Eisbrecher von LimonenBaum ================================================================================ Kapitel 1: ...Eisbrecher... --------------------------- Es war unglaublich kalt. Wieviel Kälte kann ein Mensch ertragen? Eindeutig- ihr Körper war viel zu klein und schwach für diese Anstrengung, lange würde sie nicht mehr durch den Wald laufen können. Die Schatten der Bäume leckten schon nach ihr, als würden sie rufen und sie verhöhnen. Wie sie dort standen, so regungslos und unbeteiligt, als würde sie nichts auf der Welt interessieren als der nächste Frühling. Wenn die Knospen an den Ästen hingen, ging Oni gerne in den Wald, dann hatte sie das Gefühl, die jungen Blumen würden ihr schöne Dinge zuflüstern. Aber jetzt waren scharfe Wimpern aus Eis an den weißen Knochengerippen und alles, wirklich alles erinnerte an den Schmerz in ihrer Brust. Ihre Blicke waren blind für irgendwelche Schönheiten, alles war blendend hell und zeigte ihr um so deutlicher, was für ein kleiner unbedeutend schwarzer Fleck sie in dieser Welt war. Schmerzhaft klapperten ihre Zähne aufeinander, als sie kurz die Lippen bleckte wie ein verletzter Hund. Jetzt fiel ihr das atmen schwer, Oni spürte ihre Lunge, wie sie nach Luft rang und doch nur kleine Eiskristalle atmete. Zumindest fühlte es sich so an. Verzweifelt stolperte Oni über den unebenen Boden. Ohne es zu merken war sie vom Weg abgekommen. "Gut...", dachte sie grimmig bei sich. "dann findet mich wenigstens keiner." Es war eine schöne Vorstellung, wie sie alle nach ihr suchen würden und keiner jemals wissen würde, wohin sie gegangen war. Natürlich, oft liefen junge Mädchen weg. Sie war 16, das perfekte Alter zum Weglaufen. Wenn sie gewusst hätte wohin, dann wäre das vielleicht eine Alternative gewesen. Aber Oni wusste nicht wohin, es hatte sie in den Wald gezogen und während sie die viel zu dünne Jacke um den viel zu schwachen Körper zog, begannen auch ihre Füße alles Gefühl zu verlieren. Das war gut. Kein Gefühl war gut. Besser als dieser Sturm in ihrer verfluchten Brust, besser als dieser Schmerz in ihrem Kopf, der schrie und tobte und sie erstickte. Das sie überhaupt so lange überlebt hatte, war ein Wunder. Aber jetzt hatte Oni keine Lust mehr auf ein Wunder, sie wollte kein wandelndes Unglück mehr sein, kein kleines armes Waisenkind, dass von allen bemitleidet und ach so gut behandelt wurde. Oni wollte diese Blicke nicht mehr, die Bände sprachen: "Du bist nicht unser Kind, aber wir erziehen dich trotzdem, dann musst du irgendwann ja dankbar sein." Sie wollte nur noch zu ihren Eltern. Würde sie überhaupt jemand suchen? Das war keine schöne Vorstellung und ihr Schritt verlangsamte sich, stolperte, verfing sich in dem hohen Schnee. Die leichten Lederschuhe waren schon völlig durchnässt, die Jeans sog sich voll mit Feuchtigkeit und machte alle Schritte schwerer und schwerer. Wenn sie nun wirklich niemand suchte? Aus dieser Welt zu gehen, ohne das jemand es merkte, das war traurig. Aber es wäre das perfekte Ende für ein Leben, das niemand bemerkt hatte. Dennoch, kurz schluchzte sie auf und blieb für einen kleinen, winzig kleinen Moment zögernd stehen. Während sie auf die Knie sank und ein kleiner, farbloser Klumpen in dieser schönen, reinen Ebene wurde, fielen ihre schwarzen Haare gemeinsam mit den Flocken vom Himmel auf ihre Schultern. Die Kälte kroch schneller an ihr hoch und Oni verfluchte diesen Körper, der sie nicht mehr tragen wollte, während Schluchzer, die sie nicht mehr hören wollte, aus ihrer Kehle kamen und Tränen, die sie nicht mehr weinen wollte, auf ihrer Wange gefroren. Aber es fühlte sich gut an, Oni wurde ruhig und fühlte sich nahezu geborgen, als wäre die Kälte eine Umarmung. Eine Umarmung ihrer Mutter. Seine Stimme zerriss diesen schönen, unverhofft herrlichen Moment. "Oni?" Ein einfaches Wort, dass sie zusammenzucken ließ und den Sturm in ihrer Brust wieder entfachte. Ja, so heiße ich, aber wer ich bin weißt du trotzdem nicht. Ihr Mund bewegte sich nicht, kein Ton kam heraus, nicht, dass sie hätte etwas antworten wollen. Oni wollte einfach in diesem Schnee verschwinden und Ruhe finden. "Oni was machst du hier? Bist du verrückt?", rief diese spöttische Stimme, die sie so hasste. Sie konnte sein spitzes Grinsen schon erahnen, während er noch zwischen den Bäumen auf die Stelle zukam, die sie doch zu ihrem Traum machen wollte. Wie hatte er sie überhaupt erkennen können? Und warum störte er diesen Moment? Sam liebte den Wald, dass wusste das Mädchen nicht. Er genoß die Ruhe besonders im Winter, wenn alles still war und schlief- so wie heute. Aber Onis Keuchen und Schluchzen hatte ihn verwundert, es hatte die Stille gestört und ihn aufmerksam gemacht. Fast klang sie wie ein sterbendes Tier. Ein Vogel vielleicht, der sich die Flügel gebrochen hatte und jetzt im Schnee erfor. Um nichts in der Welt hätte Sam diese schwarzen Haare verwechseln können, als er dem Geräusch entgegen kam um zu sehen, ob er ein Vögelchen retten konnte. Aber es passte nicht zu Oni, so zusammengekauert und vor allem so leicht bekleidet hier draußen zu hocken, als wäre sie selbst nicht mehr als ein verwundetes Tier. Während Sam näher kam und verwirrt das Häufchen Elend musterte, stemmte der junge Mann die Hände in die Hüften und schnaubte kurz auflachend. "Jetzt steh schon auf, oder willst du dir den Tod holen?" Als keine Reaktion von seiner Mitschülerin kam, tippte er vorsichtig ihre Schulter an. Sie war genauso kalt, wie er es sich vorgestellt hatte. Nur flüchtig konnte er einen Blick auf Onis Gesicht werden und was er sah, erschreckte Sam zutiefst. Jeden Tag begegneten sie sich, saßen im selben Raum, hörten die selben Dinge. Aber geredet hatte der beliebte Junge noch nie wirklich mit dem schweigsamen Mädchen. Außer, wenn ihm wieder einmal langweilig war, er sich auf ihren Tisch hockte und sich einen Spaß daraus machte, sie aus der Reserve zu locken. Es gelang ihm selten, Oni wütend zu machen. Die kühlen blauen Augen des Mädchens waren immer besonnen und Sam bewunderte diesen Ausdruck, der sowohl intelligent als auch hellwach war. Aber am liebsten mochte er, wenn er Glück hatte und ein Thema fand, dass ihr wichtig war. Dann funkelten die blauen Augen in ihrem blassen Gesicht wie kleine Sternenhimmel, wie Safire, die das Licht brachen. Sie war nicht von hier, ihre Eltern waren hergezogen, als sie sehr klein war, dass hatte sie einmal erzählt. Ausserdem sah man es ihr ohnehin an. Aber mehr wusste keiner von ihr, Oni war bekannt dafür, dass nichts von ihr bekannt war. Sie war ein Geheimnis. Sam liebte Geheimnisse. Aber er verstand nicht, was für ein Geheimnis sie in die Knie gezwungen hatte. Die starke, selbstbewusste Oni, die nie um eine Antwort verlegen war und sich selten von ihm provozieren ließ. Jetzt waren ihre aufmerksamen Safire zu kleinen Eiskristallen zersplittert. "Oni?", flüsterte Sam noch einmal leise und fast zärtlich. Seine Stimme klang seltsam. Aus weiter Ferne, als würde er sie noch bis an diesen Ort verfolgen. Wie kam er hierher? Dieser Ort gehörte ihr! Diese Stille gehörte ihr! Warum machte er alles kaputt? Immer? Warum entfachte er jeden Tag das Feuer? Sie wusste nicht mehr, ob er nur Einbildung war oder tatsächlich vor ihr stand, aber als sie die Kraft fand, ihren Kopf zu bewegen, war er so schön und lebendig wie jeden Tag. Aber dieses Lächeln war verschwunden, dieser schelmische Ausdruck all dessen, was Sam verkörperte: Leichtlebigkeit, Humor, Freude. Oni hasste dieses Lächeln. Und sie liebte es so sehr wie seine Stimme. Endlich konnte sie die Augen schließen, seine Anwesenheit war keine Störung mehr, es fügte sich einfach ein, es passte jetzt. Jetzt war alles gut. Mit einem leisen Seufzen sackte Oni in sich zusammen, wohin ihr Körper fiel, spürte sie nicht mehr. Aber es war nicht der Schnee, der sie auffing, sondern Sam. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)