginnen. Aber es geht nicht, nicht wirklich. Justin ist immer… noch mein Sohn. Wir haben damals alle Fehler gemacht…“
 

„Ja!“ fuhr ihm Jennifer erbost ins Wort, „sicher haben wir das. Aber unsere Fehler wiegen deine wohl kaum auf! Du hast deinen Sohn behandelt wie ein Stück Dreck, hast ihn jahrelang gemieden, ihm jegliche Unterstützung und – schlimmer noch – Zuwendung verweigert. Jeden Fatzen, den er jetzt hat, musste er sich selbst erkämpfen! Und er hat gekämpft! Und jetzt willst du das alles wieder wett machen? Was glaubst du eigentlich, was du Justin angetan hast! Wie er sich gefühlt hat, als sein eigener Vater, den er geliebt hat und auf dessen Liebe er gebaut hat, ihn verstoßen hat! Warum zur Hölle sollte er dir das verzeihen wollen? Oder können?“
 

Craig war zusammengezuckt. Seine Knöchel traten weiß hervor, während er die Sofalehne umklammerte. Er starrte auf den Boden. „Ich muss es versuchen, Jen“, sagte er müde.
 

Jennifer hatte das Gefühl zu zittern. Der über Jahre angestaute Zorn auf Craig kochte in ihr und wollte hinaus. Aber was würde das bringen?
 

„Ich begreife nicht warum. Aber wenn du meinst, du müsstest das tun, dann werde ich dich nicht hindern. Justin wird dir aber nicht um den Hals fallen, das kann ich dir jetzt schon versprechen. Ich werde aber garantiert nicht zu ihm gehen und ein gutes Wort für dich einlegen. Dazu sehe ich keine Veranlassung und dazu bin ich – bitte verzeih meine Ausdrucksweise – immer noch zu scheißwütend auf dich“, sagte sie schließlich und nippte an ihrem Wein.
 

Craig nickte.
 

„Aber was willst du dann von mir?“ fügte Jennifer mit scharfem Blick hinzu.
 

„Ich bitte dich… Wenn ich zu ihm will, wenn ich ihn sehen, mit ihm reden will… wo kann ich ihn treffen? Ich weiß nicht einmal, wo er wohnt. Und was… erwartet mich?“
 

Jennifer musterte ihn. Dann sagte sie: „Er ist umgezogen. Ich kann dir die Telefonnummer und Adresse geben, die sind ja kein Staatsgeheimnis. Er und Brian sind nach Green Tree gezogen, sie haben da ein Haus.“
 

„Green Tree? Ist Kinney so reich?“
 

“Brian besitzt eine der größten und erfolgreichsten Werbeagenturen des Staates. Und Justin beginnt damit, mit seinen Bildern zu verdienen.“
 

„Aber aktuell bezahlt Kinney?“
 

„Unser Sohn wird nicht ausgehalten, falls das deine Befürchtung sein sollte. Was sie besitzen, ist auch sein Werk. Aber bevor du da unangemeldet auftauchst, sollte ich dir vielleicht noch etwas sagen.“
 

„Was?“ fragte Craig, während ihm das Herz in die Hosen rutschte. Bitte, lass es nichts Schlimmes sein. Lass ihn nicht… krank sein, wie man es doch immer wieder hörte…
 

„Sie leben nicht allein. Sie haben ein Kind.“
 

„Was?“ diesmal konnte Craig ein leichtes Stottern nicht unterdrücken.
 

Jennifer stand auf, schenkte sich nach und gab Craig ein frisches Bier.
 

„Sie haben ein Kind adoptiert…?“ fragte Craig atemlos. Oh Gott, war er jetzt sowas wie ein Großvater???
 

„Ganz so verhält es sich nicht“, sagte Jennifer ruhig, während Craig versuchte, sich zu fassen, „als Justin damals von zu Hause fort gegangen ist, gab es Leute, die sich um ihn gekümmert haben. Freunde von Brian. Darunter war auch ein Frauenpaar, Lindsay Peterson, eine Kunstlehrerin, und Melanie Marcus, eine Anwältin. Lindsay hat Justin auch entscheidend bei seiner Karriere geholfen, aber das war später. In der Nacht, in der Justin Brian kennen gelernt hat, brachte sie einen Sohn zur Welt. Gus. Justin hat mir bestimmt schon tausend Mal erzählt, dass er dem Baby diesen Namen gegeben hat. Brian war – und ist – der biologische Vater des Jungen. Aber er wuchs bei seinen Müttern auf, sie waren seine Eltern. Justin hat ihn regelmäßig gehütet. Nach dem Bombenanschlag im Babylon sind Lindsay und Melanie mit Gus und ihrer zweiten Tochter Jenny, die aber einen anderen Vater hat, nach Toronto gezogen, weil es ihnen dort sicherer erschien für ihre Familie. Sie haben von dort aus zusammen mit Gus Justin in New York besucht, als seine Ausstelllung bei Katlin‘s eröffnet wurde. Sie hatten geplant, alle gemeinsam nach Kanada zu fliegen. Justin wollte dort eine kleine Auszeit nehmen. Der Flieger ist abgestürzt, es war in den Nachrichten. Justin und Gus haben ihn nur durch einen Zufall verpasst…“
 

„Oh Gott!“ entfuhr es Craig, den es eisig überrollte.
 

„Es war nicht das erste Mal, dass Justin dem Tod knapp entronnen ist. Was Chris Hobbs ihm angetan hat, weißt du ja, auch wenn du nicht da warst, um das Elend zu sehen. Er war im Babylon, als diese Fanatiker die Bombe dort gezündet haben. Die Leute, die dort gestorben sind, die dort verletzt worden waren – Justin kannte sie, und sie kannten Justin. Schläger, Bombenleger – das sind die Leute, mit denen du dich gemein machst.“
 

„Ich habe nie meine Hand…“, protestierte Craig.
 

„Erzähl das Mal Brian!“
 

„Das war etwas anderes, das war etwas… Persönliches.“
 

„Das war der Baseballschläger von Chris Hobbs auch. Und hast du nicht diese Leute unterstützt, die meinten, die Menschenrechte würden für Schwule nicht gelten?“
 

„Ich bitte dich, sie mögen treiben, was sie wollen, aber heiraten…“
 

„Ja, das würde sie auf eine Stufe mit uns „Normalen“ heben. Und das wollen wir ja nun wirklich nicht“, erwiderte Jennifer bitter.
 

Craig schluckte und wechselte das Thema: „Brians Kind… Gus… das lebt jetzt bei ihnen?“
 

„Nicht nur das, Lindsay hat das Sorgerecht ausdrücklich an Brian und Justin weitergegeben. Vor dem Gesetzt sind sie jetzt seine Eltern. Und damit sind sie momentan von morgens bis abends beschäftigt.“
 

Craig war in seinem Sessel zurück gesunken. Ihm schwirrte der Kopf. Es war ihm klar gewesen, dass Justin ihm fremd geworden war. Dass er ihn vielleicht auch nicht wieder sehen wollte. Aber er hatte keine Vorstellung von Justin jetzt, von Justins Leben gehabt.
 

„Er ist doch noch so jung… und jetzt, verheiratet, ein Kind…“, kam es aus ihm heraus.
 

„Justin musste früh erwachsen werden. Er ist nicht wie die meisten seines Alters. Und daran bist du auch nicht unschuldig. Er war immer stark, immer zielstrebig, manchmal auch in einem fatalen Maße. Er lebt sein Leben und nicht eines, das ihm aufgenötigt wurde – oder das er aus Angst oder Trägheit dem vorzieht, das er eigentlich will.“ Wie ich. Wie wir.
 

Craig schloss die Augen. Er hatte das Gefühl, ein tonnenschweres Gewicht läge auf seinen Schultern.
 

„Was willst du ihm sagen?“ fragte Jennifer ihn.
 

„Ich weiß es nicht“, flüsterte Craig, „ich weiß es nicht.“
 

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Zweifelnd stand Brian vor dem liebevoll aus Plexiglas, Holz, Röhren und Draht gebauten Gebilde, das Justin für ihre neuen Mitbewohner gebastelt hatte. Gus hockte neben seinem Heimwerker-Gatten auf dem Boden und schaute mit offenem Mund fasziniert auf die kleine Plastik-Transportbox, in der es verdächtig raschelte. Vorsichtig öffnete Justin sie und hob die im Moment noch schreckensstarren Tiere in den Käfig. Sie verharrten kurz, dann flitzten sie schneller als der Blitz in Deckung, eine Ladung Streu hinter sich lassend. Rosettenmeerschweinchen, dachte Brian. Mutter Natur konnte echt abartig sein. Warum hatte Gus sich ausgerechnet Modelle mit einer derart üblen Rassenbeschreibung aussuchen müssen? Auf pelzige Rosetten im Haus konnte er im Moment nun wirklich verzichten… Aber er vermutete, es würde Einspruch hageln, wenn er versuchen würde, sie zu rasieren.
 

„Wie willst du sie nennen?“ fragte Justin Gus.
 

Gus legte grübelnd den Kopf in den Nacken.
 

„Also mich erinnern sie irgendwie an Ted und Emmet“, bemerkte Brian.
 

Gus strahlte.
 

„Oh nein…“ entfuhr es Justin gequält, „du bist so ein übler…“
 

Brian kniete sich neben die anderen beiden: „Siehst du, Gus, das Lange mit dem wüsten Look, das sieht doch echt aus wie Onkel Emmet. Und das kleine Dicke da wie Onkel Ted, wenn er seine Diät mal wieder schleifen lässt…“
 

Gus begann zu kichern: „Das stimmt, Papa!“
 

Justin seufzte schicksalsergeben: „Ist diese Art von Humor eigentlich erblich? Oder lernt Gus lediglich schnell?“
 

„Gus ist ein kluger Junge mit guten Genen“, antwortete Brian und drückte von hinten seinen Sohn an sich, der begonnen hatte, laut zu lachen.
 

„Dem wage ich nicht zu widersprechen“, sagte Justin augenrollend.
 

Ted und Emmet musterten sie misstrauisch.
 

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Es kostete sie einiges an Überzeugungsarbeit, Gus von seinen neuen Lieblingen fort zu locken, um den Tieren Zeit zu geben, sich in der geschützten Ecke Gus‘ Zimmer, in der ihr neues Domizil stand, in Ruhe zu Recht zu finden. Brian mochte sie für die albernsten Geschöpfe unter der Sonne halten, dennoch waren es Lebewesen, auf deren Bedürfnisse es Rücksicht zu nehmen galt – und eben das sollte Gus mit ihnen ja auch lernen. Der kleine Junge trennte sich nur unwillig, nachdem sie ihn hatten die Futtertraufe mit Heu füllen lassen. Seine Aufgabe, solange die beiden seine Gefährten sein würden, darauf galt es ein Auge zu haben. Dass Meerschweinchen gut und gern acht Jahre alt werden konnten, hatte Justin Brian besser nicht unter die Nase gerieben.
 

Justin stand dick eingemummelt auf dem Platz neben der Eingangstür und wärmte sich die Finger an einem Becher Kaffee. Auf der provisorisch gemähten Rasenfläche schossen Brian und Gus den Fußball hin und her. Gus flitzte wie eine Rakete über das Grün, hoch konzentriert auf den Lederball fokussiert. Brian hatte Recht gehabt – der Kleine liebte dieses Spiel und zeigte eine für sein Alter beträchtliche Wendigkeit und Ausdauer. Seine Mütter waren nie auf die Idee gekommen, ihn bei einer derartigen Macho-Sportart anzumelden. Gus war zum Kinderturnen gegangen, auch ein wenig Baseball im Garten in einer Schaumstoffausrüstung war ihm vergönnt gewesen. Aber das hatte wohl nicht verhindern können, dass Gus Herz für andere Dinge schlug. Auch Brian war versunken, achtete darauf, den Jungen zu fordern, aber ihn nicht zu frustrieren. Justin sah fasziniert, dass Brian hierbei eine Geschmeidigkeit an den Tag legte, die bei anderer körperlicher Bewegung nur durchschimmerte wie ein Versprechen. Nur im Bett kam sie voll zum Tragen. Und offensichtlich beim Fußball. Allmählich dämmerte Justin, welches Talent Brian für diese Sportart gehabt haben musste, dass sie ihm die Tür zum College geöffnet hatte. Anscheinend hatte Gus diese Begabung geerbt. Der Kleine atmete schwer, dennoch ließ er nicht locker, und erwischte einen weiteren Ball, den Justin schon verlustig gegeben hatte. Brian zeigte Gnade, indem er den Ball stoppte und sagte: „Schau mal, Gus!“ Er stupste die Lederkugel kurz an, sie sprang hoch, er erwischte sich mit dem Spann, katapultierte sie wieder nach oben, fing sie wieder ab, folgte dem Lauf, erwischte sie wieder… Gus Augen klebten fasziniert an den Bewegungen des Balls und seines Vaters.
 

„Ich will das auch!“ schrie er und rannte hinüber zu Brian.
 

Brian lachte und ließ den Ball wieder landen. Er trat ihn zu Gus hinüber. Gus legte die Zunge schief in den Mund, dann versuchte er sein Glück. Es gelang ihm, den Ball hochspringen zu lassen und ihn mit dem Spann abzufangen, dann pralle er unkoordiniert ab und verabschiedete sich in Richtung der Büsche. Gus zog ein enttäuschtes Gesicht.
 

„Macht nichts, Gus, das muss man erst lernen.“
 

„Ich will das lernen!“
 

„Dazu musst du üben, regelmäßig“, sagte Brian.
 

„Übst du mit mir?“
 

„Sicher, Sonnyboy, ich üb‘ mit dir. Aber du kannst auch alleine üben. Oder mit anderen Kindern?“ sein Blick suchte Justins.
 

Justin zog die Schultern hoch: „Du willst ihn beim Sportverein anmelden?“
 

„Warum nicht?“
 

„Spricht nichts dagegen. Aber dir ist schon klar, dass du uns damit vielleicht in alle Ewigkeiten dazu verdammst, jedes Wochenende zwischen den anderen Spielermuttis und-papis am Spielfeldrand zu hocken?“
 

„Du darfst auch das Fähnchen schwenken und die Laola-Welle starten.“
 

„Ich will lieber ne Tröte und ein Bier.“
 

„Geht klar.“
 

„Na dann.“
 

Justin wandte sich ab, als er von drinnen das Telefon schrillen hörte. Er eilte voran, während er aus dem Augenwinkel beobachtete, wie Brian sich Gus schnappte und den immer noch erhitzten Jungen an den Knöcheln haltend auf den Kopf stellte, dass dieser gleichzeitig Laute des Glücks und der Abwehr von sich gab. Kindsköppe, alle beide, dachte er. Aber wenn dieser dusselige Ball die beiden so begeisterte, wollte er den Spaß nicht trüben. Es tat gut, sie so gelöst zu sehen.
 

Er nahm den Hörer ab. „Taylor-Kinney“, meldete er sich. Normalerweise stellte er sich nach wie vor mit seinem ursprünglichen Namen vor, am Telefon konnte der Doppelname jedoch Verwirrungen vermeiden, jetzt da sie ständig irgendwelche Baufirmen, Innenausstatter und Handwerker an der Strippe hatten, deren Verträge sie mit ihrem neuen Namen hatten unterzeichnen müssen, um sie gültig zu machen.
 

„Justin?“ kam Michaels ziemlich verwirrte Stimme durch den Äther.
 

Oh Mist.
 

„Hallo Michael“, grüßte er möglichst gelassen zurück.
 

„Was war das denn eben? Taylor-Kinney? Hast du Brians Namen angenommen?“
 

„Äh ja“ antwortete Justin. Sollte er Michael in der Annahme belassen, dass nur er seinen Namen geändert hatte? Er würde es sowieso früher oder später heraus bekommen. Und je später, desto gekränkter würde er sein. Das würde Justin zwar nicht postwendend das Herz brechen, aber für Brian könnte das schwierig werden. Er runzelte etwas ärgerlich die Stirn, dass Brian ihm nicht zuvor gekommen war.
 

Er räusperte sich und bekräftigte noch einmal: „Ja. Wir haben einen gemeinsamen Familiennamen angenommen, vor allen Dingen aus rechtlichen Gründen. Brian, Gus und ich heißen jetzt offiziell Taylor-Kinney.“
 

„Was… echt? Dein Name zuerst?“
 

Justin konnte Michaels Entgeisterung förmlich riechen. Dachte er, der Name sei Ausdruck einer Hackordnung oder was?
 

Etwas reserviert sagte er: „Wir fanden beide, so herum klänge es besser.“
 

Michael schwieg kurz. Dann sagte er: „Okay… Ich rufe eigentlich an wegen der Haushaltsauflösung in Toronto. Die Miete ist zwar noch gedeckt, aber nicht mehr lange. Und wir können die Sachen nicht ewig dort belassen.“
 

Justin seufzte. Ach ja, das mussten sie ja auch noch erledigen. Michael hatte Recht. „Lass mich nachdenken… Schaffen wir das am nächsten Wochenende? Gus könnte solange zu seinen Großeltern, die schlagen Purzelbäume, wenn sie ihn das ganze Wochenende bekommen.“ Und Ted und Emmet…
 

Michael hörte sich erleichtert an: „Das dürfte klappen. Ben bleibt daheim, kümmert sich um die Kinder. Er hat auch von der Uni aus grad ziemlich viel am Halse. Aber meine Mutter kann mitkommen.“
 

Debbies praktischer Verstand würde bei ihrer schweren Aufgabe von Nutzen sein. „Gut“, meinte Justin, „ich spreche mit Brian. Wir sagen dann Bescheid, dann können wir ein Hotel buchen.“
 

„Okay, melde dich. Und grüß Brian und Gus von mir!“
 

„Mach ich. Grüß du auch alle. Bis dann.“
 

„Bis dann“, verabschiedete sich Michael.
 

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Michael starrte die Wand an.
 

Taylor-Kinney, dachte er.
 

Taylor-Kinney.
 

Er schluckte.

Selbsterfahrungstrips

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Begegnungen

IX. Begegnungen
 

Blake lächelte. Ted lag lang ausgestreckt bäuchlings in den Kissen, wo er nach ihrem Liebesspiel am gestrigen Abend eng an ihn geschmiegt eingeschlummert war.
 

Er war ganz unten gewesen. Ted auch. Der Tod, aus Verzweiflung und Gier geboren, hatte sie beide bereits in der Kralle gehalten. Aber sie hatten ihm getrotzt. Sie waren immer noch da.
 

Stück für Stück hatte er sich sein Leben, sich selbst zurück erkämpft.
 

Er kam aus einfachen Verhältnissen. Seine Eltern hatten eine kleine Farm in den Weiten Nebraskas gehabt. Es gab Länder von der Größe Nebraskas, die mehr Einwohner hatten als der gesamte Osten. Nebraska war überwältigend, keine Sekunde ließ die Natur sie vergessen, wie wenig der Mensch in ihr war. Seine Eltern hatten dem Boden viel abgetrotzt. Das war sein Weg gewesen. Das Land. Einmal in der Woche waren sie in die kleine Stadt in der Nähe gefahren. Eine Strecke kostete sie mindestens drei Stunden auf der öden Landstraße. Sie waren einkaufen gegangen. Es hatte ein kleines Kino gegeben. Manchmal hatten sie sich einen Film angeschaut. Sie hatten auch Fernsehen, nicht viele Kanäle, aber das Kino war… größer, wirklicher. In der Grundschule waren sie ein Mal in die Provinzhauptstadt, Lincoln, gefahren. Auch das war ein Provinznest gewesen, aber Blake war es wie eine schimmernde Metropole erschienen. Die Sehnsucht hatte ihn nie losgelassen. Nach der High School, in seinem Fall eine winzige Institution, die Schüler aus einem riesigen Areal bediente, war er nach Pittsburgh gezogen, um Agrarwissenschaften zu studieren. Seine Eltern wünschten es, und er hatte sich nichts anderes vorstellen können. Pittsburgh hatte ihn erobert, nicht er es. Er war gerade achtzehn geworden. Es brodelte in seinem Inneren. Er wusste, ohne es recht fassen zu können, dass Männer ihn faszinierten, viel mehr als es daheim in Worte fassbar gewesen war. Ein Studienkollege hatte ihn nach einer Party mitgenommen. Er war reichlich betrunken gewesen. Es hatte weh getan. Aber nicht nur. Und nun wusste er es. Er studierte weiter. Wagte sich vor in die Glitzerwelt der Clubs. Entdeckte sich selbst wie er die fremden Körper entdeckte, die ihm Lust schenkten.
 

Irgendwann tat er es. Er erzählte es seinen Eltern. Sie hörten ihm zu. Sie weinten. Dann verabschiedeten sie sich von ihm, von seiner Schande. Eine alte Schulfreundin erzählte ihm, dass sie die Farm verkauft hatten und nach Florida gezogen waren. Er kannte ihre Adresse nicht. Sein Studium war beendet. Er war Agrarwissenschaftler ohne Land, ohne Uni-Job, ohne Perspektive. Er stürzte sich ins Leben. Jobbte. Und nachts in den Rausch des Tanzes, der Farben, der Körper. Am Anfang waren es nur Alkohol und ab und an die Party-Drogen gewesen. Dann das Crystal. Er hatte es unter Kontrolle, dachte er. Er hatte Ted fast umgebracht. Und dann sich.
 

Ted… Waren es seine Augen gewesen? Er hatte es gesehen, dass da mehr war, viel mehr, unter dieser zynischen, sich selbst zerfleischenden Attitüde. Die Musik, die Oper. Nie zuvor hatte er so etwas Schönes gehört. Gesehen. Und Ted hatte ihm die Hand gereicht, als er bis zum Hals in der Scheiße steckte. Kurz davor war, in einem anonymen Wohnquartier an seiner eigenen Kotze zu ersticken. Er konnte nicht. Nicht so. Er war gegangen. Aber hatte es dennoch irgendwie geschafft. Sein Geist hatte sich wieder geklärt. Sein Leben bekam Sinn. Sein Studium mochte zwar für die Katz gewesen sein. Aber es gab Menschen, die ihn brauchten. Denen er helfen konnte.
 

Und dann war Ted gekommen. Er war dort, wo er bereits gewesen war. Er musste ihm helfen, professionell. Aber da waren immer noch Teds Augen gewesen. Tief wie dunkle Seen voller Wissen und Erinnerung. Aber Ted musste gesunden. Wie er es getan hatte.
 

Aber irgendwann… war es soweit gewesen. Keine Angst mehr, den anderen zu zerstören. Nur sie. Und inzwischen wusste er, er liebte Ted. Und er wusste, dass Ted ihn liebte. Nur darauf kam es an. Die Vergangenheit konnte ruhen. Sie waren den Schritt gegangen, diesmal gemeinsam.
 

Diesmal war es richtig, er wusste es. Kein mieses Timing. Nein, ganz und gar nicht.
 

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Daphne trug einen weißen Laborkittel. Ihr war etwas flau im Magen.
 

Schei….
 

Oder nicht?
 

Etwa toll?
 

Oder?
 

War sie völlig bescheuert geworden?
 

Aber es könnte klappen.
 

Oder auch nicht.
 

Und wenn nicht?
 

Und wenn doch?
 

Hallo, du.
 

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„Taylor-Kinney“
 

„Justin?“
 

Schweigen.
 

„Papa?!“
 

Craig räusperte sich: „Hallo Justin…“
 

„Was willst du?“ Justins Stimme war hart wie Stahl und eisig.
 

„Äh… könnten wir reden?“ versuchte es Craig möglichst sachlich.
 

„Wir reden doch gerade“, knallte Justin ihm entgegen.
 

Craig schluckte. „Nein, ich meinte… wirklich. Von Angesicht zu Angesicht.“
 

Es blieb still in der Leitung. Craig war sich nicht ganz sicher, ob sein Sohn nicht längst aufgelegt hatte.
 

„Du willst reden?“ kam Justins kalte Stimme. „Worüber denn? Wie peinlich es ist, einen schwulen Sohn zu haben? Dass es kein Wunder war, dass ich beinahe zu Tode geknüppelt wurde? Dass man mich in meinen perversen Anwandlungen bloß nicht unterstützen durfte? Oder geht es um Brian? Dass dieser böse Kinderschänder mich abgeschleppt und mir das Hirn weg gefickt hat, bis ich willenlos hinter ihm her gekrochen bin? Dass ich nicht auf dich gehört habe und brav ne Hete geworden bin? Was? Was? Was? Der Zug ist abgefahren. Lass mich bloß in Ruhe!“
 

„Halt! Nein! Leg nicht auf!“
 

Craig spürte, dass Justin stockte.
 

„Ich bin dein Vater, Justin!“ sagte er fast verzweifelt.
 

Justin lachte bitter: „Ja, das habe ich bemerkt! Du kannst echt stolz auf dich sein!“
 

„Das bin ich nicht. Lach mich ruhig aus. Aber lass uns dennoch… reden. Bitte.“
 

Wieder wurde es still. Dann sagte Justin: „Okay, wie du willst. Reden wir. Von Angesicht zu Angesicht. Komm her. Dienstagabend, da sind Gus und Brian nicht da. Wenn wir reden, dann hier. Nicht zu deinen Bedingungen. Nicht an einem Ort deiner Wahl, der hübsch neutral ist. Sondern hier. In meinem schwulen Zuhause. Vorausgesetzt, du hast nicht vor, mich rückwirkend in der Regentonne zu ertränken. Da muss ich warnen. Ich bin schon lange keine leichte Beute mehr.“
 

„Ich werde da sein. Um sieben?“ entgegnete Craig nur.
 

„Um Sieben. Und wage es bloß nicht, mir mit irgendwelchem Überleg-dir-doch-noch-Mal-ob-du-wirklich-schwul-bist-Scheiß zu kommen.“
 

Justin schlug den Hörer in die Gabel. Etwas in ihm stach. Was wollte sein Vater von ihm?
 

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Brian hielt Gus an der Hand vor dem Liberty Diner.
 

„Okay, Gus… erst nach rechts… dann nach links…. Kommt da ein Auto?“
 

„Rechts kommt eins!“
 

„Sehr gut. Und was machen wir jetzt?“
 

„Wir warten. Papa, ich bin nicht doof!“
 

„Sicher nicht, Sonnyboy. Aber schon viel Klügere als wir beide sind vom Auto platt gefahren worden!“
 

„Vielleicht waren sie blind?“
 

In Brian blinkte eine Lampe, die sagte: „Augenarzt. Du musst zum Augenarzt. Du bekommst Kopfschmerzen beim Lesen. Du brauchst ne Lesebrille.“ Er knüppelte der Stimme eins über. Sein inneres Auge sah ja Gott sei Dank noch verflixt gut.
 

Gus schaute sich weiterhin brav um, den Kopf zu beiden Seiten reckend.
 

Plötzlich sagte er: „Oh, da ist Oma!“
 

Nathalie? Was wollte die denn hier? Spionierte die ihm etwa wieder hinterher? Oder Jennifer? Nein, die musste heute arbeiten. Debbie? Nein, die nannte Gus „Tante“.
 

Er schaute sich suchend um. Dann sah er sie auch. Immerhin war er anscheinend weitsichtig und konnte auf Entfernung prima sehend. Seine Zähne klappten aufeinander. Durch seine Adern schoss eiskalte Wut. Joan. Sie würde immer Joan bleiben. Wie hätte er sie Mama nennen können?
 

Er starrte sie an, grau, graue Augen, graues Haar, ein graues Leben, das sie auch ihm zugedacht hatte. Ihre Pupillen waren auf Gus gerichtet, der sie freudig anlächelte. Sie schien ihn nicht zu bemerken. Er beugte sich hinab und hob den widerstrebenden Jungen auf. Gus schmiegte sich an ihn, sein Kinderduft zog in seine Nase. Er trug ihn fort in Richtung Auto.
 

Sein Blick suchte ein letztes Mal seine Mutter. Sie stand immer noch da, den Blick auf Gus gerichtet.
 

Sie lächelte.
 

Brian hasste sie.
 

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„Ich habe ihn angerufen“, sagte Craig zu Jennifer, wieder einmal auf den Stufen der Veranda stehend, während seine Tochter nach einem letzten Abschiedsgruß in ihrem Zuhause verschwunden war.
 

Jennifer stand in der Tür und kreuzte die Arme vor der Brust. Sie sah ihn an und schwieg.
 

„Wir treffen und am Dienstag. Er hat mich zu sich eingeladen“, fuhr Craig fort.
 

Jennifer hob eine Augenbraue.
 

„Ich wollte es dir nur sagen“, schloss Craig.
 

„Das hast du“, antwortete Jennifer nur.
 

Er biss sich auf die Unterlippe. Licht schien aus dem Wohnzimmer und ließ Jennifers Haar fast golden erscheinen. Die Blumen, die er ihr geschenkt hatte, standen auf der Fensterbank.
 

„Gute Nacht, Jennifer.“
 

„Gute Nacht, Craig.“ Sie warf einen letzten musternden Blick auf ihn, dann schloss sie die Tür.
 

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Die Lichter im Popperz kreisten. Emmet lehnte an der Bar und nippte an seinem Bier. Der Laden war mäßig voll. Viele bekannte Gesichter. Ein wenig Frischfleisch direkt aus der Provinz. Wie er es einmal gewesen war. Er nickte die Tanzeinladungen weg, die ihm mit unmissverständlichem Unterton zugeflüstert wurden. Man kannte ihn in der Szene. Brian mochte als König der Tops daher gekommen sein. Aber er war der ungekrönte König der Bottoms, eine Kunst, in der es wenig ernst zu nehmende Konkurrenz für ihn gab. Wenn man es genau nahm, war sein Männer-Verschleiß nicht geringer als Brians. Aber er hatte das nie an die große Glocke gehängt. Wozu auch? Er tat das schließlich nicht für sein Ego sondern aus Spaß. Und es war auch nie seine Lebensphilosophie gewesen. Er hat sich verliebt, mehrfach, auch wenn die daraus erwachsenen Beziehungen nie von Dauer hatten sein sollen. Und es war ihm nie in den Sinn gekommen, nebenher sein Single-Leben weiter zu führen. Einmal war er in der Zwickmühle gewesen – Dijon, das Heißeste, was je Cracker im Flugzeug serviert hatte – aber einmal und nie wieder. Die Bässe wummerten, die Horde tobte. Vielleicht würde er noch einsteigen, aber im Moment genoss er lediglich seinen wohl verdienten Feierabend.
 

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er wollte sie schon abschütteln, als ihm plötzlich ein wohlvertrauter Duft in die Nase stieg. Er wandte sich um. „Drew?“ entfuhr ihm überrascht.
 

Der kräftige Sportstar lächelte ihn an. „Hallo Emmet.“
 

„Na, das ist ja Mal eine Überraschung! Wie geht es dir?!“
 

„Danke, ganz gut. Und dir?“
 

Emmet lächelte und verdrehte die Augen: „Was muss das muss! Ich kann mich nicht beklagen! Hab gehört, dass sie deinen Vertrag verlängert haben, Glückwunsch!“
 

„Ich bin ihr bester Spieler. Was hätten sie tun sollen?“
 

„Pah, das hat Jahrhunderte lang auch nicht interessiert. Dass sie dich behalten wollen, gibt Hoffnung. Nicht nur mir. Ich bin echt stolz auf dich!“
 

Drews Augen leuchteten. Er drückte Emmet kurz an sich: „Danke, Emm.“
 

Emmet wusste, dass er nicht nur seine Worte meinte.
 

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Brandon saß im Liberty Diner und schlürfte vorsichtig an seinem heißen Kaffee. Er kam nicht häufig her, aber gestern war er bei seinem abendlichen Trick einfach eingepennt. Es war verflucht spät gewesen, und sie hatten die Sprungfedern ordentlich quietschen lassen. Der Kerl hatte gar nicht genug von Brandon bekommen können, hatte seinem Schwanz auf jede nur erdenkliche Art gehuldigt. Er hatte ganz gut blasen gekonnt, war aber ein erbärmlicher Fick gewesen. Aber egal, Brandon war gekommen. Eine Wiederholung würde es sowieso nicht geben. Und nach einem Frühstück mit dem Arsch vom letzten Tag war ihm nun wirklich nicht gewesen, da lieber ins Diner.
 

Er fühlte die bewundernden, sehnsüchtigen Blicke auf sich. Wie sehr sie darum winselten, von ihm genommen zu werden. Er war der König, sie alle wussten es. Versonnen leckte er sich über die Lippen, sich der Aufmerksamkeit voll bewusst.
 

Die Tür ging auf und ein kalter Luftzug drang in den Raum. Die rothaarige Kellnerin, ein ziemliches Original, kreischte auf: „Sonnenschein!“
 

Brandon zuckte zusammen. Was für ein Organ! Die dickliche Kellnerin flitzte um den Tresen und schlang die kräftigen Arme, die in buntbekrallten Händen endeten, um eine schlanke Gestalt, die beinahe versank. Er hörte ein leises Lachen, fröhlich und ein wenig heiser. Vorsichtig ließ er den Blick über den Mann gleiten, der diese Laute von sich gab. Er konnte nur seine Rückseite sehen. Weich fallendes, etwas überlanges blondes Haar, das fast golden schimmerte, ähnlich wie sein eigenes. Nicht allzu groß aber mit stimmigen Proportionen. Zierlich, aber nicht dünn, sondern eher athletisch. Wie ein Turner oder Tänzer. Ein perfekt gerundeter Hintern. Brandons Pupillen weiteten sich. Er hatte nun wirklich eine breite Vergleichsbasis. Dieser Arsch sah aus, wie von Gott höchstpersönlich modelliert. Er biss sich in die Lippe. Lecker.
 

Der junge Mann wand sich aus der Umklammerung. „Es ist auch schön, dich zu sehen, Debbie!“ lachte er. Brandon konnte jetzt sein Gesicht erkennen. Oh Gott, der sah ja auch wie dieser Porno-Gott. Kevin Williams? Erst blonde Unschuld, dann ausgesprochen einsteckfreudiger Bottom. Blaue schräg stehende funkelnde Augen, eine Stupsnase, ein fein modelliertes Gesicht mit hohen Wangenknochen, sinnliche Lippen und eine Haut wie Alabaster. War er neu? Er hatte ihn noch nie gesehen. Aber die Kellnerin kannte ihn. Zurückgekehrtes Urgestein? Wie alt mochte er sein? Anfang zwanzig?
 

„Was fällt dir ein“, sagte die Kellnerin zu ihm in gespielter Entrüstung, „dich hier so selten blicken zu lassen?“
 

„Ach Deb, ich würde ja, wenn es sich einrichten ließe, viel häufiger kommen! Aber uns steht das Chaos teilweise bis über die Ohren!“
 

„Immerhin sieht man dich überhaupt wieder! Was wolltest du auch in New York? Dein zu Hause ist hier!“
 

Der Blonde lächelte umwerfend. „Ja, das ist es wohl“, antwortete er. „Aber leider bin ich schon wieder so gut wie unterwegs. Gus muss abgeholt werden. Ich wollte uns fix was zum Mitnehmen holen und dir hallo sagen.“
 

Die Rothaarige nickte verständnisvoll: „Das ist lieb von dir, Justin. Du bist und bleibst ein Schatz. Was möchtest du denn?“
 

Die blonde Sex-Bombe gab seine Bestellung auf. Dann unterhielten sich die beiden über irgendwelche Bekannten, die Brandon nichts sagten. Ted und Blake? Schien eine längere Geschichte zu sein. Als die Klingel für das Essen aus der Küche läutete, stand Brandon auf, hinterließ ein Trinkgeld, und stellte sich, eine Zigarette rauchend, vor die Tür.
 

Er wartete nicht lange, da trat diese blonde Versuchung mit einem eingepackten Bündel Fast Food-Kost vor die Tür. Er kramte in der Hosentasche, wahrscheinlich nach dem Autoschlüssel.
 

Brandon sah ihn durchdringend an. Der andere bemerkte es und erwiderte den Blick mit hochgezogener Augenbraue. Brandon lächelte und stieß seinen Ruch aus. „Hi“, sagte er, „ich bin Brandon. Hab dich hier noch nie gesehen?“
 

„Du bist neu?“ erwiderte der junge Mann.
 

„Daraus entnehme ich, dass du hier kein unbeschriebenes Blatt bist. Bin seit einem knappen Jahr in Pitts, beruflich. Und du bist…?“
 

„Justin“, sagte der Knackarsch.
 

„Angenehm“, sagte Brandon und gab ihm die Hand. „Und, viel zu tun?“
 

„Ziemlich“, sagte Justin leicht die Schultern zuckend.
 

„Lust auf ein wenig… Entspannung?“ flüsterte Brandon, ihm rasch näher rückend, ins Ohr.
 

„Allerdings“, antwortete Justin. Er grinste. „Aber ich muss dich enttäuschen. Meine Entspannung erwartet mich zu Hause.“
 

Brandon zog die Augenbrauen zusammen: „In festen Händen? Macht doch nichts. Er muss ja nichts davon erfahren. Geht ihn schließlich nichts an…“
 

Justin lachte. „Oh doch! Ich danke für das Angebot – aber nein.“
 

Brandon starrte ihn an. Er gab ihm… einen Korb?
 

„Wie spießig bist du denn?“ zischte er.
 

„Total. Ich sammle Briefmarken, streiche den Gartenzaun weiß und bleiche die Gardinen. Und Sex nur am ersten Samstag des Monats im Dunklen mit nem Sack überm Kopf… Nimm’s mir nicht übel. Aber ich bin in vergeben.“ Er streckte die Hand aus, an der ein ziemlich eleganter – und teurer – Ehering glänzte.
 

„Du bist verheiratet?!“ entfuhr Brandon entgeistert. Er hatte immer gedacht, dass das nur die taten, die Panik hatten, dass der einzige, den sie je abbekommen hatte, abhauen könnte. Und die Verrückten. Und beides schien auf Justin irgendwie nicht zu passen. Aber man sah es den Leuten nicht immer sofort an. Vielleicht war die scharfe Schnecke ja total irre. Und das nicht im positiven Sinne. Wäre ihm genau genommen auch egal, wenn sie sich von ihm ficken ließe. Aber danach sah es nicht aus.
 

„Sowas von“, sagte Justin, immer noch breit grinsend, „tut mir leid, aber du kommst leider zu spät.“ Er nickte Brandon lächelnd zu. „Viel Vergnügen dir noch, aber bei mir rufen die Familienpflichten, mach‘s gut.“
 

„Ciao“, sagte Brandon mehr verdattert denn cool.
 

Justin nickte ihm noch einmal zu, dann wandte er sich zum gehen.
 

Brandon sah ihm nach. Himmel, war der scharf. Und der Umstand, dass er ihm nicht an den Hals gesprungen war, wie jeder andere hier binnen drei Sekunden, machte ihn nur noch interessanter. Justin würde sich unter ihm winden und nach mehr betteln, schwor er sich.
 

Wer um Himmels willen war der Typ, der diese Granate vor den Traualtar geschleift hatte?
 

Nicht dass er für solchen Pseudo-Hetero-Mummenschanz Verständnis gehabt hätte. Aber ein wenig zu beneiden war der schon.
 

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Im Licht des späten Nachmittags tanzte der Staub. Die hohen Fenster gingen gen Südwesten.
 

Brian stand in der Tür zum ausgebauten Dachgeschoss. Die Handwerker waren endlich fertig geworden und Justin hatte nicht lange gefackelt. Es ging auf Oktober zu, zum Malen wurde es draußen zu kalt.
 

Justin hatte ihn nicht bemerkt. Er war völlig in dem versunken, was er tat. Er starrte auf die Malfläche, auf der sich Formen begonnen hatten auszubilden. Dann flitzte er zwischen den Tischen hin und her, griff nach Tuben, Flaschen, Pinseln, rührte, äugte kritisch und stürzte sich, einem wilden Tier gleich, auf die Leinwand. Es war, als würde er gegen etwas kämpfen, etwas aus ihm heraus explodieren, sein ganzes Wesen fokussiert. Das Gemälde beherrschte ihn, und er beherrschte es. Ein Kampf um Dominanz, um Gleichgewicht, zärtlich, brutal. Und bis an die Grenzen der Verzweiflung und Wut sinnlich.
 

Brian atmete scharf ein. Was hatte er sich da eingefangen? Er kannte Justin. Aber Justin war ab einem bestimmten Punkt völlig unberechenbar.
 

Er schluckte.
 

Er konnte sich nichts Schöneres vorstellen.

Der Fluch des Hauses Kinney

X. Der Fluch des Hauses Kinney
 

Es klingelte scharf an der Tür des kleinen Reihenhauses. Der Vorgarten war gepflegt. Die Gardinen gebügelt. Die Nachbarschaft war irisch.
 

John öffnete die Tür. Er starrte seinen Onkel an, hochgewachsen, in einem noblen hellbrauen Mantel, der gar nicht in diese Gegend passen wollte, die riesigen wutflackernden Augen auf ihn gerichtet. Aber egal, er war ein Kind, ihm würde man nichts tun.
 

„Mama!“ brüllte er. „Der Perverse ist hier!“
 

„Was?“ brüllte Claire aus dem Obergeschoss zurück.
 

„Onkel Brian, der Kinderficker, ist da!“ schrie John.
 

Brian ignorierte ihn, als sei er ein lästiges Insekt.
 

Claire kam die Treppe hinunter gelaufen. Ihr Haar war strähnig. Sie sah deutlich älter aus, als sie war. „Was willst du denn hier?“ zischte sie ihrem Bruder entgegen.
 

„Du und deine Brut, ihr verzieht euch. Ich will mit Joan reden.“
 

„Du hast hier gar nichts zu sagen! Das ist nicht dein Haus!“
 

Brian schnaufte verächtlich: „Deines aber auch nicht, Schwesterlein.“
 

„Mama, Onkel Brian macht mir Angst“, jammerte John verlogen.
 

Brian spürte sein Herz klopfen. Oh Gott, wie sehr er sie alle hasste. Eine Sekunde bedauerte er, John damals nicht im Klo ertränkt zu haben. Das wäre wenigstens ein sinnvoller Grund gewesen, in den Knast zu wandern. Ein ehrlicher. Aber John war nur ein Kind. Es war zu hoffen, dass er nur ein Spiegel seiner beschissenen Umgebung war, und nicht einfach nur als ein Stück Scheiße geboren worden war.
 

„Verpisst euch!“ zischte er hart.
 

„Du kannst doch nicht einfach…“, erwiderte Claire.
 

„Doch, ich kann. Schnapp dir seine missratene Brut und gewinn Land!“ In Brians Augen loderten Flammen. Claire schauderte. So kannte sie ihren Bruder nicht. Er hatte seiner Wut nie Ausdruck verliehen, solange er zuhause gewohnt hatte. Er war da gewesen… und zugleich auch nicht. Sie selbst hatte sich aus dem Staube gemacht, auf ihre Weise, so rasch sie konnte. Der Lohn stand jetzt vor ihr und raubte ihr Tag für Tag den letzten Nerv. „Komm John. Hol Jack. Wir gehen“, hörte sie sich sagen.
 

„Aber Mama“, protestierte John, seinem Onkel immer noch provozierend in die Augen starrend.
 

Joan trat aus dem Wohnzimmer. Sie stand kerzengerade und blickte Brian grußlos entgegen. Dann sagte sie: „Du hast deine Mutter gehört, John.“
 

John verzog das Gesicht. Er fuhr herum und rannte die Treppe ins Obergeschoss hoch, um seinen jüngeren Bruder zu holen. Seine Mutter mochte sagen, was sie wollte. Aber seiner Großmutter gegenüber wagte er keine Widerworte. Nicht, dass sie ihm jemals etwas getan hätte. Sie drohte nicht, sie überredete nicht, sie gab nur Befehle, die keinen Raum für Weigerungen ließen.
 

Claire wand sich, während Brian und Joan sich mit Blicken maßen. Für sie war sie unsichtbar. War sie immer gewesen. Sie konnte sich vage erinnern, dass das Mal anders gewesen war. Dass ihre Mutter sie im Arm gehalten hatte, sie angelächelt hatte, sie… geliebt hatte. Aber dann war Brian geboren worden. Und von Joans Zuneigung war nichts mehr da gewesen. Es war nicht so, dass sie abgemeldet gewesen war, weil sich nun alles um das neue Baby gedreht hatte. Nein. Brian hatte genauso wenig bekommen wie sie. Aber vom Zeitpunkt seiner Geburt an war ihre Mutter erkaltet. Ihr Vater war anders gewesen. Mal war sie seine Prinzessin, mal überzog er sie mit Flüchen, weil sie sich seines Erachtens nicht wie ein gutes katholisches Mädchen benahm. Hatte sie ja auch nicht. Er hatte nie die Hand gegen sie erhoben, wie er es gegen Brian und Joan getan hatte. Sie hatte ihm immer nachgegeben, hatte geweint, wenn er böse auf sie gewesen war.
 

Joan und Brian hatten keine Träne vergossen. Irgendwann hatten die beiden ihren Vater mit demselben kalten Blick angeschaut und sich nicht gerührt.
 

In der Schule, der Gemeinde, im Sportverein – überall hatte man Claire nur als Brians Schwester gekannt. Brian, das niedlichste Kind mit den hinreißenden Kulleraugen, Brian der mit allem glänzte, das er tat, Brian, mit dem jeder Junge befreundet sein und jedes Mädchen ausgehen wollte. Brian der lächelnd über all dem zu stehen schien.
 

Bis Claire eines Tages den Blick aufgefangen hatte, den Brian auf die Kehrseite seines Fußballtrainers gerichtet hatte, als er sich unbeobachtet wähnte. Ein Blick, den sie in Brians gleichgültigen Augen nie zuvor gesehen hatte. Hungrig. Das war der Moment gewesen, in der ihr ein Licht aufgegangen war. Fast hätte sie gelacht. Brian war schwul. Super-Brian war eine verdammte Tunte. Wie gefällt euch das?
 

Sie hatte nichts gesagt. Ihr Bruder und sie standen sich nicht nahe, niemand stand Brian nahe, außer diesem merkwürdigen kleinen Nerd, Michael, vielleicht. Fickte Brian den? Es war ihr egal. Aber sie wusste, dass die Hölle losbrechen würde, wenn ihre Eltern davon erführen. Sie hätte zwar gut auf Brian verzichten können, aber sie hasste ihn auch nicht, so dass sie ihn nicht verriet.
 

Es hatte Jahre gedauert, bis Joan es heraus bekommen hatte. Brian war längst über alle Berge gewesen und verdiente sich, in sauteuren Designer-Fummeln durch die Gegend stolzierenden, eine goldene Nase. War ja klar gewesen. Aber sie musste immer noch innerlich den Kopf schütteln, wenn sie sich ausmalte, wie ihre Mutter Brian beim Vögeln erwischt haben musste. Diesen kleinen Blonden, der später mit der Polizei hier einmarschiert war, weil John gelogen hatte. Sie schämte sich dafür. Sie hatte es kaum glauben wollen, als ihr Sohn ihr erzählt hatte, dass Brian sich an ihn heran gemacht hatte. Aber wer weiß? Unter der glatten Oberfläche ihres Bruders mochte sonst was schlummern. Und hörte man nicht immer wieder, dass Schwule…? Warum sollte John ihr Märchen auftischen? Aber es war Joan gewesen, die die Polizei gerufen hatte.
 

Das war das erste Mal gewesen, dass Brian ausgerastet war. Er hatte im Flur gestanden und hatte gebrüllt. Aber es war der Junge gewesen, sein Liebhaber oder was auch immer, der ihm den Arsch gerettet hatte. Das war etwas Neues gewesen, dass Brian die Hilfe anderer nötig gehabt hatte. Und dass jemand bereit war, das für ihn zu tun. Niemand von all jenen, die über die Jahre vor Brian bewundernd niedergekniet hatten, hätte, wenn es hart auf hart kam, auch nur einen Finger für ihn gerührt. Sie blieben nur, solange der Zauber wirkte, der Götze keine Schramme abbekam.
 

Der Junge war geblieben. Brian hatte ihn sogar geheiratet, wie’s aussah. Mochten sie treiben, was sie wollten. Ihre Mutter hatte sich fürchterlich aufgeregt, als Brian seinen neuen Familienstand fröhlich in der Zeitung publiziert hatte. Claire schüttelte den Kopf. Das hatte Joan davon, ständig mit diesen Betschwestern rumzuhängen, die „Schande“ bei allem brüllte, das ihnen nicht in ihr vorgestriges Weltbild passte.
 

Die Nachricht, dass Brian obendrein einen sechsjährigen Sohn von irgendeiner Lesbe hatte, den er jetzt aufzog, hatte Joan jedoch irgendwie endgültig den Rest gegeben. Claire konnte sich ihren kalten Bruder beim besten Willen nicht als Vater vorstellen. Und Joan… sie war ruhelos. Ab und an erwähnte sie das Kind. Gus. Dass sie ihn gesehen habe. Dass er Fußball spielen würde, wie früher Brian. Dass er gerne Schokoladeneis esse. Claire hatte sich gefragt, woher ihre Mutter das wusste. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Brian sie sonntags zu Kaffee und Kuchen einlud.
 

Sie warf einen weiteren Blick auf ihren Bruder, der immer noch stocksteif dastand, jede Faser seines Körpers angespannt, in den Augen brannte… Wut? Oder war das schon Hass? Hasste Brian Joan? Er hatte nie eine Andeutung seiner Gefühle seine Mutter betreffend nach außen gelassen. Oder sonst irgendeine Geste, dass auch er mehr fühlen konnte, als es seine Maske aus sanftem Spott, eisiger Gelassenheit und selbstzufriedener Arroganz verriet.
 

John kam mit Jack an der Hand die Treppe wieder hinunter gepoltert. Claire schnappte ihre Jacken aus der Garderobe, zog ihre Kinder mit sich und sah zu, dass sie diesen Ort schleunigst verließen. Weder Brian noch Joan ließen ein Wort des Abschieds fallen.
 

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Brian löste sich aus seiner Erstarrung. Mit wenigen langen Schritten zog er an seiner Mutter vorbei und betrat das Wohnzimmer. Eine Woge des Ekels durchströmte ihn, als er den vertrauten Raum betrat, in dem die Zeit stillgestanden zu haben schien. Alles war an seinem Platz. Die Kissen aufgeklopft auf dem Sofa. Die Bilder, die ihre Familie zeigten, säuberlich aufgestellt. Joan mit ihm als Baby auf dem Arm. Claire bei ihrem Schulabschluss. Das Hochzeitsbild seiner Eltern. Ja, der Besuch sollte ja nicht auf falsche Ideen kommen, dass etwas nicht perfekt sein könnte im Hause Kinney.
 

Joan trat hinter ihm ein, er konnte es fühlen.
 

„Was willst du?“ fragte sie mit ihrer üblichen harten Stimme.
 

Brian schnaubte auf und fixierte sie: „Ich will, dass du verschwindest. Verschwinde aus meinem Leben. Bleib weg von mir. Von Gus. Von Justin.“
 

„Er ist mein Enkelsohn.“
 

„Na und? Was kümmert es dich? Ich bin dein Sohn, hat das etwa etwas geändert?“
 

„Ich habe dich aufgezogen! Glaubst du etwa, das sei einfach gewesen?!“
 

„Bestimmt nicht: füttern, waschen, gießen… oh nein, letzteres waren ja die Blumen. Aber ist ja auch leicht, das zu verwechseln!“
 

„Was wirfst du mir vor?“
 

Brian lachte bitter auf: „Gar nichts. Darüber dir noch Vorwürfe machen zu wollen, bin ich längst hinaus. Es ist mir inzwischen scheißegal, dass du mich nie geliebt hast. Dass du mich kalt lächelnd ins Gefängnis hättest werfen lassen, für etwas, was ich nie getan habe, einfach nur, weil ich deinen Vorstellungen von der Welt nicht entspreche und daher deines Erachtens zu allem fähig bin! Ich werfe dir gar nichts vor! Ich will nicht einmal über dich nachdenken. Alles, was ich will, ist, dass du auf Nimmerwiedersehen aus meinem Leben verschwindest und meine Familie in Ruhe lässt! Du hast genug getan!“
 

Joan hielt seinen Blick: „Ich habe es versucht, Brian. Und ich habe versagt, das will ich nicht leugnen. Aber es sind nicht meine Gesetze, sondern Gottes. Sag mir nur eins: Ist es meine Schuld? Bist du so geworden… wegen mir?“
 

Brian ließ sich in den Sessel fallen: „Du begreifst es einfach nicht! Es ist niemandes Schuld! Es gibt nichts, dessen jemand schuldig sein könnte. Ich bin schwul. Das ist so. Es ist völlig sinnlos, nach dem warum zu fragen, weil es nichts zu bereuen, nichts zu rechtfertigen gibt! Ich bin wie ich bin. Dein ach so kluger Schöpfer wird sich schon etwas dabei gedacht haben.“
 

„Lästere nicht Gott! Vielleicht hat er es dir geschickt als eine… Prüfung?“
 

„Ist Gott etwas ein High School-Lehrer? Glaubst du wirklich, es sei so einfach? Man muss immer hübsch brav das Richtige tun, dann bekommt man am Ende eine eins und den Schlüssel zum Himmelreich? Kannst du nur das Offensichtliche sehen? Glaubst du, es hat gereicht, mich wie eine Kübelpflanze hoch zu päppeln um als gute Mutter durchgehen zu können? Glaubst du es reicht, dass ich Männer ficke, um zur Hölle zur fahren? Wenn es einen Gott gibt, dann ist er bestimmt nicht derart dämlich!“
 

„Untersteh dich, so über Gott zu reden! Es ist eine Todsünde!“
 

„Sagt wer? Du?“
 

„Die Bibel!“
 

„Sagt die nicht auch, dass der, der ohne Schuld sei, den ersten Stein werfen solle? Dass Jesus den Sündern vergibt? Dass es letztlich Dinge wie Liebe, Vergebung, Mitleid sind, die in Gottes Augen zählen? Ich an deiner Stelle wäre ziemlich vorsichtig, mit dem Finger auf andere zu zeigen.“
 

Joan schluckte. „Bin ich das in deinen Augen, Brian? Lieblos? Erbarmungslos? Hart?“
 

Brian sah ihr ohne mit der Wimper zu zucken in die Augen: „Ja. Schöner hätte ich es auch nicht ausdrücken können. Und herzlichen Dank, dass du dein Bestes gegeben hast, mich genauso werden zu lassen. Es ist dir gut gelungen. Aber damit ist jetzt Schluss.“
 

„Wirklich? Du redest von Vergebung. Von Liebe. Mitleid. Für wen? Für dich selbst?“
 

„Ich soll dir vergeben?“ Brian lachte auf.
 

„Dann wirf du auch nicht den ersten Stein nach mir.“
 

„Wie könnte ich dir vergeben? Dich lieben? Mitleid mit dir haben? Ich habe es versucht. Tausendfach. Du warst meine Mutter. Aber du warst wie ein Eimer ohne Boden. Egal, wie viel ich hinein geworfen habe, nichts blieb. Irgendwann war es genug.“
 

Joan senkte den Blick. „Ich weiß“, sagte sie schließlich, „wenn ich es zugelassen hätte, dann wäre alles…“
 

„…sinnlos gewesen? Was, Mutter, was? Diese Farce, die du als deine Ehe bezeichnet hast? Du hättest das beenden können! Wir leben nicht mehr im Mittelalter! Was diese hohlen Klatschbasen in der Gemeinde dazu gesagt hätten, hätte dir egal sein können! Es gibt eine Welt jenseits ihres Tratsches! Oder hast du ernsthaft geglaubt, dass Gott dich dafür verdammt? Ja, wahrscheinlich schon.“
 

Joan schwieg. Sie trat vor die Fotografien. Ihr Leben. Ihre Familie. Aber nichts davon war echt gewesen.
 

„Es hat begonnen, als du geboren wurdest“, sagte sie schließlich.
 

Brian schloss gequält die Augen: „Warum höre ich mir das eigentlich an? Du sagst mir, es sei meine Schuld, dass du dein Leben verpfuscht hast und dich hinter einem Haufen leerer Regeln verschanzt hast? Wenn ich nicht in Gefahr laufen würde, so zu klingen wie du, würde ich jetzt sagen, dass du dafür zur Hölle fährst.“
 

„Nein. Ich sage nicht, dass es deine Schuld war. Oder ist. Ich sage nur, dass es der Augenblick war, in dem es nicht mehr ging. Er wollte, dass ich dich abtreibe. Er war nicht einmal ins Krankenhaus gekommen, hatte nicht gefragt, ob es dir oder mir gut geht.“
 

„Dir ist klar geworden, dass du ihn hasst?“
 

„Ja.“
 

„Und dennoch bist du geblieben, bis zum bitteren Ende.“
 

„Ja.“
 

„Du hättest gehen können.“
 

„Nein. Vielleicht hätte das jemand anderes gekonnt. Ich nicht. Ich musste bleiben. Aber ich hätte es nicht geschafft, wenn ich den Hass zugelassen hätte. Ich musste durchhalten.“
 

„Deshalb? Du durftest nicht hassen, daher blieb auch kein Raum für Liebe?“
 

„So war es wohl.“
 

Brian schüttelte seinen Kopf: „Es wäre deine Pflicht gewesen. So hast nicht nur du den Preis gezahlt.“
 

„Es ist leicht zu sagen, was andere hätten besser machen können. Jeder Mensch hat Grenzen. Aber ich will mich nicht rechtfertigen. Ich habe versagt.“
 

Brian musterte sie: „Ja. Das hast du. Aber erwarte nicht, dass ich dir darin folge. Es mag dir nicht passen, wen ich liebe und wie ich liebe. Aber ich tue es. Das ist mehr als ich mir dank deiner Erziehung jemals vorstellen konnte. Auch ich hatte Grenzen, die ich alleine nicht überwinden konnte. Und wollte, weil das, was draußen war, mir fremd erschien. Aber ich hatte das Glück, dass mich jemand von der anderen Seite geschnappt und hinüber gezerrt hat. Alleine hätte ich das nicht geschafft.“
 

„Dieser Justin Taylor?“
 

„Justin, ja. Und Gus. Meine Familie. Und meine Freunde.“
 

„Ich hatte niemanden.“
 

„Du hast auch niemanden zugelassen.“
 

„Du doch auch nicht.“
 

Brian seufzte. Er musste daran denken, wie viel Geduld und Mühe es Justin gekostet hatte. Er hatte nicht locker gelassen, gegen jede Logik und Verstand, jahrelang. Jeder andere hätte längst das Weite gesucht gehabt. Was wäre aus ihm geworden, wenn Justin nicht gewesen wäre? Er sah seine Mutter an. Sie hatte sich auf eine Kante ihres gepflegten aber alten Sofas gesetzt. Kerzengerade. Jeder, der sie sah, hielt sie für stark. Aber niemand verstand, dass diese Stärke aus Schwäche geboren war. Er sah sich. Genau das wäre aus ihm geworden. Statt in die Kirche war er in die Tanztempel gerannt. Statt Gebete Rausch. Die einzige Nähe wäre von Michael gekommen, den er aber dennoch niemals eingelassen hätte. Stark. Hart. Innerlich leer. Das Leben wäre bedeutungslos verronnen. Irgendwann hätte er Schluss gemacht, wenn die kurzen Reize sich ihm entzogen hätten. Zu alt für die Disko. Zu krank für die Drogen. Er wäre gegangen, ohne Hass, ohne Liebe, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Zeitlos und über allen. Perfekter Schein bis zum letzten Atemzug.
 

„Wie lange geht das schon so?“ fragte Brian schließlich.
 

„Meine Eltern haben es mich gelehrt. Und ihnen ihre. Ich weiß nicht. Vielleicht war es immer so. Das Leben muss ertragen werden. Unglück ist da, um sich zu bewähren. Die Regeln sind festgelegt. Glück zerfällt zu Staub. Wer es sucht, vernachlässigt seine Pflicht.“
 

„Ich weiß. Glaubst du das noch immer?“
 

„Manchmal ist das, was wir glauben, und das, was wir sind, eins. Man kann nicht an etwas glauben, einfach weil man es will – oder damit aufhören.“
 

Davon konnte Brian ein Lied singen.
 

„Wenn du mich hasst“, sagte Joan, „hasst du auch dich selbst.“
 

Brian horchte in sich hinein. Das Brodeln der vergangenen Tage war fort. Er lehnte sich im Sessel zurück. Dann sagte er: „Es muss aufhören.“
 

Joan starrte auf den polierten Wohnzimmertisch. „Wie soll das gehen?“ fragte sie schließlich.
 

„Ich weiß es nicht. Bekommst du in dein Hirn, dass ich kein pädophiles Monster bin, für das schon ein Teerkessel in der Hölle bereit steht?“
 

Joan schluckte. Alles in ihr sträubte sich dagegen. Es war nicht nur ihr Glaube, sondern auch ihre ganze Erziehung, die schrie, dass das schmutzig, widernatürlich, peinvoll war, was ihr Sohn da trieb. Es wäre so leicht, dem weiter zu folgen. Vielleicht war es auch schrecklich. Aber wenn sie es jetzt nicht versuchte, würde alles für immer so bleiben, wie es war. Wirklich alles.
 

„Ich kann dir nichts versprechen, Brian. Aber ich werde es… versuchen.“
 

Brians erster Reflex war es, sie zur Hölle zu schicken. Dann dachte er daran, wie es um ihn bestellt wäre, wenn man ihm keine Chance gegeben hätte. Und wie schwer es ihm gefallen war. Dass er entkommen war, war nicht ihr Verdienst. Sie hatte seine Ketten geschmiedet. Aber nicht aus eigenem Entschluss. Ihre Schuld war es, dass es ihr nie gelungen war, ihre zu sprengen, so dass sie sie weitergegeben hatte. Wenn er jetzt nein sagte, würde er sie verdammen. Etwas in ihm wollte das. Rache. Aber dann wäre er genau dort, wo er angefangen hatte.
 

„Meinetwegen“, sagte er schließlich, weniger um ihret- als um seinetwillen. Es ging hier ums Prinzip. Wie könnte er weitergehen, leben, frei sein, wenn er ihre Schuld weitertragen würde in sich? Wie könnte er Justin und Gus in die Augen sehen?
 

Sie schwiegen eine Weile.
 

„Ich möchte ihn sehen“, sagte Joan schließlich.
 

„Gus?“
 

„Ja.“
 

„Warum?“
 

„Ich will meine Fehler nicht wiederholen.“
 

Brian dachte an früher. Und an diese Satansbrut, die Claire auf diese Welt befördert hatte, und mit der sich Joan Tag für Tag rumplagen durfte. Nur ein kleiner Teil der Rechnung, die sie zu bezahlen hatte.
 

„Wenn ich nur einen Wimpernschlag lang mitbekomme, dass du im Begriff bist, den Kinneyschen Familienfluch an meinen Sohn weiterzugeben, war das das letzte Mal, dass du einen von uns jemals gesehen hast. Und du wirst Justin, falls ihr euch begegnen solltet, mit allem Respekt und aller Achtung behandeln, die er verdient.“
 

Das war viel verlangt. Aber weniger würde nicht reichen.
 

Joan schluckte. Sie wusste, dass das mehr war, als sie hatte erhoffen können. Vielleicht war es auch mehr, als sie konnte.
 

„Claire, John und Jack sind nächstes Wochenende nicht da. Kommt am Sonntag zum Kaffee“, sagte sie. Keine Frage, eine Feststellung, wie es ihre Art war.
 

Ein Alptraum, dachte Brian. Dennoch erwiderte er im Aufstehen: „Wir werden da sein.“

Einfach nur Reden

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Tuntentratsch

XII. Tuntentratsch
 

Sie saßen im Esszimmer. Joan hatte Schokoladentorte gemacht. Gus Mund war verschmiert und er lächelte strahlend. Justin mampfte hingebungsvoll: „Die Torte ist köstlich, Mrs. Kinney.“
 

„Brians Lieblingstorte“, antwortete Joan, deren Augen an Gus klebten.
 

Justin warf Brian, der da saß, als habe er einen Stock verschluckt, einen überraschten Blick zu. Brian und Schokoladentorte? Das waren ja ganz neue Seiten. Überhaupt – sich Brian in diesem kleinen, altbackenen Reihenhaus vorzustellen… Aber hier war er aufgewachsen.
 

Joan hatte sie höflich begrüßt, das Gesicht eine glatte Maske, in die erst Bewegung gekommen war, als Gus über die Türschwelle getreten war. Gus hatte sich neugierig umgesehen, Joan „Oma“ genannt und hatte ihr Löcher in den Bauch gefragt. Justin hatte ihr einen kleinen Blumenstrauß überreicht, den er, wie abgesprochen, besorgt hatte. Es war ja gewissermaßen auch sowas wie sein Antrittsbesuch. Brian war schweigsam geblieben. Man konnte spüren, dass er auf der Hut war. Und dass dieser Ort ihm Unwohlsein verursachte.
 

„Brian hat früher immer gerne meine Schokoladentorte gegessen. Und du magst sie auch, nicht wahr Gus?“
 

Gus nickte und sagte: „Die ist total lecker, Oma!“
 

„Ich kann Ihnen das Rezept geben, wenn Sie möchten. Ich weiß nicht, können Sie backen?“ fragte sie Justin.
 

„Ein wenig. Meine Mutter und meine Schwester haben früher immer mit mir zusammen am Wochenende gebacken. Über das Rezept würde ich mich sehr freuen.“
 

Joan nickte ihm zu. Jetzt dachte sie garantiert, dass er Brians Heimchen am Herd war, dachte Justin innerlich seufzend. Aber was sollte es, mochte sie doch glauben, was sie wollte. Es ging hier weniger um ihn. Außerdem war die Torte wirklich zum Sterben lecker.
 

„Studieren Sie eigentlich?“ fragte Joan ihn unvermittelt.
 

„Ich habe studiert, aber nicht bis zum Ende. Ich arbeite als freischaffender Künstler.“
 

„Das ist bestimmt nicht leicht.“
 

„Ich kann mich nicht beklagen.“
 

„Er ist zu bescheiden“, fuhr Brian dazwischen, „er stellt in New York in einer der einflussreichsten Galerien für junge Kunst aus. Kaum jemand schafft es bis dahin.“ Justin hörte den Stolz in Brians Stimme. Und noch etwas anderes… eine Warnung. Eine Warnung an seine Mutter, ihn bloß für voll zu nehmen. Genau genommen war es ihm eigentlich egal, was Joan Kinney über ihn dachte. Aber Brian schien das wichtig zu sein.
 

„Das ist schön… zu hören“, erwiderte Joan in einem neutralen Tonfall.
 

„Papa“, fragte Gus, „hast du hier Mal gewohnt?“
 

Brian nickte: „Ja, Gus. Ich bin hier aufgewachsen.“
 

„Oh! Ist dein Kinderzimmer noch hier?“
 

„Nein, Gus“, sagte Joan, „im alten Zimmer deines Vaters wohnen jetzt John und Jack, deine Cousins.“
 

„Cousins? Sind sie so alt wie ich?“
 

„Nein, sie sind älter.“
 

„Sind sie zu Hause?“
 

„Nein, sie sind mit ihrer Mutter, deiner Tante Claire, übers Wochenende fort gefahren.“
 

„Schade“, sagte Gus und zog ein enttäuschtes Gesicht. Brian biss sich auf die Lippe. Eher fror die Hölle zu, bevor er Gus dieser Teufelsbrut auslieferte.
 

„Ist denn dein Spielzeug noch hier?“ fragte er erneut seinen Vater.
 

Brian schüttelte den Kopf. Nachdem er gegangen war, hatte Joan alles der Kirche gespendet. Das einzige, was er noch besaß, war der inzwischen uralte Teddybär, den sein Vater ihm zu seinem dritten Geburtstag geschenkt hatte und von dem er sich alberner Weise nicht hatte trennen können, als er seinem Elternhaus den Rücken zugedreht hatte. Claire hatte gesagt, dass er eher wie eine Ratte aussähe. Brian hatte ihn trotzdem geliebt. David, nach der Geschichte aus der Kinderbibelgruppe, die ihm so gefallen hatte. Er lagerte in einer versiegelten Kiste auf dem Dachboden des Lofts.
 

Joan stand auf und holte etwas aus der Wohnzimmerkommode. „Aber schau doch hier, Gus“, sagte sie zu dem neugierig zappelnden Jungen, „hier habe ich Fotos von Br… Papa, als er so alt war wie du.“
 

Brian stöhnte innerlich. Gnade, dachte er, Gnade! Justin schaute interessiert. Wenn seine Mutter jetzt irgendwelche Brian-geht-zum-ersten-Mal-allein-aufs-Töpfchen-Bilder in die Runde werfen würde, würde er entweder sich oder alle erwachsenen Anwesenden postwendend umbringen müssen.
 

Justin rutschte näher und lugte über Gus Kopf. Das konnte er sich auf gar keinen Fall entgehen lassen. Er musste gar nicht erst hinsehen, um zu wissen, dass Brian sich in höchster Pein wand. Die Tücken von Elternbesuchen…
 

Das erste Bild zeigte einen kleinen Jungen vor einer überdimensionalen Geburtstagstorte – eben eine jener Schokoladentorten – der glücklich lächelnd einen Fußball in den Händen hielt. Die Ähnlichkeit mit Gus war in der Tat erschreckend, kein Wunder, dass Joan an ihrem Verstand gezweifelt hatte. Justins Kehle zog sich merkwürdig zusammen. Brian schlafend in seinem Kinderbett, einen irgendwie missgeformten Teddy umklammernd. Brian bei seiner Einschulung, die Augen erstaunt weit aufgerissen. Alles sah so… friedvoll und normal aus. Die Frage blieb nur, was geschehen war, wenn der Fotoapparat nicht Sekunden erstarrter Realität aufgefangen hatte. Als diese Bilder entstanden waren, war Justin noch lange nicht geboren gewesen.
 

Gus starrte begeistert. „Papa, das bist du!“ rief er aufgeregt. „Du, als du klein warst.“
 

Brian murmelte nur irgendetwas und starrte zu Boden.
 

„Ich kann Abzüge machen lassen von den Fotos. Man kann sie ja heute mit dem Computer oder so vervielfältigen, oder? Die Drogerie unten am Einkaufszentrum bietet so etwas an“, schlug Joan vor.
 

„Mutter, ich glaube nicht, dass…“ wehrte sich Brian.
 

„Sie sind nicht für dich. Sie sind für Gus“, erwiderte Joan.
 

Gus war völlig in die Betrachtung der drei Bilder versunken. Was mochte noch in jener Kiste verborgen sein, überlegte Justin. Brian als Teenager? Brian in seinem Alter? Ein Teil von ihm starb beinahe vor Neugierde. Ein anderer Teil flüsterte ihm zu, dass es besser sei, die Dinge ruhen zu lassen.
 

Brian kniff die Lippen zusammen. „In Ordnung“, sagte er schließlich, „für Gus.“
 

„Danke, Oma!“ freute sich der kleine Junge.
 

Justin wurde etwas klamm. War Brian auch so gewesen? Er musterte Joan aus dem Augenwinkel. Was hatten diese Frau – und Brians verstorbener Vater – mit ihrem Sohn angestellt? Er konnte es nur erahnen. Eine Sekunde lang spürte er kochende Wut auf Joan Kinney. Aber dann rief er sich zurück. Er kannte nur die Spitze des Eisberges über Brians komplizierte Beziehung zu seiner Mutter. Wenn Brian der Meinung war, heute hier sein zu müssen, dann würde er das wohl respektieren können, auch wenn es ihm schwer fiel, sich zurückzuhalten.
 

Sie blieben noch eine Weile. Joan händigte Justin das Rezept aus und versprach Gus, die Kopien der Bilder gleich Morgen in Auftrag zu geben. Gegen fünf Uhr verabschiedeten sie sich. Justin und Gus war beiden ein wenig übel und sie hatten mit einem leichten Zuckerschock zu kämpfen. Brian blieb still auf der Rückfahrt. Zuhause halfen sie Gus, Ted und Emmet zu versorgen, die ebenfalls vollgefressen lethargisch aussahen. Gus stellte sich ein Märchen-Hörspiel an und machte sich daran, mit seinen Legosteinen zu spielen.
 

„Ich kann jetzt alleine!“ wurden sie entlassen. Der Gedanke an ein Abendessen in näherer Zukunft lockte Justin ausnahmsweise ganz und gar nicht. Leise vor sich hin würgend ließ er sich aufs Bett fallen.
 

Brian setzte sich neben ihn auf die Bettkante. „Ein weiteres Opfer von Joan Kinneys Schokoladentorte. Ihren Weg pflasterten Leichen. Fette Leichen“, kommentierte er seinen leidenden Gemahl.
 

Justin schloss nur gequält die Augen und verdaute leidend vor sich hin.
 

Brian streckte sich lang neben ihm aus.
 

„Was immer du vorhast – fass mir nicht auf den Bauch!“ wehrte sich Justin.
 

„Verdient hättest du es ja, du verfressene Flunder.“
 

„Oh ja, beleidigen ist gut! Das geht auch ohne Körperkontakt!“
 

„Was, heute Schicht im Schacht im Ehebett?“
 

„Sobald ich mich wieder bewegen kann, dreh ich mich auf den Bauch“, bot Justin großzügig an.
 

„Wow, wie sexy… Wie immer ein Feuerwerk der Ideen. Aber wir könnten echt Mal wieder vor die Tür.“
 

„Du willst ausgehen?“
 

„Warum nicht? Ist doch Ewigkeiten her, seit wir die Szene von innen gesehen haben.“
 

„Die guten alten Zeiten wieder aufleben lassen?“ fragte Justin mit einem mulmigen Gefühl.
 

„Noch sitzen wir nicht im Rollstuhl und bekommen Flüssignahrung. Von Orgien in dunklen Gassen sollten wir allerdings die Finger lassen, sonst schnappt uns die Polizei und verpetzt uns bei der Sozialbehörde.“
 

„Und Orgien außerhalb dunkler Gassen?“
 

Brian zog die Augenbraue hoch: „Du willst wissen, ob ich dir gerade klar machen will, dass die Bareback-Phase vorbei ist?“
 

„Ja.“
 

„Von meiner Seite nicht. Der Zug ist abgefahren. Und falls sich das ändern sollte, sage ich dir das klar und deutlich. Aber ich glaube es nicht. Was sollte ich denn verpassen? Ich hatte doch schon alles, was sich dort erleben lässt, bis zum Erbrechen. Frag mich nicht, wie viele Typen mir im Laufe der Jahre einen geblasen haben oder von mir gefickt wurden. Tausende? Was wir hier laufen haben, ist neu. Und verdammt geil. Aber es wäre okay für mich, wenn du sagst, dass du noch weiter durch die Betten toben möchtest.“ Okay war übertrieben. Aber er würde es akzeptieren. Justin war jung, er hatte ein Recht darauf, Dinge auszuprobieren.
 

Justin schaute ihn leise atmend an: „Nein danke, ich hatte auch meinen Teil. Klar war‘s auch geil. Aber sagen wir es mal so: Wirklich abendfüllend war es auch nicht. Ein bisschen wie diese mörderische Torte: unglaublich lecker, man kann einfach nicht aufhören – und irgendwann ist einem schlecht. Wenn Sexperimente, dann mit dir. Tausche Quantität gegen Qualität.“
 

„Dann ziehen wir also durch die Clubs und reiben diesen Versagern unter die Nase, wie geil ehelicher Sex ist?“
 

Justin gluckste leise auf: „Das hört sich doch nach einem Plan an.“
 

„Bläst du mir trotzdem wie in den öden alten Zeiten einen im Darkroom?“
 

„Wenn du versprichst, dabei vor Langeweile nicht einzupennen.“
 

„Da wirst du dich aber arg anstrengen müssen…“
 

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Craig lächelte. Justin hatte sich gemeldet. Er hatte ein paar Bestellungen durchgegeben. Danach hatten sie ein paar Minuten geplaudert.
 

Es war nicht viel.
 

Aber es war ein Anfang von Alltäglichkeit.
 

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Brandon lehnte lässig an der Bar und ließ den Blick träge schweifen. Sein Jagdrevier. Er ging die tanzende Meute durch. Hatte ich schon, hatte ich schon, geht gar nicht, zu alt, ganz okay, wenn nichts anderes ins Sicht kommt…
 

Er stutzte. Im Zentrum der Tanzfläche tanzte Emmet, seines Zeichens berüchtigter Bottom. Emmet hatte für Brandon bislang nur äußerst reservierte Blicke übrig gehabt, die ihn nicht gerade in Versuchung geführt hatten. Aber es war nicht Emmet, an dem sein Radar hängen geblieben war, sondern sein Tanzpartner. Die blonde Bombe aus dem Diner. War das Eheleben wohl doch nicht so der Knaller, wenn der sich hier herum trieb. Justin war sein Name gewesen, erinnerte sich Brandon. Er musterte ihn. Ein geborener Tänzer, geschmeidige Bewegungen, ein gnadenloser Hüftschwung ohne einen Hauch von Exaltiertheit. Er musste die Wucht im Bett sein mit diesem Gefühl für Rhythmus und dieser… Flexibilität. Und dem Hintern eines Gottes. In den er sich heute Nacht zu versenken gedachte.
 

„Na, genießt du die Aussicht?“ wurde er von der Seite angesprochen.
 

Er stutzte. Kinney, na klasse. Der war doch eigentlich schon ewig weg von der Bildfläche. Okay, er hatte ihn damals bei ihrer Wette geschlagen, wenn auch knapp. Und dann hatte er noch nicht einmal seinen Gewinn haben wollen. Also er hätte sich gefickt. Sehr merkwürdige Geschichte. Nach der Explosion im Babylon war Kinney aus der Szene verschwunden. War ja sein Laden gewesen. Vielleicht hatte ihm das den Rest gegeben, er war ja nicht mehr der Jüngste. Aber heiß war er immer noch, das musste Brandon zähneknirschend eingestehen. Er trug eine gut sitzende Jeans und ein braun-violettes Hemd, das genau auf die Farbe seiner Haare abgestimmt war und dessen aufgeknöpfter Kragen mehr andeutete als zeigte. Brandon hatte sich alle Mühe gegeben, die Tricks Brian Kinney vergessen zu lassen. Er fand, dass er dabei ziemlich erfolgreich gewesen war. Dennoch fühlte er das Wispern, das durch den Raum ging, als man Kinney bemerkte.
 

„Nicht übel“, sagte Kinney, Brandons Blick folgend.
 

„Ist der nicht ein wenig jung für dich?“ stichelte Brandon.
 

Volltreffer, in Kinneys Augen blitzte es auf.
 

„Wir können’s ja rauskriegen“, sagte Kinney, „wie wäre es mit einer kleinen Revange?“
 

„Du willst wetten?“
 

„Warum nicht, ich pflege ja zu gewinnen.“
 

„Okay, gewonnen hat der, der heute Abend bei dem scharfen Knackarsch dahinten landen kann. Der Verlierer… lässt sich in der Zwischenzeit im Darkroom ficken.“
 

Kinney verschluckte sich fast an seinem Whiskey. „Dir ist schon klar, dass das dich treffen wird?“ fragte er grinsend.
 

„Ich sage schon mal Alexander Bescheid, der hat immer noch eine Schwäche für dich“, entgegnete Brandon. Alexander war ein fast zwei Meter großer schwarzer Top mit einem Faible für Lederspielchen und einer berüchtigten Ausstattung.
 

„Ich hoffe, er mag dich auch. Wahrscheinlich lieber als mich. Der steht auf blond“, erwiderte Kinney gelassen.
 

„So wie du?“ fragte Brandon mit einem weisenden Nicken in Justins Richtung.
 

„Kommt arg auf die Blondine an“, hielt Kinney mit einem fiesen Grinsen dagegen.
 

Brandon löste sich von der Bar. „Mögen die Spiele beginnen!“ sagte er und stieße mit seinem Gegner an.
 

Kinney nickte ihm zu, dann wandte er sich überraschenderweise um und verschwand in entgegengesetzter Richtung. Brandon zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen. Entweder wurde Kinney senil oder er plante irgendetwas. Er tippte auf letzteres. Der blonde Wettpokal tanzte inzwischen zufrieden lächelnd zwischen zwei Männern Mitte Dreißig, die er zu kennen schien. Ein kleiner Dunkelhaariger mit Knopfaugen und ein ausgesprochen muskelbepackter Blonder mit einer scharfen Nase. Es lag nichts Anzügliches in diesem Tanz.
 

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Emmet steuerte derweil die Toiletten an. Während er sich gemütlich am Urinal erleichterte, fasste ihn jemand an die Schulter: „Hallo, schöner Mann. So einsam heute Abend?“
 

„Brian! Hast du noch nie etwas davon gehört, dass man pinkelnden Männer nicht auf die Schulter klopft!“
 

„Gewöhn dich schon mal dran, das erwartet uns alle im Alter.“
 

„Ich hoffe, du sprichst da nicht aus Erfahrung! Weil ich sicher bin, dass du auf deine alten Tage keine sehnsüchtige Schwäche für mich entwickelt hast, frage ich lieber gleich: Was willst du?“
 

„Du brichst mir das Herz, Emm. Eigentlich wollte ich dich nur darum bitten, Justin eine kleine Botschaft für mich zu überbringen.“
 

Emmet seufzte: „Kannst du deinen Hintern nicht selbst zu ihm rüber schwingen, ist ja kein allzu weiter Weg? Oder willst du mich für eines eurer perversen Spielchen einspannen?“
 

„Letzteres.“
 

„Habt ihr kein Schlafzimmer?“
 

„Beleidige mich nicht.“
 

„Also gut, was soll ich machen?“
 

Brian erzählte es ihm.
 

Emmet verdrehte die Augen: „Du bist so ein fieser Mistsack. Aber Brandon ist in der Tat ein Stück Scheiße in zu engen Hosen. Dir ist schon klar, dass Justin dir für diese Nummer eventuell die Eier abrupfen wird?“
 

„Biiiiitte, Emmilein, tu’s für mich!“ flehte Brian breit grinsend und machte Kulleraugen.
 

„Okay. Aber wenn der Schuss nach hinten losgehen sollte, hatte ich nichts damit zu tun!“
 

„Dein Geheimnis ist bei mir sicher.“
 

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Brandon lehnte am Rand der Tanzfläche und tastete Justin mit den Augen ab. Er fühlte so etwas wie Vorfreude. Der Kleine würde ihm gehören. Er versprach ein ganz besonderer Fick zu werden, ein Sahnebonbon inmitten der Gewöhnlichkeit. Es machte ihn etwas nervös, dass er Kinney nicht wieder zu Gesicht bekommen hatte. Was trieb der Kerl? Emmet war wieder aufgetaucht und zog Justin hinüber zur Bar. Die beiden genehmigten sich einen, während Emmet in Justins Ohr redete. Er verfolgte, wie der Blonde erst etwas verärgert das Gesicht verzog, aber dann doch lächelte. Himmel, was für ein Lächeln, was für ein Mund! Brandon konnte sich lebhaft vorstellen, was man damit alles anstellen konnte. Emmet verschwand wieder auf der Tanzfläche, während Justin weiter an seinem Drink nippte. Brandon nutzte den günstigen Augenblick. Er schob sich neben Justin.
 

„Hi“, sagte er heiser.
 

Justin sah zu ihm hinauf und lächelte: „Hi… Brandon, richtig?“
 

„Genau. Und du bist…?“
 

„Justin.“
 

„Ach, hatten wir nicht schon mal das Vergnügen?“ heuchelte Brandon. Klar erinnerte er sich an den Namen dieses heißen Teils.
 

„Ja, neulich vor dem Liberty-Diner.“
 

„Warst nicht du der mit dem Ehemann, dem er treu sein wollte? Wo steckt der denn, wenn ich fragen darf?“
 

„Dein Gedächtnis ist ja doch gar nicht so übel… Mein Gatte ist grad nicht in Sichtweite.“
 

Blondie schien nicht auf den Kopf gefallen zu sein. Gut so, denn erfahrungsgemäß stimmte es nicht, dass dumm gut fickte.
 

„Das ist aber… bedauerlich. Und derweil… amüsierst du dich hier alleine?“
 

„Bisher schon. Aber das kann sich ändern.“
 

Brandon grinste. Na bitte. Kinney sollte schon mal mit den Dehnübungen beginnen.
 

„Willst du noch einen?“ fragte er Justin mit Blick auf das leere Glas in seiner Hand.
 

„Ach, warum nicht, danke. Aber ich muss aufpassen…“
 

„Du musst noch fahren?“
 

„Nö. Aber wenn ich zu viel intus habe, vergesse ich leicht meine Zurückhaltung und guten Manieren“, sagte Justin nonchalant.
 

Emmet war unbemerkt an sie heran getreten und hatte den letzten Wortwechsel mitbekommen. Es war doch wirklich unglaublich, dachte er. Justin und Brian hatten sich wirklich verdient, ganz wie er es Papa Taylor gesagt hatte. Was der wohl zu dieser Sache sagen würde? Ob ihm klar war, was für ein Früchtchen sein Sprössling war – und das war keineswegs Brians Schuld? Gesucht und gefunden…
 

„Äh, Justin, ich gehe nochmal eine Runde tanzen, möchtest du mit?“
 

„Geh nur Emm. Ich unterhalte mich hier gerade so angenehm. Ich glaube, Brandon und ich haben zahlreiche gemeinsame… Interessen.“ Justin verpasste Brandon einen seiner Killer-Augenaufschläge.
 

Emmet trat die Flucht an. Fast tat ihm Brandon leid, auch wenn er ihn grundunsympathisch fand. Der hatte keinen blassen Schimmer, was er sich da versuchte anzulachen. Justin hatte Brian erledigt, dagegen war Brandon ein blutiger Anfänger.
 

„Und wofür“, fragte Brandon, „interessierst du dich so?“
 

„Oh, alles Mögliche… Ich sauge gerne Bücher in mich hinein… Ich lecke mir die Finger nach Wissen, das in die Tiefen meines Seins vorstößt… Ich falle vor der Kunst in die Knie und lass sie ihre Wucht in mich verströmen… Eigentlich bin ich ziemlich langweilig, befürchte ich.“
 

Brandon starrte ihn an. Himmel, was war das denn? Justins Augen schauten ihn unschuldig an.
 

„Oh, schon wieder leer“, stellte Justin mit enttäuschter Miene und schaute in sein Glas, „aber einen verkrafte ich bestimmt noch, oder?“
 

Brandon orderte nach. Justin nahm einen Schluck und leckte sich genüsslich über die Lippen. „Irgendwie schmeckt dieses Zeug immer besser, je mehr man davon trinkt. Und was machst du so?“
 

„Ich bin in der Werbebranche tätig. Ziemlich erfolgreich, will ich behaupten.“ Allerdings hatte er keine eigene Firma, wie Kinney – aber das konnte ja noch kommen.
 

„Sind Werber nicht immer etwas oberflächlich? Vielleicht bin ich da ja etwas vorurteilsbehaftet, aber ich stelle mir da immer so eitle Typen in Armani-Anzügen vor, die in durch designten Lofts inmitten von Mies van der Rohe-Möbeln wohnen und sich selbst für den Nabel der Welt halten?“
 

Brandon schluckte leicht ertappt: „Äh, das ist nur Schein. Man muss viel von Menschen verstehen, wenn man sie davon überzeugen will, das zu kaufen, was sie kaufen sollen.“
 

„Aha, klingt einleuchtend. Vielleicht kannst du mir ja helfen? Ich bin gerade dabei, mir als freier Künstler einen Namen zu machen. Wie, würdest du mir raten, sollte ich mich verkaufen?“
 

Wieder so ein Augenaufschlag. „Uhm… kommt drauf an, wie du rüberkommen möchtest. Man muss aber auch auf Vorhandenem aufbauen, sonst wirkt man nicht authentisch.“
 

„Oh, das ist in der Tat schwierig, sich selbst dahin gehend einzuschätzen, was andere an einem als Vorzug wahrnehmen. Was meinst du?“
 

Dein Arsch, dachte Brandon fast verzweifelt, dein geiler kleiner Bubble But. Aber darauf ließ sich wahrscheinlich keine Kunstkarriere aufbauen. Obwohl, wer weiß? „Um das genau einschätzen zu können, müsste ich dich… besser kennenlernen. Und vielleicht auch einen Blick auf deine Bilder werfen. Was meinst du, hier ist es sowieso zu laut, zeig sie mir doch einfach.“
 

„Versuchst du etwa mich abzuschleppen? Ich mag zwar beschwipst sein – aber nicht so beschwipst. Ich bin schließlich ein verheirateter Mann!“
 

„So war das doch gar nicht gemeint“, versuchte sich Brandon zu retten, „ich will dir wirklich nicht zu nahe treten.“ Oh doch, will ich.
 

Justin musterte ihn misstrauisch, dann lächelte er wieder: „Tut mir leid, ich bin da etwas empfindlich. Ich hab da nur so Erfahrungen gemacht, was passieren kann, wenn man sich auf sowas einlässt…“
 

„Hört sich ja grauenhaft an!“
 

„Ich garantiere dir, wenn ich es dir erzählen würde, würdest du es wirklich grauenhaft finden. Aber wir sind ja nicht hier, um Trübsal zu blasen. Huch, Glas schon wieder leer? Na, was soll’s. Ich würde jetzt gerne eine Runde tanzen.“
 

Brandon schickte sich an, ihn hinüber zur Tanzfläche zu bugsieren. Weniger Unterhaltung, mehr Körperkontakt könnte seiner Sache dienlich sein, aber Justin entwischte ihm.
 

„Oh weh – jetzt habe ich richtig einen sitzen. Aber ich sage dir eins, wenn schon tanzen, dann richtig.“
 

Wie ein geölter Blitz verschwand Justin und erklomm eine der Emporen, auf denen normalerweise die Go Go-Tänzer ihres Amtes walteten. Diese war gerade unbesetzt, weil der Tänzer anscheinend eine Verschnaufpause eingelegt hatte.
 

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Michael, der am anderen Ende der Tanzfläche die Arme um seinen Ehemann gelegt hatte, stutzte: „Was zur Hölle geht da ab?“
 

„Was meinst du?“ fragte Ben, der mit ihm mit einem Lächeln auf dem Gesicht im Takt wippte.
 

„Na, da drüben! Das ist doch Justin? Was soll das werden, die King of Babylon-Gedächtnis-Nacht?“
 

Ben schaute in die angegebene Richtung. Justin sprang gerade elegant an der Stange hoch und kreiste, offensichtlich alle Regeln der Schwerkraft hinter sich lassend, mit den Schenkeln festgeklammert. Die Tanzenden im Umkreis stießen einander an und begannen ihre Aufmerksamkeit auf ihn zu konzentrieren.
 

„Lass ihn doch“, sagte Ben, „nach all dem, was hinter ihm liegt, hat er eine Runde Spaß mehr als verdient.“
 

„Aber als Go Go-Boy?“ wandte Michael zweifelnd ein.
 

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Brandon schaute fassungslos. Einerseits war es ja erfreulich, dass der Blonde offensichtlich im Begriff war, alle Hemmungen zu verlieren, andererseits fragte er sich, woher der andere das konnte. Justin gab sich nicht die Blöße, seine Klamotten von sich zu werfen – aber das war auch gar nicht nötig. Seine Bewegungen allein ließen reichlich Raum für Fantasie. Die Meute jubelte. Justin schenkte ihnen ein verhaltenes Lächeln und einen schrägen Blick, während er sich wand. Lachend verbeugte er sich schließlich und hopste genau so schnell, wie er hinauf gekommen war, wieder zurück auf die Tanzfläche. Brandon schob sich hinüber zu ihm, dass die anderen Typen, die Justin jetzt höchst interessiert musterten, Reißaus nahmen.
 

Bevor er ihn erreicht hatte, schloss sich von hinten ein langer Arm um Justin. Kinney. „Hat dir heute schon jemand gesagt, was für ein scharfes Stück du bist?“
 

Was war das denn für eine plumpe Anmache? Kinney schien es echt nicht mehr drauf zu haben.
 

Justin schob den Arm fort und sah Kinney entrüstet an: „Oh ja, mein Ehemann! Und du nimmst gefälligst deine Flossen von mir, was fällt dir ein, einfach an mir rum zu grabbeln?“
 

„Ich weiß auch nicht“, antwortete Brian mit einem einnehmenden Lächeln, „irgendwie hatte ich den Eindruck, dass du dafür ziemlich empfänglich sein könntest…“
 

„Pah, so billig bin ich nicht zu haben! Du glaubst wohl, du müsstest bloß um die Ecke kommen, und ich würde mich einfach so von dir abschleppen lassen! Bis ich mit dir nach Hause gehen, da musst du dir schon etwas anderes einfallen lassen!“
 

Soviel zu dem Thema, dass Justin mitspielen würde. Tat er auch – aber auf seine Weise.
 

„Schieb ab, Kinney“, sagte Brandon, „du störst, das dürfte selbst dir nicht entgehen.“
 

Der Angesprochene ignorierte ihn, sondern musterte weiterhin ihre knackige Trophäe mit einem Augenausdruck, der wahrscheinlich auch Eis hätte schmelzen lassen.
 

„Mmm, soso“, sagte er nur mit tiefer warmer Stimme, „was müsste ich denn so tun, damit du mit mir nach Hause gehst?“
 

Justin schaute ihn mit hochgezogener Augenbraue an: „Mach dir Mal keine Hoffnungen. Ich steh nicht so auf diese Aufreißer-Typen, ich mag es eher sensibel… und häuslich… ein bisschen Romantik kann auch nicht schaden…“
 

„So mit langen Gesprächen, Ehegelöbnis in Kanada und Kuschelabenden am Kamin?“
 

„Ja, so ein richtiger Softie, da fahr ich total drauf ab!“
 

„Ist dein Ehemann auch so einer?“ mischte sich Brandon ein.
 

„Aber total!“ strahlte Justin. „Er ist so lieb! Er ist so süß! Total niedlich! Er hat sogar schon mal Pfannkuchen für mich gemacht!“
 

Kinney biss sich von innen auf die Lippen.
 

„Und das findest du toll?“ fragte Brandon entgeistert. Es wollte ihm nicht in den Kopf, warum sich Justin für so einen Langweiler begeistern sollte. Vielleicht war er reich, irgend so ein Sugar Daddy? Der Blonde fiel ja total ins Beuteschema solcher Typen. Aber warum ließ er sich dann nicht schon längst von ihm vögeln, wenn er einen angegrauten Schnarchsack zu Hause hatte?
 

„Oh ja, mein Mann ist ja so ganz anders als die Typen hier… Er hat Tiefgang, er ist aufrecht, er ist herzensgut – er würde niemals hinter meinem Rücken irgendwelche krummen Touren starten, nicht wahr?“
 

„Du bringst mich echt ins Grübeln“, sagte Kinney nachdenklich, „also, wenn ich irgendwann Mal vom Wahnsinn überkommen werden sollte und das dringende Bedürfnis fühle zu heiraten, was käme da denn in Frage…“
 

Justin starrte ihn aufmerksam an.
 

„Also, ich denke, erst einmal müsste er dumm wie Bohnenstroh sein und mir niemals Widerworte geben… Dann ein total scharfes Flittchen, immer willig, völliger Bottom, versteht sich… Kochen und putzen sollten zu seinen Hobbys zählen… Und Blond müsste schon sein, ohne hier jemandem zu nahe treten zu wollen…“
 

„Igitt“, sagte Justin, „also wir beide kommen garantiert nie auf einen Nenner. Was ist mit dir?“ wandte er sich an Brandon.
 

„Genau, Brandon, erzähl uns deine geheimsten Sehnsüchte!“ schloss sich Kinney an.
 

„Äh, also übers Heiraten habe ich mir ehrlich gesagt noch gar keine Gedanken gemacht. Aber man kann ja nie wissen…“ Brandon fragte sich, wie er in diese Diskussion geraten war.
 

Kinney grinste ihn an: „Dein Wort in Gottes Ohr.“
 

„Also, ich schwing jetzt noch eine Runde das Tanzbein mit Emmet. Ihr beiden könnt euch ja derweil weiter über die Mysterien der Ehe austauschen“, sagte Justin, tauchte unter ihnen weg und entfernte sich.
 

Brandon war versucht, hinter ihm her zu eilen, dann rief er sich zur Raison. Er rannte keinem Typen hinterher, egal wie scharf der sein mochte. Auch wenn sein Arsch auf dem Spiel stand. Was er nicht tat, er war schon ganz gut dran gewesen. Bis Kinney aufgetaucht war – aber das war ja auch der Witz bei der Sache.
 

Kinney machte auch keine Anstalten, hinter Justin her zu setzten. Stattdessen nickte er Brandon süffisant grinsend zu und entschwand in Richtung Raucherbereich. Brandon starrte ihm misstrauisch hinterher. Kinney schien nicht sonderlich besorgt darüber zu sein, dass sein Arsch heute noch vor aller Augen fällig sein würde. Justin hatte ja ziemlich deutlich gemacht, was er von Kinney hielt. Aber er musste ihn ja nicht mögen, um ihm die Kehrseite hinzuhalten.
 

Er ging hinüber zur Bar, den Eingang zur Raucherlounge im Blick behaltend. Nicht dass Kinney noch an ihm vorüber schlich und zum Frontalangriff überging. Aus dem Augenwinkel sah er Justin mit Emmet tanzen. Woher mochten die beiden sich kennen? Aber Justin war früher wohl in der Szene aktiv gewesen, daher wahrscheinlich.
 

Brandon orderte einen Drink.
 

„Na“, sagte Steve, der Barkeeper, zu ihm, der trotz aller Gerüchte über seinen Berufsstand eine fürchterliche Tratschtante war, „dabei eine weitere Kerbe im Ehebett Taylor-Kinney zu werden?“
 

„Was?“ fragte Brandon, der nur mit einem halben Ohr zu gehört hatte.
 

„Justin und Brian. Wusste gar nicht, dass die wieder im Geschäft sind. Du solltest dir klar machen, dass die anderen gegenüber beide ziemlich aktiv sind. Könnte eine interessante Erfahrung für dich werden“, Steve grinste ihn neugierig an.
 

„Danke für die Info“, murmelte Brandon. Innerlich kochte er. Kinney verarschte ihn. Er und die blonde Schnecke kannten sich. Oder was hatte Steve da gerade gesagt? Ehebett?
 

„Die sind verheiratet?“ fragte er möglichst uninteressiert.
 

„Oh ja – endlich! War ja immer ein ziemliches Hickhack mit den beiden. Stand in der Zeitung, war das Gesprächsthema! Bekommst du eigentlich gar nichts mit?“
 

„Tuntentratsch“, grummelte Brandon abfällig.
 

„Naja, die sind ja schon ewig zusammen. Ausgerechnet Kinney, von dem keiner je gedacht hätte, dass der Mal eine Beziehung führen könnte, die über den Augenblick des Abspritzens hinausführt, ist einer der Wenigen, der das irgendwie gebacken bekommen hat. Witzig, man bekommt immer das, was man nicht sucht.“
 

In Brandon kochte es. Kinney war Justins verfickter Ehemann.
 

Er schnappte sich sein Glas und stolzierte in den Raucherbereich. Kinney saß gemütlich in einer der Nischen und schaute ihm falsch freundlich lächelnd entgegen.
 

„Die Wette kannst du dir in den Arsch schieben!“ zischte er Kinney an.
 

„So wie du dir Alexanders Schwanz?“ fragte Kinney genüsslich.
 

„Wenn schon Bottom, dann mit einem, der nicht im letzten Moment einen auf impotent macht!“
 

„Nana, nicht gleich persönlich werden. Du warst leider die falsche Blondine.“
 

„Dass du mir einen reinwürgen – oder reinwürgen lassen – willst, kann ich ja noch begreifen. Aber – du hast ihn geheiratet?! Warum? Du warst der König, du konntest jeden haben, auch in deinem fortgeschrittenen Zustand der Vergreisung! Was soll das?“
 

„Frag mich was anderes. Keine Ahnung, wann – oder wie – das passiert ist. Du hast dir ja inzwischen meine Krone gekrallt. Und es ist mir egal. Es ist mir einfach nur egal.“
 

„Und was sollte das mit der Wette?“
 

„Günstige Gelegenheit, mich eine Runde zu amüsieren. Und du wolltest meinem Mann an die Wäsche.“
 

„Eifersucht? Du hast das aus Eifersucht gemacht? Kann ich verstehen, Blondie stand durchaus auf mich.“
 

„Nein, hat er nicht. Ich habe ihn über Emmet informiert. Und wenn du Justin noch einmal „Blondie“ nennst, erzähle ich hier allen, du hättest Filzläuse. Und sei sicher, mir werden sie glauben.“
 

„Aber… er war doch total zickig zu dir? Und was war das mit Kuscheln, Romantik und dem ganzen Scheiß?“
 

„Die Wonnen des Ehelebens. Missbrauche deinen Ehegatten als Wetteinsatz und er wird dir nicht gerade auf den Knien danken.“
 

„So ein kleiner Sch…“
 

„Psst! Ich darf das sagen – du nicht.“
 

„Aber er ist schon heiß, darf ich das wenigstens sagen, ohne dass du mich als verlaust stigmatisierst?“
 

„Darfst du. Schauen ist erlaubt. Und ja, ist er. Wenn das einer weiß, dann ich.“
 

„Aber wird das nicht irgendwann total langweilig…?“ versuchte Brandon seine Welt zu ordnen.
 

„Nein“, sagte Kinney nur, „es wird mit jedem Tag besser.“
 

„Kann ich mir irgendwie nicht vorstellen“, sagte Brandon kopfschüttelnd.
 

„Konnte ich auch nicht“, sagte Brian nur ruhig, „aber es ist wahr.“
 

„Aber dass ich mich wegen dieser Nummer hier ficken lasse, kannst du vergessen!“
 

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Brandon ließ seinen Blick über die Tanzfläche schweifen. Sein Revier. Hatte ich schon, hatte ich schon, will ich nicht, vielleicht der…?
 

Im blitzenden Licht tanzten engumschlungen Justin und Brian, von allen Seiten Blicke auffangend, die sie nicht zu bemerken schienen. Ihr Sex-Appeal schien sich gemeinsam nicht zu verdoppeln sondern zu multiplizieren. Sie schienen völlig versunken, lächelten, küsste sich, ließen die Hände übereinander gleiten, als seien sie gerade dabei, den anderen zu verführen. Vielleicht waren sie das auch. Nach weiß der Himmel wie vielen Jahren. Kinney flüsterte irgendetwas in das Ohr des Blonden, der ihm daraufhin sein strahlendes Lächeln und einen Schlafzimmerblick schenkte.
 

Nachdenklich sah Brandon ihnen nach, als sie in Richtung Darkroom entschwanden.

Supersoldaten und Weihnachtselfen

XIII. Supersoldaten und Weihnachtselfen
 

Brian stand am Eingang des Lofts. Es sah irgendwie aus wie immer, ein wenig leerer vielleicht, da sie einiges ins Haus hatten hinüber transportieren lassen. Die Küche war ausgeräumt, auf der Kleiderstange hing nichts mehr, das Bett war abgezogen. Er schaute sich um und fühlte sich merkwürdig deplatziert. Das war sein Leben gewesen. Und zum Teil auch Justins, seins und Justins. Hierhin hatte er Justin abgeschleppt und ihn entjungfert, hier hinein hatte sich Justin Stück für Stück eingeschlichen, hier hatte er selbst ihn gebeten, mit ihm zu leben. Und hier waren sie voneinander gegangen. Hier war er alleine aufgewacht. Und hier hatte er es alleine nicht mehr ausgehalten. Was war das Loft noch für ihn, für sie? Ihr Zuhause war es nicht mehr, war es nie vollends gewesen. Dazu hatte es zumeist zu wenig wir gegeben und zu viele Fremde zwischen den Laken, zu viel Unruhe, Angst und Misstrauen. Aber es hatte Momente gegeben… Er musste daran denken, wie Justin ihn auf der Chaiselongue mit Vanilleeis gefüttert hatte. Er hatte die leeren Kalorien völlig vergessen gehabt. War es das, eine sentimentale Erinnerung, sonst nichts?
 

Staub tanzte im nachmittäglichen Sonnenlicht, das über die heranziehende Kälte draußen hinwegtäuschte. Hier waren sie… geworden. Hier lagen ihre Wurzeln, aber ihre Gegenwart und Zukunft entstanden an einem anderen Ort.
 

Sollte er Jennifer anrufen?
 

Er musterte unsicher den leeren Raum.
 

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„Hallo Justin.“
 

„Daph! Schön dich zu hören! Was verschafft mir die Ehre? Wie geht es der aufstrebenden Medizinerin?“
 

„Formvollendet, du Kavalier! Eigentlich wollte ich nur Bescheid sagen, dass ich um Weihnachten herum ein paar Tage nach Hause kommen – und ich wollte ein wenig Honig um den nichtvorhandenen Bart geschmiert bekommen.“
 

Normalerweise kommunizierten sie über Email. „Alles klar bei dir?“ fragte Justin besorgt.
 

Daphnes Stimme klang ein wenig gequält: „Mmm, ja, stressig halt. Und Prof. Marisoll hat Ärger mit der Ethik-Komission, so dass wir bei unseren Versuchen aktuell auf Eis gelegt sind.“
 

„Mist. Wieso, was wollen die denn?“
 

„Ach, wir hatten so eine Testreihe zur Genetik laufen“, sagte Daphne etwas abwehrend, „und das fand irgend so ein Kleingeist unmoralisch.“
 

„Was habt ihr gemacht? Den Supersoldaten geklont? Frankensteins Braut zum Leben erweckt?“
 

„So in der Richtung… Und wie geht’s dir so?“ lenkte Daphne ab.
 

„Ihr habt was? Daphne, erzähl keinen Mist, mit solchen Dingen ist echt nicht zu spaßen, auch wenn dein Forschergeist dich treibt!“ hakte Justin nach.
 

„Ach, vergiss es einfach. War nur so eine Theorie, die wir in einer Testserie überprüfen wollten… Keine Panik, ich bin nicht der Bucklige an der Blitzmaschine! Aber es ist schon ziemlich scheiße – kaum angefangen, schon schaut man in die Röhre.“
 

„Was ist mit deinem Promotionsvorhaben?“
 

„Kann ich schon noch fortführen. Aber so bleibt es auf theoretischer Ebene, ich hätte lieber Beweise gehabt, die ich auch publizieren kann.“
 

„Beweise – wofür?“ bohrte Justin, dem die Sache nicht geheuer war. Daphne war hingerissen von ihrer Tätigkeit, so wie er vom Malen, das hatte er bemerkt und sich für sie gefreut – aber verlor sie etwas den Boden unter den Beinen?
 

„Umpf, Kompatibilität menschlichen Erbmaterials. Damit könnte man z.B. Erbschäden bei Neugeborenen vermeiden, bestimmte Merkmale entfernen oder hinzufügen.“
 

Justin schluckte: „Das hört sich wirklich interessant an, könnte wahrscheinlich viel Leid verhindern. Aber kommt man damit nicht in Teufels Küche, wenn es nur noch perfekte Babys nach Wunsch gibt?“
 

„Das hat die Ethik-Kommission auch gesagt. Man müsste halt sehr verantwortungsvoll damit umgehen.“
 

„Daph, darin ist die Menschheit nicht besonders gut…“
 

Daphne seufzte: „Ich weiß. Das Leben wäre gruselig, wenn es nur noch Babys nach Wunsch gäbe. Die Vielfalt wäre ausgelöscht. Oder die Reichen würden ihren Super-Nachwuchs züchten, während der Rest der Menschheit nichts mehr zu sagen hätte… Aber, andererseits: es ist einfach unglaublich! Faszinierend!“
 

„Daph“, sagte Justin vorsichtig, „mach bloß keinen Scheiß‘…“
 

Daphne lachte merkwürdig belustigt auf: „Schlauer ist man immer hinterher.“
 

„Oder man lässt einfach die Finger davon…“
 

„Das sagt der Richtige.“
 

Justin schluckte, dann lachte er, obwohl ihm bei der Sache immer noch nichtganz wohl war. Aber Daphne war eine verantwortungsvolle junge Frau, sie würde ihre Bedenken nicht einfach in den Wind schießen. Hoffentlich sah das dieser Prof. Marissol genauso. „Erwischt!“
 

„Und wie läuft es bei dir so?“ fragte sie diesmal ernsthaft.
 

„Gut. Während Gus im Kindergarten und Brian in seiner Spielgruppe bei Kinnetic ist, komme ich inzwischen prima zum Arbeiten. Ich konnte ein paar weitere Gemälde in die Galerie schicken und experimentiere jetzt ein wenig rum. Sind schon wieder Interessenten an der Angel, inzwischen kann ich beim Verkauf auch schon ein wenig pokern. Allerdings darf ich es nicht überstürzen und den Markt überfluten, haben meine Agenten gesagt, was Sinn macht. Stattdessen sehe ich zu, dass ich mich weiter entwickle. Ich bin am überlegen, ob ich mal was Dreidimensionales baue – den Kram, den die Futuristen damals gemacht habe, finde ich ziemlich inspirierend.“
 

„Diese abgedrehten Konstruktionen zwischen Architektur und Wahnsinn?“
 

„So ungefähr… Nach der ganzen Werkelei im Haus bin ich richtig fit im Hämmern und Sägen. Brian hat natürlich selbst bei der Schlagbohrmaschine auf das Design geachtet“, lachte er.
 

„Brian im Baumarkt beim Kauf von schwerem Werkzeugen? Hat er das ohne Anzüglichkeiten hinbekommen? Auf jeden Fall eine verstörende Vorstellung. Wie geht’s denn deinem Göttergatten?“
 

„Kinnetic brummt, aber er hat sein Arbeitspensum runter geschraubt.“
 

„Bekommt der alte Workaholic davon keine Zitteranfälle?“
 

„Kinnetic ist Entspannung, die richtig harten Jobs erwarten ihn daheim. Schließlich habe ich jetzt nicht nur eine Schlagbohrmaschine, sondern auch einen Schwingschleifer und einen Drillbohrer.“
 

„Ferkel.“
 

„Immer wieder gern.“
 

„Und wie geht’s dem Nachwuchs?“
 

„Ganz gut. Es ist immer noch hart für ihn. Er vermisst Mel und Linds. Aber Brian wollte ihn zum Fußball-Training anmelden, da freut er sich schon drauf.“
 

„Oh, Entschuldigung, ich muss mich verwählt haben… Brian macht was?!“
 

„Fußball. Frag nicht, ich war anfänglich auch etwas… irritiert. Ist so eine Kinney-Familientradition. Oder vielmehr ein Erbe. Gus ist völlig irre nach diesem doofen kleinen Lederball. Und Brian wäre beinahe ein schwuler David Beckham geworden, wie’s aussieht.“
 

„Da tun sich ja Abgründe auf! Was kommt als nächstes – er hört auf, sich die Brusthaare zu rasieren? Er isst bei McDonalds?“
 

Justin lachte: „Wenn er anfängt, Flanellhemden zu tragen, Elchjagd zu seinem neuen Hobby zu küren und die Republikaner zu wählen, muss ich mich dann wohl leider scheiden lassen…“
 

Daphne prustete, dann sagte sie: „Mach das bloß nicht! Egal, welchen Irrsinn er an den Tag legen mag, er liebt dich! Obwohl du auch nicht gerade eine Ausgeburt der reinen Vernunft bist.“
 

„Was soll das denn heißen?“
 

„Ach nichts…“ sagte Daphne mit einem schelmischen Unterton.
 

„Pah, jetzt bin ich beleidigt! Aber bis Weihnachten verzeihe ich dir eventuell, das erspart mir das Geschenk.“
 

„Habt ihr schon Pläne?“
 

„Mmm, nicht wirklich. Brian ist, was die Kirche angeht, ein Opfer seiner irisch-katholischen Erziehung, ich glaube nicht, dass er wild auf Ringelpietz unterm Christbaum ist. Aber mit Gus... Ich werde nochmal mit ihm darüber sprechen müssen.“
 

„Sag ihm einfach, dass der Weihnachtsmann keine Unterwäsche trägt.“
 

„Brian steht nicht auf ältere Männer mit Bart.“
 

„Als hätte ihn das Gesicht je interessiert.“
 

„Auch wahr, er hat mich nur wegen meiner… inneren Werte geheiratet.“
 

„Ferkel!“
 

„Was denn nun schon wieder – du fantasierst in jede meiner Äußerungen etwas Schmutziges hinein!“
 

„Völlig grundlos natürlich.“
 

„Und was ist mit dir? Wie geht es deinem Liebesleben – aber bitte keine Details?“
 

„Bist du vielleicht verklemmt… Aber bei dir durfte ich mir ständig die pikanten Kleinigkeiten anhören! Momentan staubt es in meinem Höschen, falls das plastisch genug ist.“
 

„Nicht das schönste Bild, das ich heute vor meinem inneren Auge hatte… Aber verkalke bitte nicht völlig über diesem Genetik-Kram. Denk an mich in New York. Nur mit Malen wäre ich wahrscheinlich irgendwann eingegangen, wie du mir doch klar gemacht hattest!“
 

„Du hast ja Recht. Aber bisher ist mir keiner über den Weg gelaufen, der für mehr infrage gekommen wäre. Und bloß um rum zu ficken ist mir meine Zeit doch zu schade.“
 

„Versteh einer die Frauen.“
 

„Du hast ja keine Ahnung! Ein Kerl, der durch die Gegend fickt, gilt als ganz großer Held – mach das Mal als Frau! Da erfährst du ganz fix, wie es um die Emanzipation steht! Außerdem sind die meisten Heten-Kerle nicht gerade bombig im Bett, wenn sie dich abschleppen, um ihren Spaß zu haben. Da schaust du meist in die Röhre. Da kann ich gleich zu Hause bleiben und mich allein amüsieren… beim Fischefüttern, versteht sich…“
 

„Scheiß-Doppelmoral, entschuldige.“
 

„Schon gut. Aber glaubt nicht, dass ihr Schwulen die Einzigen sind, die Ärger mit Männern haben oder von der Gesellschaft verarscht werden. Da befindet ihr euch in guter Gesellschaft.“
 

„Willst du denn nicht auch irgendwann Familie haben?“
 

„Klar, wer will schon auf ewig allein bleiben. Aber man kann es nicht erzwingen. Und Familie kann so Vieles bedeuten, rein äußerlich betrachtet, sieh dich an.“
 

„Da hast du wohl recht… Hast du Lust, an einem der Weihnachtsfeiertage bei uns vorbei zu schauen?“
 

„Ja, gerne. Ich platze beinahe vor Neugierde auf euer Haus.“
 

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John lag bäuchlings auf seinem Bett in dem kleinen Zimmer, das er sich mit seinem Bruder teilte. Brians altes Zimmer. Er starrte in sein Comic-Heft, aber die Bilder verschwammen vor seinen Augen.
 

Sein Schwuchtelonkel hatte ein Balg in die Welt gesetzt mit irgend so einer toten Schlampe, die genauso pervers gewesen war, wie er. Der hatte es garantiert nie einer richtig besorgt. Und dieses Balg, Gus, sollte alles bekommen, wenn Onkel Brian endlich an AIDS krepierte. Er und diese fiese blonde Tunte, die ihm damals wegen des Armbandes aufgelauert hatte. Aber der machte garantiert auch nicht lange. Vielleicht hatten sie die kleine Missgeburt ja auch damit angesteckt.
 

Oma Joan machte vielleicht ein Aufheben um den verkackten Bettnässer. Als hätte sie sonst keine Enkel. Er und sein – zugegebenermaßen beschissener – kleiner Bruder waren schließlich auch noch da. Oder waren es die ganze Zeit gewesen. Aber sie bekamen von der alten Giftziege nur kalte Blicke und ab und an einen Anschiss, der sie erzittern ließ. Sie musste weder laut werden noch drohen, dass ihnen das Herz in die Hose rutschte, anders als bei ihrer Mutter. Und jetzt fing die runzlige Kuh jedes Mal an zu lächeln, wenn sie von… Gus redete. Als wäre sie besoffen. Andererseits lächelte sie normalerweise auch dann nicht, wenn sie besoffen war. Was in letzter Zeit immer seltener vorgekommen war.
 

Seine Mutter hatte immer gesagt, dass sie, er und Jack alles bekommen würden, wenn Brian endlich ins Gras biss. Sie würden reich sein. Dann konnten sich seine blöden Lehrer gehackt legen, die ihm ständig sagten, dass mit dieser Einstellung nie etwas aus ihm würde. Als würde ihn die Scheiße interessieren, die die vor sich hin blubberten. Wozu brauchte ein richtiger Mann Wissen über Geschichte oder Literatur? Das war was für Mädchen – oder Schwuchteln. Wenn es denn sein musste, würde er lieber etwas Handwerkliches machen. Kfz-Mechaniker wäre cool. Oder auf den Bau gehen, wie sein Vater, bevor er abgehauen war.
 

Aber Erben wäre deutlich besser gewesen. Als erstes hätte er sich eine fette Karre gekauft. Und die Mädchen standen garantiert auch voll auf einen, wenn man reich war. Davon konnte er mit seinem pickeligen Teenager-Gesicht aktuell nur träumen.
 

Aber jetzt war sein Kinderficker-Onkel mit seiner ganzen abartigen Familie hier aufgekreuzt und Oma hatte sie nicht zur Hölle gewünscht. John hätte heulen können. Warum war das Leben so ungerecht? Seine schöne Kohle, alles floss diesem verkackten Zwerg in den Rachen.
 

Der war garantiert genauso pervers wie sein Alter.
 

Hoffentlich erstickte er daran.
 

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„Taylor-Kinney!“
 

„Taylor… äh, Mr. Kinney?“
 

„Am Apparat.“
 

Craig musste – er wusste nicht zum wievielten Male, seitdem diese Geschichte angefangen hatte – hart schlucken. Tief durchatmen, sagte er sich, nicht aufregen…
 

„Sie… sie heißen jetzt auch Taylor?“ fragte er und hoffte, dabei nicht ganz so neben der Spur zu klingen, wie er sich fühlte.
 

„Ja“, antwortete Brian kurz angebunden, „wir haben uns für einen gemeinsamen Familiennamen entschieden, wenn unsere Ehe hier auch – noch nicht – anerkannt wird.“
 

Craig wusste haargenau, worauf diese Äußerung zielte, hatte er sich damals doch gegen die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare stark gemacht.
 

„Aha“, antwortete er lahm. „Äh… nun… Mr. Kinney… äh… Taylor-Kinney…“ verhaspelte er sich.
 

„Wenn Ihnen davon nicht die Zunge abfällt, können Sie mich auch Brian nennen – schließlich bin ich ja in Kanada, verschiedenen Bundesstaaten der USA und einigen anderen Ländern weltweit, die keine menschenverachtenden Terror-Regime sind, und vielleicht eines Tages auch hier per Gesetz ihr Schwiegersohn.“
 

Kinney hörte sich unbeteiligt an, aber Craig meinte, einen lauernden Unterton zu hören. Er hatte völlig verdrängt, dass er ja bei einem Anruf bei Justin auch einen anderen der Hausbewohner erwischen konnte, und fühlte sich leicht überfordert.
 

Er riss sich zusammen. Er hatte sich für diesen Weg entschieden, da musste er wohl jetzt durch, auch wenn sich seine Nackenhaare immer noch leicht aufstellten. „In Ordnung. Ich bin Craig.“
 

„Okay, Craig“, sagte Brian, „rufen Sie wegen Justin an? Er ist momentan nicht Zuhause, aber ich kann Ihnen die Handy-Nummer geben.“
 

„Eigentlich wollte ich nur Bescheid geben wegen der Sachen, die Justin über mich bestellt hatte… Ich kann sie liefern lassen oder kurz vorbei kommen und alles fix einbauen, das ist am einfachsten.“
 

Er fühlte sich etwas blöde, mit einem so fadenscheinigen Vorwand um Einlass zu bitten, schließlich machte er schon lange keine Hausbesuche mehr, und hielt die Luft an.
 

„Das Angebot ist sehr freundlich. Allerdings fährt Justin Morgen für ein paar Tage nach New York. Er muss in seiner Wohnung nach dem Rechten sehen und sein Gesicht bei einer Vernissage bei Katlin’s blicken lassen. Sie können bis nächste Woche warten – oder Sie müssen mit mir und Gus vorlieb nehmen.“
 

Craig setzte schon an, den Termin auf die kommende Woche zu setzten, dann hielt er inne. Wenn er ein Teil von Justins Leben sein sollte, musste er wohl oder übel auch mit dem Rest seiner neuen Sippschaft zu Rande kommen. Ob rechtens oder nicht – Justin sah das so. Und er hatte ziemlich deutlich gemacht, dass er von Craig zumindest erwartete, dass er das stillschweigend akzeptierte. Niemand erwartete von ihm, dass er in Freudentänze ausbrach. Kinney lieferte ihm hier eine Möglichkeit… Garantiert nicht ohne entsprechende Hintergedanken.
 

„Okay, ich kann am Samstagvormittag vorbei kommen, wenn Ihnen das passt.“
 

„Wir sind zu Hause.“
 

„Gut, dann bis Samstag – Brian.“
 

„Bis Samstag – Craig.“
 

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Ted lugte vorsichtig durch den Türspalt. Es kostete ihm jegliche Willensanstrengung, nicht loszulachen. Brian saß vor dem Bildschirm, starrte, dann schob er sich eine elegante Lesebrille auf die Nase und starrte erneut, nahm sie ab, zwinkerte, setzte sie wieder auf, las ein Stück, dann raste er los in Richtung Badezimmer zum Spiegel.
 

Ted hatte schon länger den Verdacht gehabt, dass Brian von einer leichten Weitsichtigkeit heimgesucht wurde, aber hatte, aus reinem Selbsterhaltungstrieb, besser geschwiegen.
 

Offensichtlich hatte es sich sein Boss inzwischen irgendwie eingestehen können. Und eigentlich sah er damit auch ziemlich gut aus. Kein draufgängerischer Twen mehr, sondern ein souveräner Mittdreißiger in seinem teuren Anzug. In Freizeitkluft wirkte er fast wie ein anderer Mensch.

Nicht zu jedem waren die Jahre so freundlich.
 

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Emmet starrte das Telefon an.
 

Drew hatte angerufen.
 

Mehrfach während der letzten paar Wochen, seitdem sie sich zufällig wieder getroffen hatten.
 

Sie hatten ein wenig geplaudert, nicht über die Vergangenheit.
 

Emmet war damals ziemlich in Drew verknallt gewesen. Am Anfang war es nur so eine Fick-Geschichte gewesen, Drew war ja auch sowas von heiß. Aber irgendwie… war es mehr geworden.
 

Drew hatte ihm vertraut und den Schritt gewagt. Emmet wusste, was das für einen professionellen Football-Spieler, Inbegriff des weißen heterosexuellen Amerikas bedeutete. Aber er hatte es getan. Und dafür spürte Emmet tiefe Bewunderung. Es gab viele wie Drew, die das niemals gewagt hatten und niemals wagen würden. Vielleicht waren es dadurch ein paar weniger geworden.
 

Aber es hatte nicht sein sollen. Drew war erst dabei, seine Sexualität zu ergründen. Gewissermaßen war er wie ein Teenager. Auf sowas ließ sich, bei aller Zuneigung, nichts bauen. Emmet konnte es verstehen, er hatte es ja selber gelebt – aber er stand inzwischen nicht mehr an demselben Punkt.
 

Und heulend daneben zu stehen, während Drew durch die Betten tobte, das hatte nicht sein müssen. Egal, wie offen und tolerant man war, egal wie sehr man sich sagte, es sei doch nur Sex, rein körperlich – es ließ sich nicht auslöschen, das Gefühl, dass der andere Intimität und Nähe an Fremde verschenkte, die eigentlich ihm gehören sollte. Sex war nun mal etwas anderes als Pinkeln – man machte es nicht allein, es berührte immer auch mehr als nur das Physische. Nicht umsonst sagte man, dass der beste Sex im Kopf entstehe. Das konnte kurzfristig sein – Flirt, Verführung, Fantasien – oder auch etwas sehr Tiefes.
 

Und er konnte letzteres nicht mit jemandem teilen, der auch auf der Jagd nach ersterem war.
 

Justin hatte es versucht. Aber letztlich war er gescheitert.
 

Drew mochte anrufen, er würde zuhören. Aber mehr auch nicht.
 

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„Wir müssen reden!“
 

„Warum wird mir nur so kotzübel, wenn du sowas sagst?“
 

Justin rollte die Augen und schlang seine Arme um Brian, der auf einem Küchenschemel saß und die Tageszeitung abwechselnd mit und ohne Brille anvisierte. Er hatte sich arg zusammenreißen müssen, um Brian nicht zu sagen, wie niedlich er das fand. Spieglein, Spieglein an der Wand… bin ich immer noch der geilste Hengst im ganzen Land?
 

„Keine Panik“, flüsterte er in Brians bebrilltes Ohr, „es geht bloß um Weihnachten.“
 

Justin fühlte, wie Brian sich versteifte.
 

„Das Fest der Hiebe… nein danke, da fröne ich lieber eines gepflegten Atheismus.“
 

„Du glaubst nicht an Gott?“
 

„Arg, jetzt geht’s aber ans Eingemachte. Den Typen, den sie mir in Joans Bibel-Terror-Kommando eingetrichtert haben, hasse ich derart, dass ich einfach nicht an ihn glauben kann. Denn wenn es ihn gäbe, dann wäre die Welt exakt das Jammertal, das meine Mutter sich immer eingeredet hat und jedes Fitzelchen Glück nur eitle Sünde. Und das kann ich einfach nicht glauben. Aber sonst… wer weiß? Vielleicht ist da etwas, das unser Verständnis überschreitet. Das wir auch nicht verstehen müssen. Das keine kleingeistigen Listen über unsere Verfehlungen führt, um uns zu verdammen. Keine Ahnung. Aber es fällt mir schwer an etwas zu glauben, das so diffus braucht. Ich kann nur hoffen, dass es so ist.“
 

Justin schaute ihn nachdenklich an: „Meine Familie war nie super-religiös. Zu Feiertagen Mal in die Kirche, das war’s. Wir sind ja auch nicht katholisch, sondern reformiert. Bin sogar getauft. Aber es war nie so das Thema. Es war immer irgendwie da. Mehr so eine kulturelle Geschichte. Und ich glaube auch, dass da… mehr ist. Auch wenn ich es auch nicht verstehe. Aber das muss man vielleicht auch nicht, wahrscheinlich geht es auch darum, dass man es versucht.“
 

„Was versucht?“
 

„Dinge… richtig zu machen. Liebe statt Hass… du weißt schon…“
 

„Dem Feind auch die andere Wange hinhalten?“
 

„Soweit würde ich nicht gehen. Aber ich bin auch kein Heiliger.“
 

„Gott sei Dank nicht!“
 

„Siehst du – und schon preist du den Herren…“
 

Brian seufzte und zog Justin an sich: „Du solltest unter die Theologen gehen bei deinen raffinierten Gottesbeweisen. Du sähest bestimmt scharf aus in so ‘nem Priesterornat…“
 

„Ui, da kommen ja ganz finstere Fantasien zutage. Wer bist du dann – der lüsterne Chorknabe, der zügellose Beichtstuhlbesucher oder der wollüstige Organist?“
 

„Treib’s nicht zu weit, Sonnenschein.“
 

„Wie wäre es mit einem tabulosen Elf?“
 

„Also dieser Gedankensprung überfordert mich jetzt leicht… Aber hört sich interessant an, also erzähl weiter.“
 

„Mmm, wenn du dich nicht quer stellst, wenn ich hier einen Weihnachtsbaum aufstelle, mache ich dir die nicht jugendfreie Version jeder Weihnachtsfigur deiner Wünsche.“
 

Brian begann zu lachen: „Das ist dreiste Bestechung! Du würdest ernsthaft in einem Weihnachtselfen-Kostüm durch die Gegend hopsen, um einen Weihnachtsbaum zu bekommen?“
 

„Ob ich hopse, muss ich mir noch überlegen. Und ich fänd einen Weihnachtsbaum schon irgendwie schön, aber er wäre doch eher für Gus.“
 

„Warum?“
 

„Warum? Weil für ein Kind Weihnachten neben dem Geburtstag das Allergrößte ist?“
 

„Aber Weihnachten ist nicht nur Konsumterror, auch wenn mein zynischer Geist mir das eingibt…“
 

„Nein, es ist ein christliches Fest. Und es mag dir übel aufstoßen, aber wir sind beide in diesen Traditionen groß geworden, es ist Teil von uns, ob wir wollen oder nicht.“
 

„Aber müssen wir das an Gus weitergeben?“
 

„Wir müssen ihm nichts Schlechtes weitergeben. Es liegt in unserer Hand. Aber wir können nicht vor dem weg laufen, was wir nun mal sind: weiße, christliche Amerikaner.“
 

„Igitt!“
 

„Es ist ein Teil jeder Existenz. Wir können ihm das nicht vorenthalten, das ist unmöglich und würde ihm langfristig wahrscheinlich nur Schmerz verursachen, da ihm etwas fehlt. Aber wir können das Beste daraus machen. Wir müssen ihn nicht kleingeistig indoktrinieren.“
 

„Identität, meinst du?“
 

„Ja, jeder muss sie für sich selbst finden. Aber ohne… Füllmasse geht das nicht.“
 

„Weise Worte, Mr. Versauter-Weihnachtself.“
 

„Du bestehst da wirklich drauf?“
 

„Du hast es angeboten. Ich hätte mich wahrscheinlich auch so breitschlagen lassen, aber gesagt ist gesagt.“
 

„Dir ist klar, dass das nicht ungesühnt bleiben wird?“
 

„Das verdränge ich erst mal, bis es soweit ist. Und was sieht deine Weihnachtsplanung außer einem Bling-bling-Baum so vor?“
 

„Gus kommt mit meiner Mutter, Molly und mir – und wahrscheinlich den Petersons – mit in den Weihnachtsgottesdienst. Die führen da immer ein Krippenspiel extra für Kinder auf, das wird ihm gefallen. Und wir laden die leiblichen und aufgelesenen Verwandten und Freunde am zweiten Weihnachtstag zu einem besinnlichen Beisammensein unterm Christbaum ein.“
 

„Buah, normalerweise mag ich es ja, wenn du fordernd wirst…“
 

„Denk an den Weihnachtself!“
 

„Ich tu mein Bestes. Ich baue darauf, dass er wirklich derart hemmungslos ist, dass sich ich den Schmerz überlebe. Darf ich was in die Bowle kippen?“
 

„Denk dran, vielleicht kommt mein Vater – und deine Mutter?“
 

„Oh Gott! Dann gibt’s nur Mineralwasser! Meine Mutter?“
 

„Sie würde sich freuen.“
 

„Na und…“
 

„Gus.“
 

„Du machst mich fertig.“
 

„Versuch es einfach zu genießen.“
 

„Ohne Drogen?“
 

„Berausche dich an der Liebe, die diese Räume durchströmen wird.“
 

„Da denke ich lieber an den Weihnachtself im Sling.“
 

„Wir haben keinen Sling.“
 

„Apropos, wünschst du dir eigentlich was zu diesem harmonischen Familienfest?“
 

„Nicht wirklich. Da würde ich dir Recht geben, es hat keinen Sinn, sich auf Krampf etwas zu schenken. Das tun wir jeden Tag.“
 

Brian fühlte Wärme in sich aufsteigen: „Du Kitschbold!“ Er küsste Justin schnell auf die Lippen.
 

„Ich weiß, ich bin das Weichei und du der gefühlskalte Macho.“
 

„Schön, dass wir das geklärt haben.“
 

„Aber du darfst dennoch gerne deinen Konsumrausch an Gus austoben.“
 

„Weihnachten ist gerettet…“
 

„Sicher. Ich bin schließlich ein Weihnachtself.“

Aufklärungsstunden und Popcornküsse

XIV. Aufklärungsstunden und Popcornküsse
 

Craig hatte seine alte Latzhose angezogen, die er früher für Montage-Jobs immer getragen hatte, und drückte mit einem mulmigen Gefühl im Bauch die Türklingel.
 

Es dauerte einen kurzen Moment, dann öffnete Kinney… Brian die Eingangstür. Er trug Jeans und T-Shirt und sah eigentlich aus, wie ein ganz normaler junger Mann.
 

„Craig!“ sagte er und reichte ihm die Hand.
 

„Brian“, murmelte er zurück und ergriff sie.
 

Eine kleine Gestalt drückte sich an das Bein des hochgewachsenen Mannes. Große braune Augen richteten sich auf ihn, die von langen dunklen Wimpern überschattet wurden. Das musste Brians Sohn sein… Justins Adoptivsohn… Gus.
 

„Ist das Justins Papa?“ fragte er seinen Vater.
 

„Ja“, sagte Brian ruhig, während er Craig hineinbat.
 

Der Kleine schaute verwirrt. „Ist er dann mein… Opa?“
 

Craig zuckte zusammen. Was…?
 

„Äh“, sagte Brian und klang auch leicht überfordert.
 

„Bist du mein Opa?“ fragte Gus Craig direkt.
 

Craig hatte das Gefühl, frontal von einem Zug getroffen zu werden. Er war doch viel zu jung, um ein Großvater zu sein! Und dieses Kind war leiblich nicht mit ihm verwand! Er schaute hinab. Ein Kinderblick voller Unschuld. Der kleine Junge konnte nichts für seine verworrenen Verhältnisse. Er könnte nein sagen, aber was würde es diesem Kind antun, das seine eigentlichen Eltern vor Kurzem verloren hatte? Offensichtlich hielt es Justin für seinen Vater. Und das machte ihn wahrscheinlich…
 

„Mmm, ja, ich glaube schon“, murmelte er.
 

Kinney schaute ihn überrascht an. Das hättest du mir wohl nicht zugetraut, was? Gus lächelte scheu und sagte: „Hallo Opa…?“
 

„Craig“, sagte er.
 

„Hallo, Opa Craig“, sagte Gus höflich und streckte die kleine Hand nach ihm aus.
 

Craig ergriff sie und sagte: „Hallo Gus.“
 

Er war ein Opa? Er war ein Opa?! Er fühlte sich leicht belämmert.
 

„In welchen Raum sollen die Sachen?“ fragte er Brian.
 

Brian nickte ihm stumm zu, ihn immer noch durchdringend musternd.
 

Craig machte sich an die Arbeit, überprüfte die Stromkreisläufe, verlegte Kabel.
 

Brian hatte sich entfernt.
 

Plötzlich kam eine Stimme von hinten: „Was machst du da, Opa Craig?“
 

Er zuckte zusammen. Der kleine Junge schaute fasziniert auf das Kabelwirrwarr. Warum nicht?
 

„Also Gus, weißt du eigentlich, warum der Fernseher, das Telefon, die Glühbirne eigentlich funktionieren?“
 

Gus schüttelte den Kopf. Kein Wunder. Justin mochte Malen können, Brian Geld scheffeln oder was-auch-immer, aber von Physik hatten die wahrscheinlich wenig Ahnung.
 

„Okay“, sagte er, „Setzt dich hin. Ich zeige es dir.“
 

Die Zeit verflog. Gus hörte zu und stellte Fragen. Craig gab sein Bestes, in kindergerechten Bahnen zu bleiben, aber Gus verstand. Der Junge war intelligent. Sein leiblicher Vater war ja anscheinend auch nicht gerade blöde, wenn man sich das Haus so anschaute.
 

War Justin sein Trophäen-Weibchen – deutlich jünger als er, blond? Er stellte sich seinen widerborstigen Sohn in dieser Rolle vor. Nein, entschied er, wohl eher nicht. Aber ein merkwürdiges Gefühl blieb zurück.
 

Aber wie lief das bei denen, fragte er sich, während er Gus zwei Kabel zusammen stecken ließ. War Brian der Mann in der Beziehung? Er dachte an ihr berüchtigtes Telefonat und an die Szene, wie Brian Justin vor Jahren lüstern in den Hintern gekniffen hatte. Oder wie lief das bei denen? Er hatte keine Ahnung.
 

Er musterte den kleinen Jungen. Ein niedliches Kind. Sah seinem Vater sehr ähnlich. Und er hielt ihn, Craig, jetzt für seinen Opa. Kurz hatte er das Gefühl, in Treibsand geraten zu sein. Aber er war ja freiwillig hinein gelaufen. Er hatte beschlossen, sich seinem Sohn wieder anzunähern. Und der Kleine da, der gehörte wohl irgendwie dazu. Wie war das gewesen? Justin hatte ihm seinen Namen gegeben? Wie war das geschehen… und wann?
 

Brian betrat den Raum, als sie fast fertig waren.
 

„Möchten Sie einen Kaffee?“ fragte er.
 

„Ich will einen Kakao – aber Justin ist nicht da“, sagte Gus.
 

„Okay“, sagte Craig.
 

„Das bekomm ich schon noch hin, Sonnyboy“, sagte Brian.
 

Gus musterte ihn misstrauisch.
 

Brian bat Craig wortlos hinüber in die Küche, stellte die Kaffemaschine an und begann, Milch zu erwärmen.
 

Craig schaute sich um. Geradlinig. Metall und Holz. Man spürte die Anwesenheit eines Kindes. Am Kühlschrank hing ein Bild, das einen bunt geringelten Drachen mit Brille und Bart zeigte. „Tante Debbie“ stand in Justins Handschrift darauf. Und daneben ein Foto von Justin und Brian in Anzügen, mit etwas verwirrtem Blick und mit Konfetti und Reis übergossen.
 

Brian reichte ihm seine Tasse. Er trat näher und schaute genau hin.
 

„Ist das Ihr Hochzeitsbild?“ fragte er Brian schließlich, während der seinem Sohn die heiße Schokolade hin schob und pustete.
 

„Nichts Offizielles. Nur ein Schnappschuss von der Hochzeit, auf dem wir extra-vertrottelt aussehen. Hat Justin da aufgehängt.“
 

Irgendwie tat es weh. Sein Sohn an diesem Tag, und er war nicht dabei gewesen. Auch wenn er nicht gerade eine fesche Maid geheiratet hatte. Dass es ihm ernst gewesen war, daran bestand wohl kein Zweifel mehr. Und irgendwie sah es so… normal aus. Zwei junge Menschen, inmitten des Trubels, immer noch ein wenig fassungslos.
 

„Auf unseren Hochzeitbildern hat Jenn überall hecktische Flecken. Ihr Kleid war mitten in der Zeremonie am Hintern geplatzt. Wir haben es mit Sicherheitsnadeln zusammen gehalten, damit es weiter gehen konnte.“
 

Brian grinste: „Das kann ich mir kaum vorstellen – Jennifer fett?“
 

„Tja, sie hat Justin mit sich herum geschleppt, das hat nicht gerade eine Wespentaille gemacht.“
 

„Dass Justin dick macht, habe ich auch schon festgestellt.“
 

„Wie…?“
 

„Er ist gnadenlos verfressen. Lässt überall Dickmacher rumliegen. Warum haben Sie ihn nicht zu einem Tofu-Jünger erzogen?“
 

„Meine Erziehung hat ja offensichtlich sowieso wenig ausrichten können“, antwortete Craig leicht bitter.
 

„Das glaube ich nicht. Aber das, was sie hier andeuten, hat nichts mit Erziehung zu tun. Wenn das so wäre, wäre ich jetzt ein versoffener irischer Familienvater mit mindestens acht Bälgen.“
 

„Sie sind Ire?“
 

„Wie der Name schon sagt, von Haus aus Kartoffelfresser, ja.“
 

„Meine Familie ist vor Generationen aus Deutschland eingewandert, der Nachname wurde anglisiert. Jenns Vorfahren kommen aus Schweden.“
 

„Ich dachte immer, Sie seien Briten.“
 

„Nein, Briten haben wir nicht zu bieten.“
 

„Gut, denn Iren hassen Engländer.“
 

„Ich dachte, ich sei der mit den Vorurteilen.“
 

„Ich hab ihn trotzdem geheiratet – und Sie?“
 

Craig schloss gequält die Augen: „Ja, reiben Sie es mir ruhig unter die Nase. Ich konnte wirklich nicht damit umgehen. Und es tut mir leid, dass ich sie verletzt habe, mir sind alle Sicherungen durchgebrannt. Aber ich dachte, Sie würden meinen Sohn manipulieren und missbrauchen. Vielleicht haben Sie das auch. Aber jetzt… nicht mehr.“
 

„Unterschätzen Sie ihren Sohn nicht. Er ist niemand, der sich leicht manipulieren oder missbrauchen lässt. Eigentlich hat er das nie getan. Und in Hinsicht auf die andere Geschichte… können wir uns darüber einigen, dass Gras über die Sache gewachsen ist?“
 

„Okay“, sagte Craig langsam.
 

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Justin zog sich die Decke über den Kopf.
 

Es war staubig in der Wohnung.
 

Er war ein arbeitssamer Tag gewesen.
 

Und jetzt lag er hier, wie in einer schlechten Erinnerung.
 

Dabei war er am Anfang so euphorisch gewesen.
 

Aber die Wohnung war einfach nur ein Raum geblieben.
 

Er fühlte sich… inkomplett.
 

Er wollte nach Hause.
 

Er brauchte diese Bude nicht mehr.
 

Wenn er nach New York musste, reichte ein Hotel.
 

Ein Hotel hatte keine Erinnerung an die Einsamkeit.
 

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„Jaja, ich komme ja schon!“ fluchte Emmet und zog seinen Morgenmantel um sich fest. Carl war auf dem Revier, Debbie hatte Frühschicht im Diner – er hatte sich auf einen einsamen Verwöhn-Vormittag gefreut.
 

Er öffnete die Tür und stütze verblüfft: „Äh – Papa Taylor… was machen Sie denn hier?“
 

„Darf ich reinkommen?“ fragte der aschblonde Mann etwas gepresst, während er Emmets hellvioletten Bademantel und seine Plüschpuschen musterte.
 

Emmet schaute ihn großäugig an. „Okay“, sagte er schließlich und ließ ihn ein.
 

Er bugsierte ihn auf die Wohnzimmercouch und pflanzte sich neben ihn.
 

„Dass ihr Besuch eine Überraschung wäre, wäre ziemlich unterrieben zu sagen. Ich wusste gar nicht, dass Sie wissen, wo ich wohne.“
 

Craig umklammerte seine eigenen Knöchel so stark, dass sie weiß hervortaten. „Die Nummer stand auf ihrem Wagen. War nicht schwer“, murmelte er, während er beklommen Debbies Nippes-Sammlung studierte.
 

„Nun, ich denke, dass sie nicht unbedingt daher vorbei kommen, um mir einen spontanen Freundschaftsbesuch abzustatten. Also: Was wollen Sie?“
 

„Ich will es wissen… verstehen…“
 

„Was? Das mit Justin und Brian? Niemand versteht es, vielleicht auch nicht sie selbst. Und vielleicht ist das auch gar nicht notwendig. Ist Liebe etwas Rationales? Wohl kaum. Mehr müssen Sie nicht wissen. Niemand von uns.“
 

„Nein… ich meine... ich weiß kaum was über… Homosexuelle…“
 

Emmet blickte ihn scharf an: „Haben sie kein Internet?“
 

„Schon… aber das bot mehr… Anschauungsvideos als Information. Und ich dachte, Sie könnten…“
 

„Ich soll Sie aufklären?“ fragte Emmet entgeistert.
 

Craig krallte sich in die Polster: „So in etwa. Ich muss irgendwen fragen können. Und außer Ihnen ist da niemand. Niemand, der mir nicht sofort an die Gurgel ginge.“
 

„Ich fühle mich geehrt…? Was ist mit ihrer Ex-Frau?“
 

„Jenn weiß auch nicht alles.“
 

„Ich beginne zu ahnen, in welche Richtung das hier gehen soll – sie verstehen die Sache mit dem Sex nicht?“
 

„Äh…“
 

„Also erst mal: Man ist nicht bloß schwul, weil man Sex mit Männern haben möchte. Sondern auch, weil man sich in Personen des gleichen Geschlechts verliebt. Oder vielleicht, wenn man zu den Glücklichen gehört, lernt, einander zu lieben. Und das ist es letztendlich , was Ihren Sohn und Brian miteinander verbindet.“
 

„Ich begreife. Aber was…?“
 

Emmet stöhnte innerlich auf. Aufklärungsarbeit an einer älteren Hete war nicht so einfach. Die obendrein den eigenen Sohn wegen seiner sexuellen Orientierung verstoßen hatte. Aber der andere Mann versuchte es zumindest. Besser spät als nie.
 

In einem sanfteren Tonfall sagte Emmet: „Okay, ich spiele jetzt Mal ihren Therapeuten. Kein Wort, das zwischen uns fallen mag, wird durch mich nach außen dringen. Fragen Sie.“
 

Er winkelte die Beine auf der Couch an und machte es sich bequem. Craig wand sich noch immer. „Okay, Vater Taylor, raus mit der Sprache“, forderte Emmet entschlossen.
 

„Ist in einer… homosexuellen Beziehung… einer der Mann und einer die Frau?!“
 

„Sie haben Angst, dass Justin Brians Weibchen ist und brav die Beine für ihn breit macht?!“
 

„Äh…“
 

„Das werte ich Mal als ja. Eins vorab gestellt: Wir sind Männer. Egal, wie tuntig sich einige geben – ich will mich selbst da nicht unbedingt ausschließen – wir sind keine Frauen. Und wollen auch keine sein. Und ihr Sohn hat, mit Verlaub, nichts Tuntiges an sich.“
 

Craig lockerte sich ein wenig.
 

„Wir alle sind, da wir nun anatomisch gleichartig sind, beidseitig bespielbar. Aber nicht jeder mag alles. Ist heterosexueller Sex immer gleich? Wohl kaum. Es gibt kuschelnde Teenager, Manager, die sich von Dominas in ihrer Freizeit den Hintern versohlen lassen, Ehefrauen, die nur im Krankenschwesterkostüm kommen. Das ist bei uns nicht anders. Es gibt keine pauschale Antwort.“
 

„Aber…“
 

„Sie wollen wissen, was Justin und Brian treiben? Ich weiß es nicht. Es geht mich auch nichts an. Und Sie auch nicht. Sie lieben sich, das weiß ich. Und Ihnen müsste es auch allmählich dämmern. Wie sie das praktisch umsetzten – wer weiß. Wie hätten Sie sich gefühlt, wenn Ihre Schwiegereltern nachgebohrt hätten, was Sie so im Ehebett treiben?“
 

Craig schwieg betroffen. Dann sagte er: „Ich verstehe, dass mich das nichts angeht. Und ich will es auch gar nicht wissen – aber ich will es bloß wissen…“
 

„Womit sie es tun haben?“
 

„Es muss doch weh tun wie die Hölle“ entfuhr ihm.
 

„Darum geht es Ihnen? Dass sie so Bilder von schwulem Sex im Kopf haben, die Sie nicht in Einklang bringen können mit Ihrem Sohn? Ist das das Problem?“
 

„Es geht mir nicht darum, die Details zu wissen – ich will nur verstehen, was es bedeutet.“
 

„Sie haben Schiss, weil Sie denken, dass Justin kein richtiger Mann wäre, wenn er sich ficken ließe? Dass er brav den Schmerz herunter schluckt, um Brian zu gefallen zu sein?“ fragte Emmet kopfschüttelnd und rollte sich eine von Debbies Patchwork-Decken.
 

„Äh…“
 

„ Papa Taylor, jetzt mal die Ohren gespitzt. Erst Mal ist jemand, der sich ficken lässt, noch lange nicht der Untergeordnete in der Beziehung. Oder wollen sie mit der Logik unterstellen, dass alle Frauen den Männern Untertan zu sein haben deshalb? Ich kenne da einige, die ihnen den Gedanken liebend austreiben würden. Und das nicht bloß mit Worten. Die Position im Bett hat nichts Zwingendes über die Position im Leben zu sagen. Außerdem ist die Praxis, auf die sie anspielen, keineswegs ein Privileg schwuler Männer. Zudem bedeutet der Umstand, dass man… am empfangenden Ende ist, noch lange nicht, dass man passiv ist oder sich unterwirft. Das ist Sex und keine Kneipenprügelei. Es gibt so manchen, der… uh… naja… äh… penetriert wird, und der dabei seinen Partner dennoch dominiert. Es gibt solche, die im Alltagsleben eher aggressiv sind und es dennoch lieben, sich im Bett dem anderen unterzuordnen. Um nur ein paar Beispiele zu nennen. Und wie die Konstellation ist, das mag sich obendrein bei jedem Mal ändern. Sex kann alles Mögliche seien, Triebbefriedigung, ein lustvolles Spiel aber auch ein sehr intimer Austausch zwischen zwei Menschen auf körperlicher Ebene, die viel mehr verbindet. Manchmal auch alles zugleich. Und Sex ist unendlich vielgestaltig und nicht selten unberechenbar. Wäre doch schade, wenn nicht. Sie müssen sich klar machen, dass, egal was Justin hier tut, es nicht vollständig begründet, wer er ist. Es ist ein Teil von ihm wie von jedem von uns. Aber gewiss nicht der Wichtigste. Und falls es Sie beruhigt: Justin hat Brian schon vor Jahren klar gemacht, dass er niemand ist, der sich rumschubsen lässt. Er ist nicht Brians 5oer Jahre-Eheweibchen-Ersatz. Brian mag älter sein, Brian mag rein physisch größer sein, Brian mag Justin durchaus auch… sie wissen schon – aber dass er das alleinige Sagen bei den beiden hat und Justin auf sein Kommando springt, ist ein völlig absurder Gedanke.“
 

Craig atmete tief durch.
 

„Habe ich zu viel geredet?“ fragte Emmet mit gerunzelter Stirn.
 

„Nein… danke. Danke.“
 

Craig ließ sich mit geschlossenen Augen in die Polster fallen.
 

„Und um ihre eigentliche Frage zu beantworten: Glauben Sie, dass das jemand machen würde, wenn es bloß weh täte?“
 

…………………………………………………………………………………………………………………………………………………………….
 

„Ich wurde gefeuert.“
 

„Was?“ schreckte Brian auf und schaute Justin entsetzt an, der völlig ruhig in einem Katalog für Künstlerbedarf blätterte. Das Feuer im Kamin prasselte angenehm, der November hatte Kälte gebracht. Gus saß auf dem Teppichboden und baute mit Legosteinen. Er war inzwischen darüber hinaus, Erlerntes nachzuahmen, sondern probierte eigenständig herum mit dem Ansporn, Molly seine neuesten Erfindungen vorzuführen.
 

„Ich sagte, ich wurde gefeuert“, sagte Justin wiederum, ohne eine Miene zu verziehen.
 

„Könntest du mich bitte aufklären, was du damit meinen magst? Hat Katlin’s dich vor die Tür gesetzt?“ fragte Brian unruhig und setzte seine vermaledeite Lesebrille ab, mit deren Hilfe er gerade noch die Steuerunterlagen durchgeblättert hatte.
 

„Nein, da ist alles Bestens. Sogar mehr als Bestens. Aber nachdem ich monatelang nicht mehr zur Arbeit erschienen bin, hat der Kunsthandel, in dem ich gejobbt habe, mir einen ziemlich bösen Brief geschickt.“
 

„Willst du mich in den Wahnsinn treiben? Ich dachte schon, es sei sonstwas!“
 

„Ne, reg‘ dich ab. Aber ich könnte schon einen neuen Job gebrauchen“, sagte Justin ohne hochzusehen. Er langte in eine Schale Popcorn, die er und Gus einmütig vertilgten, während Brian sich selbst kasteite und verzweifelt die Versuchung zur Hölle wünschte.
 

„Wozu? Deine Bilder bringen doch inzwischen Geld ein, und ich dachte, darüber hinaus sei finanziell zwischen und alles geklärt?“ warf Brian ein und überschlug im Kopf die Kalorienzahl einer Hand Popcorn mit Butter im Verhältnis zu der Zeit, die man brauchte, um selbige auf dem Laufband zu verbrennen.
 

„Es geht mir nicht um die Kohle. Aber ich muss auch mal raus aus dem Haus. Ich brauche, wenn du so willst, Input.“
 

Das konnte Brian nachvollziehen. „Willst du wieder ins Diner?“
 

„Ne, echt nicht. Keine Lust mehr auf Bratfett-Parfüm und Arschkniffe…“
 

„Wer hat dir in den Arsch gekniffen?!!!“
 

„Du, manchmal.“
 

„Aber nur, wenn keiner geguckt hat.“
 

„Das sind die Schlimmsten. Du hattest bloß Schiss vor Debbie.“
 

„Möglich…“
 

„Ich war am überlegen…“
 

„Oh, oh, jetzt kommst. War ja klar, dass du schon was ausgeheckt hast.“
 

„Ich bin eben zielstrebig und laufe nicht auf Wolken… Gus wird ja nächstes Jahr eingeschult“, Justin kaute genüsslich auf dem süßen Knabberkram herum.
 

Brian rutschte an ihn heran, packte ihn am Nacken und küsste ihn, die Zunge tief versenkend. Justin verschluckte sich, während er sich reflexartig festkrallte.
 

„Das… das ist Mundraub!“ keuchte er empört. „Wenn du Popcorn willst, nimm dir was, aber leck es mir nicht von den Mandeln!“
 

„Niemals! Mir war einfach danach, dich zu küssen…“ grinste Brian und leckte sich die Lippen.
 

Justin machte immer noch eine grollende Miene, aber er lachte dabei. „Du bist einfach unmöglich!“
 

Brian hielt ihn noch immer am Nacken gepackt, aber der Griff war sanft und verwandelte sich in ein Kraulen.
 

„Mmm“, murmelte Justin und schloss genüsslich die Augen.
 

„Wenn ich geahnt hätte, wie leicht man dich so rumkriegt, hätte ich schon viel früher damit begonnen“, murmelte Brian und fuhr mit den Fingern durch Justins Haar.
 

„Hast du doch, du hast es bloß nicht mitbekommen.“
 

„Das ist eine infame Lüge!“ fuhr Brian gespielt auf.
 

„Ist es nicht. Ich wäre sonst nie bei dir geblieben, wenn es nicht ab und an aus dir herausgebrochen wäre und mir gezeigt hätte, wie sehr du mich liebst…“ schnurrte Justin.
 

Früher wäre Brian jetzt davon gestampft. Jetzt zog er nur eine Augenbraue hoch: „Soso, das hast du dir also eingebildet…“
 

Justin lächelte: „Ja, habe ich. Ich Naivling ich…“
 

Brian küsste ihn noch einmal, obwohl es jetzt kein Popcorn mehr zu holen gab.
 

Gus kommentierte: „Bäh! Knutschen!“
 

Justin lachte auf: „na, solange du so denkst, kann Papa ruhig schlafen…“
 

Brian rollte die Augen, musste aber dennoch lächeln. „Was hast du vorhin gesagt? Du hast einen Plan?“
 

„Ach ja“, sagte Justin, „also, wir müssen nächstes Jahr ja eine Schule für Gus finden.“
 

„Privat!“ stellte Brian fest.
 

„Ja, schon klar. Und St. James ist raus. Aber die meisten privaten Schulen haben Kriterien, die über die Dicke des Geldbeutels hinaus gehen.“
 

„Was muss das Leben auch so scheiß-kompliziert sein?“
 

Gus warf ihm einen strafenden Blick zu.
 

„Wir brauchen also eine, die Kinder gleichgeschlechtlicher Paare akzeptiert. Und ich dachte, ich könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, indem ich ihnen zusätzlich meine Dienste anbiete.“
 

„Du willst dem Direktor den Schw…?“
 

„Brian!“
 

„Äh, mit deinem Charme betören.“
 

„Nicht ganz. Ich dachte, ich biete an, dort Kunstunterricht zu geben.“
 

„Du willst Lehrer werden???“
 

„Du stehst doch auf Lehrer… oder wie war das damals nach dem Sportunterricht? Aber nein, eigentlich nicht. Aber ein Zeichenstunden könnte ich schon geben, ich habe schließlich Referenzen, wenn schon kein abgeschlossenes Studium.“
 

„Hast du da Lust drauf?“
 

„Ich stelle es mir ganz interessant vor. Warum es nicht ausprobieren?“
 

„Und… willst du dein Studium vielleicht noch abschließen, wo du doch wieder hier bist?“ fragte Brian vorsichtig.
 

„Nö, nicht wirklich. Ich bin schon da, wo es hinführen sollte. Und aus der Schule oder Uni geschmissen worden zu sein, liest sich in eine Künstlerbiographie wie ein Qualitätssiegel. Verkanntes Genie… Querdenker… Kämpfertyp… die gängigen Künstlerklischees.“
 

Brian zog ihn an sich: „Oder einfach nur ein sturer Haufen Taylor. Mir tut jede Wand leid, die das Unglück hat, dir im Weg zu stehen.“
 

„Taylor-Kinney!“ protestierte Justin.
 

„Was? Also ich bin die Sanftmut in Person!“
 

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Justin schaute im duffen Licht des Mondes hinab auf Brian. Draußen heulte der erste eisige Wintersturm. Schnee war angesagt worden. Brian schlief tief und fest, die langen Beine entspannt ausgebreitet, eine Hand auf der Brust, die andere locker zu Justin hinüber ausgestreckt.
 

Wie sehr er diesen – seinen – Mann liebte und begehrte. Er wusste, dass das ein seltenes Geschenk war, dass Liebe und Lust derart Hand in Hand gingen. Er ließ den Blick über die kräftige, bronzene Brust, die breiten Schulter, das schöne Gesicht mit dem sinnlichen Mund, den geschwungenen Wangenknochen, der geraden trotzigen Nase, den langen Wimpern und den störrischen Augenbrauen wandern. Und Brians weiches, kastanienfarbiges Haar… In seinem inneren brannte eine Glut, die jederzeit zu einem Feuer entfacht werden konnte. Aber nur von Brian. Wie sehr hatte er um ihn gekämpft, bis zur Verzweiflung, bis zur Resignation. Aber er war es wert gewesen. Brians Schönheit hätte dazu nicht gereicht. Vielleicht sah er sie auch nur so, weil er auch den Rest von Brian so sehr liebte. Brian war ein guter Mensch, so einfach war das. Kompliziert… sicher… aber gut. Klug, wortgewand, bescheiden, wenn es um die wesentlichen Dinge ging, und bis zur Grenze des Erträglichen selbstlos, wenn er für die handelte, die er liebte. Und Brian liebte ihn. Er hatte es schon lange gewusst.
 

Und schließlich war er zu ihm gekommen, wie er es sich immer gewünscht hatte: wirklich frei.

Zuvorkommend und süß

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XV. Zuvorkommend und süß
 

Brian starrte fassungslos in die Küche. Justin saß auf einem Hocker, die Kleidung sorgsam mit einem Tuch abgedeckt, während Jennifer hochkonzentriert an seinen Haaren herum schnippelte.
 

„Du lässt dir die Haare von deiner Mutter schneiden?“ fragte er entgeistert.
 

„Ja, immer schon – wieso?“
 

„Ja , gute Frage – wieso?“
 

„Brian“, grinste Jennifer in sich hinein, „glaub ja nicht, dass ich es nicht bemerkt hätte, dass du … eine innige Beziehung zu den Haaren meines Sohnes hast.“
 

„Vielleicht gehe ich jetzt besser raus und grusel mich rückwirkend? Du lässt dir die Haare von deiner Mutter schneiden!“
 

„Von wem sonst? Von dir? Ich will doch nicht verhunzt – oder abgeschlachtet -werden!“
 

„Dafür gibt es Frisöre!“
 

„Geldverschwendung. Mama kann das viel besser.“
 

„Muttersöhnchen!“
 

„Ja – und darauf bin ich stolz!“ sagte Justin versonnen lächelnd.
 

„Braver Sohn“, sagte Jennifer und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
 

„Buäh… das grenzt ja an Inzest!“ schauderte Brian.
 

„Nur kein falscher Neid. Willst du auch einen mütterlichen Kuss?“ fragte Justin und schaute ihn ernst an.
 

„Bloß nicht! Bleibt mir vom Hals mit euren Perversitäten!“
 

„Und das von dir…“
 

Gus kam in die Küche gedackelt und starrte fasziniert auf die blonden Strähnen, die auf dem Boden verteilt waren. Er bückte sich, hob sorgsam eine auf und bewegte sie zwischen seinen Fingern. „Justins Haare sind so schön!“ sagte er in aufrichtiger Bewunderung.
 

„Wie der Vater, so der Sohn“, kommentierte Jennifer. „Du könntest aber auch mal wieder einen Haarschnitt vertragen, junger Mann.“
 

„Au ja!“ freute sich Gus.
 

„Oh weh – er ist verloren!“ schüttelte sich Brian.
 

„Und du auch, deine Frisur ist total raus gewachsen!“ sagte sie zu Brian.
 

„Auf gar keinen Fall! Ich lasse mich nicht in euren Sumpf hinab ziehen! Und außerdem ist das Absicht! Hat mich ein Vermögen gekostet!“ grollte Brian.
 

„Geldverschwendung!“ sagten Justin und Jennifer zeitgleich.
 

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Jack hörte mit aufgerissenen Augen seinem Bruder zu.
 

Onkel Brian hatte einen Sohn, das hatte er verstanden.
 

Er hatte Onkel Brian nur ein paar Mal gesehen. Er hatte ihn irgendwie furchteinflößend gefunden.
 

John sagte, dass Onkel Brian eine Schwuchtel sei, ein Kinderficker, was John nicht ganz verstand. Es war etwas Schlechtes, das wusste er.
 

Sie würden Onkel Brians Geld nicht erben, wenn Onkel Brian, sein Sohn, Gus war sein Name, und…. Justin?... nicht an AIDS sterben sollten. Er wusste nicht, wer Justin war. Und AIDS war eine schlimme Krankheit. Warum sollten sie daran sterben? Warum wünschte sich John das?
 

Jack war verwirrt. Aber hatte begriffen, dass er einen neuen Cousin hatte, etwas jünger als er selbst. Und dass Oma Joan sich darüber freute. Er fand, dass Oma Joan immer so traurig war, obwohl sie sehr streng war und er sie durchaus fürchtete.
 

Eigentlich würde er Gus gerne einmal sehen. Das heißt, bevor er starb, wie John sagte.
 

Vielleicht musste er sich beeilen.
 

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Der Nachmittag hatte einem weiteren Besuch der vom Testamentsvollstrecker beauftragten Sozialarbeiterin, Mrs. Lennox gegolten. Die kräftige und etwas untersetzte Schwarze im eleganten Business-Kostüm hatte sich von ihnen durch das inzwischen recht vorzeigbare Haus führen lassen. Die Tanzstange fristete ihr Dasein als harmlos aussehendes Rohr in der Garage. Jennifer war geblieben und hatte Familiensolidarität demonstriert und mit ihrem dezenten Charme gepunktet. Sie hatten sich gegenseitig darin übertroffen, die liebende Bilderbuchfamilie aus jeder Pore ihres Seins tropfen zu lassen. Mrs. Lennox war äußerst zufrieden von dannen gezogen. Sie würde erst nach Weihnachten wieder vorbei schneien. Pro forma sei das wichtig, hatte sie betont. Justin trug eine äußerst gediegene Kombination aus dunkler Stoffhose und körperbetonten – aber nicht schlampigem – blauem Pullover, als er an der Eingangstür seiner Mutter und Gus nachwinkte, die gemeinsam mit Molly im Kino einen Zeichentrickfilm ansehen wollten.
 

Brian umfasste seine Taille und murmelte: „Himmel, warst du zuvorkommend heute. Darf ich ihnen etwas zu trinken anbieten, Mrs. Lennox? Hier entlang, bitte, Mrs. Lennox. Ja, darüber haben wir uns bereits Gedanken gemacht, Mrs. Lennox…“
 

„Ich kann, wenn es die Situation erfordert, wirklich sehr… zuvorkommend sein… Mr. Kinney…“ sagte Justin grinsend.
 

„Wirklich?“ fragte Brian und biss sich in die Unterlippe.
 

„Oh ja!“ sagte Justin, während er ins Wohnzimmer schlenderte und einen Blick über die Schulter zurück auf Brian warf. „Ich bin dafür bekannt, dass ich sogar mehr als bloß zuvorkommend bin – wenn ich denn will – ich kann sogar jeden Wunsch von den Lippen ablesen, ohne dass er ausgesprochen werden muss…“
 

„Wo hast du das denn gelernt? Auf der Schule für höhere Töchter?“ stichelte Brian, während er folgte.
 

„Sowas kann man nicht lernen. Das ist Intuition“, sagte Justin ernsthaft und ließ sich formvollendet auf der Couch nieder.
 

Brian war mit einem Satz neben ihn und drückte ihn in die Kissen. Er rieb sich mit vollem Gewicht an Justins Körper wie eine riesige Katze, die ihr Revier markierte.
 

„Und was sagt dir deine Intuition jetzt?“ flüsterte er ihm heiser ins Ohr.
 

„Dass ich es mit einem besonders… harten Fall zu tun habe. Aber ich werde mich der Herausforderung stellen, wie ein Ehrenmann…“
 

„Mmm“, murmelte Brian nur, während er sein Gesicht in Justins Hals vergrub. Justins ureigener Geruch, der ihm selbst nach der längsten Dusche verströmte, machte ihn jedes Mal wieder verrückt. Er roch wie heiße Schokolade mit Chili und etwas Unergründlichem. Betörend süß-verlockend und zugleich überwältigend männlich. Er konnte sich sogar noch daran erinnern, wie ihm dieser Geruch das erste Mal in die Nase gestiegen war. Es war wie ein Hammerschlag gewesen, seine Sinne waren Amok gelaufen. Er hatte Justin geküsst wie keinen seiner Tricks zuvor. Oder danach. Er hatte gedacht, es habe an den Drogen gelegen. Aber das war ein Irrtum gewesen. Bevor sie auch nur ein ernst zu nehmendes Gespräch miteinander geführt hatten, hatten ihre Körper bereits angedockt. Justin musste es ähnlich gegangen sein – warum hätte er ihm sonst mit einer derartigen Vehemenz verfolgen sollen? So liebreizend war er ja nicht gerade gewesen. Und warum hatte er selbst einfach nicht seine Finger von diesem minderjährigen schmächtigem Burschen halten können? Ihre Körper hatten es gewusst. Und sie wussten es noch immer.
 

Justin seufzte und schlang seine beweglichen Beine um Brian, erwiderte die sanfte Reibung, die ihre Erregung klar zutage treten ließ. Brian konnte Justins Härte deutlich unter sich spüren. Sie brach in genau dem richtigen Maße mit Justins ansonsten eher zarten Proportionen, wohlgeformt, elegant, fordernd mit einer Oberfläche wie Alabaster und einem zart rosigem Pfirsich als Krone. Brian lief das Wasser im Munde zusammen.
 

„Mmm, ich will dich schmecken“, keuchte Justin begehrlich in sein Ohr.
 

„Schonwieder hungrig…?“
 

„Das hat nichts mit Hunger zu tun sondern mit Appetit…“
 

Brian drehte sie, dann ließ er Justin freie Hand, der seinen Oberkörper, seinen Nacken, Hals, sein Gesicht mit Küssen überzog, während er sich und ihn langsam entblätterte.
 

Justin vertiefte sich in Brians Brustwarzen, nagte, saugte, leckte, wanderte tiefer, knöpfte die Hose auf und eroberte schließlich seine Beute.
 

Brian entfuhr ein tiefer Seufzer. Justins Zunge spielte mit ihm, flatterte und rieb, sank hinab und hinauf, bis ihn die warmen Lippen endlich umschlossen und sich über ihn schoben. Er spürte das Zusammenschnellen des Gaumens, genau abgepasst, um ihn in auf direktem Weg an jedem Sputnik vorbei in die Umlaufbahn zu befördern.
 

Justin sah zu Brian hinauf, sog die leichte Schweißschicht der Erregung, die den ganzen Körper glänzen ließ, in sich auf. In ihm lächelte es selig, als er wahrnahm, wie sehr sich Brian in ihm verlor, aufgab, zugleich wild forderte und bettelte. Er legte seine Hand beruhigend auf Brians ungeduldige Hüften, zog eine fast träge feuchte Spur hinauf, während er selbst begann, sich mit einem diskreten Griff zu seinem Allerheiligsten vorzubereiten. Brian gehörte ihm, und er gehörte Brian.
 

Als er soweit war, hockte sich auf seinen fiebrigen Gemahl und senkte sich dann Stück für Stück hinab. Nachdem er sich an die Dehnung gewöhnt hatte, begann er ihn langsam zu reiten. Brians Hände krallten sich in seine Hüften, die riesigen Augen versanken geweitet in seinen. Ihre Münder formten Worte des Staunens und der Überwältigung, als Justin das Tempo erhöhte und Brians Hüften losließ. Sie schaukelten voran, bis sich Brian in einer kraftvollen Geste aufbäumte und sie herumwarf. Justins Körper spannte sich wie ein Bogen, ihn willkommen heißend, krümmte sich, um den besten Winkel möglich zu machen, und dann schnellte er dem Rhythmus ungebremst entgegen.
 

Justin spürte, wie Brians lange Finger ihn umfassten und im Takt mitrissen. Er konnte die Augen nicht lassen von dem wunderschönen, geliebten Mann, der ekstatisch in ihn drang. Er fühle es nahen, große heiße Kreise in seinem Inneren, die Brian gnadenlos umklammerten und ihn selbst um sich schlagend aufschreien ließen. Die Welt explodierte, löste sich in Pulver auf, während sein Körper wild zuckend regierte und sein Geist von einer rauschenden Woge jenseits von Zeit und Raum gespült wurde. Er hörte Brians kehligen Schrei aus dem frenetischem Pulsieren und Winden heraus, die brodelnde Feuchtigkeit in sich, es ließ ihn erneut erbeben, dann das Zusammensinken, Nachbeben, echoendes Stöhnen und Seufzen.
 

Sie waren beide quatschnass, aber keiner vermochte sich zu bewegen.
 

„Das war ziemlich geil“ gurrte Brian leise, „für etwas, für das man seinen Hintern nicht Mal aus dem eigenen Wohnzimmer bewegen muss.“
 

Justin warf ihm einen leicht schmollenden Blick zu.
 

„Das mag daran liegen, dass du dir in guter alter Höhlenmenschen-Manier das Beste in den eigenen Bau geschleift hast.“
 

„Sehr klug von mir, ich muss schon sagen…“
 

„Wir sollten aufstehen, sonst war’s das mit dem Sofabezug.“
 

„Und du sag nochmal, ich sei hier der mit keinem Sinn für Romantik… du Spießer… Mit der Zuvorkommenheit ist es wohl jetzt vorbei?“
 

„Vielleicht meldet sie sich ja nochmal, wenn Gus ins Bett gegangen ist. Aber bis dahin kann ich mich um meine Galerie-Verkäufe kümmern und du kannst… uh… noch eine Runde auf deiner Tretmühle drehen und die Meerschweinchen füttern?“
 

„Das Beste im eigenen Bau? In welcher Kategorie – Despot?“
 

„Ich folge nur deinem leuchtenden Beispiel!“ lächelte Justin, immer noch mit geröteten Wangen.
 

„Na dann“, lächelte Brian zurück und verpasste Justin, der sich aufgerappelt hatte, noch ein saftigen Klaps auf den Hintern.
 

„Aua – wofür war der denn?“ beschwerte sich Justin.
 

„Ich folge auch nur deinem leuchtenden Beispiel. Zuckerbrot war eben, jetzt gibt’s wieder die Peitsche.“
 

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Michael saß, Jenny im Tragekorb neben sich, im Wartezimmer des Arztes. Sie waren die letzten an diesem Tag, außer ihnen war hier niemand mehr. Erhielt eine Zeitschrift in der Hand, konnte sich aber nicht recht auf den Inhalt konzentrieren. Die Worte und Bilder verschwammen vor seinen Augen.
 

Diese Termine gehörten zu ihrem Leben, es ließ sich nicht vermeiden – aber es graute ihm jedes Mal aufs Neue.
 

Er hatte das Gefühl, Stunden gewartet zu haben, als sich die Tür zum Behandlungszimmer endlich öffnete und Ben heraus trat.
 

Michaels Herz setzte aus, als der den angespannten Gesichtsausdruck seines Mannes sah. Er trat auf ihn zu und fragte fast flehend „Ben“, während er seine Hände auf die kräftigen Schultern des anderen legte.
 

„Michael, keine Panik. Meine Werte sind nicht ganz optimal, nichts Schlimmes“, sagte Ben, aber er wirkte müde.
 

Das Leben mit der Krankheit war ein ständiger Kampf, die Schlachten wurden jeden Tag geschlagen. Trotz der absoluten Disziplin, die sich Ben abverlangte, gab es keine Garantien. Vieles konnte helfen – aber es musste nicht. Man konnte nur tun, was möglich war, und das war hart.
 

„Ich muss die nächsten Tage noch ein paar Mal her, sie überlegen, ob sie den Cocktail etwas verändern.“
 

Das war nicht gut. Michaels italienischer Erbteil lockte ihn in Richtung eines hysterischen Ausbruchs. Aber das würde die Sache für Ben nur noch schwerer machen. Er schlang die Arme um Bens Nacken und drückte ihn stumm, bis er spürte, wie der größere Mann sich etwas lockerte und die Umarmung erwiderte.
 

„Sollen wir es Hunter sagen?“ fragte er schließlich.
 

„Nein. Wir sollten ihn nicht grundlos beunruhigen, okay?“
 

Michael schluckte, dann nickte er.
 

Jeder hatte ihn gewarnt. Aber was half es? Er liebte seinen Mann, er liebte seinen Sohn. Und dagegen war das Virus machtlos.
 

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„Ach, sieh an, der glückliche Ehemann! Hat dein Gatte dir Ausgang bis um zehn gewährt?“ schallte Brian entgegen, als er das Diner betrat.
 

„Sogar bis halb elf! Und, oh hallo Brandon. Wie war eigentlich dein Date mit Alexander?“
 

Das halbe Diner spitze die Ohren. Brandon und Alexander… sieh an.
 

Brandon verzog wütend das Gesicht. „Nichts war mit Alexander! Ich habe dir doch gesagt, dass ich keine Wette einlöse, bei der geschummelt wurde!“
 

Brian grinste. Egal, was Brandon jetzt sagen mochte – die Buschtrommeln liefen bereits.
 

„Geschummelt? Ich bitte dich, es war keine Rede davon gewesen, dass man mit dem Wettinhalt nicht verheiratet sein durfte…“
 

Debbie war, kaugummikauend und kopfschüttelnd zwischen die beiden getreten.
 

„Brian, hast du Sonnenschein zum Gegenstand einer deiner dämlichen Wetten gemacht? Ich hoffe, er hat es dir dafür ordentlich gegeben!“
 

„Er hat ihn „süß“ genannt und erzählt, dass er ihm Pfannkuchen gemacht habe“, petzte Brandon freudestrahlend lauthals.
 

Debbie lachte laut auf: „Das hast du aber auch wirklich verdient. Aber du hast Justin Pfannkuchen gemacht? Das ist wirklich süß von dir. Hat er es überlebt?“
 

„Debbie, du schaufelst mir mein frühes Grab! Zu den Pfannkuchen hat er mich gezwungen, damit Gus in seiner Abwesenheit nicht verhungert!“ versuchte Brian sich zu retten, dann gab er auf. Was sollte es. „Aber meinetwegen – bin ich eben süß – jemand hier, der dem widersprechen möchte?“ fragte er mit einem tödlichen Blick durch den Raum. Die Anwesenden sanken auf ihren Plätzen zusammen und taten so, als sei ihr Essen im höchsten Maße faszinierend.
 

Brandon starrte ihn verstört an, Debbie lachte heiter und zog Brian mit sich zum Tresen.
 

„Armer Justin, offensichtlich haben besondere Ärsche einen Blick für besondere Ärsche“, kommentierte sie das Vorgefallene.
 

„Danke Debbie, für deine immerwährende Hochachtung“, grollte Brian gespielt.
 

„Ach was, du und Justin, ihr gebt euch da nicht viel.“
 

„Endlich erkennt das Mal wer!“
 

„Ihr seid beide ziemliche üble Äser – und beide ziemlich süß“, grinste Debbie, während Brian eine leicht verzweifelte Grimasse zog.
 

„Was treibt dich eigentlich in diese Hallen zu dieser Uhrzeit? Ich will Brandon ja nicht versehentlich recht geben – aber erwartet dich denn niemand Zuhause?“
 

„Ne, Gus ist mit Omi und Opi Peterson im Kindertheater, und Justin ist im Schaffensrausch. Neuerdings arbeitet er auch plastisch – und macht einen Heidenlärm mit all diesen Schwingschleifern, Drillbohrern und was-weiß-ich. Außerdem habe ich ein Date mit Emmet wegen Weihnachten.“
 

„Ich finde es total…“
 

„Nein! Sag’s nicht!“
 

„…liebenswert von euch, dass ihr euch für Gus solche Mühe gebt. Für Kinder ist Weihnachten das Allergrößte!“
 

Brian verdrehte die Augen: „So wurde es mir erzählt.“
 

„Und ich und Carl danken euch für die Einladung. Kommen die Petersons auch?“
 

„Ja, die Petersons, ihr beide, Ted und sein geläuterter Ex-Junkie, den er für seine große Liebe hält…“
 

„Blake ist ein guter Mensch! Er hat Fehler gemacht, aber…“
 

„Jaja, die Rede kenne ich schon. Emmet, Jennifer, eventuell mit ihrem Boy Toy, Molly, dein Sohn und Anhang, Daphne, Justins Vater und vielleicht meine Mutter.“
 

„Was?“ entfuhr Debbie baff. „Joan?!? Und Justins Ekel von Vater, der den armen Jungen damals seinem Schicksal überlassen hat? Seid ihr wahnsinnig?“
 

„Es ist nicht immer so einfach, Debbie. Die Welt ist nicht nur schwarz und weiß.“
 

„Aber Mister Vollarsch-Taylor? Und Joan? Seit wann legst du Wert auf diesen Eisklotz, der deine Mutter hätte sein sollen?“
 

„Sie bemüht sich. Die Sache ist… kompliziert. Klar könnte ich sie weiterhin zur Hölle wünschen – aber was wäre damit gewonnen? Nichts. Und mir sind ein paar Sachen klar geworden… Egal. Sie kommt jedenfalls. Und Craig Taylor…“
 

„Der legt sich ordentlich ins Zeug“, fuhr Emmet ihnen dazwischen, der, in einen dicken rot-gelb karierten Mantel gehüllt und vom einsetzenden Niesel ziemlich aufgeweicht, zu ihnen getreten war.
 

„Was hast du denn mit Craig Taylor zu tun?“ wunderte sich Brian.
 

„Wir sind dabei, eine wunderbare Männerfreundschaft zu entwickeln…“
 

„Bitte, sag dass das nicht wahr ist!“
 

„Rein platonisch natürlich.“
 

„Das ist nicht weniger beunruhigend. Was zur Hölle hast du mit Justins Altem zu schaffen?“
 

„Nana, ein bisschen mehr Respekt vor Schwiegerpapi. Und du magst bohren und drohen, so viel du willst: Über meine Lippen dringt kein Laut! Nur so viel: Er versucht es aufrichtig.“
 

„Ich weiß nicht, ob mich das beruhigt.“
 

„Also ich sehe immer noch diesen verzweifelten siebzehnjährigen Jungen vor mir, den sein eigener Vater verjagt hat, als wäre er ein Stück Scheiße, nur weil er schwul ist“, regte sich Debbie auf.
 

„Ja, ich weiß“, sagte Brian langsam. „Aber das ist Justins Angelegenheit. Wenn er sich mit seinem Vater aussöhnen will, dann sollte sich keiner von uns störend einmischen.“ Er taxierte seine beiden Gesprächspartner mit dem Hauptaugenmerk auf Debbie.
 

„Nun gut, ihr müsste es wissen. Es ist euer Fest, es ist eure Familie. Aber das sind wir auch, deshalb werden wir auch nicht aufhören, uns zu sorgen“, sagte Debbie schließlich.
 

Brian seufzte: „Ich weiß, Debbie. Du musst sie ja auch nicht lieben. Aber es wäre schön, wenn du sie nicht im Weihnachtspunsch zu ersäufen versuchst.“
 

Debbie erhob die Hand zum Schwur: „Sie werden das Fest lebend verlassen. Großes Pfadfinderinnen-Ehrenwort.“
 

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Debbie schaute Brian lange hinterher, als er das Diner nach seinem Planungs-Gespräch mit Emmet wieder verlassen hatte.
 

Lächelnd legte sie die Wange auf die Handfläche, den Arm mit dem Ellenbogen auf der Theke abgestützt.
 

Brian war glücklich. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie das eines Tages erleben sollte. Vielleicht kleine Glücksmomente, hier und da – aber wirklich glücklich? Nein, das war Brian nie gewesen. Sie dachte an den nach außen strahlenden Teenager, der so verzweifelt nach ein wenig Beständigkeit, Nähe und Liebe gesucht hatte und der davor zurückschreckte, wenn sie sich ihm näherten. Der seinen Bedürfnissen mit kurzen Schüben sexuellen oder sonstigen Rausches begegnete, die es ihm erlaubten, das zu bleiben, was er immer gewesen war. Der, den alle wollten, zu dem alle hinauf schauten. Einsam, aber deshalb auch nicht verletzlich.
 

Michael hatte es versucht. Sie war ja nicht blind gewesen, sie hatte gesehen, wie sehr ihr Sohn sich Jahr für Jahr nach Brian verzehrt hatte. Aber das war nur möglich gewesen, da er immer auch an Brians Maske geglaubt hatte. Und Brian hatte instinktiv immer gewusst, dass Mikey mit dem, das dahinter lag, nicht hätte umgehen können.
 

Michael war zu geradeaus, um das für ihn Unfassbare in Brian händeln zu können. Und Michael hatte Brian zu sehr bewundert, um sein Partner sein zu können. Er hatte und hätte ihm immer wieder nachgegeben und wäre niemals durchgedrungen.
 

Aber dieser kleine blonde Junge hatte Brians Barrikaden durchdrungen, wohl wissend, wenn auch nicht in Worten greifbar, was dahinter war. Dort hatte er hin gewollt. Und dort war er angekommen.
 

Und er war schon lange kein Junge mehr.
 

Und Brian war glücklich.

Am Spielfeldrand

XVI. Am Spielfeldrand
 

Gus wand sich aufgeregt auf der Rückbank von Justins Klapperkiste.
 

Brians Corvette garantierte zwar einen deutlich aufsehenerregenderen Auftritt, war aber für den Transport eines kleinen Jungen zu seiner ersten Trainingsstunde nur mäßig geeignet. Justin hatte kein Wort gesagt, als ihm Brian die Schlüssel des Oldtimers in die Hand gedrückt hatte, als dieser sich anschickte, hinüber zu Debbie und Emmet für einen Videoabend zu fahren. Hoffentlich tratschten die beiden Justins Hirn nicht zu Brei. Wahrscheinlich hatten sie sich schon die Fingernägel darüber blutig geknabbert vor Gier über die Details seiner kleinen Wette. Justin könnte sie nonchalant auflaufen lassen – oder aber mit nur ein paar kurzen Andeutungen noch einmal ordentlich Benzin ins Feuer gießen. Leider war ihm beides zuzutrauen. Andererseits blieb so für Langeweile kein Raum.
 

Brian steuerte das röhrende Gefährt durch den Stadtverkehr und bekam eine ungefähre Vorstellung davon, wie sich ein Bauer aus dem Mittleren Westen in der großen weiten Stadt so in etwa fühlen musste. Das Ding – Auto mochte er es nicht wirklich nennen – hatte immerhin Gangschaltung, was die Sache zumindest etwas interessanter machte.
 

„Wann sind wir da, Papa?“ löcherte ihn Gus, der vor Spannung kaum auf dem Sitz bleiben mochte.
 

„Genau… jetzt!“ sagte Brian, während er ächzend kurbelnd den Wagen einparkte. Gus riss schon von Innen an der verriegelten Tür, während er noch die Sportsachen aus dem Laderaum holte. Er befreite Gus, der sofort seine Hand umklammerte und sich tatendurstig umschaute.
 

Gemeinsam traten sie in den Eingangsbereich der großen Turnhalle. Der nahegelegene Sportplatz war mit einer dünnen Schicht des ersten Schnees überzogen. Brian studierte die Anzeigetafel, dann steuerte er die Sektion an, in der die Fußballgruppe für Kinder sich treffen sollte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, hier zu sein, den vertrauten Geruch einer Sportanlage zu riechen, entfernt das dumpfe Aufprallen der Bälle zu hören. So viele Jahre war dies sein Alltag gewesen. Es war fast so, als gehöre diese Erinnerung zu einem anderen Leben.
 

Sie fanden rasch ihre Gruppe, in der mehrere Jungen und auch ein paar Mädchen in Gus‘ Alter mit ihren Eltern, vornehmlich wohl den Vätern, sich versammelt hatten. Brian schluckte. Willkommen im Hetenland. Sie wurden freundlich nickend begrüßt, die Kinder beäugten einander neugierig.
 

Schließlich trat ein untersetzter Mann Anfang Fünfzig in einem blauen Trainingsanzug an sie heran, stellte sich als Coach Williams vor und hieß sie willkommen. Er hakte rasch seine Anmeldungsliste ab, dann führte er sie durch die Räumlichkeiten. Gus hing an Brians Arm und sog alles in sich hinein. Aber Brian konnte ihm ansehen, dass er es kaum erwarten konnte, dass es endlich wirklich losging.
 

Am Ende ihrer Tour standen die Umkleideräume, wo sie kurz entlassen wurden, damit die Kinder sich ihre Sportkleidung anziehen konnten, um sich dann mit ihrem Trainer in der Halle zu treffen. Den Eltern wurde angeboten, die erste Stunde entweder von der Zuschauertribüne zu verfolgen oder derweil im angeschlossenen Vereinshaus einen Kaffee zu trinken. Brian entschloss sich für ersteres. Er sah zu, wie Gus und den anderen Kindern beigebracht wurde, wie man sich richtig aufwärmt. Dann durften sie ein paar einfache Ballübungen machen, damit Williams ihren Leistungsstand einschätzen konnte. Brian lächelte. Sicher hatte er mit Gus zuhause trainiert – aber sein Sohn hatte von sich aus Talent und vor allem Begeisterung. Er sah, wie der Trainer anerkennend nickte, als er Gus‘ Bewegungen folgte. Er war so versunken in den Anblick, dass er zunächst nicht reagierte, als ihm jemand auf die Schulter klopfte.
 

„Brian? Brian Kinney?“ sagte eine weibliche Stimme.
 

Er wandte sich um und schaute hinauf. Vor ihm stand eine ziemlich stark geschminkte Frau mit blondierten Haaren und derart pink lackierten Fingernägeln, dass Debbie vor Neid erblasst wäre. Um ihre farbenfroh überschatteten Augen zeichneten sich Lachfältchen ab. Sie kam ihm dumpf bekannt vor. Sein Hirn ratterte, dann kam er darauf: „Annabelle? Annabelle Summerbourgh?“
 

„Die einzig Wahre!“ lachte sie und schüttelte seine Hand.
 

„Na sowas…“, sagte Brian, immer noch seine Erinnerungen sortierend. Annabelle? War sie nicht die Homecoming Queen oder so etwas gewesen, damals in der Schule?
 

„Das ist tatsächlich eine Überraschung! Wie geht es dir?“ fragte Annabelle, immer noch bis zu den Ohren strahlend und pflanzte sich neben ihn.
 

„Ganz gut. Und dir?“ fragte Brian vorsichtig.
 

„Ach naja, habe mich scheiden lassen… Blöder Hurenbock von Spencer, du kennst ihn ja auch… Heirate niemals den Quarterback aus Schulzeiten… Und seitdem zwinge ich meinen Sohn zum Fußballtraining, um am Spielfeldrand einsame Väter abzuschleppen“, sagte sie, immer noch grinsend.
 

„Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, falls du damit mich meinen solltest – ich bin nicht alleinstehend“, stellte Brian klar und musterte sie düster.
 

„Brian, das war ein Witz! Du hast doch gerade geheiratet, stand doch in der Zeitung, nicht wahr?“
 

Ach verflixt, die Anzeige. Die alten Leichen im Keller lasen ja auch die Zeitung – sofern sie es geschafft hatten, in zwölf Jahren Schule lesen zu lernen. Aber Annabelle war nicht blöde gewesen, das wusste er noch.
 

„Ja, im August“, antwortete er knapp.
 

„Weißt du, wie erleichtert ich war?“
 

„Wie bitte?“
 

„Ich habe dich damals gefragt, ob du mit mir zum Abschlussball kommen wolltest. Aber du hast nur gesagt, dass du generell nicht kommen würdest. Und das mir. Mein Jungmädchenstolz war völlig im Eimer. Aber vor dem Licht der neuen Erkenntnis ist mein angeknacktes Ego wieder rückwirkend gesundet.“
 

„Das freut mich aber für dich…“, sagte Brian leicht säuerlich und spähte nach Gus, der den nun an ihn gerichteten komplexeren Aufgaben des Trainers folgte.
 

„Na, mach mal halblang. Ich find’s gut. Einfach ab in die Zeitung damit ohne viel Brimbamborium, Rechtfertigungen oder Erklärungen. So soll’s doch sein. Mögen diese Kleingeister denken, was sie wollen. Aber diese Leute aus eurer irisch-katholischen Gemeinde sind wahrscheinlich aus den Socken gekippt“, stellte sie fest.
 

„Kann sein, keine Ahnung, ist mir auch egal“, erwiderte Brian. Annabelle war immer schon eine Tratschtante gewesen.
 

Annabelle bemerkte die zunehmende Unwilligkeit ihres Gesprächspartners und wechselte das Thema: „Und was treibst du hier? Spielst du immer noch?“ Sie nickte hinüber zu den verschiedenen Gruppen, die über die Halle verteilt ihren Übungen nachgingen.
 

„Nein, habe vor Ewigkeiten aufgehört. Mein Sohn ist da unten und hat seine erste Stunde.“
 

„Schade, du warst super, aber ich kann’s verstehen. Dein Sohn, sagtest du? Habt ihr adoptiert?“
 

„Jein. Gus ist mein leiblicher Sohn“, erklärte Brian, der, was seinen Sprössling anging, deutlich mitteilungsbereiter wurde.
 

Annabelle bekam große Augen: „Wie das denn…?“
 

„Wunder der Medizin. Seine Mutter und ihre Frau hatten sich ein Kind gewünscht. Die beiden sind vor ein paar Monaten ums Leben gekommen und jetzt habe ich zusammen meinem Mann das Sorgerecht.“
 

„Mann, Brian, das tut mir leid. Zeig mal, welcher ist es denn – ach was, der Kleine da, um den der Trainer gerade sowas wie einen Freudentanz verrichtet, muss es sein“, stellte sie neugierig über die Brüstung spähend fest.
 

Brian wurde von einer Woge Vaterstolzes überrollt, die ihm fast peinlich war.
 

„Der sieht dir aber ziemlich ähnlich. Und das mit dem Ball hat er wohl auch von dir, ich wünschte, mein Sohn hätte etwas dergleichen abbekommen“, streute sie weiter Salz in die Wunde.
 

„Wo ist denn dein Sohn?“ fragte Brian und biss sich rückwirkend auf die Zunge. Toll, jetzt führte er schon Mein-Sohn-dein-Sohn-Gespräche am Spielfeldrand – und das schon in der ersten Stunde.
 

„Da drüben“, sagte sie und wies ans andere Hallenende. „Er hat ja schon das nicht besonders dankbare Alter der Pubertät erreicht. Sei dankbar, solange sie klein und niedlich sind, das ändert sich schneller, als du schauen kannst.“
 

Brian schauderte. Daran wollte er jetzt noch lieber nicht denken. Wenn er so an sich in der Pubertät dachte… Aber Gus hatte ja auch keine Eltern wie die seinen, vielleicht wurde es ja dann nicht so schlimm?
 

„Du hast ihn ganz alleine groß gezogen?“ fragte er, inzwischen etwas neugieriger geworden.
 

„So ziemlich. Spencer hat sich mit einer anderen aus dem Staube gemacht, da war Bill drei Jahre alt.“
 

„Kommt Spencer auch manchmal mit zum Training?“ fragte Brian. Nicht, dass er Wert auf diesen alten Idioten gelegt hätte, aber es interessierte ihn, wie andere Väter sich so schlugen in dieser Welt am Rande des Spielfeldes.
 

Annabelle lachte auf, aber es klang eher bitter: „Spencer ist gegangen, weil er sich zu jung fühlte, an Frau und Kind gefesselt zu sein. Was meinst du wohl, wie sehr ihn sein Sohn interessiert? Ich glaube, Bill hat ihn vor fünf Jahren das letzte Mal zu Gesicht bekommen. Das letzte, was ich von ihm gehört habe, war ein Antrag seines Anwalt auf eine Einstellung der Unterhaltszahlungen für sein Kind.“
 

Brian schüttelte sich. Vielleicht gab es sogar noch beschissenere Eltern als seine. Wie konnte man sein Kind einfach so im Stich lassen? Er hatte sich damals keine wirklichen Gedanken darüber gemacht, was auf ihn zukommen würde. Aber als Gus erst mal da gewesen war… Okay, er war auch nicht gerade ohne Fehl und Tadel gewesen – aber sowas?
 

„So ein Haufen Scheiße“, sagte er nur.
 

Annabelle seufzte nur tief und antwortete: „Wem sagst du das? Hinterher ist man immer schlauer. Aber für Bill ist es schrecklich. Aber lass uns über etwas Angenehmeres reden: Was machst Du denn mittlerweile beruflich?“
 

„Wird das jetzt so eine Highschool-Klassentreffen-Unterhaltung?“
 

„Haargenau!“ lachte sie wieder. „Nun erzähl schon!“
 

Letztendlich war die restliche Stunde wie im Fluge vergangen. Brian war es zwar ziemlich schnurzegal, was aus den Nieten geworden war, mit denen er und Mikey sie Schulbank gedrückt hatten, aber Annabelle hatte ihre Katastrophen ziemlich humorig erzählt. Sie mochte eine Klatschtante sein – aber sie war eine gute Klatschtante, die mit Nichtigkeiten zu unterhalten vermochte.
 

Schließlich verabschiedeten sie sich und Brian wartete in der Eingangshalle auf Gus, der ihm völlig ausgepowert aber auch hochgradig begeistert entgegen gestürzt kam.
 

„Hast du mich gesehen? Hast du mich gesehen?!“ schrie er, während er an Brian hochsprang.
 

„Klar habe ich das, Sonnyboy“, lachte Brian und schnappte ihn an den Schultern, um ihn ein wenig zur Ruhe zu bringen.
 

„Trainer Williams hat gesagt, dass ich richtig gut sei!“ brüstete sich Gus strahlend.
 

„Sicher bist du das“, strahlte Brian zurück. Jack hatte ihm nach jeder Stunde verpuhlt, was er besser machen konnte. Auch Gus war natürlich nicht perfekt. Aber es musste noch andere Wege geben…
 

„Was meinst du Gus, Morgen ist Samstag, da haben wir Zeit… gibt es etwas, was du gerne weiter üben würdest?“
 

Gus überlegte, dann sagte er es ihm.
 

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Als John aus der Umkleidekabine kam und Richtung Ausgang lief, erstarrte er plötzlich im Lauf. Das war doch einfach unmöglich…? Er kniff die Augen zusammen. Da stand sein perverser Onkel freudestrahlend, als würde er hierher gehören. Das war Fußball, da hatten Tunten nichts zu suchen! Andererseits… auf dem Speicher standen immer noch Brians alte Pokale…
 

Ein kleiner Junge streckte die Arme nach ihm aus und fragte: „Wann ist wieder Training, Papa?“
 

Papa? Das war wohl Gus. Sein verfluchter Cousin.
 

John musterte ihn. Sechs Jahre alt war er, hatte Oma Joan gesagt. Dafür war der aber ganz schön groß. Sein Vater war ja auch eine ziemliche Bohnenstange.
 

Aber wahrscheinlich war die kleine Missgeburt schon in den Startlöchern genau so ein Arschficker zu werden wie sein Alter.
 

Was zum Teufel trieben die hier?
 

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„Nun erzähl schon, Justin, du hast Brian gesagt, er sei süß?“ bohrte Debbie und servierte ihre selbstgemachten Kekse.
 

Justin grinste verhalten: „Ist er doch auch…“
 

„Durch deine rosa Brille gesehen vielleicht!“ warf Emmet ein.
 

Justin lachte nur und zog die Schultern andeutend hoch.
 

„Und er hat dich als Wetteinsatz benutzt, das ist doch echt unglaublich!“ wunderte sich Debbie.
 

„Ach, soll er doch auch Mal seinen Spaß haben“, erwiderte Justin nur.
 

„Der fiese Sack aus alten Tagen braucht ab und an Auslauf?“
 

„So in etwa.“
 

„Schön, dass du das so gelassen siehst.“
 

„Eigentlich fand ich es ganz lustig“, sagte Justin und schnappte nach den Keksen. Das Gute an Debbies Rezepten waren die Qualitäten lecker, viel und Schokolade.
 

„Wenn Carl mit mir sowas veranstalten würde, würde ich ihm einen Arschtritt verpassen, dass er bis zur Venus fliegt!“
 

„Daran kein Zweifel… Aber ich habe ja auch Brian geheiratet – und nicht Carl.“
 

„Er wäre ohne Zweifel geschmeichelt über deinen Antrag gewesen… Aber du hast Recht, wenn einer mit Brian zu Recht kommt, dann du.“
 

„Ihr tut ja so, als sei Brian ein feuerspeiender zwölfköpfiger Drachen, der menschliche Knochen als Zahnstocher benutzt!“
 

„Es gibt durchaus Leute, die dieser Beschreibung zustimmen würden.“
 

„Ach was“, sagte Justin nur kopfschüttelnd, „ich sagte doch schon: Er ist echt süß.“ Er musste wieder grinsen.
 

„Brian hat echt so ein Schweineglück, dass er wahrscheinlich die einzige Person auf dem ganzen Planeten aufgetan hat, die ihn kennt und die das trotzdem sagt – und erschreckenderweise auch so meint“, kommentierte Emmet nur.
 

„Ja, und das weiß er auch“, ergänzte Debbie.
 

Justin schlug die Augen nieder. Dann sagte er: „Ja, das weiß er. Aber all das gilt auch umgekehrt, das wiederum weiß ich. Wollen wir nicht endlich mit dem Film anfangen? Was habt ihr denn ausgesucht?“
 

„A Chorus Line!“ sagte Emmet.
 

“Harry und Sally!” fuhr ihm Debbie dazwischen.
 

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Craig stolperte und konnte sich mit letzter Not am soliden Ständer einer Anzeigentafel festhalten, bevor er inmitten des Einkaufszentrums auf die Nase fiel. Vorsichtig, immer noch leich taumelnd, spähte er erneut über die Balustrade ins Untergeschoss.
 

Er hatte es sich wirklich nicht eingebildet. Dort unten lief Jennifer, fröhlich lachend Hand in Hand mit einem Mann in Motoradkluft, der gut und gern fünfzehn Jahre jünger als sie war. Er hatte das Gefühl, dass jemand einen eiskalten Dolch durch ihn bohrte. Sicher war ihm klar gewesen, dass seine Exfrau gewiss nicht vorhatte, den Rest ihres Lebens als Nonne zu leben. Wenn sie wegen Molly miteinander zu tun hatten, war eine mögliche neue Beziehung nie ein Thema gewesen. Er hatte es auch nicht wirklich wissen wollen. Sie war irgendwie immer, trotz allem… seine Jennifer gewesen. Und jetzt grabbelte dieser Möchtegernrocker an ihr herum und sie kicherte wie eine angesäuselte High School Prom Queen.
 

Das konnte doch nicht ihr Ernst sein!
 

Kurzzeitig war Craig versucht, einen der Blumentöpfe aus der Auslage des nahegelegenen Floristen auf die Rübe dieses billigen Gigolos krachen zu lassen, dann zwang er sich, sich zu beruhigen.
 

Jennifer konnte tun und lassen, was sie wollte, schließlich waren sie nicht mehr verheiratet. Aber es auf theoretischer Ebene zu wissen war dennoch etwas ganz anderes, als es zu sehen.
 

Nimm die Pfoten von meiner… von Jennifer, du Arschgeige, dachte er, Tucker niederstarrend.
 

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Draußen tobte ein Schneegestöber, als Justin endlich die nicht gerade wintertaugliche Corvette unbeschadet in der Garage geparkt hatte. Als er ausstieg, atmete er erleichtert auf. Die Straßen waren verflucht rutschig gewesen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie Brian auf eine noch so mikroskopisch kleine Schramme in seinem Fetisch reagieren würde… Der Oldtimer war dank der Witterung zwar arg verdreckt, aber – hoffentlich – unbeschadet. Justin klapperte mit den Zähnen. Eine wirklich funktionierende Heizung würde Brians Flitzer durchaus guttun.
 

Bibbernd schloss er die Haustür auf. Wohlige Wärme drang ihm entgegen. Brian musste den Kamin angemacht haben, denn es lag der angenehme Duft brennenden Holzes in der Luft. Er schälte sich aus seiner Jacke, stellte seine Sneaker zum Trocknen auf die Fußmatte und trat ins Wohnzimmer. Brian lag lang ausgestreckt auf dem Sofa und schlief. Auf seinem Bauch lagen lose irgendwelche Blätter, wahrscheinlich Unterlagen von Kinnetic, die ihm aus der Hand geglitten waren, als er weggedöst war. Die Lesebrille war ihm halb von der Nase gerutscht. Er sah so friedlich aus, dass Justin versucht war, ihn einfach weiterschlafen zu lassen. Aber er wusste, dass Brian es hasste, in seinen Kleidern und ungeduscht aufzuwachen.
 

Justin trat leise zu ihm hinüber, den Anblick in sich aufsaugend. Früher war Brian immer rastlos gewesen, hatte sich kaum Ruhe oder Muße gegönnt. Seine grundlegende Dynamik, sein unerschöpflicher Tatendrang, die Justin so an ihm liebte, waren nach wie vor ungetrübt. Aber mit derselben Absolutheit hatte Brian es nach und nach gelernt, sich auch mal zu entspannen. Er lag dort nicht, zuhause, auf dem Sofa beim Schein des Kaminfeuers, weil er sich an ein Leben gekettet hatte, das nicht ihm sondern den Bedürfnissen anderer galt. Nein, er lag da und schlief, weil es sein Leben war, das er mit Justin und Gus teilte und das es ihm erlaubte. Keine Entschuldigungen, kein Bedauern, auch hier nicht.
 

Justin hockte sich neben den Schlafenden und strich sanft über das leicht zerzauste Haar, die von einem leichten Bartschatten etwas verdunkelten Wangen, bis Brian begann sich zu regen.
 

„Justin?“ murmelte er schlaftrunken.
 

„Nein, Ted“, antwortete Justin und musste kichern, als Brian kurz zusammen fuhr. Er konnte ja nicht ahnen, dass Ted Brian monatelang auf dem Sofa von Kinnetic geweckt hatte. Allerdings nicht unbedingt, indem er seinen Boss kraulte.
 

„Ahhh… Teddilein, was für ein Glück“, schnurrte Brian mit geschlossenen Augen, „mein Alter ist grad außer Sichtweite, eine gute Gelegenheit, unseren geheimen Sehnsüchten zu gehorchen…“
 

Justin musste auflachen und flüsterte dann ihn Brians Ohr: „Chance verpasst, dein Alter ist leider schon wieder da.“
 

„Oh verdammt! Dann muss ich wohl mit dir vorlieb nehmen…“, sagte Brian und schlug die Augen auf. Er gähnte ausgiebig und setzte sich auf, das Zettelchaos auf sich bändigend.
 

„Ich befürchte auch, du Ärmster! Gus schläft schon?“ fragte Justin, sich neben den anderen auf die Polster setzend, die von Brians Körper angenehm vorgewärmt waren.
 

„Ja, habe ihn vorhin schon ins Bettchen gebracht. Nach dem Fußball ist er ziemlich fix müde geworden“, antwortete Brian und streckte sich.
 

„Das glaube ich gerne. Wie war es denn überhaupt?“
 

„Gus ist begeistert. Und ich habe derweil wie ein guter Spielerpapa auf der Tribüne gesessen und bin den Klatschkünsten einer ehemaligen Homecoming Queen zum Opfer gefallen.“
 

„Oh“, bemerkte Justin amüsiert, „die Damenwelt hat sich auf die gestürzt? Ein Nachmittag auf dem Fußballplatz und schon an der Grenze zur Heterosexualität?“
 

„Igitt! Schon der Gedanke, einer Möse zu nahe zu kommen, pulverisiert jede unkeusche Idee in meinem Kopf zu Feinstaub!“
 

„Dann höre sofort auf damit!“
 

„Schon geschehen. Nein, Annabelle ist eine Mitschülerin von Mikey und mir gewesen. Und dank meiner kongenialen Hochzeitsanzeige ist sie auch gar nicht erst auf den Gedanken verfallen, mir unziemliche Angebote zu unterbreiten. Jetzt weiß ich, dass die Luschen von früher exakt das geworden sind, was ich ihnen immer gewünscht habe: fette, ihres Haupthaars verlustig gehende Totalversager.“
 

„Dann hattest du ja auch deinen Spaß, nicht nur Gus.“
 

„Es war… erträglich. Und du hast auch deinen Teil an Tratschtanten abbekommen?“
 

„Klar. Ich habe ihnen natürlich jedes noch so schmutzige Detail unseres Privatlebens brühwarm unter die Nase gerieben.“
 

„Oh Gott!“ fuhr Brian gespielt auf.
 

„Ach Quatsch. Natürlich habe ich nur dein Loblied gesungen. Dass du der liebste, tollste und süßeste…“
 

„Jaja, bohr ruhig weiter in der Wunde.“
 

„Bist du aber“, grinste Justin und drückte Brian einen Kuss auf die Wange.
 

„Wird wohl Zeit, dass ich dich an ein paar andere Qualitäten meinerseits erinnere…“
 

„Soso… Es ist spät, soll ich dich ins Bettchen bringen?“
 

„Ich bestehe darauf!“
 

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John konnte nicht schlafen. Das Bild seines Onkels, der lachend seinen kleinen Sohn auf dem Arm gehalten hatte, ließ ihn nicht los. Wenn er da an seinen Vater dachte…
 

Aber sein Vater war immerhin ein richtiger Mann, nicht so eine verweichlichte Missgeburt wie Onkel Brian.
 

Und der kleine Junge, sein… Cousin. Er hatte kein Recht darauf, glücklich zu sein, wo doch sein ganzes Leben… falsch war. Wie konnte man zwei Väter haben? Die sich obendrein noch gegenseitig in den Arsch fickten?! Wie konnte er sich erdreisten, beim Fußball aufzutauchen, da war für sowas kein Platz. Fußball war etwas für richtige Männer – wie ihn oder vielmehr, wie er es bald sein würde, wenn die verdammten Pickel verschwänden und die Mädchen mit ihm ausgehen wollten.
 

Und dieses miese kleine Perversen-Kind hatte die Frechheit froh und heiter durch die Gegend zu laufen, statt sich in Grund und Boden zu schämen! Der Rotzlöffel wohnte in einer fetten Villa mit Pool und sonstwas und bekam das ganze Geld, das ihm, John, zustand, in den Hintern geblasen. Und er selbst durfte zusammen mit seinem Bruder in Brians altem Kinderzimmer eingepfercht wohnen.
 

Das war so unfair!

Volltreffer

XVII. Volltreffer
 

Justin starrte ungläubig in Richtung des Wohnzimmertisches. Es war der 6. Dezember, Nikolaus, und Gus plünderte seinen mit Süßkram vollgestopften Strumpf. Angespitzt durch die Aufregung in seiner Kindergartengruppe hatte er mit absoluter Selbstverständlichkeit am Vorabend seine Wäscheschublade geplündert, bis er endlich nach langem Vergleichen das seines Erachtens größte Exemplar gefunden hatte. Brian hatte nicht schlecht geguckt, als sein Sohn damit an ihm vorbei Richtung Kamin getrabt war.
 

Aber das erklärte noch lange nicht das Objekt, das nun, mit einer dezenten Schleife versehen, mitten auf der Tischplatte lag.
 

„Was… was ist das denn?“ stotterte Justin paralysiert.
 

Brian lugte über die Schulter, an der Kaffeetasse nippend und sich standhaft gegen alle Angebote Gus‘ zur Wehr setzend, doch auch eine der Nougatpralinen zu verputzten. Fast hatte man das Gefühl, dass Gus seinen Vater absichtlich mit den Leckereien quälte, denn jedes Mal, wenn Brian ablehnte, stopfte er sich die Süßigkeit genüsslich selber in den Mund, rollte verzückt die Augen und murmelte: „Mmm, lecker, Papa, einfach nur superlecker!“ Brians Augen wurden immer größer. Bei Justins Anblick musste er jedoch ein Lachen unterdrücken.
 

„Was fragst du mich das? Hat dir schließlich der Nikolaus gebracht.“
 

„Habe ich etwas Besonderes angestellt, dass er mir gerade sowas bringt?“
 

„Vielleicht hat er gedacht, dass du schon genug Schokolade für dieses Jahr vertilgt hast?“
 

„Aber… eine Axt? Wofür hält der mich, für Jack Nicholson in Shining?“
 

Brian schüttelte den Kopf und meinte: „Entweder das oder er meint, dass deine Nagelpfeile recht ungeeignet dafür ist, einen Baum zu schlagen.“
 

„Ich soll damit einen Weihnachtsbaum umhauen?!“
 

„Entweder das – oder du verfolgst uns mit dem Ding in mörderischer Absicht durchs Haus. Ich wäre da ja eher für den Baum.“
 

„Das muss ich mir aber nochmal gut überlegen… Baum oder Axtmord, Baum oder Axtmord, was passt besser zu einem stimmungsvollen Weihnachten… mmm… unvergesslich wäre es in jedem Falle… aber beim Baumverkauf gibt es immer frische Schokoladenwaffeln… ich glaube da tendiere ich eher zu.“
 

„Das war ja Rettung in letzter Sekunde… Gus, gib Justin doch so ein Nougatding, der mag das bestimmt!“ versuchte Brian seinem Dilemma zu entkommen.
 

Justin schaute hoffnungsvoll, aber Gus warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Aber nur eine!“ stellte er energisch klar. Brian lachte, als er verfolgte, wie Gus dem leicht beleidigt ausschauenden Justin eine der Pralinen überreichte, genau darauf bedacht, zwischen seinem jungen Erziehungsberechtigten und seiner Beute einen sicheren Abstand zu bewahren.
 

„Mir scheint, Sonnenschein, dass Gus dir nicht so recht traut“, bemerkte er, „und das liegt nicht an der Axt.“
 

„Pah!“ grummelte Justin mit vollem Mund.
 

„Ich will bloß nicht, dass du dick wirst“, erklärte Gus unschuldig aus der Wäsche schauend. Da hatte er anscheinend von seinem Vater gelernt.
 

„Von wegen, ich werde nicht dick von dem bisschen Schokolade!“ protestierte Justin.
 

„Aber du isst doch immer alles auf!“ stellte Gus eifrig klar.
 

„Das stimmt!“ bestätigte Brian.
 

„Ich bejahe nur das Leben, indem ich genieße!“
 

„Du bist verfressen.“
 

„Kleingeister!“
 

„Du bekommst aber nicht mehr ab!“ beharrte Gus und wandte sich wieder an Brian. „Jetzt musst du aber auch eine essen, sonst ist das ungerecht!“
 

„Danke Gus, aber ich mag wirklich nicht!“ wehrte Brian ab, während seine Augen auf der Schokoladenkugel in Gus Hand klebten.
 

„Quatsch! Klar mag Papa eine abhaben. Er hat nur Angst davor, dick zu werden“ spornte ihn Justin weiter an.
 

„Die Papas der anderen Kinder sind auch dick! Ich hab dich auch noch genauso lieb, wenn du dick wirst!“ versprach Gus strahlend, aber mit einem gewissen Schalk in den Augen, und hielt Brian die Süßigkeit lockend vor die Nase.
 

„Oh ja, ich auch!“ setzte Justin hinterher und sah Brians Mundwinkel bei der Vorstellung nach unten zucken.
 

Brian ließ sich hintenüber auf den Fußboden fallen und hielt sich beide Hände vor den Mund. „Auf gar keinen Fall werdet ihr mich fett mästen!“ stieß er hervor.
 

„Wir meinen es doch nur gut mit dir“, sagte Justin und zwinkerte dem grinsenden Gus verschwörerisch zu. „Aber da Papa die Praline nun nicht essen will, obwohl er sie essen will… Kann ich sie dann haben, wenn sie schon mal ausgepackt ist?“ fragte er hoffnungsvoll.
 

Gus zog die Augenbrauen hoch und sagte gebieterisch, Brians Tonfall imitierend: „Auf gar keinen Fall!“
 

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Es war wie an jedem Dienstag seit vielen Jahren. Nach der Schule war John in den überfüllten Bus gestiegen und war hinüber zum Sportverein gefahren. Er trainierte zweimal wöchentlich, dienstags und donnerstags, am Wochenende fanden während der Saison die Spiele statt. John gehörte zu den besseren Spielern ihres Teams, aber Hoffnungen auf pokalverdächtige Leistungen konnte er sich wohl nicht machen. Aber immerhin zählte er hier etwas.
 

Wütend biss er sich auf die Unterlippe. Mr. Svensson, sein Literaturlehrer, hatte ihn heute nach seiner schnarch langweiligen Stunde nach vorne gerufen und ihm mitgeteilt, dass er in Gefahr laufe, das Schuljahr nicht zu schaffen, wenn sich seine Leistungen nicht bald verbesserten. Als hätte er Lust und Zeit dazu, sich um diesen unwichtigen Scheiß zu kümmern, die die in der Schule versuchten, einem beizubringen. Das meiste brauchte doch kein Mensch im richtigen Leben.
 

Normalerweise brachte ihn das Fußballtraining auf angenehmere Gedanken, aber selbst das wurde ihm jetzt versalzen. In der Ferne sah er die Übungsgruppe der Kinder. Aus dem Augenwinkel hatte er in den Stunden davor bereits erhaschen können, dass sein Tunten-Cousin verflucht gut war. Trainer Williamson war total aus dem Häuschen. John hatte ihn mit den anderen Trainern darüber reden gehört, dass Gus Taylor-Kinney das größte Potential habe, das ihm seit Jahren oder gar jemals untergekommen sei. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Dieser Satansbraten, der eigentlich froh sein sollte, überhaupt zu leben, und schön die Klappe halten sollte wegen seiner abartigen Eltern, bekam einfach alles – alles!
 

John wärmte sich auf und spähte durch die Halle. Oben auf der Tribüne am anderen Ende erahnte er seinen Onkel, der ihn bisher aber Gott sei Dank noch nicht bemerkt zu haben schien. Gus flitzte gewandt durch die Halle, die anderen Kinder bestaunten ihn und jubelten ihm zu. John konnte erkennen, dass der kleine Junge glücklich lächelte, während er den Ball vor sich her schoss.
 

Gus mochte gut für sein Alter sein – aber John war ihm um Jahre des Trainings voraus. Ohne lange nachzudenken ließ er seiner Wut freien Lauf und trat seinen Übungsball mit aller Gewalt in die Richtung der kleinen Mistkrücke. Er hatte nicht gezielt, es war ein ganzes Stückchen weit weg. Wenn Gus nicht im Lauf versunken gewesen wäre, hätte er ihn um Meilen verfehlt.
 

Aber so traf der Ball mit voller Gewalt den Schädel des kleinen Jungen.
 

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Brian hatte mit den Armen auf die Brüstung gestützt das Geschehen unten verfolgt. Gus entwickelte sein Ballgefühl rasend schnell. Er war völlig versunken in den Anblick seines spielenden Sohnes, dass ihm im ersten Moment überhaupt nicht klar wurde, was geschehen war. Es tat einen lauten Schlag und Gus fiel ungebremst zu Boden. Und blieb liegen.
 

In Brians Hirn setzte etwas aus. Oh Gott… Justin… Das Bild, wie Justin, eben noch voller Leben und lachend, durch Chris Hobbs Schlag zu Boden gegangen war wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt hatte und sich in ein lebloses… Etwas verwandelt hatte, dem er nicht hatte helfen können, blitzte kurz in ihm auf. Aber das war nicht Justin, das war Gus. Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, hechte er über das Geländer. Unten lag eine Trainingsmatte, die seinen Fall abbremsen würde. Dennoch jagte ihm der Aufprall die Luft aus den Lungenflügeln. Irgendetwas in seiner Wade zog bedrohlich. Er ignorierte es und lief hinüber zu Gus, über dem bereits Trainer Williams kniete.
 

„Was ist geschehen?“ schrie Brian.
 

„Er hat einen Ball mit voller Wucht an den Kopf bekommen. Sie sind sein Vater?“
 

„Ja! Oh Gott, was ist mit ihm!?!“ Brian lehnte sich über Gus und tastete nach dem Puls.
 

„Ganz ruhig. Warten Sie, wir sollten ihn nicht bewegen… so bekommt er Luft… Wir müssen sofort einen Krankenwagen rufen, haben Sie ein Handy?“
 

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John beobachtete gebannt, wie sein Onkel ohne mit der Wimper zu zucken die Tribüne hinunter sprang und ziemlich unsanft aufschlug. Er konnte durch die ganze Halle hören, wie er auf Trainer Williamson ein brüllte und zuckte zusammen. Trainer Liams raste von der benachbarten Gruppe ebenfalls heran und scheuchte die herumstehenden Kinder in die Umkleideräume. Gus lag immer noch bewegungslos auf dem Boden.
 

Johns Herz flatterte. War er etwa… tot? Hatte er ihn etwa umgebracht? Aber es war ein Unfall gewesen… ein Versehen.
 

„Kinney!“ wurde er angebrüllt und ziemlich unsanft am Oberarm gepackt. „Hast du den Verstand verloren, einfach quer durch die Halle zu ballern? Sieh, was du angerichtet hast!“ Es war Coach Paulis, der ihn bereits seit Jahren trainierte.
 

„Ich wollte nicht… ich weiß nicht…“ stammelte John.
 

„Bete, dass dem kleinen Jungen nichts Ernsthaftes passiert ist! Hämmere ich dir nicht seit Jahren ein, dass das oberste Gebot beim Hallentraining Vorsicht ist? Ist das die Art und Weise, wie du Verantwortung übernimmst und dich an die Trainingsregeln hältst?! So jemanden kann ich nicht im Team gebrauchen! Du ziehst dich jetzt an. Ich werde deine Mutter darüber informieren, was du hier getan hast! Und du wirst dich bei dem Jungen und seiner Familie entschuldigen!“
 

Johns Mannschaftskameraden starrten ihn betreten an. Am liebsten wäre er im Boden versunken. Er fühlte, wie er zitterte. Sich bei Onkel Brian entschuldigen… Wenn Oma Joan das erfahren würde… Und er war aus dem Team…
 

Was musste dieses bescheuerte Balg auch direkt in seinen Ball rennen?
 

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Genervt hob Justin den Telefonhörer ab. Er war mitten in einer seiner Schaffensphasen gewesen, in der die Welt um ihn herum versank. Die Holzstreben seiner neuen Skulptur fügten sich nach und nach zu einem vielschichtigen Geflecht zusammen, das seiner ganz eigenen Logik folgte. Er hatte keine Ahnung, wie lange das dämliche Telefon bereits geklingelt hatte, bis das Geräusch in sein Bewusstsein vorgedrungen war. Er hatte es weiterhin zu verdrängen versucht, aber es hatte einfach nicht aufgehört. Welche impertinente Person war das bloß?
 

„Taylor-Kinney“, meldete er sich widerwillig.
 

„Justin, na endlich!“ schrie ihn Brian durchs Telefon an.
 

Justin zuckte zusammen: „Brian? Was… was ist los?“ Ihm schwante nichts Gutes.
 

„Gus hatte einen Unfall, wir sind im Krankenhaus…“
 

„Oh Gott! Was…!?“ entfuhr jetzt Justin, der das Gefühl hatte, dass sein Herz stehen blieb.
 

„Er hat einen Fußball an den Kopf bekommen. Er ist immer noch bewusstlos, sie wissen noch nicht… Pack seine Sachen zusammen und für mich etwas zum Wechseln, Gus hat mich vollgekotzt, als er vorhin kurz aufgewacht ist, und dann komm gefälligst her!“
 

„Wo seid ihr?“
 

„St. Andrews, ich bin im Wartebereich der Kinderstation im dritten Stock. Gus wird gerade untersucht.“
 

„Wissen sie schon…?“
 

„Nein. Komm her. Ich warte.“
 

Justin rannte los.
 

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„Kinney.“
 

„Paulis. Ich bin der Fußballtrainer von John. Spreche ich mit seiner Mutter?“
 

„Nein. Ich bin seine Großmutter. Was hat er angestellt?“
 

„Eigentlich würde ich das lieber mit seiner Mutter…“
 

„Seine Mutter ist berufstätig. Sie hat keine Zeit für die Belange ihrer Kinder“, sagte Joan eiskalt.
 

„Äh… nun gut. Ich rufe an, weil John sich nicht an unsere Trainingsregeln gehalten hat und deswegen ein anderes Kind verletzt hat. Der Kleine ist im Krankenhaus, es sah gar nicht gut aus. John ist bis auf Weiteres vom Training ausgeschlossen. Es wäre gut, wenn sich seine Familie mit ihm über sein Verhalten auch noch einmal intensiv unterhalten würde. Und er sollte sich bei den Betroffenen entschuldigen. Ich hoffe, das Ausmaß des Angerichteten lässt das zu.“
 

Joan zog die Stirn in Falten. Immer dasselbe mit John. Hielt sich nicht an Regeln, aber beklagte sich, wenn andere das auch taten.
 

„Wie heißt das Kind, dem er wehgetan hat?“ fragte sie. Über die Kirchengemeinde kannte sie zahlreiche Familien, die ihre Kinder zum Fußballtraining brachten, vielleicht ließe sich das Ganze so direkt regeln.
 

„Moment, Kollege Williams hat den Namen notiert… ach hier… nanu? Gus Taylor-Kinney? Ist John mit ihm verwand?“
 

In Joan bildete sich ein eisiger Vulkan. „Ja“, sagte sie, „die beiden sind Cousins. Ich regele das. Wissen Sie, in welches Krankenhaus sie meinen Enkel gebracht haben?“
 

„St. Andrews“, antwortete Paulis in leicht irritiertem Tonfall. „Sein Vater ist bei ihm.“
 

„Gut“, sagte Joan. „Ich kümmere mich um meine Enkel.“
 

Sie klang nicht besonders fürsorglich.
 

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John saß auf einer Bank nahe der katholischen Kirche im Park.
 

Überall lag Schnee, seine Füße waren nass und eiskalt. Er fror jämmerlich.
 

Scheiße.
 

Scheiße, scheiße, scheiße.
 

Sie würden ihn umbringen.
 

Onkel Brian, Oma Joan, wer auch immer. Und seine Mutter… die kam gegen die beiden nicht an.
 

Sie würden denken, dass er das mit Absicht gemacht hatte. Aber es war doch keine Absicht gewesen… jedenfalls nicht wirklich, oder? Er hatte ihn doch eigentlich nicht treffen wollen. Er war nur so wütend gewesen, das konnte man doch verstehen?
 

Wo sollte er denn jetzt hin?
 

Er konnte nicht nach Hause, auf gar keinen Fall.
 

Aber vielleicht… sein Vater? Der würde ihn bestimmt verstehen. Sein Vater war ein richtiger Mann gewesen, sofern er sich an ihn erinnern konnte. Mama hatte gesagt, dass er jetzt mit seiner neuen Frau in Florida lebe.
 

Aber wie sollte er nach Florida kommen? Florida war ziemlich weit weg. Weit weg von zuhause, von Oma und ihrem beschissenen Sohn und der Schule und Trainer Paulis und Gus und…
 

Ein bisschen Geld hatte er von seiner Kommunion noch auf dem Konto. Und er sah älter aus, als er war.
 

Vielleicht würde er es schaffen.
 

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Brian saß zusammengesunken und bleich auf einem der orangenen Plastikschalensitze des großen Wartezimmers, als Justin schließlich keuchend ankam. Er trug eine hastig gepackte Tasche auf dem Arm und starrte Brian mit schreckensgeweiteten Augen an.
 

Brian stand auf und drückte ihn an sich, die neugierigen Blicke zweier ebenfalls wartender Frauen ignorierend.
 

Ohne Einleitung sagte er: „Er kommt in Ordnung.“
 

„Gott sei Dank!“ entfuhr es Justin. „Aber was hat er denn?!“
 

„Eine ziemliche Gehirnerschütterung. Er muss erst mal hierbleiben und wird viel Ruhe brauchen. Aber er wird keine bleibenden Schäden davontragen. Sie hatten erst befürchtet, dass auch etwas gebrochen sein könnte… der Schädel… das Genick…“
 

Justin schnappte nach Luft. Oh Gott.
 

„Können wir zu ihm?“ fragte er schließlich.
 

„Sie müssten bald mit der Untersuchung fertig sein, dann können wir zu ihm.“
 

„Ich habe die Sorgerechtsunterlagen aus dem Safe mitgebracht, falls sie sich quer stellen.“
 

„Gut.“
 

„Und hier sind deine Klamotten drin“, sagte Justin und reichte Brian ein Bündel aus der Tasche.
 

„Ja, gut. Das meiste ist auf dem Sakko gelandet. Ich ziehe mich kurz um. Ruf mich, falls der Arzt kommen sollte.“
 

„Mache ich.“
 

Brian entschwand in Richtung Waschraum, während Justin nun seinerseits auf einem der unbequemen Stühle zusammen brach. Das Zittern, das ihn seit der Nachricht heimgesucht hatte, begann sich langsam zu verflüchtigen. Gus würde wieder gesund werden, sagte er sich. Er schloss die Augen und versucht den Gedanken daran loszuwerden, was gewesen wäre, wenn dem nicht so gewesen wäre. Gus, sein kleiner Junge, sein Kind… undenkbar. Es war undenkbar. Wie hielten Eltern das aus, die so eine Nachricht erhielten? Wahrscheinlich gar nicht.
 

Brian kehrte zurück. Justin hatte ihm geistesgegenwärtig eine Kombination eingepackt, die zwischen legere und offiziell lag. Eine etwas weiter geschnittene dunkelgraue Anzugshose und ein passendes helles Hemd, aber keine Krawatte. Brian ließ sich wieder neben ihn fallen. Justin sah ihn an, dann legte er seine Hand auf Brians, die dieser unruhig in seinen Oberschenkel gekrallt hatte. Nach einem kurzen Moment ließ er locker und drehte die Handfläche, um Justins warme Hand zu ergreifen. Still blieben sie sitzen, die Zeit verrann.
 

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Joan betrat unbemerkt den Raum. Es war spät, schon fast halb zwölf. Auf der Kinderstation herrschte Nachtbetrieb, kaum jemand bewegte sich noch in den Gängen. John war nicht nach Hause gekommen. Falls er sich aus Scham versteckte – nun gut, verständlich, aber feige. Claire war am Ende ihrer Nerven. John war schließlich erst fünfzehn Jahre alt. Und es sei schließlich ein Unfall gewesen. Joan hatte Zweifel. Ein sehr merkwürdiger Unfall, in der Tat. John mochte zwar ihr Enkel sein, aber sie machte sich keine Illusionen über seinen Charakter. Er hatte diese typische Kombination aus Anmaßung und Schwäche, die so viele Männer ihrer Familie ausgezeichnet hatte. Hart zu anderen, aber weich zu sich selbst. Claire hatte schließlich bei der Polizei angerufen, die ihr jedoch nur hatten sagen können, dass es zu früh sei für eine Vermisstenanzeige. Sie sollten Freunde und Bekannte anrufen, ob er dort irgendwo aufgetaucht sei, so sei es meistens.
 

In der hinteren Ecke des Raumes saß ihr Sohn. Er hatte den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen, während er an die kleinere Gestalt seines… Partners gelehnt war, als würde der ihm die Kraft geben, aufrecht zu bleiben. Ihre Hände lagen einander umklammernd auf Brians Schenkel. Justins Blick war gesenkt, er strich sachte mit dem Daumen über Brians Handrücken. Es lag so viel Intimität in ihrem Miteinander, dass Joan hart schlucken musste. War es das? Tat Brian das aus… Liebe? Sie verstand zu wenig davon.
 

Sie räusperte sich und trat zu den beiden. Brian schreckte bei dem vertrauten Geräusch hoch.
 

„Was machst du denn hier?“ fragte er scharf, ohne Justins Hand loszulassen. Der jüngere Mann musterte sie aufmerksam.
 

„Es war John“, sagte sie nur.
 

„Was?“ fragte Brian verständnislos.
 

„Der Ball. John hat ihn geschossen. Sein Trainer hat mich informiert“, erklärte sie.
 

„Diese elende Kanalratte!“ fuhr Brian auf. „Ich hätte ihn damals wirklich im Klo ersäufen sollen!“
 

„Wirklich? So wie dein Vater dich?“ antwortete sie hart.
 

Brian schnappte nach Luft. Justin legte ihm bremsend die Hand auf die Brust.
 

„Wie geht es Gus?“ fragte sie.
 

„Er wird wieder gesund werden. Wir warten jetzt auf die Ärzte“, antwortete Justin an Brians statt, der sie mit flammendem Blick anstarrte.
 

„Gut“, sagte sie. „Ich werde wieder kommen. John ist verschwunden. Ich werde mich darum kümmern.“
 

„Mach das“, sagte Brian, „aber sorge dafür, dass ich ihn nicht vor dir finde.“
 

Joan nickte stumm. Dann wandte sie sich zum Gehen.
 

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Sie schwiegen.
 

„Dein Vater hat dich kopfüber ins Klo getunkt?“ fragte Justin schließlich.
 

„Immer wieder gerne, besonders wenn er besoffen und frustriert war.“
 

„Und du hast das mit John gemacht?“
 

„Ich war scheißwütend. Er hat mich beklaut.“
 

„Dein Vater dachte wahrscheinlich auch, dass das Recht auf seiner Seite war.“
 

„Nicht wirklich. Ich glaube, er wusste, wie erbärmlich es war. Und das hat ihm noch zusätzlichen Zunder gegeben.“
 

„Und dir?“
 

Brian senkte den Kopf. Dann sagte er: „Ich bin nicht mein Vater.“
 

„Nein, das bist du nicht.“
 

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„Mr. Taylor-Kinney?“
 

„Ja!“ erschallte es zweifach.
 

Der Arzt im grünen Kittel trat auf sie zu, während sie aufstanden, und blickte sie verwirrt an.
 

„Wir haben beide das Sorgerecht. Die juristischen Unterlagen haben wir dabei, falls das nötig sein sollte“, sagte Brian kurz angebunden.
 

Justin hielt sie ihm kommentarlos unter die Nase. Der Arzt, er mochte in seinen Dreißigern sein, dunkelhaarig und leicht angedickt, musterte sie nur kurz, dann nickte er.
 

„Würden Sie uns jetzt freundlicherweise mitteilen, wie es unserem Sohn geht?“ fragte Brian entnervt.
 

„Den Umständen entsprechend gut. Er wird ein paar Tage hier bleiben müssen, um weiterhin unter Beobachtung stehen zu können, sicherheitshalber. Danach kann er nach Hause, wird aber noch viel Ruhe brauchen. Jemand muss dann ständig bei ihm sein.“
 

Brian und Justin nickten beide. Das würden sie schon irgendwie hin bekommen, wenn es auch nicht einfach werden würde. Das Weihnachtsgeschäft bei Kinnetic brummte, und Justin arbeitete eine Reihe ausgewählter Auftragsarbeiten ab. Er würde vor den Feiertagen noch einmal nach New York fahren müssen, um sich mit den Galeristen und den Kunden zu treffen.
 

„Wir haben dafür gesorgt, dass Gus eine Weile schläft. Er war zwischenzeitlich immer wieder bei Bewusstsein, ist aber noch desorientiert. Er hat ziemliche Schmerzen und kann sich nicht recht erinnern, was mit ihm geschehen ist.“
 

„Können wir zu ihm?“ fragte Justin.
 

„Ja, das können Sie. Er schläft, aber ihre Gegenwart wird ihm gut tun. Es wäre wohl günstig, wenn einer von Ihnen bei ihm bliebe, damit er nicht alleine aufwacht.“
 

„Wir bleiben“, beschloss Brian. „Können Sie dafür sorgen, dass wir Besuchersessel in das Zimmer gestellt bekommen?“
 

„Selbstverständlich“, erwiderte der Arzt geflissentlich. Was eine üppige Krankenversicherung so alles ermöglichte…
 

„Was ist mit deiner Präsentation Morgen?“ fragte Justin. Brian hatte sie von langer Hand vorbereitet, ein neuer Kunde, Bettenhersteller, der Hotelketten belieferte und nun auch in den Einzelhandel drängte.
 

„Ist alles fertig geplant. Ich fahre morgen früh kurz nach Hause, ziehe mich um, reiße mir den Auftrag unter den Nagel und komme wieder her.“
 

„Nein. Ich hätte daran denken müssen. Ich habe Morgen Zeit und brauche meine Kräfte nicht für berufliche Dinge. Ich fahre gleich noch einmal, du sagst mir, was du brauchst.“
 

„In Ordnung. Aber lass uns jetzt zu Gus gehen, danach können wir uns um alles andere kümmern.“
 

Eine Schwester begleitete sie durch die im Nachtlicht liegenden Gänge. Ihnen rutschte das Herz in die Hose, als sie in das Krankenzimmer traten. Gus lag da, bleich, eine winzige Gestalt inmitten riesiger Kissen, von der ein Bündel Drähte zu verschiedenen Überwachungsmaschinen ausging. Sein Herzschlag war eine Linie auf einem Monitor. Selbst im Dunklen konnte man erkennen, dass seine linke Gesichtshälfte grün und blau war. Das Auge war fast völlig zugeschwollen. Leise traten sie an das Bett. Gus atmete ruhig. Vorsichtig berührten sie ihn, streichelten beruhigend über den warmen Kinderkörper, murmelten irgendwelchen Unsinn, den Gus nicht hören konnte.
 

Aber vielleicht spürte er in seinem Schlummer, dass sie da waren.
 

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Justin kehrte gegen halb Drei Uhr nachts mit einer weiteren Tasche zurück.
 

Brian schreckte aus seinem Zustand zwischen Wachsein und Schlummer auf. Er griff nach Justins Gesicht, das er über sich gebeugt wahr nahm, fühlte die feinen hellen Bartstoppeln, die sich auf Justins weicher Haut breit gemacht hatten. Aber es war gut so.
 

Gus murmelte unruhig im Schlaf. Sie beugten sich nach vorne.
 

„Papa? Justin?“ flüsterte Gus.
 

„Wir sind da. Es ist gut, Gus. Wir sind bei dir.“
 

Der Junge entspannte sich wieder und verfiel erneut in tiefen Schlummer.
 

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Johns Herz klopfte bis zum Hals.
 

Er hatte es getan. Er saß an Bord eines Überlandbusses. Er würde erst nach New York müssen und von dort würde er einen Weg weiter finden. Sein Vater lebte in Miami, mehr wusste er nicht. Es würde nicht leicht werden, ihn zu finden.
 

Aber er musste es schaffen.
 

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„Oh Gott!“ heulte Claire. „Mein armer kleiner Junge!”
 

Joan starrte sie an. Keine Spur von John, sie hatten jeden abtelefoniert, den sie kannten, alle Treffpunkte abgegrast, an denen sich John normalerweise herum trieb. So wütend sie auf John war – auch er war ihr Enkel. Und auch er war im Schatten der Kinneyschen Familienmisere aufgewachsen. Aber das entschuldigte auch nicht alles. Aus Brian war schließlich auch etwas geworden, trotz… allem. Aber John konnte Brian nicht das Wasser reichen, er hatte keinen Biss, überlegte Joan gnadenlos. Genauso wenig wie Claire. Fehler immer erst mal bei anderen zu suchen und sich selbst aus der Verantwortung zu drücken, ja, das konnten sie prima. Da waren sie selbst und Brian doch anders. Sie konnte darauf wetten, dass John mit Absicht, vielleicht aus spontaner Wut, weswegen auch immer, auf Gus geschossen hatte. Wahrscheinlich hatte er ihn keineswegs treffen wollen. Aber er hatte nicht daran gedacht, dass das trotzdem passieren könne. Und jetzt rannte er davon, statt sich der Sache zu stellen. Sicher, er war noch ein Kind, oder vielmehr ein Teenager – aber dennoch. Als Brian damals die Wurfhand des Quarterbacks mutwillig zerquetscht hatte, hatte er sich der Sache gestellt, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber dennoch… er war auch ihr Enkel, sie mussten ihn finden, bevor er sich in noch mehr Schwierigkeiten begab.
 

Jack stand im Schlafanzug in der Tür. „Ich kann nicht schlafen!“ sagte er. Seine Augen waren gerändert, auch für ihn war es ein harter Tag gewesen.
 

„Ich mache dir eine heiße Milch mit Honig“, beschloss Joan.
 

Jack setzte sich artig neben seine heulende Mutter an den Küchentisch. Er war ein stiller Junge, immer irgendwie im Windschatten seines lärmenden Bruders versunken. Auch sein Äußeres war unscheinbar, da ging er stark nach seiner Mutter. Es war doch eine Ironie des Schicksals, dass die Schönheit, der Joan das Leben geschenkt hatte, keinesfalls ihre Tochter war. Und Brian… sein… Partner… war jedenfalls nicht so eine Lusche wie Claires geschiedener Mann und die Nullen, mit denen sie sonst so ausging. Sie fand es schwer, Justin einzuschätzen. Auf den ersten Blick… aber auf den zweiten… Nein, das war keine schwache Person. Brian hatte sich, seine… Orientierung hin oder her, kein erbärmliches Anhängsel gesucht. Justin hatte Haare auf den Zähnen, das ahnte sie.
 

Jack riss sie aus ihren Überlegungen: „Vielleicht ist John ja zu Papa?“
 

„Wie…?“ fragte Claire.
 

„Hat er immer gesagt. Wenn er hier die Nase voll hat, dann fährt er nach Florida und lebt bei Papa.“
 

„Pah!“ heulte seine Mutter auf. „Warum ist euer Vater denn abgehauen? Weil er so gerne mit uns zusammen war? Da wird John aber sein blaues Wunder erleben!“
 

Jack fuhr zusammen.
 

Joan überlegte. Das war möglich. Sinnlos. Aber möglich.
 

Was machte man mit so einem Kind?
 

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Brian stand auf, um sich ein Glas Wasser aus dem Ständer zu holen. Ein stechender Schmerz fuhr durch sein Bein, er konnte sich mehr schlecht als recht gerade noch eben an der Sessellehne abfangen.
 

„Brian, alles in Ordnung mit dir?“ fragte Justin besorgt.
 

„Verdammt. Ich bin, als Gus gestürzt ist, die Tribüne über die Brüstung runter, da hat irgendwas kurz scheißweh getan. Ich dachte, es sei weg…“
 

„Du warst so auf Adrenalin, wahrscheinlich hast du es nicht bemerkt?“
 

„Kann sein. Verdammt!“
 

„Ich rufe eine Schwester, die dich runter in die Ambulanz bringt“, sagte Justin und stand auf.
 

„Nein, ich…“
 

„… will dringend ein Holzbein bekommen, um noch wilder und verwegener rüber zu kommen als sonst?“
 

„Blöder…“
 

„Abmarsch… oder –kriech, wie auch immer. Lass dir das verarzten, ich bleibe bei Gus.“
 

Brian stöhnte, halb aus Schmerz halb in der Erkenntnis, dass ihm, wenn Justin diesen Tonfall anschlug, nichts anderes übrig blieb. Das hatte er spätestens seit seiner Krebserkrankung begriffen. Der Jüngere hatte ihn nicht verlassen, hatte ihm gezeigt, dass es schon lange nicht mehr seine glanzvolle Fassade gewesen war, die ihn an Brian band. Er musste nicht perfekt sein, um von Justin geliebt zu werden. Und Justin war bereit und in der Lage, ihm kompromisslos in den Hintern zu treten, wenn seine Füße sich auf den Weg der Selbstzerstörung begaben. Oder der Aufgabe. Er erinnerte sich an die Schmerzen, an das Gefühl der Demütigung, als sein wohlgepflegter Körper ihn einfach so im Stich zu lassen drohte. Seine Identität bröckelte, sein Lebensinhalt floss dahin. Aber das war nicht wahr gewesen, nicht wirklich. Das Wesentliche war nach wie vor da gewesen. Vielleicht sogar mehr davon. Justin hatte ihn nicht losgelassen, als er, halb ohnmächtig von stundenlangen Würgkrämpfen während der Chemotherapie, auf dem Badezimmerflur hatte zusammenbrechen wollen und einfach sterben. Er hatte ihn aufgefangen, ihm das Gesicht abgewischt und ihn gnadenlos dazu angetrieben, weiter zu kämpfen, wie er selbst um Brian gekämpft hatte. Das war er, ein Kämpfer, für sich selbst, für andere.
 

Und jetzt ruhte Justins entschlossener Blick wiederum auf ihm.
 

„Okay“, sagte er schicksalsergeben, „ich bin schon unterwegs.“
 

Justin lächelte und nickte.

Blitz und Donner

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Besoffen seh' ich Kuschelhasen

XIX. Besoffen seh‘ ich Kuschelhasen
 

Craig versenkte seine Nase tief in seinen Anorak. Es waren zwölf Grad unter Null am helllichten Tage, kurz vor Weihnachten schon. Die Landschaft war von einer dicken Schneeschicht verschlungen worden, die die nächsten Monate gewiss nicht weichen wollte. Zu dieser Jahreszeit lobte er sich den Allradantrieb seines Wagens – und die Sitzheizung.
 

Fröstelnd drückte er die Klingel.
 

Fast in derselben Sekunde wurde die Tür aufgerissen. Gus blickte zu ihm auf, bereits dick eingemummt und strahle. Sein Gesicht war immer noch von einem sich verfärbenden Bluterguss gezeichnet.
 

„Hallo, Opa Craig!“
 

Craig war kurz davor, gequält die Augen zu schließen. Er war ein Mann in den besten Jahren und kein… Opa. Andererseits… das Kind nannte Jenn Oma. Da hatten sie ja was gemeinsam.
 

„Hallo Gus“, grüßte er das aufgeregte Kind.
 

„Hallo Papa“, sagte Justin, der ähnlich verhüllt wie der Rest des Trupps zu ihnen trat. Er hatte einen Rucksack dabei, in dem er vorsorglich eine Kanne mit heißem Glühwein und eine mit Kakao für Gus deponiert hatte. Der Arzt hatte gesagt, dass Gus inzwischen ein bisschen Bewegung an der frischen Luft gut tun würde. Aber er musste trotzdem noch Vorsicht walten lassen. Für den kleinen Hunger zwischendurch hatte Justin ein paar Sandwiches eingewickelt. Bevor sie sich in Bewegung setzten, griff er noch nach dem wichtigsten Objekt.
 

„Oh“, sagte Craig, „hast du dir eine neue Axt gekauft?“
 

„Hat mir der Nikolaus gebracht. Halt mal“, sagte Justin und drückte ihm das Werkzeug in die Hand, während er sich an Gus‘ Mantelverschlüssen zu schaffen machte. Als sein Vater ihn gefragt hatte, ob er ihm beim Weihnachtsbaumkauf behilflich sein könne, hatte er nach kurzem Zögern zugestimmt. Sie waren weit davon entfernt, vergessen zu haben, was über die Jahre gewesen war. Aber wenn er eine gewisse Annäherung nicht kategorisch ablehnen wollte – und das tat er nicht, auch wenn es sein erster Reflex gewesen war – dann konnte eine gewisse Alltäglichkeit im Umgang miteinander nicht schaden. Sie würden ja sehen, wohin das führte.
 

Craig wog das Gerät in der Hand. „Perfekt“, sagte er anerkennend.
 

„Ja, echt nicht übel“, meinte Justin, als er seinem Sohn die Kapuze festzurrte.
 

Im Wagen wand sich Gus überrascht. „Der Sitz ist ja warm“, stellte er überrascht fest.
 

Craig musste grinsen: „Gemütlich, was?“
 

„Total, Opa Craig!“
 

Schon wieder „Opa“… aber was sollte es. Ein Kind von sechs Jahren konnte sowieso kein Alter einschätzen.
 

Craig kutschierte sie aus der Stadt hinaus zu einem Areal, in dem Bäume zum selber Umhauen gezüchtet wurden. Es war ein altes Ritual. Als Justin noch ein Kind gewesen war, waren sie jedes Jahr hierhin gefahren, um einen Weihnachtsbaum zu schlagen. Und jetzt… hatte Justin selbst ein Kind.
 

Craig musste sich ja eingestehen, dass der Kleine ausgesprochen niedlich war in seiner begeisterten Art. Er fühlte, wie sie von allen Seiten wohlwollend gemustert wurden. Opa, Papa und Enkel, hach, wie putzig. Wenn die von den wirklichen Verhältnissen wüssten… Aber vielleicht war es einigen von denen auch egal? Es hatte auch viele gegeben, die sich gegen Antrag 14 gestemmt hatten, obwohl sie keinesfalls selber schwul gewesen waren…
 

Er spazierte mit seinem Sohn und Gus durch die Baumreihen, diskutierte über unterschiedliche Arten, Exemplare, Formen. Sie notierten sich den Standort der Bäume, die infrage kommen mochten. Justin verteilte die Sandwiches und füllte die Getränke in Becher. Craig musste noch fahren, deshalb hielt er sich mit Gus an den Kakao, aber Justin langte ordentlich zu, bis ihm eine gewisse Röte im Gesicht stand. Als sie sich endlich auf einen Baum geeinigt hatten, zog es Craig vor, selber die Axt zu schwingen, als seinem reichlich angesäuselten Sprössling das Werkzeug zu überlassen. Gus feuerte ihn an.
 

Gemeinsam schleiften sie den Baum zum Auto und banden ihn in altbewährter Taylor-Technik auf dem Dach fest.
 

„So“, sagte Justin, der aufgrund der Kälte oder des Alkohols eine leicht rötliche Nase zeigte, „und nun das Beste zum Schluss!“ Er ergriff Gus‘ Hand und steuerte zielstrebig den Stand mit den Schokoladenwaffeln an. Craig schüttelte etwas verstört den Kopf. Er sah sich selbst mit seinem kleinen Sohn an der Hand dort hinüber gehen, wie er es vor vielen Jahren mit Justin getan hatte.
 

Ein paar Minuten später kamen Justin und Gus wieder zurück, die dampfenden Waffeln in den Händen. Justin balancierte eine weitere für seinen Vater und hatte sich obendrein noch ein weiteres Heißgetränk gegönnt, das zünftig nach Alkohol roch. Irgendetwas mit Apfel. Gus tollte durch den Schnee und unternahm Versuche, größere Kugeln zu formen.
 

„Bauen wir einen Schneemann, Justin?“ fragte er, das Gesicht mit Schokoladensoße bekleckert. Eigentlich sahen sie alle so aus.
 

„Zuhause im Garten, Gus. Da liegt der Schnee noch dick und frisch und ist nicht so zermatscht.“
 

„Ich möchte mich bedanken, für die Einladung und… das hier“, sagte Craig übergangslos.
 

Justin schaute ihm durch den Schlitz zwischen Schal und Mütze an. Seine Augen zeugten von seinen angeheiterten Zustand. Früher hatte Craig sich hier immer die Kante gegeben, Jennifer war gefahren.
 

Justin pustete in seinen Becher: „Schon okay, Papa“ sagte er.
 

„Deine Mutter wird auch kommen?“ fragte er vorsichtig im Angesicht der Weihnachtsfeier, die Brian und Justin angesetzt hatten.
 

„Klar, Molly auch.“
 

„Und… noch wer?“
 

„Sicher. Brians Mutter kommt auch. Die ist auch total durchgedreht, als sie rausgefunden hat, dass Brian schwul ist. Da befindest du dich also in guter Gesellschaft.“
 

Craig biss sich in die Unterlippe. Daran hatte er noch gar nicht gedacht… dass Brian ja auch Familie haben musste… Eltern… Er meinte, sie während seiner Lehrzeit einmal gesehen zu haben. Mrs. Kinney war eine Schönheit gewesen, das war der Grund, warum er sich nach so langer Zeit noch erinnerte. Eine eiskalte Schönheit mit harten grauen Augen unter unglaublich langen Wimpern, die eine Mädchenhaftigkeit ausstrahlten, die ihre Haltung Lügen strafte. Brians Wimpern. Ja, das musste wohl seine Mutter gewesen sein. Wenn er dagegen an Jennifers Wärme und Herzlichkeit dachte…
 

„Was ist mit seinem Vater?“
 

„Ist vor ein paar Jahren gestorben.“
 

Sie schwiegen kurz.
 

Dann wagte Craig sich erneut vor: „Und wer kommt noch?“
 

„Freunde von uns. Daphne kennst du ja.“
 

„Sicher. Was macht sie denn jetzt?“
 

„Studiert Medizin in Chicago. Sie hat jetzt schon einen Platz fürs Promotionsstudium, irgendetwas mit Gentechnik.“
 

„Schön. Sie war ein kluges Mädchen.“
 

„Ist sie auch heute noch.“
 

„Aber kein Mädchen mehr, oder?“
 

„Nein, wohl nicht… Eine junge Frau. Den Rest kennst du wohl nicht… Debbie Novotny und ihr Freund Carl, ein Polizist. Ich habe länger bei Debbie gewohnt, nachdem du mich rausgeschmissen hattest, im alten Kinderzimmer ihres Sohnes, Michael. Der kommt auch, zusammen mit seinem Mann und ihren beiden Kindern, James und Jenny. Jenny ist Gus‘ Schwester, die Tochter der Ehefrau von Gus Mutter, die allerdings einen anderen Vater – Michael – hat…“
 

Craig drehte sich der Kopf, obwohl er stocknüchtern war. Hinter all dem steckte so viel Geschichte, Justins Geschichte, von der er keine Ahnung hatte.
 

„… und dann kommt noch Ted, vielleicht mit seinem Freund. Ted ist Brians rechte Hand bei Kinnetic…“
 

„Das ist Brians Firma?“
 

„Ja, mittlerweile eine der größten Werbefirmen in Pitts... und Gus Großeltern, Nathalie und Russel Peterson, die Eltern seiner Mutter, auch nicht gerade die größten Schwulen-Fans des Planeten, aber sie reißen sich zusammen… und Emmet.“
 

„Emmet kenne ich!“
 

Justin starrte ihn verwirrt an: „Woher kennst du denn Emm?“
 

„Bin ihm Mal bei deiner Mutter begegnet. Er hat mich mit zurück in die Stadt genommen… Eigentlich verdanke ich es ihm, dass ich heute hier stehe.“
 

Justin war offensichtlich verdattert. Dann schüttelte er mit einem unterdrückten Lächeln den Kopf: „Emmet also, sieh an… Emmet ist ein guter Mensch. Und ein guter Freund. Es gehört schon eine ganz schöne Portion Mut dazu, so rumzurennen, wie er das konsequent tut. Muss ein interessantes Gespräch gewesen sein.“
 

„Das… war es. Aber… warum läuft er dann so rum…?“
 

Craig dachte an Emmets Freizeit-Outfit, als er ihn zuhause überfallen hatte. Seine Zehennägel hatten sich leicht gekräuselt gehabt. Aber er war diesem komischen Vogel schon ziemlich dankbar, auch wenn es ihm überhaupt nicht in den Sinn gehen wollte, wie man als Mann… sowas erotisch finden könnte.
 

„Wie eine Zielscheibe, meinst du?“
 

„Nun ja, du rennst ja auch nicht so rum. Und Brian doch auch nicht?“
 

Kurz musste Justin auflachen bei dem Gedanken von Brian in Emmets Klamotten. Obwohl… von der Größe würden sie wahrscheinlich passen… Allerdings würden sie Brian dafür vorher mit einem Narkosegewehr niederstrecken müssen. „Nein. Wir rennen nicht so rum wie Emmet. Weil wir das nicht wollen. Aber Emmet will es. Und er macht es. So einfach ist das.“
 

„Aber… warum?“
 

„Weil er kein Feigling ist? Weil er sich so gut fühlt, richtig? Sollte nicht jeder die Freiheit besitzen, sich zu kleiden, wie er oder sie es gerne möchte? Die Geschmäcker unterscheiden sich nun Mal. Und denke daran, ich musste nicht in einer rosa Leggins mit Federboa um die Ecke gestöckelt kommen, um eins übergebraten zu bekommen.“
 

„Nein, aber er hat mit dir getanzt…“
 

„Wir, Papa, wir haben getanzt. Es war mein verdammter Abschlussball. Ich wollte keine Scharade. Ich wollte ihn mit der Person genießen, die ich geliebt habe. Und immer noch liebe. Und diesen ganzen bigotten Arschlöchern zeigen, dass sie mich Mal können. Und jetzt sag nicht, dass ich die Quittung dafür bekommen habe.“
 

„Du – und er – haben die Gefahr unterschätzt. Aber ich sage nicht, dass es eure Schuld gewesen ist.“ Soviel hatte er immerhin gelernt.
 

„Was sollen wir denn sonst tun? Uns in dunklen Ecken verstecken? Wir sind auch… normal. Nicht krank. Nicht verwirrt. Oder sonst irgendetwas. Einfach normal! Glaube mir, rennen hilft gar nichts. Die Gefahr ist immer da, immer, dass irgendein Idiot einen zum Ziel seiner beschränkten Hassfantasien macht. Entweder man lebt damit oder man fristet sein Dasein im Versteck, auf immer unglücklich. Oder man prügelt zurück. Ich habe es ausprobiert. Es mag kurzfristig gut tun, den Typen in den Arsch zu treten, die glauben, man habe das Wort „Opfer“ auf die Stirn tätowiert, sei schwach, weibisch, ein Fußabtreter für alle Zwecke – aber dadurch löst man nur die nächste Lawine aus. Das einzige, was bleibt, ist weiter zu machen. Es geht nicht darum, idiotisch zu provozieren. Es wird immer ein paar Unbelehrbare geben. Und immer Pech. Aber ich, wir, möchten auch nur leben, ohne ständig bibbernd im Eckchen zu sitzen. Und das werden wir auch tun, bis es auch der Letzte kapiert hat!“
 

„Du kannst ja mit mir anfangen“, bot Craig an.
 

„Ich bin dabei“, erwiderte Justin mit einem scharfen Blick.
 

„Sag mal“, wechselte Craig das Thema, „hat deine Mutter eigentlich… einen Freund?“
 

Justin beäugte ihn misstrauisch und goss den letzten Schluck seines Getränkes in sich hinein. Gus hatte sich derweil mit einem kleinen, ganz in einem rosa Skianzug eingewickelten Mädchen seines Alters zusammengetan, das ihm half, seine Schneekreationen zu realisieren. Früh übt sich, was ein Herzensbrecher werden will, dachte Justin.
 

„Wieso fragst du?“ sagte er schließlich verhalten.
 

„Ich habe sie gesehen. Mit so einem jungen Rockertypen.“
 

Justin verzog das Gesicht. „Tucker.“
 

„Du weißt, wer das ist?“
 

„Ja“, sagte er leicht gequält, „Mamas Freund seit etwa einem Jahr oder so.“
 

Craig wurde übel. Ein Jahr?! Das ging schon ein Jahr?!
 

„Du magst ihn nicht“, stellte Craig zielsicher fest.
 

Justin wand sich: „Er ist eigentlich kein übler Kerl.“
 

„Ist der nicht ein wenig jung für sie?“
 

„Was soll ich denn da sagen?“
 

„Bist du etwa Brians… wie sagt man? Toyboy?“
 

„Nein!!!“
 

„Und was ist das da mit deiner Mutter?“
 

„Oh Gott, bitte nicht!“
 

„Was?“
 

„Sie heiratet den doch nicht!“
 

„Und wenn doch, sie ist doch eine freie Frau?“
 

„Aber den doch nicht!“
 

Mehr musste Craig nicht wissen. „Kommt er auch Weihnachten?“ fragte er geflissentlich.
 

„Eher nicht“, antwortete Justin säuerlich.
 

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Brian riss die Augen auf, als die Scheinwerfer der Corvette auf das Monstrum fielen, das sich vor der Eingangstür breit gemacht hatte.
 

Er schnappte sich seine ledernde Aktentasche und eilte ins Innere. Der elegante Hugo Boss Mantel umschmeichelte ihn, auf der Fahrt hätte er ihn allerdings gerne mit einem Eskimoanzug vertauschen wollen. Wärme schlug ihm entgegen. Es war halb elf, Gus lag bereits in tiefem Schlummer. Im Wohnzimmer brannte der Kamin, dass ein flackerndes Licht durch den Türspalt in die Eingangshalle fiel. Er trat ein. Der noch ungeschmückte Weihnachtsbaum verbreitete sein harziges Aroma. Brian fühlte sich kurz beklommen… Weihnachten, ein Fest voller hohler Rituale, falscher Freundlichkeiten und schäbiger Geschenke… Aber nicht hier. Das würde ihr Weihnachten werden. Ob man dran glaubte oder nicht. Aber er hatte ja jetzt… Familie. Unglaublich. Einfach unglaublich. Neu. Fremd. Aber irgendwie auch gut.
 

Sein blonder Ehemann lag rücklings vor dem Kamin auf dem Boden und zeichnete leise summend mit den Fingerspitzen die Schatten des flackernden Feuers nach. Neben ihm stand ein Becher, der verdächtig nach Glühwein roch.
 

Brian trat hoch aufragend an ihn heran.
 

Justin lächelte und streckte die Hand nach ihm aus.
 

Brian rührte sich nicht. „Ich frage jetzt einfach mal aus reiner Neugierde“, sagte er. „Hast du diese pornografische Schneefiguren in unseren Vorgarten gepflanzt?“
 

Justin kicherte: „Kann sein.“
 

„Du bist betrunken.“
 

„Aber sowas von! Ich war mit meinem Alten den Baum schlagen, das ist Taylorsche Familientradition!“
 

„Sag mir bitte, dass du das nicht zusammen mit Gus gebaut hast.“
 

„Am Anfang schon…“
 

„Justin…!“
 

„… wir wollten zwei Weihnachtshasen bauen, aus Spaß. Hat nicht so gut geklappt. Und nachdem Gus ins Bett ist, habe ich ein wenig nachgebessert…“
 

„Und so sind durch reine künstlerische Intuition zwei fickende Weihnachtshasen draus geworden, auf deren Schwänze – und nicht die hinten - Jeff Stryker neidisch wäre?“
 

„Haargenau!“
 

„Na, dann bin ich ja beruhigt.“ Da sollte einer Mal sagen, dass sein Leben langweilig sei. Er konnte garantieren, dass Zen-Ben Michael nicht mit solchem Alltagswahnsinn auf Trab hielt. Das hatte man davon, mit einem Avantgarde-Künstler verheiratet zu sein. „Nicht, dass ich dein Genie nicht zu schätzen wüsste, Justin Buonarotti, aber in ein paar Tagen kommt meine Mutter hier vorbei geflattert, gefolgt von den Petersons, deine Eltern und… naja, der Rest fände deine künstlerischen Ergüsse wahrscheinlich gut. Vielleicht könntest du dein Meisterwerk ja in Richtung Jungfer mit Einhorn uminterpretieren, das würde Debbie immer noch gefallen?“
 

„Pah, du beraubst mich meiner künstlerischen Freiheit! Ich bin gekränkt! Und Jungfrau mit Einhorn – versauter geht es doch kaum, denn wozu hat denn das Einhorn eigentlich das eine Horn?!“
 

„Okay, kein Hetenkitsch mit Deflorationssehnsüchten. Aber irgendetwas, was nicht gerade einen Schwanz in einer Körperöffnung stecken hat oder das gerne hätte?“
 

„Schwer… das überschreitet meinen Erfahrungshorizont. Aber ich stelle mich natürlich gerne neuen Herausforderungen.“
 

Justin rappelte sich vom Boden auf und ergriff Brians Hand.
 

„Hey, was wird das?“ protestierte dieser.
 

„Wir bauen jetzt die Schneehasen um, du hast ja drauf bestanden“, stellte Justin gut gelaunt fest.
 

„Ich werde garantiert nicht…!“
 

„Klar wirst du!“
 

„Ist das die Strafe für das Date?“ fragte Brian, während er sich von Justin in seinen Mantel zurückgestopft fand.
 

Justin schniefte. „Wie war es überhaupt?
 

„Ätzend. Gott sei Dank ist uns ein Golf-Kumpel von ihm über den Weg gelaufen, der nicht weichen wollte. Als Plan B hatte ich einen Panikanruf von Ted in der Tasche, dass ich dringend in der Firma gebraucht würde. Aber so hielt es sich Gott sei Dank im Rahmen.“
 

„Hat er dir Blumen mitgebracht?“ stichelte Justin.
 

Brian musterte ihn strafend, dann sagte er grinsend: „Du schenkst mir ja nie welche.“
 

Justin lachte: „Du? Willst? Blumen?“
 

„Vielleicht… Eine Schwäche für eine ganz bestimmte Knospe von dir habe ich auf jeden Fall…“
 

„Mmm, die schenke ich dir gerne“, murmelte Justin und drückte sich mit der Überschwänglichkeit eines Betrunken an ihn. „Aber nicht jetzt, jetzt wird gearbeitet!“
 

„Aber ich kann nichts modellieren, das ist dein Job! Außerdem kann ich noch gar nicht wieder richtig laufen!“ protestierte Brian.
 

„Du kannst ein Konzept entwerfen, wie wir unseren Vorgarten besser vermarkten können.“
 

Justin hatte sich derweil dick eingemummelt. Er schnappte sich einen wüst gefärbten dicken Wollschal, den Debbie ihm gestrickt hatte, und wickelte ihn um seinen dünn gewandeten Gatten.
 

„Krieg ich jetzt auch ein Zuckerstückchen, wenn ich schon aussehe wie ein Zirkusgaul?“ fragte Brian in gespieltem Missmut.
 

Justin beugte sich zu ihm rüber und küsste ihn. Er murmelte: „Dieses Zuckerstückchen hat sogar noch Kalorien verbrannt.“
 

Brian lachte. Den ganzen Tag über hatte er den Boss raus hängen lassen müssen – und hatte es genossen. Und dann sich noch diesen Matratzen-König vom Leibe halten, ohne ihn zu verprellen. Aber jetzt… Er hatte dieses Bild vor sich, dass sein Inneres aus Popcorn bestand, das freudig vor sich hin knallte. Heiter und leicht. Dieser besoffene kleine Blondschopf ließ jede seiner Fasern vor Freude hoch und runter springen wie bescheuert. Auch wenn er sein Outfit versaute. Oder den Vorgarten. Oder seinen Plan, als Ikone unterzugehen.
 

Justin hopste vor ihm die Stufen hinunter, rutschte aus und purzelte in den Schnee. Prustend, seine Misere ignorierend, kam er wieder hoch. Etwas in Brian lachte immer noch. Aber nicht aus Schadenfreude, sondern angesichts dieses Übermutes, dieser Energie, dieses Willen zum Chaos. Hinter seinem Rücken griff er in den Schnee.
 

Justin spazierte mit kritischem Blick um sein Werk herum. Es war verblüffend gut gelungen, das musste Brian zugeben. Zwei fickende Hasen mit Bommelmützen und riesigen Schwänzen… Jeff Koons wäre neidisch.
 

„Vielleicht, wenn ich die Schwänze abnehme und sie einfach nur kuscheln lasse?“ fragte Justin. Dann traf ihn etwas. Überrumpelt und mit Schnee garniert blieb er stehen „Du… du hast mir einen Schneeball verpasst… du!“ brachte er hervor.
 

Brian konnte sich kaum halten. Was war mit ihm los? Hatte dieser Lance ihm Extasy in den Weißwein gekippt, um ihn willenlos abschleppen zu können? Wohl eher nicht, denn das wäre höchstwahrscheinlich eine ungünstige Ausgangslage für eine innige Beziehung…
 

Justin kam auf ihn zugestürmt und schubste ihn in den Schnee, geschickt sein Bein schonend.
 

Brian lag rücklings in der weißen Pampe und lachte hemmungslos. Das war der Hauptgrund, warum er Justin niemals ans Bett gefesselt hatte, wie Trick-Ben, Trick-Verkehrspolizist, Trick-Sonstwer. Er bekam immer alles zurück. Und ob er das wollte –
 

Justin saß auf ihm und ließ mit einem sadistischen Grinsen eine volle Hand Schnees in sein Gesicht segeln. Brian versuchte ihn abzuwehren, aber Justin war schneller. Er prustete. Und musste immer noch lachen.
 

Justin schaute ihn mit warmen Augen an und strahlte, ohne sich dagegen wehren zu können. „Was ist los, was lachst du?“ fragte er.
 

Brian griff seinen Nacken und zog ihn herab zu sich. Es war beschissen kalt und sie waren mit Schnee besudelt, der auf ihnen schmolz. Justins Haare waren in den Spitzen gefroren. Aber es war egal.
 

Justin starrte in Brians wunderschöne, weit aufgerissene Augen, die im diffusen Licht der Außenbeleuchtung dunkel schimmerten. Riesig unter einem Kranz fast unnatürlich langer Wimpern.
 

„Ich liebe dich, Brian“, sagte er und küsste ihn weich auf die Lippen. „Ich liebe dich, du Riesenidiot.“
 

Brian wollte reflexartig gegenschießen, dass alles vergänglich sei. Romantisches Gelabere. Aber es traf. Er wollte das. Er wollte geliebt werden, sicher sein, dass es nicht zerrann wie Sand zwischen den Fingern. Dass es eine Zukunft gab. Er konnte es nicht wissen. Aber er konnte es… glauben. Jahre waren vergangen, aber Justin war immer noch da. Nah bei ihm. Am Beginn hatte Justin versucht, seine Liebe an Bedingungen zu knüpfen. Das hatte Brian nicht gekonnt und nicht gewollt. Aber er konnte es jetzt ohne Bedingungen, ohne Regeln. Weil er es wollte. Weil er ihn wollte. Weil er eine Familie hatte. Er war nicht mehr… allein. Und das Popcorn in ihm sprang immer noch auf und nieder, als Justin, frostig und nass, ihn erneut küsste.
 

„Was ist jetzt?“ fragte er Brian und schenkte ihm einen seiner ganz besonders fürchterliche Augenaufschläge: „Soll ich die Kuschelhasen machen?“
 

„Mir wird etwas unwohl bei dem Gedanken…“
 

„Gus wollte Kuschelhasen“, stellte Justin breit grinsend klar.
 

„Ich würde zwar eigentlich deine Porno-Version bevorzugen, aber wenn Gus das will…“
 

„Du sagst es. Und deine Mutter steht wahrscheinlich auch nicht so recht auf schwule Karnickel…“
 

„Da ist sie leider nicht die Einzige. Obwohl ihr Gesichtsausdruck die Sache fast wert wäre. Sie schafft es bestimmt, den Schnee allein mit ihrem Blick zum Schmelzen zu bringen.“
 

Justin machte sich an die Arbeit, während Brian fasziniert seinen Bewegungen folgte. Zielstrebig, versunken, auch bei so einer Beschäftigung in reichlich angesäuseltem Zustand.
 

Brian knabberte von dem Popcorn in seine Innenleben, während er Justin beobachtete. Er fühlte sich, als sei er bekifft. Nur besser. Er liebte Justin, das wusste er mit felsenfester Sicherheit. Aber das… ein wenig wie am Anfang, als er sich verzweifelt immer wieder gefragt hatte, warum dieser minderjährige Twink ihn jedes Mal wieder entgegen aller Regeln oder besseren Wissens herum bekommen hatte. Obwohl Justin völlig unerfahren gewesen war. Obwohl er eigentlich gar nicht sein Typ war. Obwohl er sich nie hatte verlieben wollen. Aber wenn Justin ihn so angelächelt hatte… wenn er ihm seinen Körper geschenkt hatte… und das Geräusch, als Hobbs Schläger Justins Schädel hatte brechen lassen… Er konnte es noch heute hören. Und als Justin damals mit seiner Kreditkarte nach New York abgehauen war, und er ihn geschnappt hatte – er hätte ihn in den Bubble Butt treten sollen, dass er bis nach Mexico geflogen wäre. Aber stattdessen – Linds hatte schon Recht gehabt, auch wenn er das niemals hätte zugeben können. Das Einzige von Bedeutung, das fehlte, nachdem man ihm die Wohnung leer geräumt hatte, war Justin gewesen. Nicht seine Designermöbel, nicht seine Armani-Klamotten. Sondern Justin. Eigentlich hatte er ihn postwendend an seinen blonden Wuschelhaaren wieder zurück nach Pitts schleifen wollen. Aber dann hatte diese kleine Kanaille, die gerade gnadenlos sein Geld verprasste, plötzlich seinen verkackten Bademantel von sich geworfen. Und vergessen waren alle guten Vorsätze gewesen. Er hatte nur noch die milchig weiße Haut, die perfekten Proportionen, die haargenau zu seinem eigenen Körper passten, den einladend zuckenden Schwanz inmitten der weichen blonden Schamhaare gesehen. Justin hatte ihn nicht geküsst, nicht sofort, sondern war provozierend an ihm herab geglitten, hatte ihn auf die Folter gespannt, ihm eiskalt in die Brustwarze gebissen, dass es ihn bis ins Mark durchfahren hatte. Keine Spur von Unterwürfigkeit oder dem Betteln um Verzeihung – oder gar eines schlechten Gewissens. Justin hatte bekommen, was er wollte. Ein Schalter in seinem Hirn war umgesprungen. Er wollte ihn. Es war das Dämlichste, was er hätte tun können, wenn er den kleinen Blödmann hätte loswerden wollen. Besonders nach der Nummer, die er sich erlaubt hatte. Er erinnerte sich noch heute an das Gefühl, als er endlich – endlich – wieder in Justin versunken war. Er hatte ihn geküsst wie ein Wahnsinniger, während sein Schwanz erlöst in Justins Inneres hineingefahren war. Nichts fühlte sich so an wie das. Gar nichts. Aber es hatte ihm eine Scheiß-Angst gemacht. Er hatte es nicht begriffen. Er war verrückt nach Justin gewesen, aber nur sein Körper hatte Wege gefunden, das zu zeigen und zu genießen. Und sein Körper war ihm ein Werkzeug gewesen, es bloß nicht eingestehen zu müssen. An die Dinge, die er damals mit seinen Tricks getrieben hatte, konnte er sich nur verschwommen erinnern. War es damals gewesen – oder im Jahr davor oder danach oder doch mit einem anderen Kerl? Es spielte keine Rolle. Aber mit Justin – jedes verschissene Detail hatte sich in sein Hirn eingebrannt. Er hatte sich, mit fast Dreißig Jahren in diesen zwölf Jahre jüngeren, zierlichen, wilden Jungen verliebt gehabt.
 

War es das etwa jetzt? War er… verliebt? War er verliebt in die Person, die er liebte? Konnte das mehrfach passieren? Nach all der Zeit der Trauer und der raschen, teils erzwungenen Umstellungen, war es plötzlich wieder geplatzt. Als er Justin damals getroffen hatte, hatte er dergleichen gemieden wie die arme Seele den Teufel. Vielleicht hatte er es verlernt oder aber niemals gelernt gehabt. Er war nie verliebt gewesen. Er war scharf auf den oder jenen Typen gewesen. Aber das war es auch gewesen, keine Nähe. Berührung nur Haut an Haut.
 

Aber jetzt… Er konnte es zulassen. Niemand von Bedeutung würde ihn deswegen krumm anschauen. Und wenn doch, dann konnte derjenige ihn Mal. Er würde nicht abgewiesen werden, seine Liebe blieb nicht unerwidert. Justin… gehörte ihm. Mit Leib und Seele. Und weniger konnte er ihm auch nicht geben. Und das machte ihn wahrscheinlich genauso besoffen, wie Justin es gerade war.
 

Justin war fertig. Das Endergebnis waren zwei auf ihre stereometrischen Grundformen reduzierte Mümmler mit Weihnachtsmannmützen, die Arm in Arm standen. Zwar irgendwie noch anzüglich, aber auf eine sehr dezente Art, die auch Zufall sein könnte.
 

Brian trat, inzwischen völlig durch gefroren, zu ihm hinüber. Von hinten schloss er die Arme um ihn.
 

„Und? Findet das Gnade vor deinem Angesicht?“ fragte Justin.
 

„Nicht nur das“, erwiderte Brian und zog Justin an sich.
 

Justin fühlte, wie ihn Brian warm umhüllte. Brians Lippen wanderten seine bloß liegende Wange hinab, bis er seinen Mund erreichte und ihn langsam küsste. Eine Woge des Glücks durchströmte ihn.
 

„Ich dich auch“, murmelte er an Brians Hals.
 

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Lance Whinefourt lächelte, als Kinney ihm an der Tür des separaten Zimmers die Hand schüttelte, das Kinnetic im Ambrosio’s, einem der elegantesten italienischen Restaurants Pittsburghs, für ihre Firmenfeier gebucht hatte. Direkt vor Weihnachten war das gewiss nicht einfach gewesen, eine derart kurzfristige Reservierung zu bekommen. Es sprach für die Firma – und ihren Boss – dass es ihnen offensichtlich gelungen war.
 

Hinter ihm trat Marlene Isleton in den Raum, seine an den Verhandlungen wesentlich beteiligte rechte Hand, gefolgt von ihrem Mann Rico. Kinney hatte die Einladung formvollendet natürlich auch für die Partner der Geladenen ausgesprochen. Es ging schließlich auch um das Schaffen einer persönlichen Atmosphäre. Ob Kinneys Frau auch hier sein würde? Der Ehering war ihm nicht entgangen. Aber sein Gaydar hatte bei dem schönen Werbefachmann sofort eindeutiges Signal gegeben. Er könnte eine Hand dafür ins Feuer legen, dass Kinney schwul war. Wahrscheinlich brauchte er nur einen kleinen Schubser in die richtige Richtung… War wahrscheinlich nicht einfach in seiner Position, vor allem mit Familie. Er hatte Kinneys Sträuben durchaus bemerkt, als er ihn zu etwas hatte locken wollen, was in den Augen der Hetenwelt ein Geschäftsessen, aber in seiner vor allem ein Date war. Aber schließlich hatte er zugesagt. Wenn ihnen dieser Idiot Jeffrey mit seinem Golfclub-Gelabere nicht in die Quere gekommen wäre, hätte er Kinney… Brian… ordentlich auf den Zahn fühlen und ihm ein wenig… näher kommen können. Er wusste, er sah recht gut aus, aber Brian war die absolute Wucht. Er war nicht nur physisch ausgesprochen ansprechend, sondern besaß einen wachen Verstand, ausgeprägten Geschäftsinn und eine jede Faser durchdringende elegante Dynamik. Brian erschien Lance wie eine Raubkatze, ein Panther, geschmeidig, wild und wunderschön. Und sie standen in ähnlichen Positionen im Leben. Lance letzte Beziehung war daran zerbrochen, dass sein Partner, ein technischer Zeichner, nicht mit Lance Wohlstand klar gekommen war. Es war egal gewesen, wie sehr es betonte, dass es nicht so sei, Bill hatte sich wie ausgehalten gefühlt. Schlussendlich waren sie zu verschieden gewesen, hatten in unterschiedlichen Welten gelebt. Aber Brian… Brian passte, Brian war perfekt. Und unglaublich begehrenswert. Wahrscheinlich ein Top, aber man konnte nie wissen. Lance war es egal, er war da für alles zu haben. Er hatte keinen Bock mehr, sich von einem One Night Stand zum nächsten zu hangeln, er wollte einen Partner, eine Zukunft…
 

Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Jonathan, der Chef der Marketingabteilung, unterhielt sich gemeinsam mit seiner dürren, prinzipiell nur Chanel tragenden Frau mit Brians Stellvertreter Schmidt. Brians Assistentin Cynthia Roberts plauderte mit einem großen schwarzhaarigen Mann mit Intelektuellenbrille, der ihr Begleiter zu sein schien, und einem jungen blonden Mann mit Wuschelfrisur, der mit dem Rücken zu ihm stand. Lance hatte ihn noch nie gesehen. Jemand aus der Grafikabteilung? Er musterte ihn verstohlen. Ein sehr einladender Hintern steckte in der weit geschnittenen Hose, erkannte er mit Kennerblick.
 

Brian trat auf ihn zu. Er lächelte und Lance rutschte das Herz in die Hose.
 

„Ich bedanke mich schon einmal für die Einladung. Das Ambrosio’s ist eines meiner Lieblingsrestaurants“, eröffnete Lance das Gespräch.
 

„Es ist schön zu hören, dass Sie sich hier wohl fühlen, besonders da wir ja auch hier sind, um uns alle in etwas weniger geschäftsmäßigem Rahmen ein wenig zu amüsieren“, blinzelte Brian ihm zu.
 

Himmel, was für Augen, was für ein Mund! Lance riss sich zusammen.
 

„Das werden gerade wir beide wohl müssen. Ich bin zur Zeit ungebunden, und daher ermangle ich eines Tischpartners und Sie…? Keine der hier Anwesenden scheint ihre Ehefrau zu sein…?“ ging Lance auf Tuchfühlung.
 

„Ehefrau?“ fragte Brian mit erstaunter Miene.
 

„Äh, ich dachte, wegen des Rings…“, erwiderte Lance verwirrt mit einem Nicken zu Brians Hand.
 

Brian lachte leise auf und schüttelte den Kopf: „Oh, da handelt es sich wohl um ein Missverständnis…“
 

In Lance frohlockte alles.
 

„… ich schreie es zwar nicht von den Dächern, aber es ist auch kein Staatsgeheimnis, dass ich der Damenwelt nicht gerade zugetan bin. Moment…“
 

Hatte er doch Recht gehabt! Besser konnte es doch gar nicht laufen!
 

„… Justin, kommst du mal her?“
 

Lance verfolgte verständnislos, wie der junge Blonde von der anderen Seite des Raumes aus auf sie zugesteuert kam. Jetzt sah er auch die Vorderseite. Eine eher zierlicher Typ, aber ansprechend. Und ein Gesicht, das aussah wie die Lexikonabbildung zum Stichwort „blonder Twink“: blauäugig, stupsnasig, geschwungene rosige Lippen, hohe Wangenknochen. Er zeigte ein verbindliches Lächeln und entblößte dabei perfekt stehende, strahlend weiße Zähne.
 

Brian schlang wie selbstverständlich einen Arm um die Schulter des Jüngeren und sagte freudestrahlend: „Lance, darf ich Ihnen meinen Mann vorstellen?“
 

Ehe er sich versah, schüttelte der Blonde ihm die Hand und stellte sich heiter vor: „Justin Taylor-Kinney.“
 

„Lance Whinefourt“, erwiderte Lance betäubt. Taylor-Kinney? So hatte Brian doch auch die Verträge unterzeichnet… Oh Gott. Das war doch jetzt nicht wahr.
 

Er hörte sich selbst sagen: „Sie arbeiten auch bei Kinnetic?“
 

Brians Mann schüttelte den Kopf: „Nein, ich bin freischaffender Künstler.“
 

„Und ein verdammt Guter!“ ergänzte der Traum seiner schlaflosen Nächte und drückte den Kleineren locker an sich.
 

Gott sei Dank war er Zeit seines Lebens darauf gedrillt worden, in Krisensituationen die Fassung zu bewahren. Auch wenn diese ihm innerlich gerade völlig abhanden gekommen war. Brian war keine Klemmschwester… der hatte allen Ernstes einen Kerl geheiratet und schleppte ihn aufrechten Hauptes zum Firmenessen mit! Das hätte er selbst nie gebracht. Sicher, homosexuelle Ehen galten in diesem Bundesstaat nichts, aber das konnte – und würde, das hoffte er – sich ändern. Aber es gab nach wie vor Leute, die das rundweg ablehnten, die ihnen dieses grundlegende Recht absprachen. In diesem Sinne fühlte er plötzlich so etwas wie Bewunderung für den anderen Mann. Er brachte seinen Partner mit, als sei das das Normalste der Welt, wohl wissend, dass er auf grobe Ablehnung stoßen konnte. Aber wenn Brian offen schwul lebte, dann hatte er seine Annäherungsversuche garantiert kapiert. Lance schoss das Blut in den Kopf. Das hier war auf ihn gemünzt. Das hier war das ultimative „Finger weg!“.
 

Er musterte Brians twinkigen Ehemann. Ganz schön junges Gemüse. Aber solche Typen sahen häufiger jünger aus, als sie waren, oder? Freier Künstler? Da hatte er sich mit Brian ja eine fette Weihnachtsgans geangelt, während er seine Bildchen pinselte… Und Brian? Blond und niedlich… stand der auf sowas? Das Trophäenweibchen in der schwulen Version…?
 

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als es hieß, sich für das Essen hinzusetzen. Die Kellner flitzten durch die Gegend, um die Getränkebestellungen aufzunehmen. Auf den Schock brachte er erst einmal einen Drink. Es sah wie Brian lächelnd irgendetwas zu seinem Mann sagte, der ihn anstrahlte, als habe jemand auf den Lichtschalter gedrückt. Die Kinnetic Mitarbeiter nahmen die beiden nicht weiter zur Kenntnis, nur Schmidt warf ihnen verstohlene Blicke zu. Und Lance Team war ihn gewohnt und machte auch keine krummen Touren. Er achtete darauf, seine Homosexualität möglichst nicht an die große Glocke zu hängen, aber sein engerer Kreis, mit dem er seit vielen Jahren zusammen arbeitete, wusste Bescheid. Und letztlich war er ja ihr Boss.
 

In Lances Hirn kreiste es, während er sich seinen doppelten Whiskey hinein kippte. Er sah Brian an und sein Mund wurde trocken. Er wollte ihn, Ehemann hin oder her! Er war einfach… unglaublich. Dass er sich rarmachte, machte ihn nur noch interessanter. Und dieses kleine Blondchen… das war ja wohl kaum ernst zu nehmen, egal wie knackig er sein mochte. Was wollte ein Mann wie Kinney mit so einem Disco-Mäuschen? Auf die Dauer reichte so etwas nicht, davon konnte Lance ein Lied singen. Man brauchte eine gemeinsame Ebene. Und er und Brian hatten die, da war er sich sicher.
 

Sein Sitznachbar war Schmidt, der ebenfalls ohne Begleitung gekommen war und an einem Glas Wasser nippte. Er sah auch gar nicht so übel aus, aber neben Brian wirkte er wie ein Gnom. Das Leben war manchmal wirklich nicht gerecht.
 

Schmidt musste seinen Blick bemerkt haben, denn er sagte: „Sie sind frisch verheiratet… stört Sie das?“
 

Lance schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf, während die Vorspeise, ein Carpaccio, serviert wurde. „Nein, nicht im Geringsten, ich gehöre selber zum Verein. Ich bin nur etwas überrascht, wie jung Mr. Kinneys Mann aussieht.“
 

„Oh, das ist er auch. Aber das hat sie nicht gehindert.“
 

„Er ist schwer einzuschätzen…“
 

„Müsste demnächst dreiundzwanzig werden.“
 

„Ui, das hört sich ja nach einer Knall auf Fall-Geschichte an. Kaum kennengelernt, schon geheiratet…?“ bohrte Lance, während sein zweiter Whiskey gemischt mit dem trockenen Weißwein zum Essen seine Wirkung zeigte.
 

Schmidt verzog das Gesicht: „Nicht wirklich. Die beiden sind schon ewig zusammen.“
 

„Ewig? Das sind bei unsereins auch gerne mal drei Monate…“, köderte Lance.
 

Sein Sitznachbar schnaubte: „Sechs Jahre dürften es eher treffen. Wo die Liebe hinfällt.“
 

Lance zog die Augenbrauen zusammen. Sechs Jahre? Da dürfte der Kleine da drüben sechzehn, allenfalls siebzehn gewesen sein. Minderjährig. Illegal.
 

Das war ja hoch interessant.
 

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Ted spähte schräg über den Tisch zu Brian und Justin. Brian hatte ihn tatsächlich mitgebracht und ihn offiziell als seinen Ehemann vorgestellt. Im intimen Kreis hatte er dergleichen schon vorher getan, wie bei der Eröffnung von Kinnetic. Nicht zuletzt, weil er sie vor allem auch Justin verdankte. Einerseits war das… richtig. Andererseits war das, Fremden gegenüber… gewagt. Aber dieser Lance schien ja in ihrer Liga zu spielen. Und außerdem war das ein ganz schöner Hammer von Mr. Beziehungsphob. Aber Halt, das war er ja gar nicht mehr.
 

Ted war monatelang Zeuge gewesen, wie Brian vor Sehnsucht nach Justin beinahe kirre geworden war. Verrückter Kerl, statt loszuziehen und ihn sich zu schnappen, auf der Couch von Kinnetic langsam wunderlich zu werden… Aber so war Brian. Ganz oder gar nicht. Nicht an die Liebe, das Glück glaubend. Aber das schien sich geändert zu haben, wenn er Brians verliebtes Strahlen richtig las. Was für ein Anblick. Ob Brian es bewusst war, dass ihm sein Gemütszustand aus jeder Pore tropfte? Jeder, der ihn kannte, konnte das sehen. Die etwas geröteten Wangen, die nicht vom Alkohol her rührten, der leicht feuchte Blick. Wenn Brian sich jetzt selbst sehen würde, würde er wahrscheinlich einen Anfall bekommen. Oder es wäre ihm egal. Justin war sein Partner gewesen, auch wenn er lange Zeit bei dem bloßen Gedanken daran schreiend davon gelaufen war. Justin war es dennoch gewesen. Und Schritt für Schritt hatte sich Brian an den Gedanken gewöhnt. Und jetzt schien er… glücklich zu sein? Ja, das war es wohl. Der König der Zyniker war glücklich.
 

Und er, Ted, war es auch. Der Kellner bot ihm von dem Wein an, aber er winkte ab. Keine Drogen, das schloss auch den Alkohol mit ein. Schon die kleinste Versuchung konnte momentan noch das Ticket zurück in die Hölle bedeuten. Er war süchtig gewesen, und die Sucht fand immer neue Wege. Sie lauerte wie ein Dämon in seinem Schatten jederzeit bereit, wieder zu zuschlagen.
 

Außerdem brauchte er keinen Drink, um sein Leben farbig zu gestalten. Was ihn trunken machte, war seine Liebe zu Blake. Sein Herz klopfte schneller, als er an ihn dachte. Mit Blake hatte die Chemie immer gestimmt, vom ersten Augenblick an. Leider war ihnen eine andere Art von Chemie dazwischen gekommen. Aber das war Vergangenheit.
 

Sie würden zusammen ziehen, im nächsten Jahr.
 

Ein neues Leben.

Grinch vs. Weihnachtsmann

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Bescherungen

XXI. Bescherungen
 

Ein langer Nachtschlummer war ihnen nicht vergönnt, denn Gus hämmerte bereits um sechs Uhr, brav zu seiner Aufstehzeit im Alltag, an die Schlafzimmertür. Rasch schlüpften sie in ihre Pyjamas, die sie für die sich anbahnende morgendliche Aktivität in Reichweite gelegt hatten
 

„Bescherung?!“ schoss ihnen Gus entgegen. Brian schnappte ihn sich, hob ihn hoch und trug ihn, ihn auf der Hüfte haltend, die Treppe ins Erdgeschoss hinab.
 

Sie verbrachten den Vormittag im Wohnzimmer, während Gus sich durch seine Päckchenberge grub. Brian hatte natürlich Mal wieder ein kleines bisschen übertrieben, aber dagegen war wohl kein Kraut gewachsen. Gus definierte die Wertigkeit seiner Geschenke sowieso nicht nach ihrem Preis. Die neuen Fußballschuhe und Sportsachen interessierten ihn deutlich mehr als die Dolce & Gabbana-Klamotten, die seinen Kleiderschrank aufstocken sollten. Er ließ es sich nicht nehmen, sein neues Trikot gleich überzuziehen, die Kollision mit Johns Geschoss schien seiner Begeisterung für den Sport keinen Abbruch getan zu haben, bevor er sich dem größten Paket widmete. Schon im Krabbelalter hatte er eine enorme Faszination für seine kleine Holzeisenbahn gezeigt gehabt, so traf das Basisset für eine Modelleisenbahn voll ins Schwarze. Sie bauten die Strecke gemeinsam zusammen und ließen den Zug im Kreis tuckern, während die Zeit unbemerkt verrann. Justin huschte ab und an in die Küche, um an seiner Kreation weiter zu tüfteln, die bald verführerisch durchs Haus duftete.
 

Zu guter Letzt stand Gus auf und wetzte kurz hinauf in sein Zimmer. Er kam mit vor Stolz fast platzendem Gesicht wieder zurück gestolpert, zwei ziemlich schief verpackte Bündel in der Hand, die er ihnen überreichte.
 

„Frohe Weihnachten, Papa und Justin! Die sind nicht vom Christkind, sondern von mir. Habe ich im Kindergarten gemacht!“ sagte er. Als sie ansetzten, sich zu bedanken, versetzte er ungeduldig: „Ihr müsst sie aufmachen!“ Da ließ sich nicht widersprechen.
 

Brian rupfte am Papier und förderte eine herzförmige Tonplatte hervor, in der sich Gus‘ kindlicher Handabdruck befand. Eine typische Kinderbastelei, wie sie zu dieser Jahreszeit wohl auf allen Kontinenten tonnenweise fabriziert wurde. Dennoch musste er schlucken. Etwas Derartiges hatte ihm noch niemals jemand geschenkt. So etwas konnte wahrscheinlich nur ein Kind schenken, ohne Pflichtgefühl oder Hintergedanken.
 

„Danke“, flüstere er und drückte seinen Sohn an sich. „Dankeschön, Gus!“
 

Gus strahlte zufrieden. „Los, Justin, du musst auspacken!“ drängte er dann.
 

Gehorsam wickelte Justin sein Päckchen aus. Er förderte eine wahrscheinlich von einer Kindergärtnerin in ein Passepartout fixierte Filzstiftzeichnung hervor, die ihn nach Luft schnappen ließ. Ein Teil von ihm war so gerührt, dass er kurz vorm Taschentuch stand, ein anderer Teil wollte sich auf den Boden werfen und sich postwendend tot lachen. Gus hatte sie gemalt, ein Familienbild, wie Kinder es gerne taten. Gus stand in der Mitte, eine krakelige Figur mit zu großem Kopf und einem Fußball in der Hand, der aussah wie angeklebt. Brian war ein langes dürres Etwas, das in ein graues Kleidungsstück gehüllt war, das verdächtig wie sein Lieblingsarmanianzug aussah. Er hatte ein braunes und ein grünes Auge, Gus hatte sich wohl nicht recht entscheiden können, und grinste zahnlos. Die Corvette, die neben ihn gemalt war, sah eher aus wie ein VW-Käfer. Justin selbst kam ziemlich mickrig rüber. Gus hatte seine Haare offensichtlich mit einem geligen Goldstift mit Glitzerpartikeln gemalt, so dass sein Kopf aussah, als würde er gerade explodieren. Er hatte am ganzen Körper verschiedenfarbige Punkte, die wohl Farbkleckser darstellen sollten. Erklärend dazu hatte Gus etwas neben ihn gemalt, das eine Staffelei darstellen sollte. Justins aktuelles Gemälde hatte Gus offensichtlich mithilfe einer kompletten Hand voll Stifte gleichzeitig gehalten durch wildes Gekrickel widergegeben. Im Gegensatz zu Brian hatte er sogar ein paar Zähne abbekommen, die ihn aussehen ließen wie ein Karnickel auf Koks. Oben am Bildrand war ein kleines Flugzeug dargestellt.
 

„D… danke, Gus!“ stotterte er überwältigt und umarmte den kleinen Jungen. „Das… das ist ein ganz tolles Bild! Das hängen wir auf!“
 

Brian spähte neugierig auf die Zeichnung und musste gleichfalls nach Luft japsen. „Du hast Justin toll getroffen! Besonders sein Lächeln und seine Frisur!“
 

„Und Papa sieht auch super aus, wie immer!“
 

Gus lachte erfreut und ließ sich preisen.
 

Gegen Mittag bequemten sie sich, endlich in Jeans und Shirt hinüber zu wechseln, ohne dass es der entspannten Trägheit, die über diesem Tag lag, ernsthaft etwas entgegen setzte. Die Außenwelt würde sie erst Morgen wieder haben, heute gehörte ihre Zeit nur ihnen.
 

Sie schauten sich Charles Dickens Weihnachtsgeschichte in der Muppet-Version auf DVD an, ineinander verknotet auf dem Sofa lungernd und an ein paar Schokoladenkeksen knabbernd, die Debbie ihnen gemacht hatte, Justins absolute Lieblingssorte. Als Tiny Tim ins Bild gehumpelt kam, fragte Justin: „Hast du Ted eigentlich einen Weihnachtsbonus gezahlt?“
 

Brian lachte leise auf: „Das war aber jetzt wirklich gemein, Sonnenschein!“
 

Als Justin gegen fünf Uhr wieder in Richtung Küche entschwand, um seinem Opus den letzten Schliff zu geben, machte sich Brian auf dem Sofa breit. Auf dem Fußboden vor dem Weihnachtsbaum spielte Gus mit seiner Eisenbahn, überall flog Geschenkpapier herum. Vor seinem inneren Auge erschien das Bild eines selbstzufriedenen Faultiers, mit dem er sich gerade ausgezeichnet identifizieren konnte.
 

Das Abendessen war, wie erwartet, ein kulinarisches Feuerwerk, das sie satt und zufrieden zurück ließ. Dagegen konnte selbst Debbies Thunfisch-Maccaroni-Auflauf nicht anstinken. Aber wahrscheinlich hatte Brian in Teenagerzeiten sich daher so dafür begeistern können, weil Debbie ihn mit Zuneigung für die Personen, die ihn essen sollten, zubereitet hatte. Eine Qualität, die jedem Happen, den man ihm zuvor vorgesetzt hatte, gefehlt hatte. Und Justins Kocherei war eine weitere Facette seines Experimentierdrangs, seiner Sinnlichkeit – und seiner Zuneigung. Aber auch abgesehen davon musste Brian zugeben, dass Justins Fähigkeit in diesem Gebiet ausgesprochen beachtlich waren. Was auch immer die Zukunft bringen würde – verhungern würden sie wohl nicht.
 

Nach dem Essen genossen sie einen scharfen Whiskey, während Gus zunehmend erschöpft seinen neuen Kasten mit Legosteinen durchwühlte. Neue Formen, neue Farben, das musste erst mal verdaut werden. Gegen halb neun sank er in die Sofakissen, und Brian brachte ihn ins Bett.
 

Als er eine halbe Stunde später wieder zurück ins Wohnzimmer trat, blieb er wie vom Donner gerührt stehen.
 

Justin saß, in der Zeitung blätternd, auf der Couch und trug mit aller Selbstverständlichkeit eine knallenge grüne Lederhose, ein mehr als eng anliegendes langärmliges Shirt, rot und mit einem riesigen stilisierten weißen Elch bedruckt, und eine Bommelmütze sowie ledernde Schnabelschuhe. Er sah aus wie ein Stricher vom Nordpol. Brians Hirn wechselte hektisch zwischen den Deutungen „albern“ und „heiß“ hin und her, ohne recht zu einer Schlussfolgerung zu kommen.
 

„Ich habe lediglich eine wichtige Information für dich“, sagte Justin, ohne von seiner Lektüre aufzusehen. „Leider kann ich mich in dieser Klamotte kaum bewegen. Wenn du also irgendetwas von mir wollen solltest, was das notwendig macht, wirst du mich in einen Sack stopfen müssen und wegschleppen.“
 

Nur Justin brachte es fertig, so etwas ohne auch nur mit der Wimper zu zucken zu machen.
 

„Wo ist der Sack?“
 

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Emmet starrte auf den Inhalt des Päckchens. Ein knallenges pinkes Shirt, das im Stil eines Football-Trikots bedruckt war. In großen fliederfarbenen Lettern stand der Name „Emmet Honeycutt“ und Drews Spielernummer darauf.
 

Er las die Karte.
 

„Lieber Emmet,
 

ich wünsche Dir ein frohes Weihnachtsfest.
 

Ich hoffe, dass Shirt gefällt Dir.
 

Drew.“
 

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Ted musste lachen. Einfach nur so. Blake strahlte ihn an. Die Stereoanlage lieferte Rigoletto. Auf dem Tisch stand eine große Schale mit alkoholfreiem Früchtepunch. Kerzen in einem Gesteck brannten daneben. Sie hatten gekocht.
 

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Ben saß auf dem Boden des Badezimmers und starrte die weißen Fliesen an der Wand an, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Der Würgereiz war zwar verschwunden, konnte aber jederzeit wieder aufflammen.
 

Vor ein paar Wochen war seine Viruslast erneut gestiegen, so dass die Ärzte seine medikamentöse Einstellung verändert hatten. Das hatte zwar den gewünschten Erfolg gebracht, aber sein Körper hatte sich an die neuen Arzneien noch nicht wieder richtig gewöhnt. Kopfschmerzen und Übelkeit folgten ihm auf Schritt und Tritt. Seine Leberwerte waren nicht gut, er stand unter Beobachtungen, aber sie waren optimistisch.
 

Vor der Tür wartete geduldig Michael. Er konnte ihn rufen, wenn er Hilfe brauchte. Er wollte keine Hilfe brauchen müssen. Aber daran war nichts mehr zu ändern. Es musste weitergehen. Vielleicht blieben ihnen noch Jahre, Jahrzehnte – vielleicht aber nur viel weniger Zeit. Man konnte es nicht wissen. Aber welcher Mensch wusste das schon?
 

Er wollte leben, verfluchte Scheiße.
 

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Michael lauschte vorsichtig. Kein Laut drang aus dem Badezimmer.
 

„Ben? Alles okay?“ rief er schließlich.
 

„Ja“, kam es gepresst, „ich brauch nur ein paar Minuten. Ist alles in Ordnung.“
 

Michael schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, ruhig durchzuatmen. So schrecklich es für andere klingen mochte: Man gewöhnte sich daran. Aber deshalb tat es nicht weniger weh.
 

Es zog an ihm, wenn sein schöner, starker, kluger Mann von dieser verdammten Krankheit – oder den Medikamenten, die sie nötig machte – herab gerissen wurde.
 

Womit hatte er das verdient?
 

Michael stoppte sich. Niemand hatte das verdient. Es war keine Strafe für irgendetwas, wie einige Vollidioten, die er gerne mit einem Gedankenwandlungslaserstrahl beackert hätte, behaupten mochten. Es konnte jeden treffen. Man konnte vorsichtig sein, aber das Virus lauerte gerne dort, wo der Verstand anderen Dingen Platz machte: Lust, Nähe, Liebe – Vertrauen. Es mochte Leute geben, die um all das einen großen Bogen machten. Machte sie das zu besseren Menschen? Sollten sie daran glauben – Michael konnte dem nicht folgen.
 

Ben öffnete die Tür zum Badezimmer, er sah ziemlich bleich aus.
 

„Möchtest du hier bleiben?“ fragte Michael. Sie waren später bei seiner Mutter, Carl und Emmet zum Weihnachtsessen eingeladen.
 

Ben schüttelte den Kopf. Mochte ihm auch noch so übel sein, er wollte sein Leben nicht verpassen. Kotzen konnte er überall, feiern nicht.
 

„Du siehst Scheiße aus“, sagte Hunter, der gerade aus seinem Zimmer getrollt kam, zu ihm. „Erwischt es dich jetzt, oder was?“ Man konnte den panischen Unterton aus den harten Worten hinaus hören.
 

„Nein, James“, sagte Ben erschöpft. „Nur eine Medikamentenumstellung. Ich bin bald wieder okay.“
 

„Kacke!“ versetzte der Junge. „Ich freu mich schon richtig, wenn’s bei mir losgeht. Ist bestimmt richtig geil.“
 

Ben schaute ihn scharf an: „Man kann damit leben, hörst du!“
 

James fuhr zusammen. „Muss man wohl“, nuschelte er.
 

„Okay“, mischte sich Michael ein. „Heute ist Weihnachten. Heute wird gefeiert. Basta! James, pack die Geschenke in die Tasche, Ben, zieh dich um, ich kümmere mich um Jenny und dann Abmarsch!“
 

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„Hier, hat mit Papa für dich mitgegeben“, sagte Molly und überreichte ihrer Mutter ein kleines Päckchen.
 

Sie saßen auf der Wohnzimmercouch. Jennifer hatte einen kleinen Weihnachtsbaum im Topf für ihre Tochter besorgt, den eine Lichterkette zum Glänzen brachte. Familienweihnacht light sozusagen.
 

Ihnen war schon etwas schlecht von Debbies Schokoladenkeksen, mit denen sie jeden ihres Freundeskreises säckeweise überzogen hatte. Aber die Dinger waren einfach zu köstlich.
 

Stirnrunzelnd wickelte Jennifer Craigs Geschenk aus.
 

Erst die Blumen und dann das hier. Wollte er im selben Zuge, wie er sich seinem Sohn annäherte, auch das Kriegsbeil mit ihr begraben? Oder was stellte er sich da vor?
 

Sie öffnete das Papier. Es war eine wunderschön gebundene Dickens-Ausgabe. Sie hatte diese Geschichten damals Craig am College kurz vor Weihnachten vorgelesen. Sie hatten nackt im Bett gelegen, den ganzen Tag, draußen hatte es geschneit. Sie hatten gelesen, gevögelt und gekifft. Ein perfekter Tag in ihrem frisch verliebten Studentendasein.
 

Immerhin hatte er ihr kein Gras geschenkt.
 

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Sie saßen rund um den Esszimmertisch, die Hände ineinander gelegt. Joan sprach das Gebet. Claire starrte ins Leere, Jack zappelte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und John sah aus, als habe er einen Stock verschluckt.
 

Der Braten war ein wenig trocken. Joan hatte den Alkohol im Haus gestrichen.
 

„Fährst du da Morgen hin?“ fragte Claire, in ihren Kartoffeln stochernd.
 

„Ja“, sagte Joan nur.
 

„Wohin?“ wollte Jack wissen.
 

Joan sagte, ohne ihn anzublicken: „Zu deinem Onkel Brian und deinem Cousin Gus.“
 

„Und zu Onkel Justin“, versetzte John mit einem unschuldigen Gesichtsausdruck und verfolgte, wie Joan eine Sekunde lang leicht erstarrte.
 

„Wer ist denn Justin?“ wollte Jack wissen.
 

„Onkel Brians… Freund…“
 

„Warum ist er dann unser Onkel?“
 

„John hat nur Spaß gemacht.“
 

„Nö. Habe ich nicht. Onkel Brian hat Onkel Justin geheiratet, stimmt doch Oma, oder?“
 

Joan knirschte mit den Zähnen. Sie hatte es versprochen. Kein abfälliges Wort, erst Recht nicht zu John. Und John befolgte anscheinend auch seine Bewährungsauflagen, auch wenn ihr der mutwillige Ansatz dahinter nicht ganz entging. Sie strafte ihn mit Schweigen.
 

„Das verstehe ich nicht“, sagte Jack.
 

„Onkel Brian hat einen Typen geheiratet, weil er schwul ist“, belehrte John ihn.
 

„Aha“, sagte Jack, immer noch ein wenig ratlos. „Und Gus ist ihr Sohn?“
 

Claire seufzte: „So sieht’s wohl aus.“
 

„Wie alt ist der?“
 

„Sechs, zwei Jahre jünger als du.“
 

„Kann ich mit ihm spielen?“
 

Der Rest der Tischrunde starrte ihn wortlos an.
 

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Craig goss sich ein weiteres Glas ein. Scotch, nicht billig.
 

Er starrte aus dem Fenster. Er hatte das Haus nach der Scheidung für sich gekauft. Es war groß genug für eine Familie. Aber nicht Mal eine Küchenschabe leistete ihm Gesellschaft.
 

Vielleicht sollte er sich einen Hund anschaffen?
 

In den Jahren zuvor war er meist ausgegangen, ins Theater oder ins Konzert, wie Jenn es ihn gelehrt hatte. Dazu hatte er dieses Jahr keine Lust gehabt.
 

Was sie wohl von seinem Geschenk halten würde?
 

Ob sie sich erinnerte?
 

Ob diese Motorrad-Dumpfbratze jetzt mit ihr und Molly unter dem Weihnachtsbaum saß?!
 

Sie würde Morgen auch da sein.
 

Er nahm einen weiteren Schluck.
 

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„Frööööhliche Weihnachten uns allen!“ rief Debbie und prostete der Runde zu. Die anderen erwiderten fröhlich den Gruß und stießen an. Sie hatte darauf bestanden zu kochen, ihr übliches Weihnachtsmenü: Spagetti, Gans, Tiramisu. Michael liebte das, der Rest tat es ihm da besser nach.
 

Zufrieden verfolgte sie, wie James gierig die Nudeln in sich hinein stopfte. So ein Junge hatte einen dankenswerten Appetit. Emmet plauderte mit Carl, der dröhnend lachte. Emm war für die morgige Weihnachtsfeier heute bereits ordentlich im Einsatz gewesen. Brian, Justin und Gus waren auch hier eingeladen gewesen, hatten aber höflich abgelehnt. Was die wohl trieben? Was auch immer, so schade ihre Abwesenheit war, mochten sie es genießen. Sie hoffte inständig, dass Brian sich zusammen riss. Weihnachten im Hause Kinney war nie ein Freudenfest gewesen, das wusste sie. Aber Brian hatte gelernt, das hoffte sie zumindest.
 

Sie kitzelte Jenny in ihrem Körbchen neben ihr, die zufrieden quietschte. Ihr kleiner Engel. Mochten ihre Mütter von ihrer Wolke glücklich auf sie herab blicken.
 

Michael ließ sich kichernd das bekleckerte Kinn von Ben sauber putzten, er hatte schon das ein oder andere Glas Wein intus. Ben sah etwas käsig um die Nase aus, Debbie wusste, dass es ihm nicht gut ging, aber er lachte dennoch. Sie betete, dass das Glück ihres Sohnes und ihres Schwiegersohnes Bestand haben mochte.
 

Sie dachte an Vic und prostete ihm innerlich zu.
 

Sie waren alle da, und heute war kein Tag der Trauer.

Kekse sind ungesund

XXII. Kekse sind ungesund
 

Emmet drückte den Klingelknopf, immer noch über die Schneeweihnachtshasen kichernd. Diese Kreation ließ keinen Zweifel daran, dass hier Justin seine Zelte aufgeschlagen hatte. Justin hatte immer schon einen Hang fürs Ungewisse gehabt – siehe Brian.
 

Sein alter Kumpan öffnete die Tür.
 

Emmet schlug die Hände vor den Mund, um nicht hysterisch zu werden.
 

Brian erstarrte und fasste sich an den Kopf.
 

„Kein Wort!“ warnte er.
 

Emmet schluckte. Brian trug eine ziemlich merkwürdige Bommelmütze zu seiner normalen Jeans-Shirt-barfuß-Kombination und sah alles andere als glücklich aus. Mit einem hecktischen Griff riss er sie sich vom Kopf.
 

Justin trat grinsend neben ihn: „Das ist eine Wichtelmütze. Die hat Gus heute Morgen neben unserem Bett gefunden und ist zu der Schlussfolgerung gekommen, dass sie seinem Papa prima stehen würde. Nicht wahr?“
 

Brian verzog den Mund und murmelte irgendetwas.
 

„Ich habe ja schon einiges erlebt“, meinte Emmet. „Aber ich wage gar nicht zu fragen, warum eine Wichtelmütze in eurem Schlafzimmer rumliegt.“
 

„Dann lass es!“ zischte Brian. Justin zwinkerte ihm zu.
 

Sie machten sich daran, die Sachen rein zu schleppen. Das Buffet sollte im Wohnzimmer aufgebaut werden. Sie stellten die Tische auf und schleppten weitere Sitzmöbel heran. Emmet verteilte Kerzenensembles, die Brians kritischem Blick stand gehalten hatten. Zu guter Letzt zerrte Justin eine Leiter herbei und befestigte einen Mistelzweig im Zentrum der Eingangshatte.
 

„Muss das sein?“ fragte Brian, der vor der Tür rauchte und misstrauisch nach drinnen spähte.
 

„Müssen nicht. Aber es ist doch nett“, meinte Justin, während er konzentriert balancierte.
 

„Das glaubst du. Also ich will garantiert nicht von deinem Vater abgeknutscht werden.“
 

„Das beruht wahrscheinlich auf Gegenseitigkeit. Ich will auch keinen Zungenkuss von Debbie. Dann stell dich doch einfach nicht drunter!“
 

„Das sagst du so leicht, das Ding hängt genau in der Mitte!“
 

„Du wirst es schon schaffen, obwohl dir natürlich jeder der Anwesenden ohne Pause darunter auflauern wird.“
 

„Dein Wort in Gottes Ohr.“
 

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Um fünf Minuten vor Vier klingelte es, wie sie es auch nicht anders erwartet hatten, an der Tür. Debbie kam mit einem in einem langen grauen Parka fröstelnden Carl über die Türschwelle spaziert. Sie hatte sich schön gemacht und glitzerte wie ein lila Weihnachtsbaum.
 

„Himmel, Arsch und Zwirn – verirrt ihr euch nicht ständig in diesem Kasten? Kommt her! Frohe Weihnachten! Tolle Hasen, Justin, aber ich hab‘ die Schwänze vermisst…?“
 

„Sind der Zensur zum Opfer gefallen“, murmelte Justin in ihren Armen.
 

„Und Gus! Du hast aber einen hübschen Hut! Tja Brian, da kommt auch dein Modegeschmack nicht gegen an!“
 

Gus trug die Bommelmütze und lachte: „Papa hat auch gesagt, dass sie mir besser steht!“
 

„Wo er Recht hat, hat er Recht. Und Brian…“
 

Er wurde gedrückt, da gab es kein Entkommen.
 

Carl gab ihnen lieber freundlich lächelnd die Hand und folgte Justin und Gus zu Emmet ins Wohnzimmer.
 

Debbie langte in eine große Tragetasche an ihrem Arm und zog ein in Folie gewickeltes Tablett heraus.
 

„Debbie“, protestierte Brian. „Noch mehr Kekse überlebe ich nicht!“
 

„Das ist auch nichts für den Hunger… sondern meine ganz speziellen Kekse.“
 

Brian bugsierte sie in die Küche. „Was bitte sind das für Kekse?“
 

„Na, du weißt schon.“
 

„Du hast was…?“
 

„Du hast mir das Zeug doch aufgenötigt, als diese Sozialtante bei euch aufgeschlagen ist? Ich habe es nur ein wenig veredelt.“
 

„Debbie…“
 

Die ältere Frau grinste. „Stell sie sicher weg. Du kannst sie auch einfrieren oder in eurem Palastgarten verbrennen, wie du willst. Aber das ist dein Kram. Und jetzt bedanke dich gefälligst!“
 

„Danke, Debb, für die schönen Drogen.“
 

„Geht doch“, sagte sie, warf einen Röntgenblick durch die Küche und spazierte hinaus.
 

Brian starrte kopfschüttelnd auf das Gebäck. Es war fast schwarz, so schokoladig war es. Wohin damit? Wohl kaum aufs Buffet. Er quetschte das Tablett provisorisch in einen der oberen offenen Küchenschränke, außer Reichweite von Kinderfingern, und ließ es verdeckt. Da konnte er sich später drum kümmern. Mit Mrs. Lennox Bestechungs-Gebäck sollten sie es besser nicht verwechseln.
 

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Die Tür klingelte, und Brian konnte aus den rasch ertönenden Kreisch- und Jubellauten auch aus dem Nebenzimmer ohne weiteres bestimmen, wer da anmarschiert gekommen war.
 

„Oh Gott, Justin, das ist ja ein Palast!“ rief Daphne. „Wo ist denn dein Traumprinz?“
 

Bevor Brian gegen diese Bezeichnung Einspruch erheben konnten, fand er sich von der zierlichen jungen Frau gedrückt, die auf Justins Fingerzeig in die Küche gestürmt gekommen war.
 

„Ich weiß Daphne“, murmelte er, die Nase tief in ihr unbändiges Haar vergraben, „wenn Justin nicht wäre…“
 

„Haha, du glaubst doch wirklich, jeder – und jede – steht auf dich?“ lachte sie, zu ihm hinauf blickend.
 

„Das stimmt doch auch“, erwiderte Brian und schaute ihr tief in die Augen.
 

Daphne kicherte: „Ach Brian, leider muss ich gestehen: Ich bin über dich hinweg!“
 

„Du brichst mir das Herz“, stöhnte er.
 

„Und davon hast du sehr viel da drin“, sagte Daphne liebenswürdig und tippte ihm auf die Brust.
 

„Psst!“ flüsterte Brian. „Erzähl das bloß niemandem!“
 

„Dein finsteres Geheimnis ist bei mir sicher“, versprach sie.
 

„Möchtest du vom Punsch?“ fragte Brian, sich seiner Aufgaben als Gastgeber besinnend.
 

„Was ist da denn drin?“ fragte sie neugierig.
 

„Wodka,...“ setzte er an aufzuzählen, wurde aber jäh unterbrochen.
 

„Nein danke. Kann ich ein Glas Wasser bekommen?“
 

„Wasser?“ fragte Brian verdattert. „Du bist doch nicht mit dem Auto da. Was ist denn aus Justins guter alter Saufkumpanin geworden? Vielleicht ein Bier?“
 

Daphne schüttelte resolut den Kopf: „Echt nicht. Mir ist nicht nach Alkohol.“
 

Brian starrte sie immer noch an. Daphne war immer eine schlanke Person gewesen, die ihre körperlichen Vorzüge auch nicht unbedingt versteckte, auch wenn der sportliche Look immer etwas mehr ihr Ding gewesen war. Jetzt steckte sie in einem dicken Wollpullover, der sie ziemlich unförmig wirken ließ.
 

„Daphne“, fragte er leise. „Du darfst mich gerne köpfen, wenn du in Wirklichkeit nur über deinen Studien verfettet bist. Und es geht mich eigentlich auch nichts an. Aber ich habe schon mehr Frauen, als mir lieb war, in diesem Zustand gesehen. Bist du… schwanger?“
 

Daphne fuhr zusammen, ihre Gesichtsfarbe schien unter dem dunklen Teint leicht ins Grünliche zu wandern.
 

Das war Brian Antwort genug. „Brauchst du Hilfe?“ fragte er vorsichtig.
 

Sie sah ihn undurchdringlich an, nur ihre Lippen bebten ein wenig. Dann schüttelte sie den Kopf. Das fröhliche Strahlen von eben war verschwunden, sie wirkte erschöpft.
 

„Brian, bitte… Sag niemandem etwas davon, okay? Auch Justin nicht.“
 

Brian nickte nachdenklich. Es war ihre Angelegenheit, es war nicht an ihm, sie ins Rampenlicht zu zerren oder ihr Fragen zu stellen, die sie nicht beantworten wollte – oder konnte. „Du wirst es nicht ewig geheim halten können, wenn du es behalten willst. Soweit ich informiert bin, gewinnt frau dabei an Format… einer Bowlingkugel, eines Pottwals, je nachdem. Ist denn alles in Ordnung…?“
 

„Danke für die tröstenden Worte. Ja, es ist alles in Ordnung. Ich werde es bekommen. Vierter Monat bin ich“, sagte sie gepresst, den Kühlschrank anstarrend. „Ich werde es Justin selber sagen, aber nicht jetzt. Ich muss noch über Sachen… nachdenken.“
 

„Okay“, sagte Brian entschlossen. „Aber du sagst Bescheid, wenn du was brauchst.“
 

Daphne nickte, ohne ihn anzuschauen.
 

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Das Wohnzimmer hatte sich mittlerweile weiter gefüllt, Ted und Blake nippten an ihren Softdrinks, Gus hing an Molly und redete aufgeregt auf das Mädchen ein. Molly lächelte, so dass die Ähnlichkeit mit Justin deutlich zutage trat, und folgte den Ausführungen des kleinen Jungen aufmerksam. Debbie plauderte auf dem Sofa mit Jennifer in trauter Eintracht, obwohl die Kleidung der beiden Frauen sie unterschiedlichen Welten zuzuweisen schien. Aber das stimmte nicht, nicht wirklich, dachte Brian. Jennifer Taylor war genauso wie Debbie eine Frau mit Qualitäten, die weit über das Äußere hinausgingen. Sie vereinten beide Stärke mit Güte und Freiheitsgeist, jede auf ihre Art.
 

Wie auf Signal läutete es erneut. Schon an der Art und Weise, wie die Klingel Laut gab, konnte Brian erkennen, wer da nun vor der Tür stand. Schicksalsergeben setzte er sich in Bewegung.
 

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Joan musterte misstrauisch die beiden merkwürdigen Schneefiguren, die ein paar Meter von der Eigangpforte entfernt auf der Rasenfläche standen. Hasen…? Was sollte das denn, war das wieder so eine Anzüglichkeit? Ein Kind hatte die jedenfalls nicht gemacht. Und Brian gewiss auch nicht. Blieb ja nur noch einer.
 

Brian öffnete die Tür. Er trug, wie immer, ein fein abgestimmtes Kleidungsensemble, das nie ein Kaufhaus von innen gesehen hatte. Eine elegante hellbraune Stoffhose und ein etwas dunkleres Oberteil aus feinem Stoff, unter dem raffiniert an Kragen und Ärmeln ein hellbeiges Hemdes hervor lugte. Er war viel zu durchdacht gekleidet für einen… normalen… Mann. Jack hatte nur unter absolutem Zwang ein Kleidungsgeschäft betreten und hatte das erstbeste gekauft, das einigermaßen passte. Brian nie, auch als sie ihn noch bei Walmart eingekleidet hatte. Er hatte jedes Stück eingehend geprüft, sich stundenlang gemustert und darauf bestanden, dass sie Änderungen daran vornehme, damit es wirklich gut passe. War das ein Zeichen gewesen, dass…? Oder hatte er nur fort gewollt aus ihren beengten Verhältnissen – was ihn offensichtlich hier her geführt hatte? Nach Green Tree. Mit seinem Sohn. Und… Justin.
 

„Frohe Weihnachten, Brian“, sagte sie, als sie eintrat.
 

Er half ihr aus dem Mantel, kurz schweigend, dann erwiderte er: „Frohe Weihnachten, Mutter.“
 

Stimmen waren aus dem Wohnzimmer zu hören. Sie trat ein und sah sich um. Neben dem Kamin stand eine schön gewachsene Blautanne, mit Holzkugeln und Strohsternen geschmückt, kein Plastik, nichts Buntes, nichts Verspieltes oder gar Kitschiges. Teure Bienenwachskerzen verbreiteten ihr unverwechselbares Aroma und spendeten neben weiteren dezent im Raum verteilten Gestecken ein warmes Licht.
 

Brian stellte sie vor. Debbie Novotny grüßte sie frostig. Nun ja, auf den Zuspruch dieser wandelnden Geschmacksverirrung legte sie keinen größeren Wert. Diese Frau hatte für Brian Familie verkörpert? Ein Wunder, dass ihm dabei die Geschmacksnerven nicht abgestorben waren. Ted Schmidt und sein Freund, nichtssagend für sie. Daphne, eine Schulfreundin von Justin, grüßte sie höflich. Auch nicht weiter von Interesse. Ihr Blick wanderte, während sie die Hände schüttelte, hinüber zum Christbaum, wo Gus einem kleinen blonden Mädchen eine Spielzeugeisenbahn vorführte. Das Mädchen trug zwei üppige blonde Zöpfe und lachte vergnügt, ihren Enkel an sich drückend. Das Lächeln… Justins Schwester? Eine sehr hübsche Person, kurz davor, zu erblühen. Sah Brian in Justin so etwas, fand er ihn… hübsch? Männer waren doch eigentlich nicht… Sie warf einen Blick auf Justin, der neben einer ebenfalls blonden Frau auf dem Sofa saß, die eine natürliche Anmut umgab. Seine Mutter…?
 

Die Frau stand gemeinsam mit Justin auf, als sie näher traten, und reichte ihr die Hand, an der teure Ringe glitzerten.
 

„Jennifer Taylor“, sagte sie. „Ich bin Brians Schwiegermutter. Nennen Sie mich doch Jennifer.“
 

Joan starrte in die großen warmen Augen der anderen Frau, spürte aber auch, dass diese hier gerade Klarheiten schuf. Das war kein süßes Blondchen, auch wenn der erste Blick das nahelegen mochte. Genauso wenig wie ihr Sohn.
 

„Angenehm“, erwiderte sie, „Joan Kinney.“
 

„Schön, Sie kennen zu lernen – Joan“, sagte die andere und lächelte verbindlich.
 

Joan zog innerlich die Augenbraue hoch. „Ganz meinerseits, Jennifer“, nahm sie die Herausforderung an.
 

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Die nächsten Ankömmlinge waren die Novotny-Bruckners, die lärmend einfielen, was größtenteils Michael geschuldet war.
 

Ben machte freundlich lächelnd die Runde, zog sich aber rasch mit Jenny auf dem Arm in einen der Sessel zurück.
 

„Boah!“ staunte Hunter, sich umschauend. „Kann ich mich von meinen Eltern scheiden lassen, damit die hier mich adoptieren können?“
 

„Du darfst jederzeit vorbei kommen“, lud Brian ihn großzügig ein. „Wir brauchen immer wen zum Klo putzen, Rasen mähen, dumm aus der Wäsche gucken…“
 

„Untersteh dich, so undankbar zu sein, James!“ fuhr Debbie ihn an und zog ihm spielerisch am Ohr.
 

„Und Klo putzen, Rasen mähen und dumm aus der Wäsche gucken kannst du auch bei uns“, ergänzte Ben lächelnd.
 

„Na, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig“, sagte Hunter, aber er lächelte zurück.
 

Michael sah sich um. Er war ja schon vorher hier gewesen, aber da war dieses Haus kaum mehr gewesen als leerer Raum. Jetzt war es ein Zuhause. Brians Zuhause. Der Stil der Einrichtung erinnerte an das Loft, aber zugleich war hier alles irgendwie anders. Es lebte. Es war nicht bloß Brians Daheim, sondern Justins und Gus‘ gleichermaßen. Brians… Familie, das war es wohl. So wie sein Heim nicht nur ihm gehörte, sondern der Raum war, wo er mit Ben und den Kindern gemeinsam existierte. Dennoch glich dieses Haus ihrem nicht im Geringsten. Zum einen war es weniger ein Haus, es war eine Villa, mit Brians üblicher Maßlosigkeit in solchen Dingen erworben. Alles hier war genau durchdacht, nichts war zufällig oder eine Notlösung oder stand einfach so rum. Er konnte darauf wetten, dass sich nicht einmal bei den Klopapierhaltern Ikea eingeschlichen hatte. Aber er fühlte keinen Neid. Michael liebte sein Haus. Es war… sie, die Novotny-Bruckners. Dies hier waren Brian und Justin – und Gus – auch wenn er dabei Wehmut verspürte.
 

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„Hallo Papa“, begrüßte Justin seinen Vater an der Tür.
 

„Hallo Justin“, Craig räusperte sich. „Das hier ist für dich. Ein Edelstahl-Hobel, ich hoffe, du kannst was damit anfangen.“
 

„Danke – ja kann ich gut gebrauchen! Komm rein!“
 

Craig sah sich neugierig um. Jennifer saß auf dem Sofa in gerader Haltung und unterhielt sich mit einer grauhaarigen Frau, die nicht weniger straff da saß. Der kleine Junge tollte mit Molly, die ihm einen raschen Kuss gab, und einem älteren Teenager vor dem Weihnachtsbaum herum. Er erkannte Daphne.
 

Justin stellte ihn vor. Die andere Frau… Joan Kinney. Was hatte Justin gesagt? Sie war auch ausgerastet, als sie erfahren hatte, dass ihr Sohn… Er musterte sie. Er konnte sich nicht vorstellen, dass diese Frau jemals ausrastete. Ein altes Bild erschien vor seinem inneren Auge. Mrs. Kinney im Wohnzimmer ihres kleinen Reihenhauses, wie eine kalte Königin. Aber sie war hier – wie er.
 

Er atmete tief durch. Emmet Honeycutt begrüßte ihn freundlich, Brian ein wenig steif, aber höflich. Gus ließ ein „Hallo, Opa Craig!“ verlauten, bei dem er Jennifers Blick im Nacken fühlte. Weitere Schwulenpärchen, auch mit Kindern, aber älter als Justin. Justin war doch zu jung… Aber andere hatten in seinem Alter doch auch schon Kinder? Kein Motorrad-Toy Boy weit und breit.
 

Er nutzte die Gelegenheit, als Mrs. Kinney aufstand, um sich neben Jennifer zu schieben.
 

„Hallo Jennifer.“
 

„Hallo Craig.“ Sie blieb ruhig sitzen, die Hände im Schoss gefaltet.
 

Er nahm einen beiläufigen Schluck von dem Punsch, den Justin ihm gereicht hatte. Eigentlich war ihm nicht so sehr nach Alkohol, der Scotch von gestern Abend meldete sich noch, aber er war froh, sich etwas daran fest halten zu können. „Hat Molly dir mein Päckchen gegeben?“ fragte er schließlich.
 

„Hat sie. Danke“, sagte Jennifer nur.
 

„Du hast es mir damals vorgelesen“, stellte er ruhig fest.
 

Sie schüttelte nur den Kopf und lächelte dabei.
 

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Michael trat in die Küche. Er war leicht beschwipst. Gestern hatte er auch ein wenig tiefer ins Glas geschaut, aber hatte die Schmerzgrenze nicht überschritten. Dazu gab es schließlich die Feiertage, um sich ein bisschen zu amüsieren, der Alltag und seine Tücken würde sie schon schnell genug wieder haben.
 

Er schaute sich um, wo in diesem Chromtempel war bitteschön der Kühlschrank. Sein Blick glitt über Schränke und Regale, dann blieb er kleben. Verdammt, das war doch das Tablett seiner Mutter, noch immer mit Alufolie bedeckt. Er musste grinsen. Sie hatte ihm erzählt, wie sie Brians zu ihr entsorgte Grasvorräte wiederaufzubereiten plante. Da oben im Schrank standen sie gut, da würden weder Gus noch Molly drankommen. Auf James musste man ein Auge haben. Und auf ihn, kicherte er in sich hinein, stieg auf einen Hocker, zog die Abdeckung fort und genehmigte sich einen. Einen würde er verkraften, ohne völlig unangenehm aufzufallen.
 

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Brian saß neben Ted auf dem Sofa und behielt die Lage im Blick.
 

Gus spielte fröhlich und sonnte sich in der allgemeinen Aufmerksamkeit. Joan ließ sich von ihm seine Spielzeugeisenbahn vorführen. Der Anblick hatte auf Brian dieselbe Wirkung wie der Biss in eine Zitrone… wie… liebevoll… du kaltes Miststück, dachte er. Dann rief er sich zur Raison. Seine Mutter mochte es mit ihm verpatzt haben, aber das hieß nicht, dass sie immer so bleiben musste. Darauf hatten sie sich verständigt. Aber es stieß ihm dennoch übel auf, seine Mutter so zu sehen, wie eine richtige… Großmutter. Mit finsterem Blick nippte er an seinem Bier.
 

Ben sah gar nicht gut aus. Scheiß Krankheit. Er selber hatte Glück gehabt, mehr Glück als Verstand. Andererseits hatte er immer mit dem Abgrund geflirtet, obwohl er immer vorsichtig gewesen war. Wenn‘s ihn erwischt hätte – ein gepatztes Kondom, ein falsch verlaufender Blow Job… das wäre es gewesen. Er hätte nicht bis ans Ende seiner Tage Körner gefressen und nach jeder Medikamentenumstellung ins Klo gekotzt oder sich halb tot geschissen. Ohne ihn. Und Justin? Was hätte er getan, wenn es ihn…? Hastig nahm er einen weiteren Schluck. Hatte es aber nicht. Und würde es auch nicht. Nein.
 

Aus dem Augenwinkel betrachtete er Justins Eltern, die schweigend nebeneinander saßen. Craig musterte Jennifer mit verstohlenen Blicken. Nanu, hatte da jemand wieder erwachte Frühlingsgefühle? Schleimte er sich deshalb bei Justin ein? Brian traute dem Braten nicht recht. Craig Taylor hatte Justin zum Teufel gejagt. Was wäre aus Justin geworden, wenn er selbst sich nicht um ihn gekümmert hätte? Sicher hatte er wenig Intention dazu gehabt, sich um einen revoltierenden Teenager und seine zur Hölle gehende Vororts-Familie zu sorgen. Aber er hatte einfach nicht weg gekonnt. Und das hatte nicht bloß daran gelegen, dass Klein-Justin so ein heißer Fick gewesen war. Und Craig hatte mehr als deutlich gemacht, was er von Ehen wie der ihren hielt, als er damals Antrag 14 unterstützt und Justin wegen seiner Demo in den Knast hatte werfen lassen, Debbie hatte es ihm brühwarm erzählt. Herzlich willkommen in unserem schwulen Heim zu unserer schwulen Weihnacht, Schwiegerpapi…
 

Justin hatte sich neben ihn gepflanzt, hielt aber, in Anbetracht der Gästeliste, diskret Abstand. Das würde denen so passen. Das hier war sein Zuhause, seine Familie, sein Mann. Er schlang den Arm um ihn und zog ihn heran. Justin stockte kurz, dann ließ er es geschehen. Brian lehnte seinen Kopf gegen Justins und begann beiläufig seinen Oberarm zu streicheln. Seine Mutter biss sich ins Innere der Wange, als sie es bemerkte. Das ist gar nichts, Muttilein, dachte Brian und beugte sich herab. Er küsste den überraschten Justin auf den Mund, nicht ohne die Zuge ein kleines bisschen ins Spiel zu bringen. Glaubt ja nicht, dass wir uns darauf beschränken, Händchen zu halten und über Kunst zu diskutieren. Schaut nur genau hin, wir sind keine asexuellen Witzfiguren wie dein Queer Guy, Emmet. Und, Mama, du darfst es dir gerne plastisch vorstellen, wie ich Justin über die Sofakante werfe und ficke, bis er um Gnade winselt…
 

Ihre Freunde nahmen die Aktion nicht weiter zur Kenntnis, aber Craig Taylor, der mit Jennifer benachbart saß, hatte es jetzt auch bemerkt. Joan hatte sich abgewandt und konzentrierte sich auf Gus. Immer schön weg gucken, das funktioniert doch immer bestens… Craig riss sich zusammen, obwohl sein Nasenflügel unwillkürlich zu zucken begonnen hatte.
 

Plötzlich schlangen sich von hinten Arme um sie. Michael sagte mit geweiteten Pupillen und einem glückseligen Lächeln auf dem Gesicht: „Das ist ja wie in den guten alten Zeiten! Was hast du damals noch zu Justin gesagt, als du ihn das erste Mal abgeschleppt hast? Ich zitiere: ‚Ich werde dich ficken, die ganze Nacht nur ficken!‘ Und Mannomann, das scheinst du ja auch ziemlich gründlich erledigt zu haben, du fickst ihn immer noch! Oder er dich. Wieauchimmer.“
 

Er hatte nicht allzu laut gesprochen, aber für die näher sitzenden durchaus verständlich.
 

Sie fuhren auseinander.
 

Craig sprang auf und raste Richtung Küche.
 

Justin und Brian starrten sich an, dann kam auch Justin auf die Füße und rannte hinter seinem Vater her.
 

Brian fasste nach hinten und hielt Michaels Kopf.
 

Michael kicherte immer noch.
 

„Du hast die Kekse gefressen“, stellte Brian fest.
 

„Nur einen!“ protestierte Michael.
 

Brian seufzte. „Na dann ist ja alles gut.“
 

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„Papa?“
 

Craig hatte die Kühlschranktür aufgerissen und musterte den Inhalt planlos: „Ich brauch einen Drink!“
 

„Moment, die harten Sachen sind hier. Whiskey?“
 

„Iren-Gesöff? Nehme ich.“
 

Justin goss ein und reichte seinem Vater ein reichlich gefülltes Glas, das dieser sofort ansetzte.
 

„Das… das hat er gesagt zu dir? Als du siebzehn warst?! Dass er dich die ganze Nacht nur ficken wolle?!!“ stieß Craig hervor.
 

„Tja, wie soll ich’s sagen. Ich wollte die ganze Nacht nur gefickt werden. Und Brian bricht nie ein Versprechen.“
 

„Du warst minderjährig!“
 

„Ich war notgeil.“
 

„Was?!“
 

„Ich war siebzehn! Ich hatte noch nie Sex! Und da war plötzlich dieser wunderschöne Mann, der mich wollte! Was glaubst du wohl, wie das war?“
 

„Er hat dich aufgegabelt und gefickt?! Das war alles, was du wolltest?!“
 

„Nein, aber den Rest habe ich ja schließlich auch gekriegt. Aber in dem Moment… ja! Ich wollte, dass er mich fickt! Die ganze Nacht! Und er hat es getan! Und es war unglaublich!“
 

Craig ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen. „Und jetzt fickt ihr euch gegenseitig oder was? Ich verstehe dich einfach nicht“, sagte er niedergeschlagen.
 

Justin setzte sich neben ihn: „Das musst du auch nicht. Was Brian und mich verbindet… ist viel mehr als bloß Ficken. Ich liebe ihn. Über alles. Und er liebt mich. Er ist mein Mann. Es war ein langer Weg. Aber wir sind eine Familie mit Gus.“
 

Craig schloss gequält die Augen: „Ja, Liebe ist niemals einfach, nicht wahr.“
 

Justin lachte herb auf: „Nein, wohl nicht. Bist du wieder scharf auf Mama?“
 

„Wie kommst du darauf?“ fuhr Craig auf.
 

„Ich bin weder blind noch taub – noch doof.“
 

„Ich weiß es nicht. Du sagst, du hast jetzt eine Familie. Hast du eine Vorstellung davon, wie es ist, wenn die plötzlich weg ist?“
 

„Dank dir – ja.“
 

„Ich habe versucht zu vergessen. Neu anzufangen. Es hat nicht geklappt.“
 

„Ja, das Leben kann echt scheiße sein“, versetzte Justin erbarmungslos.
 

Er sah sich um. Sein Blick fiel auf das Tablett mit den Keksen. Etwas Süßes wäre jetzt wirklich nicht schlecht. Er krabbelte hinauf und zog die Platte aus dem Regal. Debbies Schokokekse. Ein Geschenk des Himmels.
 

Er trat vor seinen Vater: „Probier Mal, die sind echt super.“
 

Dankbar griff Craig zu. Immerhin redete Justin nach wie vor mit ihm.
 

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Jennifer stand auf, um sich dezent in Richtung Toilette zu entfernen. Als sie in die Eingangshalle trat, öffnete sich die Küchentür und Craig kam ihr entgegen. Sein Blick war irgendwie seltsam. Sie lief quer durch den Raum, er blieb direkt vor ihr stehen.
 

„Schau mal, Jenn“, sagte er grinsend. Seine Pupillen waren geweitet. „Ein Mistelzweig!“
 

Ehe sie sich versehen hatte, hatte er seine Arme um sie geschlungen. Ihr Körper reagierte, ohne dass sie ihn hätte stoppen können.
 

Craigs Lippen lagen auf ihren, sie war nach hinten durch gebeugt in seiner Umarmung, und er küsste sie wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Sie wurde durch die Zeit geschleudert, in ihr drehte sich alles.
 

Craig…
 

Scheiße, was ging hier vor?
 

War er… stoned?
 

Sah so aus.
 

Was…?
 

Ihr Verstand registrierte, dass ihre Zunge gegen die seine drückte, sie umschlang, ihre Hände sich in sein Haar gruben…
 

Sie standen im Studentenwohnheim, draußen hatte es begonnen zu schneien, die ganze Nacht lag vor ihnen…
 

Scheiße…
 

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Brian trat durch die Tür, um der liebreizenden Aufforderung seiner Mutter nachzukommen, für Gus doch bitte noch einen Kakao zu zubereiten. Und wenn er schon mal dabei war, könnte er ihr noch ein Mineralwasser mit Eis und Zitrone besorgen. Super, jetzt fühlte er sich wieder präpubertär.
 

Ganz offensichtlich ganz im Gegensatz von Mami und Papi Taylor.
 

Jennifer hing an der Wand, ganz undamenhaft die Schenkel um ihren Exmann geklammert, der keuchend seine Zunge anscheinend gar nicht tief genug in ihrem Mund versenken konnte. Und Brian wollte gar nicht wissen, wo seine Hände sich gerade befanden.
 

Hetensex in seinem Flur, igitt.
 

Jennifer hatte auch schon bessere Auftritte hingelegt.
 

Aber wenn sie scharf auf ihren Ex war – nicht sein Bier. Oder…? Wenn Justin deswegen im Dreieck springen sollte, wahrscheinlich unfreiwillig schon.
 

Er seufzte tief, dann räusperte er sich.
 

Die beiden fuhren ertappt auf.
 

Ohne auch nur eine Miene zu verziehen sagte er: „Das Gästezimmer ist oben, links, erste Tür links.“
 

Die beiden waren knallrot im Gesicht.
 

Brian musterte sie. Craigs Gesicht glänzte, seine Augen sahen nicht gerade normal aus. Scheiße… die Drecks-Kekse.
 

Wenn Justin jetzt noch ein Geschwisterchen bekommen sollte, war es wahrscheinlich seine Schuld, dachte er, als die beiden sich fluchtartig entfernten.
 

Er war sich nicht sicher, ob die Welt noch einen Taylor verkraften würde.
 

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Jennifer war mittlerweile alles egal.
 

Es war nur Sex.
 

Craig war platt, und sie war…
 

Fast wie früher.
 

Es war eine Scheißidee.
 

Aber sie wollte es, sie hatte schließlich auch ein verdammtes Recht darauf! Sie konnte wild sein, ohne Reue! Sie waren schließlich erwachsene Leute.
 

Sie schubste ihren Ex-Mann aufs Bett und sprang auf ihn, während er ihren Namen stöhnte.
 

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Brian suchte mit den Augen die Küche ab, dann erspähte er ihn.
 

Justin saß, den Kopf zurück gelegt auf dem Boden, an die Kücheninsel gelehnt, das Kekstablett auf dem Schoß. Er lächelte selig und knabberte genussvoll an einem weiteren Gebäckstück.
 

„Her mit den Keksen!“ befahl Brian, bückte sich und zerrte an der Platte.
 

Justin hielt fest. „Du willst doch eh keinen Keks. Alles meiiiins!“
 

„Auf gar keinen Fall, du bekifftes Stück!“
 

„Ich hab‘ doch gar nicht gekifft. Nur ein paar Keksis…“
 

„Wie viele?!“
 

„Ich bin nicht dick!“
 

„Nein, bist du nicht. Du bist gertenschlank, superknackig und sexy wie die Hölle. Wie viele?!“
 

„Weiß nicht“, schniefte Justin, „sieben… oder acht?“
 

Ach du Scheiße.
 

„Wie viele hat dein Vater gegessen?“
 

„Nicht so viele. Weiß nicht. Vier?“
 

Auch nicht gut.
 

„Und du hattest acht?“
 

„Oder neun… lecker…“
 

„Justin. Das waren Haschkekse.“
 

„Echt?“ Justin begann haltlos zu kichern.
 

„Geht’s dir gut?“ fragte Brian besorgt.
 

„Mir geht’s suuuuuuuper!“
 

„Na, das freut mich.“
 

Klasse. Sie hatten das Haus voller Leute, die Taylors fickten vermutlich in ihrem Gästezimmer in Gedenken an alte Zeiten, und Sohnemann hatte sich weit von den Sphären entfernt, in denen er noch zurechnungsfähig gewesen wäre. So konnte er Justin auf niemanden mehr los lassen.
 

„Justin?“
 

„Briaaaan???“
 

„Du schiebst jetzt ab ins Bett!“
 

„Neieieien! Ich bin noch nicht müde!“
 

Himmel, das war ja schlimmer als mit Gus. Debbie sei verflucht.
 

„Dooooooch! Du bist völlig stoned! Du trollst dich besser, oder ich stecke dich wieder in einen Sack!“
 

„Das war geil!“ stellte Justin klar und bekam einen Schluckauf.
 

„Ja, war es. Wenn auch auf eine ziemlich abgefahrene Art und Weise, muss ich sagen. Was kommt nächstes Jahr? Gibst du dann den Rudolph? Das würde mich dann endgültig in ein äußerst schlechtes Licht rücken.“
 

Justin begann zu lachen. Dann sagte er augenklappernd : „Ich mach dir alles, was du willst.“
 

Brian musste schlucken. Daran kein Zweifel. Er beugte sich herab und zwang Justin auf die Füße. Justin schlang die Arme um ihn und drückte die Lippen gegen seinen Hals. Ohne dass er es hätte kontrollieren können, schoss ein kleiner Schauder durch seinen Körper. Er biss die Zähne zusammen.
 

„Komm, sei ein braver Junge und verpiss dich in die Heia“, lockte er.
 

„Und was ist“, fragte Justin mit einem schiefen Blick durch die Wimpern, „wenn ich kein braver Junge sein will? Wenn ich… unartig war?“
 

„Lass das!“ forderte Brian, allmählich leicht verzweifelt.
 

„Wieso denn?“ gurrte Justin in seinen Armen. „Du magst es doch, wenn ich ein böööööser Junge bin. Vielleicht solltest du mich bestrafen?“
 

„Sollte ich vielleicht, aber nicht so, wie du denkst! Hör endlich auf mit deinen masochistischen Fantasien, zumindest solange wir hier die Bude voll haben!“
 

„Ach ja. Wo ist eigentlich mein Vater hin? Wir hatten ein ziemlich gutes Gespräch. Ich glaube, er mag Mama immer noch oder wieder oder so.“
 

Ja, dachte Brian, die beiden schändeten wahrscheinlich gerade die Unschuld ihres schwulen Hausstandes.
 

„Okaaaaaay“, sagte Justin schließlich. „Ich verzieh mich. Aber das ist doch sehr, sehr unhöflich, oder?“
 

„Ich sehe da nicht so die Alternativen. Ich finde schon eine Ausrede. Also Abmarsch.“
 

„Jaja, aber vorher habe ich noch Hunger.“
 

„Die Kekse sind für dich gestorben!“
 

„Worauf habe ich Bock? Wurst? Käse? Wurst? Käse? Moment.“ Er riss dich Kühlschranktür auf.
 

Brian hörte, wie hinter ihnen die Küchentür aufging.
 

„Justin, komm!“ sagte er nervös.
 

„Brian, solange dauert doch kein Kakao! Und was ist meinem Wasser?“ ließ Joan verlauten.
 

„Es geht ihm nicht so gut… Justin, komm!!!“
 

„Herrgott, mach doch nicht so einen Terror! Und wie heißt es so schön: Bevor ich dich beglücke, Puppe, brauch ich erst ne Nudelsuppe!“
 

Joans Mund öffnete sich und sah nicht aus, als würde er sich in naher Zukunft wieder schließen.
 

Brian hatte seine Mutter noch nie derart fassungslos gesehen.
 

Ein Teil von ihm wollte in Panik verfallen.
 

Aber der andere Teil siegte.
 

Er begann zu lachen.
 

„Wie redet der denn mit dir!“ brachte Joan hervor.
 

Brian bekam fast keine Luft mehr.
 

„Sonnenschein“, japste er, „du bist echt unbezahlbar!“
 

„Ich weiß“, lächelte Justin stolz, während er hemmungslos mit einem Wurstzipfel Schmelzkäse in sich hinein schaufelte. „Oh, hallo, Mrs. Kinney. Wollen Sie einen Keks?“
 

„Nein danke“, sagte Joan in ihrem üblichen Tonfall.
 

„Okidoki“, sagte Justin, trat zu Brian und gab ihm einen feuchten Kuss auf die Lippen. „Gute Nacht!“ schloss er, winkte heiter und torkelte hinaus.
 

„Was“, begann Joan, „War. Das. Denn.“
 

Sollte er lügen?
 

Nein.
 

„Jemand hat eine Ladung Haschkekse mit gebracht. Justin wusste das nicht und hat sie aufgefuttert.“
 

„Ihr konsumiert Drogen?“
 

Genaugenommen ja – obwohl in letzter Zeit nicht mehr. Wie sollte man stoned auf Gus aufpassen?
 

„Das war ein Unfall.“
 

„Oh, die Kekse sind einfach vom Himmel unvermutet auf den armen Jungen gefallen?“
 

„So ungefähr. Er ist unschuldig. Er weiß nicht, was er gerade tut.“
 

„Wer? Hat? die Dinger angeschleppt? Gus könnte…?“
 

„Nein! Ich habe aufgepasst!“
 

„Das hat man bemerkt! Du duldest sowas in deinem Haus?!“
 

Brian malmte mit den Kiefer: „Gus bekommt von uns keine Drogen. Und wir hopsen auch nicht vollgedröhnt vor ihm rum, falls das deine Sorge sein sollte!“
 

„Aber ihr nehmt Drogen?“
 

„Nein. Schon lange nicht mehr.“
 

„Aber ihr habt?“
 

„Ja. Ab und an Discodrogen, Hasch.“
 

„Alkohol und Drogen… Wolltest du deinem Vater nachfolgen?! Das geht nicht. Nicht mit Gus.“
 

„Ich weiß! Das ist Vergangenheit!“
 

Joan musterte ihn tief: „Du bist ziemlich tief gefallen.“
 

Brian lachte bitter auf: „Mag sein. In deinen Augen. Und tu gefälligst nicht so als habest du da eine blütenweiße Weste! Aber darauf pfeife ich. Damals war damals und Jetzt ist Jetzt.“
 

„Du tust das Gus nicht an…?“
 

„Wie süß, die besorgte Oma! Nein! Wir tun Gus gar nichts an! Wir würden alles, alles für ihn tun!“
 

„Du liebst ihn?“
 

„Gus? Natürlich!“
 

„Nein. Das weiß ich. Ich meine Justin.“
 

„Ja!“
 

„Warum?“
 

„Warum, warum, warum! Nicht alles hat einen logischen Grund!“
 

„Ist es, weil er… niedlich ist? Blond?“
 

„Nein.“
 

„Was siehst du ihn ihm?“
 

„Was interessiert dich das? Und was geht dich das an?“
 

„Nichts. Aber ich will es wissen.“
 

Brian kniff die Augen zusammen. Dann sagte er: „Das ist ein Fehler, glaube mir. Liebe lässt sich nicht erklären. Und wenn doch, dann sollte man weghören. Es würde alles zerstören, analytisch, kalt machen. Die einzige Antwort darauf kann nur subjektiv sein und niemals erschöpfend. Ich weiß nicht, was eher da war, das Huhn oder das Ei. Ich habe keine Ahnung, ob ich mich in ihn… verliebt habe, weil er so ist, wie ich ihn sehe, oder ob ich ihn so sehe, weil ich in für ihn empfinde, wie ich empfinde. Ich weiß es einfach nicht. Aber, Mutter“, sagte er und sah sie an, „wie und warum auch immer. Ich liebe ihn. Und er gibt mir… alles. Er ist alles. Er hat mir alles gegeben. Mein Zuhause. Meine Familie. Meine Freiheit. Ganz abgesehen von meinem Wohlstand, meiner geistigen Gesundheit und meinem Leben.“
 

Joan schwieg angespannt. Dann fragte sie: „Und was ist mit mir? Mit Claire? John und Jack?“
 

„Mit euch bin ich durch Geburt verbunden. Mit Justin und Gus durch Glück . Wie würdest du dich im Zweifelsfall entscheiden?“
 

„Wir sind auch deine Familie.“
 

„Weil ihr müsst. Nicht, weil ihr – oder ich – das wolltet.“
 

Joan schaute ihn an: „Vielleicht geht es auch… mit wollen?“
 

Brian starrte zurück. „Du hast mich nie gewollt.“
 

„Das ist nicht wahr. Ich wollte dich. Ich konnte nur nicht…“
 

„Ja, das Thema hatten wir schon“, wandte sich Brian ab.
 

Joan ließ ihren Blick über die Rückseite ihres Sohns gleiten. Hochgewachsen, breitschultrig und männlich. Da war nichts Verweichlichtes an ihm, nichts Schwaches. Und vielleicht auch… nichts Böses.
 

Sie räusperte sich.
 

„Ich kann deine Ehe nicht anerkennen“, sagte sie.
 

„Das ist mir – mit Verlaub – scheißegal“, erwiderte Brian.
 

„Aber ich kann“, fuhr sie unbeirrt fort, „akzeptieren, dass du glücklich zu sein scheinst.“
 

Brian lenkte den Blick seiner undefinierbaren Augen auf sie: „Ich bin gerührt. Sprich gefälligst Klartext!“
 

„Wenn du mit diesem jungen Mann… zusammen sein willst, egal wie… merkwürdig das sein mag… dann mach das. Justin… liebt Gus. Und Gus liebt ihn. Es ist wichtig, für Gus.“
 

„Und für mich“, versetzte Brian.
 

„Und für dich“ bestätigte sie widerwillig. „Du… küsst ihn, habe ich vorhin gesehen?“
 

Brian sah sie aus großen Augen an, dann begann er zu lachen: „Was glaubst du wohl? Sehe ich aus wie ein Teenager, dem ein paar Kuscheleinheiten genügen? Im Mondschein verschämt Händchenhalten? Natürlich küsse ich ihn! Und nicht nur auf die Lippen!“
 

Joan krampfte sich zusammen.
 

„Aber nicht vor Gus!?“ entfuhr ihr.
 

„Falls du fragen möchtest, ob wir vor Gus Nase rumficken, fasse ich das als eine üble Beleidigung auf. Und falls du fragen möchtest, ob wir auf Teufel komm raus darauf achten, dass Gus bloß nicht mitbekommt, dass wir mehr sind als nette Kumpels, dann hast du dich gleichfalls geschnitten.“
 

„Das könnte… verstörend für Gus sein.“
 

„Verstörend?“ fragte Brian mit gefährlich leiser Stimme.
 

„Er lernt nicht, wie es ist, normal zu sein.“
 

Brian fuhr herum: „Normal? So normal wie du und Vater? Da bin ich lieber ganz und gar nicht normal! Aber falls es dich beruhigt: Wir sehen uns als „normal“ an.“
 

„Aber das ist es nicht…“
 

„Doch, das ist es! Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Schluck es oder nicht. Und falls nicht, weißt du ja, wo der Ausgang ist.“
 

Brian stieß sich vom Küchentresen ab und verließ die Küche, ohne sie auch noch nur einmal anzuschauen.
 

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Die Stimmung im Wohnzimmer war heiter und ausgelassen, als Brian wieder eintrat. Die Petersons hatten Gus mit einer weiteren Ladung Geschenken übergossen und plauderten jetzt mit Ben. Michael saß auf dem Boden und verfolgte leise vor sich hin glucksend den Lauf der Spielzeugeisenbahn.
 

Er spürte, wie Joan hinter ihm fast geräuschlos durch die Tür kam.
 

Molly kam auf ihn zugesprungen. „Hast du meine Eltern oder Justin gesehen?“ fragte sie wohlgelaunt.
 

„Justin hat… eine Magenverstimmung. Und deine Eltern… reden oder so…“
 

„Was? Hat mein Bruder es doch noch hinbekommen, sich zu überfressen? Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist! Und Mama und Papa…?“
 

Brian zwang sich zu einem Lächeln: „Die kommen bestimmt gleich wieder. Wollten sich was im Haus anschauen, glaube ich. Und Justin… Ich glaube, ich schaue Mal nach ihm.“
 

Debbie lächelte ihn strahlend an, als er auf sie zutrat. Sie thronte in der Mitte des Sofas und sah aus wie die König von Saba nach dem Genuss von zwanzig Sahnetorten. Der Punsch schien ihre Stimmung noch weiter verbessert zu haben.
 

„Brian!“ lachte sie. „Eine wunderschöne Feier! Ich bin so froh für dich! Für euch! Wo ist denn dein Gatte überhaupt, habe ihn schon länger nicht mehr gesehen?“ Sie spähte um ihn herum.
 

Brian verzog den Mund zu einem aufgesetzten Lächeln: „Ach weißt du, dem ist ein bisschen flau geworden, nachdem er zusammen mit seinem Papa von deinen Keksen genascht hat. Herzlichen Dank dafür noch mal!“
 

Debbie fuhr sich erschrocken mit der Hand vor dem Mund: „Du… du hast sie nicht in Sicherheit gebracht?“ Sie stand auf.
 

„Wie sicher können Schokoladenkekse in Reichweite von Justin und weiteren Taylors sein?“ fragte Brian, während Debbie ihm in den Flur folgte.
 

„Du hättest es ihm sagen müssen!“
 

„Bin ich leider nicht zu gekommen, weil so ein Ärgernis namens Besuch mein Wohnzimmer geflutet hat. Und dann ist wohl dein kluger Sohn auf die Idee gekommen, mal einen zu naschen, und hat die Abdeckung nicht wieder drüber gezogen.“
 

„Scheiße, Brian… Alles in Ordnung…?“
 

„Eine sehr gute Frage! Justin ist hackedicht und hat sich auf mein Anraten aus dem Verkehr gezogen, nicht ohne zuvor meiner Mutter ein paar interessante Einsichten zu vermitteln. Und Craig Taylor spielt in unserem Gästezimmer Höhlenmensch mit seiner Ex-Frau.“
 

„Aber Jenn würde doch nie…!“
 

„Das sah für mich aber anders aus! Schau mich bitte nicht so an, in Hinblick auf die Bedürfnisse von Frauen in den Mittleren Jahren bin ich nun wirklich nicht der richtige Ansprechpartner! Ich muss jetzt erst mal ein Auge auf Justin werfen, der hat neun von den Dingern intus, das kann auch daneben gehen. Du, als große Bäckermeisterin, könntest ja derweil hübsch auf unsere süße kleine Familienparty aufpassen. Dass jeder zu essen hat und zu trinken und in einem Blubberbad voll Festtagsstimmung untergeht… und keiner auf die Idee kommt, in den ersten Stock hoch zu laufen – Gus inbegriffen – denn dort befindet sich leider der größte Teil der Familie Taylor in unterschiedlichen Formen und Stadien der Enthemmung!“
 

„Mache ich Brian“, versprach Debbie. „Und… es tut mir leid…“
 

„Schon gut. War schließlich mein Dope. Ich hätte es selber wegschmeißen sollen und nicht dir unterjubeln.“
 

„Dennoch – das mit den Keksen war wirklich blöd von mir.“
 

„Erinnerung an deine heißen Jugendsünden? Ach Debb…“, sagte er und zuckte mit den Schultern. Er konnte ihr nicht wirklich böse sein.
 

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Justin lag bäuchlings auf dem Bett. Er hatte anscheinend versucht, sich aus seinen Sachen zu strampeln, hatte aber anscheinend auf halbem Wege aufgegeben. Sein hoch gezogenes Hemd entblößte den Oberkörper, seine Hose war um seinen linken Fußknöchel verheddert. Er hatte sich ein Kissen über den Kopf gezogen, das er mit beiden Armen festklammerte.
 

Brian setzte sich neben ihn auf die Bettkante und fasste ihn an der Schulter, um ihn herum zu drehen.
 

Justin zuckte und murmelte: „Das war’s. Ich werde nie wieder einen hoch bekommen!“ Er vergrub sich noch tiefer in die Bettwäsche.
 

„Was verleitet dich denn zu dieser Annahme?“ fragte Brian in möglichst ruhigem Tonfall.
 

„Scheiß Drogen. Ich bin auf nem Horror-Trip oder so. Ich habe mir eingebildet, dass ich Geräusche aus dem Gästezimmer gehört habe. Und als ich rein geschaut habe, waren da meine Eltern. Und sie haben… Ich bin erledigt. Ich werde nie wieder Bock auf Sex haben.“
 

„Ach, Justin“, sagte Brian und legte sich neben ihm lang. „Das ist doch Blödsinn. Komm her, du Haubitze.“
 

Justin spähte aus riesigen Pupillen unter dem Kissen heraus an. Brian entschied, dass es nicht der günstigste Augenblick war, Justin zu offenbaren, dass seine Sinne ihm wahrscheinlich keinesfalls etwas vorgegaukelt hatten.
 

Justin wand sich zu ihm hinüber und schlang die Arme um ihn. „Du riechst so gut“, murmelte er an Brians Brust.
 

„Was?“ fragte Brian amüsiert.
 

„Ja…“, flüsterte Justin weiter und versenkte die Nase tiefer in seinem Oberteil, „wie… Kirschen… und Erdbeeren… und Holunder… und Apfelsinen…“
 

„Ich rieche wie ein Obstsalat?“
 

„So gut“, murmelte Justin und klammerte sich fest, „nicht nach fremden Typen. Nur nach dir. Lecker…“
 

„Jetzt bekomme ich allmählich Angst. Frisst du mich jetzt auf?“
 

„Vielleicht, ein bisschen…“ erwiderte Justin und biss durch die Kleidungsstücke leicht in Brians rechte Brustwarze.
 

„Hey“, sagte Brian lächelnd, „lass das, du hast schließlich dem Sex abgeschworen! Und ich muss wieder runter, wir haben die Bude voll, schon vergessen?“
 

„Nöööö, aber vielleicht… ein kleines bisschen….? Nur um zu sehen, ob’s noch funktioniert?“ gurrte Justin und rieb sich an ihm.
 

„Ich bin versucht“, antwortete Brian wahrheitsgemäß. „Aber hier steht schon genug Kopf, ohne dass uns jetzt noch jemand beim Ficken erwischt.“
 

„Das hat dich doch früher auch nicht irritiert“, surrte Justin und leckte seinen Hals. Eine Gänsehaut machte sich auf Brians rechter Körperseite breit.
 

„Nein, aber irgendjemand muss diesen Flohzirkus hier ja einigermaßen unter Kontrolle behalten. Und du bist da im Moment nicht so der Geeignetste.“
 

Fast gewaltsam rappelte Brian sich auf. Justin schaute ihm mit glasigen Augen nach und breitete sich einladend auf dem Laken aus. Ein Teil von Brian plädierte dafür, sich ohne Sinn und Verstand auf ihn zu werfen und ihn durch die Matratze zu rammen. Und das Bett. Und den Boden. Und damit mitten in der Festtagsgesellschaft im Wohnzimmer zu landen.
 

„Du bist jetzt erst einmal ein braves Drogenopfer und bleibst schön in diesem Zimmerchen. Aber ich verspreche dir, dass ich gerne auf das von dir angeschnittene Thema zurück kommen werde, sobald hier wieder Ruhe herrscht.“
 

„Vielleicht habe ich ja dann keinen Bock mehr. Vielleicht habe ich bis dahin ein Trauma – wegen meinen Eltern und so…“
 

„Das glaube ich eher nicht. Du ziehst dir jetzt wieder was über, und ich schicke dir Daphne rauf, die auf dich aufpasst.“
 

„Sehe ich aus wie drei?“ fragte Justin und ließ die Finger über seinen Körper gleiten.
 

Brian schloss die Augen. „Tendenziell eher nicht. Mit der Nummer würdest du jedenfalls aus jedem Kindergarten fliegen. Bis später, du Haschkeks!“ verabschiedete er sich und sah zu, dass er Land gewann.
 

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Jennifer lag keuchend auf der weichen Überdecke im Gästezimmer.
 

Ihr Körper bedankte sich jubelnd bei ihr.
 

Ihr Geist riet ihr, sich postwendend im nächsten Erdloch zu verkriechen und nie wieder daraus hervor zu kommen.
 

Was zur Hölle war in sie gefahren?
 

„Jenn…“, murmelte Craig neben ihr.
 

„Sag nichts!“ schnitt sie ihn ab und erhob sich, ihre Kleidung an sich raffend.
 

„Es ist nun mal passiert“, fuhr sie fort. „Wir sind erwachsen, es ist mit uns durchgegangen. Aber wir können damit umgehen, verstehst du?“
 

Craig hielt sein Gesicht in den Händen verborgen. „Ja, wahrscheinlich“, presste er nach einer kurzen Pause heraus.
 

Jennifer schlüpfte in ihre Pumps und straffte das Kinn, dann trat sie auf den Flur.
 

„Hallo…. Jennifer. Hat dir unser Gästezimmer gefallen?“ grinste Brian, der aus seinem und Justins Schlafzimmer kommend auf die Treppe zusteuerte.
 

In Momenten wie diesen wünschte sie sich einen verklemmteren Schwiegersohn, der nicht ungeniert den Finger auf den Kern der Sache legen würde. Brian war auf seine Weise diskret, er würde nicht damit hausieren gehen. Aber diese Weise war auch recht speziell.
 

„Du sagst Justin bitte nichts?“ bat sie ihn.
 

„Was ist denn heute bloß los, dass mir alle ihre Geheimnisse anvertrauen? Sehe ich aus wie der Beichtvater der Nation? Aber da kommst du leider zu spät, dein geliebter Sprössling hat euch nämlich leider gesehen, als ihr bei der… Besichtigung ein wenig laut geworden seid.“
 

„Oh Gott, Brian, sag dass das nicht wahr ist!“ entfuhr Jennifer entsetzt.
 

„Der Himmel wollte, dass Justin sogar noch breiter ist als sein Herr Papa. Er denkt, er hätte sich das eingebildet. Deine Sache, ob du das richtig stellst oder den Mantel der Schamhaftigkeit darüber wirfst.“
 

Jennifer wusste, dass sie rot war: „Was soll das heißen? Justin ist… breit?“
 

„Vollgedröhnt wie tausend Rinder vor der Schlachtung. Er und dein Ex-Gatte, zu dem du ja eine ausgesprochen distanzierte Beziehung pflegst, haben unwissentlich Debbies Haschkekse aufgefressen – und Justin hat es dabei noch übler erwischt als seinen Papa.“
 

„Was? Craig war…?“
 

„Ich würde nicht darauf spekulieren, dass er auch denkt, dass er es sich nur eingebildet hat. Aber wie auch immer – das ist eure Angelegenheit.“
 

„Und Justin…?“
 

„Dem geht es, den Umständen entsprechend, gut. Aber auf die Menschheit sollte man ihn vielleicht jetzt nicht gerade los lassen. Ich wollte ihm Daphne als Babysitter zur Seite stellen, solange wir da unten in Friede, Freude, Eierkuchen das Fest der Liebe fertig zelebrieren. Du hast deinen Beitrag ja eigentlich schon geleistet, aber möchtest du vielleicht noch was – eine Zigarette vielleicht?“
 

Jennifer schloss gequält die Augen.
 

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„Justin?“
 

„Jaaaa….? Hallo Daphne…“ Justin lag, leidlich bekleidet, rücklings auf dem Bett und beobachtete die Maserung der Decke.
 

„Alles okay mit dir?“
 

„Ich hatte neun Haschkekse.“
 

„Aber du lebst noch?“
 

„Jaaaa…“
 

Daphne setzte sich grinsend neben ihn. Justin sah völlig bekifft aus, sein Haar stand in alle Richtungen ab und er wackelte sinnlos mit den Zehen. „Du sagst Bescheid, wenn es dir schlecht geht?“ fragte sie.
 

„Vielleicht… Vielleicht kotze ich dann aber doch lieber ohne Warnung auf deinen Pullover, der ist nämlich voll hässlich.“
 

„Danke, Herr Modeberater. Aber das hat schon Gründe, warum ich den trage“, erwiderte sie und griff nach seiner Hand.
 

„Was denn für Gründe? Du willst den Preis für das beschissenste Outfit gewinnen? Oder willst du dir neuerdings einen reichen Spießer-Gatten angeln, der auf gediegenen Sackpullover-Chic steht? Da bist du hier aber an der falschen Adresse.“
 

„Ich bin schwanger“, sagte sie unvermutet.
 

Justin begann zu kichern. „Quatsch!“
 

„Ich bin schwanger“, wiederholte sie noch einmal sehr langsam.
 

Justin steigerte sich in einen Lachkrampf hinein. Er wandte sich ihr zu: „Was echt jetzt?“
 

„Ja. Echt jetzt.“
 

„Du bist aber noch gar nicht so fett.“
 

„Charmant. Ich bin im vierten Monat. Das kommt noch.“
 

„Ich dachte bei dir sei tote Hose gewesen? Wen hast du gefickt?“
 

Daphne musterte ihn abschätzig.
 

„Komm, sag schon! Wen hast du ge-fi-ickt? Oder war’s ne Windbestäubung?“
 

„Kann ich dir jetzt noch nicht sagen.“
 

„Wie jetzt? Papas Namen vergessen? Habt ihr Heten noch nie was von Safer Sex gehört?“
 

Daphne rollte die Augen: „Doch, durchaus. Aber es gibt keine Garantien im Leben.“
 

Justin rollte sich auf der Seite zusammen, immer noch von kurzen sinnlosen Lachkrämpfen geschüttelt. „Brauchst du Hilfe?“
 

„Ich melde mich.“
 

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Craig starrte noch immer die Zimmerdecke an. Er konnte sich nicht regen. Er fühlte sich benebelt, ihm war ein wenig schlecht.
 

Er und Jenn hatten…
 

Oh Gott!
 

Und sie war so… wild gewesen.
 

Und ihre Worte… Er fühlte sich irgendwie benutzt.
 

Wer war diese Frau?
 

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„Du hast deine Meerschweinchen nach uns benannt?“ fragte Emmet lächelnd Gus.
 

Der kleine Junge lächelte strahlend und nickte.
 

„Das ist aber lieb! Nicht wahr Ted?“
 

„Ja, total. Jeder von uns sollte so liebenswürdig sein, mich eingeschlossen! Ich spiele mit dem Gedanken, mir eine Bisamratte zum Kuscheln anzuschaffen. Und die nenne ich dann Brian.“
 

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Craig schlich die Treppe hinunter. Er fühlte sich jetzt etwas klarer. Was war mit ihm los gewesen? Hatte der Alkohol auf seine Medikamente gewirkt, die er wegen eines sich androhenden Blasensteins nehmen musste?
 

Erleichtert stellte er fest, dass sich Jennifer gerade nicht im Wohnzimmer befand.
 

Er trat auf Brian zu, der seinen kleinen Sohn auf der Hüfte trug und mit Emmet Honeycutt und diesem Schmidt plauderte.
 

Er räusperte sich: „Ich bedanke mich noch einmal für die Einladung und den schönen Abend, aber ich befürchte, ich muss mich jetzt verabschieden. Ich würde mir gern ein Taxi rufen…“
 

„Selbstverständlich!“ erwiderte Brian. „Und es freut mich sehr, dass sie sich in unserem Zuhause gut haben amüsieren können. Justin ist leider gerade… indisponiert.“
 

Craig erstarrte innerlich. Oh Gott, Brian hatte das ja vorhin mitbekommen. Würde er jetzt… und Jenn?
 

Er errötete, während Brian ihn in die Eingangshalle begleitete.
 

„Sie…“, begann er.
 

„Ich – gar nichts. Das ist ihre Sache. Nicht meine. Oder Justins.“
 

Craig kniff erleichtert die Lippen zusammen, während der größere Mann sich abwandte, um ihm ein Taxi zu bestellen.
 

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Erschöpft schloss Brian die Tür zum Schlafzimmer. Es war gerade mal kurz nach Mitternacht, aber er hatte das Gefühl, dass es mindestens vierundzwanzig Stunden später sein müsse.
 

Weihnachten war vorbei. Der letzte Gast hatte Land gewonnen. Geschafft.
 

Justin lag leise schnarchend auf der Bettdecke und kurierte sich aus. Er hielt Gus‘ Stoffmeerschweinchen, Mr. George, in der Hand, das Gus heute Morgen hier vergessen hatte.
 

Als Brian neben ihn glitt, wachte er halb auf.
 

„War das jetzt eine völlige Katastrophe?“ fragte er mit geschlossenen Lidern.
 

„Nein, nicht wirklich. Hat sich, glaube ich, jeder auf seine Weise amüsiert, wenn auch nicht immer zeitgleich und durchgehend – oder über dasselbe.“
 

„Tut mir leid“, sagte Justin leise und rollte an ihn heran.
 

„Was? Das mit den Keksen? Dafür konntest du doch nichts“, erwiderte Brian und zog ihn an sich.
 

„Nein… dass ich drauf bestanden habe… das hätte ich nicht tun sollen…“
 

Brian spürte, wie Justins Haare an seiner Nase kitzelten, und griff hinein: „Quatsch. Keine Entschuldigungen, kein Bedauern, schon vergessen? Du hast mich zu gar nichts gezwungen.“
 

„Könnte ich auch nicht.“
 

„Nein, könntest du nicht.“
 

„Gut“, sagte Justin und sank erneut hinab in tiefen Schlummer.

Familien

XXIII. Familien
 

„Deine Mutter möchte, dass wir ein Gespräch mit ihrem Pastor führen, die Petersons möchten uns zum Essen einladen, mein Vater möchte uns eine neue Außenbeleuchtung montieren, meine Mutter und Molly wollen mit Gus und uns in den Zoo, und John hat Fragen an dich wegen seiner Ausbildung. Und die Novotny-Bruckners haben wegen eines gemeinsamen Familienurlaubs angefragt“, sagte Justin, eine verführerisch duftende Tasse Kaffee unter Brians Nase haltend.
 

„Was?!“ entfuhr Brian, als er aus den Kissen hoch schoss.
 

Justin lachte mutwillig und stellte die Tasse auf dem Nachttisch ab.
 

Brian fiel wieder hinten über. „Komm her du…“, murmelte er und zerrte den Jüngeren auf sich.
 

Justin strampelte sich zu recht und stemmte sich mit beiden Armen über ihm ab: „Keine Panik, mir reicht es momentan auch völlig mit dem Familien-Terror.“
 

„Doch lieber wieder eine undefinierte Beziehung?“ fragte Brian und schaute zu ihm hoch.
 

Justin ließ sich hinunter sinken. „Jede Beziehung ist doch irgendwie undefiniert. Egal wie viele Scheine man sich darüber ausstellen lassen mag. Wäre doch grauenhaft, wenn man so etwas definieren würde, oder?“
 

„Mmm, da hast du wohl irgendwie recht. Das wäre wohl der Tod“, meinte Brian und schlang die Finger weit ausgespannt um Justins Hinterbacken.
 

„Tod in Stepfordhausen?“
 

„Ist das nicht dasselbe?“
 

„Wahrscheinlich… für dich. Und für mich auch. Ich will keine Scheiß-Klischees ohne Inhalt. Aber ich fühle mich nicht tot. Ich fühle mich quietschelebendig.“
 

„Trotz des ganzen Spießer-Krams?“ fragte Brian mit hochgezogener Augenbraue, während er genüsslich damit fortfuhr, Justins Hintern zu massieren.
 

„Was meinst du?“ fragte Justin, sich wohlig entgegen drängend.
 

„Trauschein. Haus. Kind.“
 

„Meinst du? Was mich angeht, bist du mein Mann. Nicht, weil es irgendwo auf Papier steht. Sondern weil du es einfach bist. Und basta. Und unser Daheim steht nicht in Stepfordhausen, weder im bildlichen noch im übertragenen Sinn. Und ich liebe Gus, da ist es mir völlig Wurst, was andere dazu denken.“
 

„Aus Stepfordhausen hätte man uns wahrscheinlich sowieso rausgeschmissen.“
 

„Wie meinst du das?“
 

„Du hast jeden unschuldigen Gedanken an einen Weihnachtselfen für alle Zeiten ruiniert, ich habe den Weihnachtsmann getötet…“
 

„Du hast meinen Arsch verwettet!“
 

„Du hast eine Gans gefistet!“
 

„Du hast die versautesten Schneemänner der Welt fabriziert!“
 

„Du hast mir Popcorn aus der Speiseröhre gelutscht!“
 

„Du hast neun Haschkekse gefressen und mich vor meiner Mutter „Puppe“ genannt!“
 

„Ich habe was?!“
 

„Ich zitiere Mr. Justin Taylor-Vollgedröhnt-Kinney: ‚Bevor ich dich beglücke, Puppe, brauch ich noch ne Nudelsuppe‘ – Zitat Ende.“
 

„Oh Gott! Damit avanciere ich wahrscheinlich nicht zum Lieblings-Schwiegersohn…“
 

„Die Chancen sind sowieso recht minimal.“
 

„Hab ich‘s wenigstens getan?“
 

„Das mit der Suppe nicht.“
 

„Immerhin. Aber wie unsere Freunde und Sippen uns anschaulich vor Augen geführt haben, ist „Familie“ nicht unbedingt ein Synonym für „langweilig“.“
 

„Das ist allerdings wahr. Aber durchaus zuweilen auch für „wahnsinnig“, „kommunikationsgestört“ und „zum kotzen“.“
 

„Sonst nichts?“ fragte Justin und breitete sich auf Brian aus.
 

„Kommt drauf an. Einiges kann man sich nicht aussuchen. Man kann ihm nicht mal entkommen, egal wie sehr man das will. Einiges kann man wählen. Und man weiß nicht immer, was davon genau was ist. Manchmal ist das gut. Manchmal schlecht. Aber ich denke, man muss versuchen, etwas daraus zu machen.“
 

„Und da hat man dann schon eine Wahl, oder?“ führte Justin Brians Rede fort.
 

Brian fasste um Justins Taille und wälzte sie herum: „Die hat man wohl. Aber nicht, wenn man gedenkt, auf dem Arsch sitzen bleiben zu wollen. Man hat ein Gerüst und Materialien, was man draus macht – und ob überhaupt – liegt bei einem selbst. Und das Werkeln hört nie auf, sonst kracht die ganze Bude ein. Allerdings in diesem Falle geht das – nicht allein.“
 

„Ich biete mich freiwillig als Bauhilfe an. Zum Ausruhen darfst du dann auch gerne auf meinem Arsch sitzen, wenn du auf deinem eigenen nicht rumhocken willst.“
 

Brian küsste ihn: „Diese selbstlose Unterstützung nehme ich doch gerne an. Wo doch dein Hintern so gemütlich ist…“
 

„Gemütlich?!“
 

„Mmm“, murmelte Brian und ließ seine Hände unter Justin gleiten, um erneut beherzt zu zugreifen, „gut gepolstert und gefedert, stoßerprobt und gut angepasst…“
 

„Was?!“
 

„… und einfach perfekt.“
 

Justin schlang die Schenkel um ihn und lieferte ihm ein Entspannungsprogramm, das mehr war, als bloß ein Geschenk.
 

…………………………………………………………………………………………………………………………………………………………….
 

Jennifer saß vor dem großen Spiegel in ihrem Schlafzimmer und starrte sich an.
 

Blöde Kuh, dachte sie, sich selbst musternd. Du blöde Kuh.
 

Warum hatte sie das getan?
 

Und nicht einfach mit irgendeinem Unbekannten – sondern mit Craig! Craig!
 

Klar, sie hatte die Freiheit, sich auszutoben. Und sie mochte Tucker wirklich gerne…
 

Aber Craig!
 

Erst diese Sache mit den Geschenken und nun das.
 

Er war bedröhnt gewesen – was war ihre Entschuldigung?
 

Sie hatte sich auf ihn gestürzt wie ein notgeiler Teenager.
 

Und es war super gewesen, nicht wie ihr verschnarchter Ehe-Sex über so viele Jahre.
 

Ein wenig wie ganz am Anfang, als sie sich kennen gelernt hatten, als noch alle Wege offen zu stehen schienen, nur mit der Erfahrung und dem Selbstbewusstsein vieler Jahre.
 

War es das? Nostalgie?
 

Wohl kaum. Nostalgie war langweilig, aber das…
 

Aber was dann?
 

…………………………………………………………………………………………………………………………………………………………….
 

James Hunter drehte sich auf die andere Seite und kuschelte sich in sein Kissen. Es war keine Schule, er konnte ausschlafen. Vielleicht würde er nachher ein wenig Fernsehen schauen oder an den Aufgaben tüfteln, die sein Mathelehrer ihm für die Ferien gegeben hatte.
 

Nächstes Jahr schon würde er aufs College gehen – und nicht totgefickt auf irgendeinem öffentlichen Klo gefunden werden.
 

Er würde leben, sein Vater wies ihm den Weg.
 

Er hörte Jenny von unten aus krähen. Seine kleine Schwester, die auf sie angewiesen war.
 

Er wurde gebraucht. Ihm wurde gegeben, und er konnte geben. Er bedeutete… etwas.
 

Das war doch gar nicht Mal so scheiße.
 

…………………………………………………………………………………………………………………………………………………………….
 

„Boyd“
 

„Hallo Drew – ich bin’s Emmet.“
 

„Oh, hi, Emmet, schön, dass du anrufst!“
 

„Auch schön, dich zu hören. Ich wollte mich bedanken – für das Shirt.“
 

„Passt es?“
 

„Wie angegossen!“
 

„Das freut mich! Wie geht es dir so?“
 

„Ich kann nicht klagen. Mein Caterer-Service läuft gut und mit Debbie und den anderen ist immer was los.“
 

„Geht es allen gut?“
 

„Alle gesund und munter. Und wie läuft es bei dir so?“
 

„Auch gut. Sie haben meinen Vertrag um ein weiteres Jahr verlängert.“
 

„Herzlichen Glückwunsch! Haben die endlich kapiert, dass auch ein schwuler Super-Quarterback immer noch ein Super-Quarterback ist?“
 

„So ungefähr. Ich habe jetzt eine eigene Dusche und einen eigenen Umkleideraum.“
 

„Als Auszeichnung?“
 

„Wohl eher nicht.“
 

„Verstehe. Idioten.“
 

„Was soll’s. Immerhin bin ich noch dabei. Vor ein paar Jahren nur wär’s das wahrscheinlich längst gewesen.“
 

„Auch wahr. Die Dinge ändern sich. Langsam, aber man darf die Hoffnung nicht aufgeben.“
 

„Das hast du mich gelehrt.“
 

„Gelehrt? Ich? Ich bin doch kein buddhistischer Heiliger!“
 

„Doch du, Emmet. Ich verstehe nichts von Buddhismus – aber was du gesagt hast, war auch wichtiger.“
 

„Ach Drew, du schmeichelst mir!“
 

„Du bist immer zu bescheiden, wirklich.“ Er schwieg kurz. „Ich bin demnächst Mal wieder in Pittsburgh, Trainingspause. Vielleicht hättest du Lust - einen Kaffee zu trinken oder so?“
 

„Also ich weiß nicht…“
 

„Bitte, Emmet. Nur ein Kaffee, ehrlich.“
 

Emmet dachte nach, dann sagte er: „Okay. Trinken wir einen Kaffee. Auf die guten alten Zeiten.“
 

„Ich freue mich. Ich ruf dich dann an?“
 

„Okay. Bis dann, Drew.“
 

„Mach‘s gut, Emmet.“
 

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„Kommst du noch mit rein, Papa? Dann kann ich dir meine neuen Klamotten vorführen!“ fragte Molly Craig, als sie vor dem Haus anhielten.
 

„Das ist lieb von dir, Molly. Aber ich kann leider nicht. Bring sie doch einfach nächstes Mal mit, okay?“ antwortete Craig, auf die Lichter, die aus Jennifers Daheim drangen, starrend.
 

„Okay“, erwiderte Molly, ein wenig enttäuscht schauend. „Gute Nacht, Papa“, sagte sie und gab ihm beim Aussteigen einen Kuss.
 

Süß und unschuldig. Würde sie auch eines Tages losziehen, um sich einfach nur ficken zu lassen? Wie Justin? Wie… Jennifer?
 

War es das gewesen?
 

Hatte sie das mit ihm gemacht?
 

War er bloß ein… Fick für sie?
 

Ein wenig Abwechslung von ihrem Toy Boy?
 

Es war so anders gewesen.
 

Sie hatte gefordert, fast wütend alles aus seinem Körper hinaus geholt.
 

So hatte er sie noch nie erlebt.
 

Es war… unglaublich gewesen, fremd und vertraut und einfach… hemmungslos.
 

Weil er nichts anderes mehr war für sie als ein Stück Fleisch?
 

Nein.
 

Aber was dann?
 

…………………………………………………………………………………………………………………………………………………………….
 

„Bist du jetzt auch so ein Streberschweinchen geworden, John?“ höhte Kevin, während John verzweifelt versuchte, sich, auf der Bank des Pausenhofs sitzend, seine Vokabeln vor der Übungsarbeit in der nächsten Stunde noch einmal ordentlich einzubläuen. Er nutzte die Zeit zwischen den Feiertagen, im freiwilligen Nachhilfeunterricht noch etwas zu punkten. Für ihn freiwillig – für andere… nicht wirklich.
 

„Halt‘ die Fresse“, sagte er nur, den anderen so gut es ging ignorierend.
 

„In der Pause büffeln? Wie uncool bist du denn geworden! Sowas machen doch nur Mädchen!“
 

John ignorierte ihn weiterhin und war versucht, sich die Ohren zu zuhalten.
 

„Oder wirst du jetzt auch so eine Schwuchtel wie dein komischer Onkel? Meine Mutter hat mir erzählt, dass er ne Tunte geheiratet hat, drüben in Kanada, stand sogar in der Zeitung. Machst du das jetzt auch, John? Lässt du dich jetzt auch in den Arsch ficken?“
 

John starrte ihn an: „Nein, lass ich nicht. Und nur zu deiner Information: mein Onkel ist schwul. Nix anderes. Und das geht dich auch gar nichts an.“
 

„Hab ich’s mir doch gedacht. Darf ich dir ein paar Wattebäuschchen zu pusten, damit du ein bisschen Spaß hast? Oder soll ich dich Johanna nennen? Vielleicht wirst du dieses Jahr auch endlich Prom Queen, in ein paar rosa Netzstrümpfen und nem Seidenkleidchen kommst du bestimmt super rüber.“
 

John war versucht, ihm einfach was aufs Maul zu hauen, dass die Zähne nur so flogen. Aber dann dachte er daran, was Brian ihm gesagt hatte. Wieder aufstehen. Nicht darauf achten. Einfach weiter. Warum war das nur so beschissen schwer? Vor ein paar Wochen war Kevin noch vor ihm gekuscht…
 

Er öffnete wieder betont gelangweilt sein Buch: „Glaub doch, was du willst. Ich muss jetzt weiterlernen.“
 

„Schwuchtel!“
 

John drückte sich die Finger in die Ohren. Das war ja ganz super. Dabei war er nicht Mal schwul.
 

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„Na, wie war’s in Brians Palast?“ fragte Claire.
 

„Er führt ein gepflegtes Haus.“
 

„Er – oder sein Blondchen?“ kommentierte Claire.
 

Joan biss sich auf die Zunge. Was hatte Justin zu Brian gesagt? Er wolle ihn… beglücken? Puppe? Wie bitte sollte das denn aussehen? Brian hatte gelacht wie der letzte Idiot. Sein richtiges Lachen. Er hatte gesagt, dass er ihn liebe. Dass er diesem zerwusselten, halb besinnungslosen Jungen alles verdanke. Und ihr…
 

Wie sollte das gehen – für Gus. Zwei Väter? Was würden die Leute in der Schule sagen? Wie sollte Gus lernen…?
 

Aber Brian hatte seine Haltung klar gemacht.
 

Und Gus liebte seine… Eltern.
 

Sie stöhnte innerlich. Sie hatte keine Wahl. Die Dinge waren, wie sie waren. Ihr Weg zu Gus führte nur über Brian und Justin.
 

Sie würde sich zusammenreißen müssen.
 

„Justin ist kein Blondchen“, sagte sie zu Claire, die überrascht die Nase hoch zog.
 

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„Taylor-Kinney!“
 

„Brian? Ich bin’s Michael!“
 

„Oh, Mr. Haschkeks-Labertasche!“
 

„Hör zu – es tut mir leid!“
 

„Das sollte es dir auch! Ich habe dir klipp und klar deutlich gemacht, dass du in Hinblick auf Justin und mein Intimleben die Fresse zu halten hast! Und nicht etwa, dass du Justins Vater mit ein paar saftigen Details versorgen sollst, die ihm beinahe einen Herzkasper beschert haben dürften!“
 

„Es tut mir echt leid! Scheiß-Keks!“
 

„Du hättest ihn ja nicht fressen müssen.“
 

„Nein, hätte ich nicht. Es tut mir schrecklich leid. Ist… alles okay?“
 

„Oh, Vater Taylor hatte nichtsdestotrotz einen angenehmen Abend, nachdem Justin ihn versehentlich mit den restlichen Keksen gefüttert hat, die du offen hast stehen lassen. Und Justin selbst hatte neun – neun! – von ihnen intus!“
 

„Ach du scheiße, Brian…“
 

„Jaja, scheiße. Das hätte übel danebengehen können. Vielleicht ist es das auch, wer weiß. Aber wir haben es überlebt. Was nicht unbedingt dein Verdienst ist.“
 

„Wenn ich irgendetwas tun kann…“
 

„Kannst du aber nicht. Außer, mich fürs erste in Ruhe zu lassen. Ich bin echt sauer, Mikey, auch wenn einige Aspekte dieser Verwüstungstour einer gewissen Komik nicht entbehrt haben.“
 

„Aber, unsere Freundschaft…“
 

„Ist noch da, muss sich jetzt aber erst mal eine Runde in die Schäm-Ecke stellen. Die Gus-Jenny-Treffen laufen normal weiter. Aber ich habe fürs erste keinen Nerv auf irgendeine Form von Smalltalk mit dir. Du bist hier nicht der einzig Schuldige. Aber der einzige, der mehr als einen Fehler gemacht hat. Also verkriech dich zu deinen Trost-Comic, ich bin bis auf weiteres nicht zu sprechen! Kapiert?“
 

„Ja, schon, aber…“
 

„Nichts aber. Einen schönen Tag dir noch, Mikey.“
 

Brian hatte aufgelegt.
 

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Debbie drehte eine Schneekugel zwischen den Fingern. Ein Hochzeitspaar stand darin, zwei in weiß gekleidete Bräute, sie hatte sie Lindsay und Melanie zur Hochzeit geschenkt – und von ihnen geerbt.
 

Ihre Mädchen – fort.
 

Und die Zurückgebliebenen…
 

Sie schaute hinüber zum Sofa.
 

Ben saß da, Jenny auf dem Schoß, und las, die Brille auf der Nase, während er das kleine Mädchen gedankenverloren streichelte. Michael hatte die Nase in einem Comic vergraben, die Füße unter Bens Schenkel geklemmt. James blätterte in einem Schulbuch und machte sich Notizen.
 

Brian und Justin… Ein wenig, wie in einer anderen Welt. Brians Geld und Justins Talent öffneten Türen, hinter die sie alle nie geblickt hatten – noch hatten blicken wollen. Man mochte meinen, dass die beiden wenig verband. Aber das war ein Irrtum. Sie hatten denselben Antrieb, vorwärts zu stürmen, blieben nie lange auf dem Sofa sitzen, bevor es sie wieder packte. Und sie waren gute Eltern für Gus. Lindsay hatte weise gewählt.
 

Emmet – ein freier Vogel, der immer wieder im Nest landete.
 

Ted, treue Seele…
 

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„Was möchtest du lieber – eine Wohnung oder ein Haus?“ fragte Ted seinen Freund.
 

„Ich weiß nicht recht – ich bin in einem Haus aufgewachsen… aber gelebt habe ich immer in Wohnungen.“
 

„Was willst du denn – wachsen oder leben?“ fragte Ted ihn lächelnd.
 

„Beides. Mit dir.“
 

„Ein Haus dann – zum Leben“, schrieb Ted es laut aussprechend nieder.
 

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Daphne biss in ihr Brötchen. Dick belegt, sie brauchte jetzt Energie.
 

Sie hatte es ihnen gesagt. Zumindest… einen Teil.
 

Es waren ja noch fünf Monate.
 

Vielleicht ging es ja auch schief.
 

Sie fühlte sich zum Kotzen.
 

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Lance schaute das Foto an, das bei Kinnetic anlässlich des Vertragsabschlusses geschossen worden war.
 

Brian Kinney.
 

Brian Kinney.
 

Er ließ es sich auf der Zunge zergehen.
 

Ein Name wie ein Versprechen fand er. Ein Körper, ein Lächeln, Augen…
 

Wie konnte der sich an ein bedeutungsloses Etwas fortwerfen, wie diesen minderjährigen Niemand mit dem breiten Grinsen und dem Puppengesicht?
 

Daran ließ sich gewiss etwas ändern.
 

Wozu war er sonst reich und hatte eine einflussreiche Familie?
 

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Brandon ließ den Blick schweifen. Silvesterparty im Popperz. Das versprach ein reiches Angebot aus der Provinz.
 

Sein Blick glitt über die tanzende, tobende Menge, nacktes Fleisch, lockend, sich anpreisend… und blieb hängen.
 

Innerlich standen ihm die Haare zu Berge. Nicht die schon wieder.
 

Brian Kinney und seine blonde Bombe mit dem Götterarsch, eng umschlungen und knutschend, als hätten sie beide den heißesten Aufriss des Abends getätigt. Die Blicke von allen Seiten schienen ihnen Recht zu geben. Als wollten sie es allen unter die Nase reiben.
 

Sechs Jahre trieben die das jetzt schon so, hieß es.
 

Wie konnte das sein?
 

Hoffentlich passierte ihm sowas niemals.
 

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So, erst einmal vielen Dank an alle treuen Leser und Rezensenten!
 

Eure Meinung bedeutet mir viel und hat mich über die lange Strecke immer wieder angetrieben und inspiriert – danke!
 

Und bevor es Thunfisch aus dem letzten Jahr hagelt: Nein, hier ist natürlich nicht Schluss – nicht umsonst sind einige Handlungsstränge nach wie vor offen!
 

Der Schwerpunkt der Folgestory liegt jedoch anderorts, daher hier wieder ein Einschnitt.
 

Der aktuelle Arbeitstitel lautet „Freundschaften, Feindschaften“.
 

Bleibt mir treu & bis bald!



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Kommentare zu dieser Fanfic (30)
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Von:  Trollibaer
2011-09-01T05:42:42+00:00 01.09.2011 07:42
Hallo,
ich freue mich, das du dieser Familienbande treu bleiben willst, obwohl du mehr Geschichten unterhälst.
Feindschaften? Wer gegen wen?
Ich lass mich überraschen, und freue mich auf die Fortsetzung!!!!!!

hab eine guuuuuuute Zeit
lg
Trollibaer
Von:  dasdevilkurai
2011-08-31T00:37:19+00:00 31.08.2011 02:37
oh je...
deine Geschichte hat mich fertig gemacht, aber sowas von...
Warum? Ganz einfach, es hat so süchtig gemacht, dass ich von gestern Abend bis heute früh nonstopp gelesen habe. In Anbetracht der Tatsache, dass ich in ungefähr 3 Stunden wieder aufstehen muss...
wie schon geschrieben, deine Story ist einfach nur genial ^^, anders kann mans net beschreiben..ich mag deinen schreibstil..
Besonders gut hat mit gefallen, dass bei dir keiner als der ganz "Böse" verurteilt wurde, du hast aufgezeigt, wie schwierig das Leben aus verschiedenen Sichtweisen ist
Ich bin gespannt, wei es weiter geht..viele Fragen sind ja noch offen beziehungsweise wurde von dir im ltzten Kapitel erst aufgewurfen
lg Kurai
Von:  brandzess
2011-08-30T19:49:03+00:00 30.08.2011 21:49
bin sehr gespannt was Lance für böse pläne schmiedet.....und ich fradg mich immer noch ob er weiß das sein angebeteter ein "kleines" Kind hat?
und will wissen von wem Daphne schanger ist.......so wie sie einen aufstand darum gemacht hat kann das nur irgendwer blödes sein (ganz ehrlich als sie sich so anstellte hatte ich zuerst mal chris hopps in verdacht und ich weiß noch nicht ob ich den gedanken gut/interessant oder doch lieber scheiße finden soll *überleg*)
naja freu mich auf den nächsten abschnitt von Brian und Justins leben! :D
ggvlg brandzess (ich bleib auf jedenfall dabei!)
Von:  brandzess
2011-08-30T16:52:39+00:00 30.08.2011 18:52
na hoffentlich hällt Joan ihre Klappe sonst könnten Brian und Justin ganz schön tief in der scheiße stecken! wenn das die Petersons rauskriegen >.< und Mrs. Lennox wollte ja auch noch kommen.......
aber Joans gesicht als Justin ihr so unfreiwillige einblicke gewährt hat xD echt geil! aber hallo!? "es könnte Gus verstören" o.Ô? bitte? als wäre es nich verstörend wenn Brian ne frau küssen würde >.<
Von:  brandzess
2011-08-29T19:14:26+00:00 29.08.2011 21:14
gott wieniedlich^^ friede, freude, eierkuchen xD
Von:  brandzess
2011-08-27T18:52:01+00:00 27.08.2011 20:52
also auf weihnachten freu ich mich ja wahnsinnig! bin total gespannt wie wird und vorallem was Gus seinen Vätern schenkt....
Von:  brandzess
2011-08-27T18:26:44+00:00 27.08.2011 20:26
oh ich weiß nicht ob mir Lance raktion, als er erfahren hat das Justi 17 war als er und brian "zusammen" gekommen sind, gefallen soll.......wenn er jetzt einen auf eifersüchtige Tunte amcht dann könnten Justin und Brian probleme bekommen......ob er wohl weiß das gbeide ein kind zusammen haben xD?
Von:  Trollibaer
2011-08-27T17:57:22+00:00 27.08.2011 19:57
grins^^,
"Fistest du totes Geflügel?"
das habe ich noch nie gelesen, kann es mir aber sehr gut aus Brains Mund vorstellen, die Drehbuchautoren hätten vieleicht ähnliches gebracht.

Weihnachten ist ja nicht mehr lange hin, Lebkuchen gibt es schon.
Die Stimmung des Tages ist wirklich sehr gut eingefangen, traditionel, aber eben auch typisch Taylor Kiney.

Freue mich auf mehr!
lg
Trrollibaer
Von:  brandzess
2011-08-26T15:42:41+00:00 26.08.2011 17:42
also die standpauke hat mal gesessen^^ aber was hat John anderes erwartet wenn man Brian UND Joan gegen sich hat hat man sowieso schon verloren xD
und auf das Abendessen bin ich mal schwer gespannt, wie der Kerl wohl reagiert wenn er Justin sieht xD
Von:  brandzess
2011-08-26T15:02:34+00:00 26.08.2011 17:02
John kommt einfach zu sehr nach seinem Großvater und dann noch der schlechte einfluss seiner mutter, da konnte ja eigentlich nichts bei rum kommen. obwaohl jake ja ganz in ordnung zu seien schent und ich glaubedas Joan so etwas wie partei für Brian ergreift (oder eher für Justin^^)
der arme Brian das muss der zweit schlimmste monent in seinem leben gewesen sein.das erste mal sieht er seinen Justin zu boden gehen und dann seinen Gus und das "trauma" von damals ist wieder ja


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