Dark Circle von Darklover ================================================================================ Kapitel 72: 72. Kapitel ----------------------- Er war tot. Musste er einfach sein, denn wenn er sich je Gedanken darüber gemacht hatte, wie der Himmel wohl aussah, dann war es das hier. Weiche, saubere, duftende Kissen. Eine flauschige Bettdecke, warme Sonnenstrahlen die auf seiner nackten Haut kitzelten. Paiges Duft intensiv in seiner Nase, ihre Nähe keine zehn Zentimeter neben ihm zu spüren und als er mit geschlossenen Augen nach ihr griff, fühlte er sich so leicht und glücklich, als könne er fliegen. Ihre Finger waren kühl auf seiner Haut, doch er spürte das Knistern, das dieser Berührung einherging und sie somit nur noch lebendiger für ihn machte. Oh Gott. Er mochte vielleicht tot sein, aber sie war bei ihm, mehr hätte er sich für das Leben danach niemals wünschen können. „Hallo, Sonnenschein.“ Tylers Stimme klang wie Engelsgeläut. Wer weiß, vielleicht war er auch ein Engel. Ein rothaariger, mit derben Sprüchen und fantastischen Kochkünsten ausgestatteter Engel. Ryon musste lächeln. „Mann, Tennessey, wenn ich so seinen seligen Gesichtsausdruck deute, hast du ihm definitiv zu viel Morphium gegeben.“ „Kann schon sein.“ Die Stimme des Arztes schien ein Grinsen zu unterdrücken wollen. Vergeblich. „Und wie geht’s ihr?“ Tyler wurde ernst und sofort schloss sich Ryons Hand unter der Decke enger um die von Paige. Sein Herzschlag beschleunigte sich und auf einmal war er nicht mehr ganz so selig. „Sie hatte Glück.“ Okay, anstatt Endorphine durch die Adern gepumpt zu bekommen, war da jetzt definitiv etwas, das man Panik nannte und sich förmlich durch seinen Blutkreislauf ätzte. Ryon schlug die Augen auf und richtete sich so hastig auf, dass er fast vornüber gekippt wäre. „Hey, ganz langsam, Ryon.“ Tyler hielt ihn bei den Schultern, bis die Welt aufgehört hatte, sich um ihn zu drehen. Doch das kümmerte ihn gar nicht, stattdessen berührte er Paiges Gesicht. Sein ganzer Körper schien irgendwie taub und losgelöst zu sein. Wofür er vermutlich Tennessey danken musste. Auf jeden Fall machte es seine Panik nicht besser, dass er Paiges Haut nur dumpf an seiner spüren konnte. Er beugte sich zu ihr herab und legte seine Stirn an ihre. „Paige?“, flüsterte er leise, ohne die Verzweiflung in seiner Stimme vertreiben zu können. Sanft, aber unnachgiebig strich er ihr über die Wangen. „Sie kommt schon wieder in Ordnung. Lass ihr nur etwas Zeit, ja?“ Ryons Krallen fuhren aus, als er sich wütend seinem Freund widtmen wollte, doch Tennessey kam ihm zuvor. „Komm, Tyler. Lass die beiden in Ruhe. Nur Gott weiß, was sie die letzten Tage durchstehen mussten. Mehr können wir momentan auch nicht für sie tun. Außerdem muss ich mich noch um meine beiden Patienten kümmern. Wenn Delila weiterhin nichts isst, wird sie nicht mehr miterleben, wie ich ihr diese zwei Hundebabys wieder auf Vordermann bringe.“ Tyler schnaubte einvernehmlich. „Langsam kommt endlich wieder Leben in dieses Haus.“ Ihre beiden Stimmen entfernten sich und verstummten ganz, als sie die Tür hinter sich schlossen. Ryon, der keine Sekunde lang von Paige abgelassen hatte, sah erst jetzt, dass er nicht in ihrem gewohnten Zimmer war, sondern in Marlenes und seinem ehemaligen Schlafzimmer. Etwas seltsam, hier zu sein. Andererseits war es der schönste Raum im Haus, denn das Licht fiel wie goldene Schleier in das hell möblierte Zimmer, dass immer etwas nach dem duftenden Öl riechen würde, mit dem die Möbel behandelt worden waren. Doch im Augenblick kümmerte ihn das wenig. Stattdessen zog er Paige vorsichtig auf seinen Schoß und lehnte sich gegen das hölzerne Kopfteil des Bettes, während er sie betrachtete, in seinen Armen wiegte und streichelte. Tränen liefen seine Wangen hinab und obwohl er spürte, wie sie atmete und ihr Herz kräftig schlug, war die Angst, sie zu verlieren, noch immer niederschmetternd. Unter zitternden Wimpern hatte sie Schemen wahrgenommen. Von Menschen, die sie kannte. Ihre Namen wollten ihr nicht einfallen. Um überhaupt darüber nachzudenken, war sie zu müde. Lediglich ein sehr tiefer Atemzug war von ihr zu hören, als sie von warmen, kräftigen Armen hochgehoben wurde und sich dann noch gemütlicher gebettet fühlte, als zuvor. Gern hätte sie jetzt gelächelt. In ihrem Inneren tat sie es auch, aber bis nach außen konnte ihre Empfindung sich nicht durchkämpfen. Dafür war sie zu geschwächt, zu müde und zu sicher an diesem Ort. Erst einige Zeit später – vielleicht sogar Stunden, wurde sie wieder wach. Es war nicht besonders schwierig, die Augen aufzuschlagen. Aber es fühlte sich seltsam an – als würden ihre Wimpern … nachfedern. Überhaupt war ihr Körpergefühl irgendwie taub oder verschoben. Was sie allerdings in dem Moment zur Seite schob und als unwichtig erachtete, als ihr bewusst wurde, dass sie in Ryons Armen lag. Sein Kinn war auf seine Brust herab gesunken und er atmete leise und gleichmäßig. Wer wusste schon, wie lange er in dieser unbequemen Position verharrt hatte. Paige traute ihm da einiges zu. Doch nicht nur deshalb zog sie sich ein wenig an ihm hoch und küsste ihn vorsichtig auf die Nasespitze. Es wunderte sie kaum, dass seine goldenen Augen sofort aufflammten und sie sehr wachsam ansahen. Bloß die andere Empfindung darin, wollte Paige das Herz zuschnüren. War es immer noch nicht vorbei? Der Verdacht, dass sie es immer noch nicht überstanden hatten, ließ ihren Puls so stark rasen, dass sie das Gefühl hatte, sofort wieder ohnmächtig werden zu müssen. Ihre Finger krallten sich in Ryons Arm und sie wollte sich losmachen, auf ihre Füße kommen und dann bloß hier weg! Er brachte keinen Ton heraus. Selbst dann nicht, als Paige offensichtlich kurz davor stand, in Panik auszubrechen. Ihre Krallen in seinem Arm spürte er kaum. Unnachgiebig hielt er sie in seiner Umarmung fest, egal, wie sehr sie aufstehen wollte, sie war momentan nicht nur zu schwach dafür, was das anging würde er ihr an Stärke immer überlegen sein, wenn er etwas wirklich nicht wollte. Und so war es auch jetzt. Ryon wollte Paige nicht los lassen. Nie wieder. Nicht auch nur für eine Sekunde. Sanft legte er eine Hand auf ihre Wange und schloss die Augen, um ihre Panik in den ihren nicht mehr sehen zu müssen. Innerlich war er inzwischen vollkommen ruhig geworden. Er hatte Zeit gehabt. Zeit zum Nachdenken, zum Nachfühlen und zum Loslassen. Das vertraute Gewicht des Amuletts auf seiner Brust fehlte, ebenso wie seine geschärften Sinne. Anfangs hatte er diesen Effekt auf die Wirkung des Morphiums geschoben, doch nun spürte er sich wieder. Spürte jede einzelne Zelle, jedes einzelne Molekül, als würde er es das erste Mal wirklich tun. Der Schatten des Amuletts fehlte und mit ihm war es, als wäre ihm eine gewaltige Bürde von den Schultern genommen worden. Wenn es nicht vorbei wäre, er hätte es mit Sicherheit gewusst. Er hätte irgendetwas spüren müssen. Eine langjährige Verbindung zu dem Schmuckstück, oder etwas in dieser Art. Doch es war fort. Vermutlich zerstört, denn alles was er spürte, war sich selbst und Paige in seinen Armen. Trotz der nachgelassenen Sinneswahrnehmung empfand er endlich Frieden. Sein Kopf senkte sich, während seine Wimpern ein Stück aufflatterten und sich seine Lippen unendlich sanft auf die von Paige legten. Immer wieder. Streichelnd, beruhigend, liebkosend und voller Liebe, bis sie ruhiger in seinen Armen wurde. Danach zog er sie ein Stück höher, bildete mit seinen Beinen einen schützenden Käfig um sie herum und schmiegte seine Wange an ihre. „Es ist vorbei.“, hauchte er leise, ohne auch nur den geringsten Zweifel zu hegen. Seine Küsse schmeckten nach Farben. Orange, rot, dunkles, sattes Sonnengelb. Farben, in die sie sich jederzeit verlieben und verlieren wollte. Paiges Atmung wurde wieder ruhiger, ihr Körper entspannte sich langsam in Ryons Umarmung und ihre Panikattacke ließ nach. Es war also wirklich vorbei. Als würde sie es doch noch einmal nachprüfen wollen, streichelten ihre Fingerspitzen sacht über die Stelle, an der das Amulett immer auf Ryons Brust gelegen hatte. Jetzt sah es fast so aus, als würde ihm etwas fehlen. Paige schloss kurz die Augen, als sie an Marlene dachte. Auch ohne das Schmuckstück würde seine verstorbene Gefährtin immer bei ihm sein. „Was ist passiert?“, wollte sie leise wissen, während sie versonnen ihre Fingerspitzen aneinander rieb. Im Moment wollte sie lieber nicht wissen, warum genau Tennessey ihr eine derartige Ladung Schmerzmittel verpassen musste, dass sie selbst jetzt kaum ihre Beine spürte. „Ist mir dir alles in Ordnung?“ Sie sah ihn wieder an. Prüfend diesmal, doch sie konnte zumindest in seinem Gesicht nichts finden, das sie noch mehr beunruhigt hätte. „Wie lange... Wo sind wir eigentlich?“ Sie hatte so viele Fragen. Wahrscheinlich hätten sie alle noch eine Weile warten können. Ein unterdrücktes Gähnen machte das sogar sehr offensichtlich. Aber sie wollte trotzdem wissen, ob es Ryon wirklich gut ging. „Ich bin so froh, dass du hier bist...“ „Ich weiß es nicht…“ Und eigentlich war es ihm momentan auch vollkommen egal. Es war egal, was passiert war, für ihn zählte in diesem Augenblick nur, dass sie genau hier waren, wo sie sich gerade befanden. Sanft strich er Paige eine Strähne ihres Haares glatt und betrachtete sie eingehend. Er hatte sie während ihres Schlafs angesehen. Hatte ihren Körper nach jeder einzelnen Verletzung abgesucht und war sicher gegangen, dass Tennessey mit seinen Versorgungskünsten auch wirklich nichts ausgelassen hatte. Es musste schlimm gewesen sein, doch nach seinen eigenen Verletzungen zu urteilen, waren sie Tagelang nicht aufgewacht. Er trug nur noch ein paar blaue Flecken, ein paar schmerzhafte Prellungen, Risse und oberflächliche Kratzer an sich. Also ja, es ging ihm gut. Endlich. „Wir sind … Zuhause, Paige…“ Schwach lächelte er, sein Blick war zwar traurig, aber wegen nichts Bestimmtem. Nur, dass er dieses Haus endlich wieder als das anerkannte, was es schon sehr lange nicht mehr für ihn gewesen war und dazu hatte er fast erneut eine Gefährtin verlieren müssen, um das zu erkennen. „Ruh dich noch etwas aus … Flame… Ich werde hier sein, wenn du wieder aufwachst.“ Ryon küsste sie zärtlich auf die Stirn und blickte sie mit dem Stolz eines Mannes an, der das kostbare in Händen hielt, was man sich nur wünschen konnte – sein Herz und seine Seele verloren an diese Frau. *** „Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber für mich scheint die Sonne irgendwie heller in letzter Zeit.“ Ryon blickte zu den bodenhohen Fenstern hinüber, hinter denen er von hier aus zwar nur Baumwipfel erkennen konnte, doch das einfallende Sonnenlicht beleuchtete die sich langsam verfärbenden Blätter auf eine Weise, die ihm warm ums Herz werden ließ. Dann sah er Paige an, die von großen Kissen gestützt aufrecht in dem riesigen Doppelbett saß, mit einem kleinen Tischchen über ihren Beinen, auf dem ein ganzer Berg Köstlichkeiten aus Tylers Küche stand, um sie wieder auf die Beine zu bringen. Er nahm sich einen Pancake von dem Stapel, strich etwas Sirup darüber und steckte ihn sich dann Stück für Stück in den Mund, während er Paige immer wieder mit Blicken bedachte, als wäre sie ein Magnet und seine Augen ein anderer. Sie zog ihn immer wieder an. Sie sah heute besser aus. Nicht mehr so blass und erschöpft, wie noch beim ersten Mal, als sie erwacht war. Er hätte Tennessey beinahe verprügelt, weil der ihm einfach nicht hatte sagen wollen, wie schlimm es um Paige wirklich gestanden hatte, doch vielleicht war es am Ende doch besser so und sein Freund wusste es. Es ging ihr im Augenblick besser und das war es, was zählte. „Weißt du, dass das Haus vor lauter Bewohnern fast aus den Nähten platzt?“ Er schüttelte leicht den Kopf, als er an all die inzwischen wieder fröhlichen Hexen dachte, die durch die Gänge huschten und viele von ihnen es nicht eilig zu haben schienen, wieder nach Hause zu kommen. Andere waren sofort gegangen, doch die meisten waren geblieben und eigentlich hatte niemand so recht etwas dagegen. Irgendwie war es… Ryon war dankbar, dass sie hier waren. Denn wenn er schon nicht wusste, wie schlimm es um Paige gestanden hatte, so erkannte er doch zumindest gute Hexenkunst, wenn er sie sah und ihre Bandagen waren erfüllt von Kräuterdüften und Salben. Er war sich sicher, dass diese Frauen in der Tat der wahre Grund dafür waren, dass seine Gefährtin hier noch vor ihm sitzen konnte. Sie sah ihm dabei zu, wie er begeistert von dem Pancake abbiss, zufrieden kaute und sie dabei selbst nicht aus den Augen lassen wollte. Paige schmunzelte. „Kein Wunder, bei der großartigen Verpflegung.“ Nein, ihr kam die Sonne nicht heller vor, als sonst. Aber der Rest schien in gewisser Weise mit ihr um die Wette zu strahlen. Als hätte sich alles besonders heraus geputzt, oder Tyler wochenlang nur den Mob geschwungen. Bei der Vorstellung musste sie wieder ein bisschen lächeln. Sie hatte kurz mit Tennessey gesprochen. Ohne dass Ryon davon wusste und ohne dass er davon erfahren würde. Der Arzt hatte ihr nicht viel gesagt, außer dass sie für einige Zeit würde recht kurz treten müssen. Doch der Schatten in seinem sonst so weichen Gesicht, hatte mehr klar gemacht, als viele Worte es gekonnt hätten. Paige nahm sich ein Stück Rhabarberkuchen, biss davon ab und dachte sich, dass es doch seltsam sein konnte, eine Familie zu haben. Eine echte, intakte Familie. In der man auch auf sich selbst Acht geben musste, damit die anderen sich nicht zu viele Sorgen machten. Daran würde sie sich vermutlich gewöhnen müssen. Aber mit etwas Übung... *** „Komm' schon. Sei nicht so streng mit mir...“ Paige lag auf Ryon ausgestreckt und zupfte mit ihren Zehen an dem Bettbezug herum. Ryon sah sie sogar sehr streng an, als würde er ihre Bitte zwar ernst nehmen, aber eben nicht bewilligen wollen. Dabei zuckte sein Mundwinkel allerdings schon sehr verräterisch, als Paige ihren Hundeblick aufsetzte und die Unterlippe nach vorn schob. „Bitte. Ich – werd auch – ganz – vorsichtig – sein.“ Zwischen jedem Satz drückte sie ihm einen Kuss auf die breite Brust und strich dabei mit den Füßen seine Waden auf und ab. Als sie an diesem Morgen aufgewacht war, hatte sie sich noch ganz andere Dinge gewünscht, als lediglich nach unten gehen und sich ein bisschen mit den Anderen in die Küche setzen zu dürfen. Dass sie Ryon von diesen Wünschen nichts sagte, war bloße Taktik. Wenn sie das mit dem kleinen Spaziergang hinbekam, traute er ihr vielleicht am nächsten Morgen schon... ein bisschen mehr Aktivität zu. Ryon schnaubte gespielt böse. „Ich erinnere mich da an eine Situation, ich weiß nicht, ob du sie noch kennst, da wollte ich auch unbedingt aufstehen und ein bisschen mehr, aber da hat mir jemand es genauso streng verboten, wie ich es jetzt tue. Also sie das als meine kleine Revanche an.“ Vorsichtig glitten seine Arme Paiges Wirbelsäule hinauf, über ihre Schultern zu ihre Gesicht, ehe er sich zu ihr hoch streckte, um ihr einen Kuss von den Lippen zu stehlen, denn wenn sie noch länger seine Brust auf so quälend verlockende Weise anbettelte, würde er definitiv nachgeben. In vielerlei Hinsicht. Als sich ihre Lippen wieder lösten, hatte er eigentlich schon längst verloren. Dieser Frau konnte man sich nur schwer widersetzen, aber Paige machte es einem auch wirklich nicht einfach. „Na gut.“ Er seufzte. „Unter einer Bedingung.“ Sein Blick wurde ernst, weil er sich immer noch Sorgen um sie machte, die nur langsam mit jedem Tag weniger wurden. „Deine Füße berühren kein einziges Mal den Boden, verstanden? Du wirst dich damit zufrieden geben müssen, ein Taxi durchs Haus in Anspruch zu nehmen. Ansonsten bleibst du hier, bis du Wollmäuse zwischen deinen Zehen ansammelst.“ "Hey... Das ist nicht fair. Du solltest nur zwei Tage im Bett bleiben. Ich hänge jetzt schon fast zwei Wochen hier rum." Als er sie küsste, glühte ein Fünkchen Hoffnung auf, dass er doch nachgeben würde. Es war doch auch wirklich nicht anstrengend. Einmal die Treppe hinunter und dann zwei Türen. Das würde sie doch wirklich schaffen. Allerdings brauchte sie gar nicht zu argumentieren, denn Ryon gab seufzend nach. "Welche Bedingung?", wollte Paige skeptisch wissen und war nicht besonders erstaunt, als sie die Regeln ihres kleines Ausflugs mitgeteilt bekam. Das kannte sie ja schon. Ein breites Grinsen schlich sich in ihr Gesicht und sie setzte sich ein wenig auf, zog die Knie ganz nah an Ryons Körper und gab ihm einen langen, aber doch noch recht unschuldig wirkenden Kuss auf die Lippen. Ihre nächsten Worte wirkten allerdings gar nicht mehr so unschuldig. "Um die Wollmäuse mache ich mir keine Sorgen, aber ständig im Bett mit dir sammle ich schon seit einiger Zeit was ganz anderes an..." Sanft biss sie ihn in die Unterlippe und streichelte seinen Hals. Oh verdammt, so würde sie mit ihrem Plan für den nächsten Morgen bestimmt nicht weit kommen. Ryon starrte Paige mit halb offenem Mund an, während ihm ein heißer Schauer durch den Körper jagte. Okay… das war jetzt wohl doch etwas … zu viel gewesen. Schließlich war sie nicht die Einzige, die schon seit einiger Zeit etwas ansammelte. Sein Herz schaltete mit einem Mal ein paar Gänge höher und so sanft Paiges Biss in seine Unterlippe auch war, so knisternd war es auch. Ohne groß darüber nachzudenken, fingen seine Hände ihr Gesicht ein. Er küsste sie heiß und innig, nur um sich keine Minute später wieder von ihr zu trennen, als hätte er sich an ihr verbrannt, was im gewissen Sinne auch gar nicht so falsch war. „Oookay. Dann lass uns doch keine Zeit verlieren. Ich brauch auch etwas … Bewegung.“ Nein, Abkühlung wäre eher das richtige Wort dafür gewesen. Hastig sprang er aus dem Bett, während er Paige wohlweißlich nur seine Kehrseite zeigte. „Ich zieh mir nur schnell etwas Richtiges an und hol dir deinen Morgenmantel.“ Danach war er auch schon im Bad verschwunden, nachdem er Hose und Hemd vom Sessel neben der Tür mit sich gerissen hatte. Fünf Minuten später kam er salonfähig wieder heraus, mit Paiges Morgenmantel in der Hand, in den er ihr half. Es war zwar bestimmt egal, wenn sie mit einem Schlabbershirt herum lief, aber für seinen Geschmack waren definitiv zu viele Fremde im Haus, um Paige NICHT in einen Morgenmantel zu stecken. Als sie zu seiner Zufriedenheit bekleidet war, nahm er sie vorsichtig hoch, als wäre sie aus einem zerbrechlichen Zuckergebilde, das schon bei einem Hauch von zu viel Druck irreparabel beschädigt werden könnte. Trotzdem hielt er sie eng an seine Brust gedrückt und schmiege kurz seine Wange an ihre Stirn, ehe er mit ihr zusammen, das Schlafzimmer verließ. „Sag‘ mir bitte gleich, wenn es dir zu viel wird, okay? Hier ist ganz schön viel los in letzter Zeit, auch wenn es langsam ruhiger geworden ist, nachdem drei weitere Hexen sich entschlossen haben, doch nach Hause zu gehen.“ Oder zumindest nach ihren noch lebenden Verwandten zu suchen. Manche von ihnen waren schließlich schon länger Boudiccas Gefangene gewesen, als Marlene überhaupt diesen Namen gekannt hatte. Unten am Treppenabsatz angekommen, hopste ein weißer Welpe mit silbergrauen Augen an seinen Füßen vorbei und Mia lief quietschend hinterher. Sie sah ihn noch nicht einmal, aber der kleine Sonnenschein hatte Paige in letzter Zeit ohnehin viel zu oft in Beschlag genommen. Wogegen Ryon eigentlich überhaupt nichts hatte. Schließlich waren seine beiden Ladys sein Ein und Alles. „Der Junge wächst wie verrückt.“, murmelte Ryon eher zu sich selbst und schüttelte leicht ungläubig den Kopf. Was die Eltern des kleinen anging, war das noch eine ganz andere Baustelle. Eine, die er Paige momentan sicherlich nicht zeigen wollte. „Also, Ma’am wohin möchten Sie?“ Paige sah dem Welpen und Mia hinterher, ohne auf Ryons Frage zu achten. Sie waren also hier? Ihr wurde ein bisschen flau im Magen und ihre Haut fing in sehr vertrauter Weise zu jucken an. Paige versteifte sich und bereute ihren Ausflug schon jetzt. Am liebsten hätte sie sich sofort wieder ins Schlafzimmer bringen lassen. Die Wölfe waren hier. Womöglich auch noch in der Nähe des Hauses? Paige warf Ryon einen fragenden und zugleich doch recht wütenden Blick zu. Nein, er wäre nicht so unvorsichtig! Er würde die Brüder niemals in Mias und Ais Reichweite bringen. Oder hatte Delila ihn irgendwie dazu überreden können? Eifersucht und grenzenloses Misstrauen fraß sie fast von innen auf, während ihre Schuppen immer näher unter ihre Hautoberfläche rückten. Dabei wollte sie nicht wütend auf Ryon sein. Sie wollte sich keine Sorgen mehr machen müssen. Aber warum hatte er die Gefahr so nah zu ihrer Familie gebracht? „Ich möchte Ai sehen.“, war alles, was sie ihm als Richtungsangabe gab. Aber das war auch alles, was sie hervor brachte, ohne zu explodieren. Als Paige ihm ihren Wunsch mitteilte und er eine scharfe Note in ihrem Duft feststellen konnte, obwohl sein Geruchssinn in dieser Form nun schwächer war, wollte er schon fragen, was los sei, doch … er hielt den Mund und ging durch die Eingangshalle in Richtung Küche, wohin auch der kleine Welpe und Mia gestürmt waren. Ai war wie immer dort, wo auch Tyler sich oft aufhielt und das war bei der momentanen Anzahl an hungrigen Mägen eben direkt an der Quelle. Schon von weitem konnte man das Lachen von Frauen hören. Inzwischen war Ryon daran gewöhnt, weil das inzwischen fast Gang und Gebe zu sein schien. Die Hexen verstanden sich einfach sehr gut mit Ai, Tyler, Tennessey und er gab es zu, auch er fand sie sympathisch. Vor allem Faith die Blonde war eine ziemlich mächtige Hexe und trotzdem hielt sie die kleine Frauenqulique immer auf Trab und sorgte dafür, dass sich das Haus nicht in einen Hühnerstall voller gackernder Weiber verwandelte. Sie war es auch gewesen, die immer wieder etwas aus Marlenes Kräuterküche nahm, um daraus die Salben für Paige zu machen oder ihr einen speziellen Tee zu zubereiten. Ebenfalls Dinge, die er eigentlich nicht erwähnt hatte, aber nur, weil sie ihm nicht mehr so wichtig erschienen. Paige ging es besser. Das war das Einzige, was für ihn zählte. Faith tat jedoch noch etwas für sie. Sie studierte alle Materialien, die sie über die Amulette zusammen getragen hatten, um genau herausfinden zu können, was nun wirklich passiert war, als Ryon sein Amulett und den Kampf bereits für verloren geglaubt hatte. Dass Boudicca tot war, stand außer Frage, da zumindest noch Gebissabgleich möglich gewesen war. Aber der Rest von ihr war regelrecht pulverisiert worden. Als sie die Küche betraten, war Faith gerade dabei, Tyler beim Schneiden der riesigen Gemüseberge zu helfen, während eine Hexen zuerst Mia in einen Kinderstuhl setzten und dann den kleinen weißen Welpen auf ihren Schoß hochnahm, während die andere den Tisch deckte. Vermutlich würde es bald etwas zu Essen geben. Ai saß auf ihrem Stammplatz und sowohl ihr Blick, als auch alle anderen richteten sich auf die Neuankömmlinge, kaum dass die Küchentür aufgeschwungen war. Als sie die Küche erreichten, wollte Paiges Stimmung sofort in sehr viel positivere Gefilde schwingen. Bloß der kleine weiße Welpe, der unruhig auf dem Schoß einer der anwesenden Frauen herum zappelte, hielt ihre Gemütstemperatur noch ziemlich weit oben. „Paige?“ Ai stand umständlich auf und zeigte einen nun doch sehr beeindruckenden Kugelbauch, als sie auf Ryon und Paige zukam und ihre Arme um ihre beste Freundin schlang. Sofort war ihr wohler in ihrer Haut, auch wenn sie immer noch ein wenig prickelte. „Hey, Süße. Ihr beiden seht toll aus?“ Vorsichtig und mit großer Zuneigung streichelte Paige Ais Bauch und sagte auch dem ungeborenen Baby 'Hallo', bevor Ryon sie auf einem der freien Stühle am Tisch absetzte und sie den Hexen vorstellte. Die große Blonde, die neben Tyler am Herd gestanden hatte, schüttelte Paige mit einem Ausdruck die Hand, der ihrem sehr gleichen musste. „Fangen wir nochmal von vorne an, würde ich sagen. Ich bin Paige.“ Die Frau nickte und nannte ihren richtigen Namen. Faith – nicht etwa „Sunshine“, wie Paige sie im Harem des Duftmagiers genannt hatte. Die Runde wurde wieder geschäftiger und Paige hatte weiter Gelegenheit ein paar Worte mit Ai zu wechseln. Wenn auch leider nicht über ihre Sorgen, die sie immer noch quälten. Dafür würde sie eine ruhigere Minute abwarten müssen. Wenn es ihr auch überaus schwer fiel. Jede Sekunde schien ihr die Gefahr immer noch im Nacken zu sitzen. So zuckte ihr Blick auch immer wieder prüfend zu dem kleinen Welpen hinüber und dann zur Tür. Wenn sich Gestaltwandler auch nur ansatzweise ähnlich waren, würde Delila ihren Sohn nicht für lange hier alleine lassen. Als hätte sie nur auf ihren großen Auftritt und dieses Stichwort in Paiges Kopf gewartet, schwang die Küchentür auf und die junge Gestaltwandlerin kam herein spaziert. Paiges Augen funkelten, doch sie blieb ruhig sitzen. Eine Szene wollte sie hier nicht veranstalten. Allerdings hielt sie auch nichts mehr auf ihrem Stuhl, als die andere Frau sie endlich entdeckte und wie angewurzelt mitten in der Küche stehen blieb. Paige kam auf die Füße und warf Ryon einen Blick zu, der selbst ihn inne halten ließ. Sie wollte seine Hilfe nicht! Nicht jetzt. Vor Delila wollte sie aus eigener Kraft stehen können! Es lag deutlich Spannung in der Luft, selbst als alles seinen normalen Ablauf nahm, während sie in der Küche saßen und Ryon Mia schon einmal ein paar kleine Appetithäppchen zusteckte, was die Kleine zum Lächeln anregte. Immer wieder warf er verstohlen einen Blick auf sie und beobachtete sie heimlich. Sie schien unruhig zu sein und ihr eigener Blick huschte immer wieder durch den Raum. Am liebsten hätte er sie gefragt, was genau sie so stark beunruhigte, schließlich wusste er selbst, dass hier nichts mehr passieren konnte, ohne dass es einen mords Aufstand geben würde und das zu ihren eigenen Gunsten. Sie waren nun in der Überzahl und im Grunde war niemand mehr darauf aus, irgendetwas anzuzetteln. Alle hatten sie genug von alledem. Als Delila in die Küche kam, stellten sich seine Nackenhaare auf, aber nicht etwa, weil an dieser Frau zu viele schlechte Erinnerungen hafteten, sondern weil er irgendwie auf Paige reagierte, die schließlich aufstand. Was ihn dazu brachte, ebenfalls von seinem Stuhl aufzuspringen, doch ihr Blick hielt ihn zurück und er war klug genug, das zu akzeptieren. Delila selbst sah inzwischen nur noch wie ein Schatten ihrer selbst aus. Als er sie kennen gelernt hatte, war sie jung, immer auf Zack, voller Lebensfreude und Energie gewesen, doch jetzt… Kevin durchbrach die erdrückende Stille in der Küche, in dem er vom Schoß der Hexe hopste und wie der kleine ungeschickte Welpe, der er noch war, auf seine Mutter zustolperte. Man sah Delila an, dass das der einzige Grund war, weshalb sie sich bewegte – um den nun nackten kleinen Jungen auf den Arm zu nehmen, der seine kleinen Ärmchen nach ihr ausstreckte. Allerdings ließ sie dabei Paige keine Sekunde aus den Augen. Nicht einmal, als sie ihre Strickjacke auszog, um den Kleinen darin einzuwickeln. Das Zittern in ihren müden Augen, war der einzige Kampfeswille, der darauf hindeutete, dass sie trotz der Übermacht niemals aufgeben würde, wenn es um ihr Kind ging. Bei dem Rest, nun ja. Sie verbrachte viel Zeit in Dean und James Nähe, soweit Ryon wusste, obwohl Tennessey sie immer noch in so eine Art Koma hielt, weil es in deren Gehirnen offenbar viel zu lösen gab. Einmal war auch Ryon zu ihnen gegangen, um sich wirklich zu versichern, dass Faiths Bannkreis um sie herum, stark genug war, um sie gegebenenfalls aufzuhalten. Sonst hätte er sie nie in der Nähe des Hauses akzeptiert. Delila hatte zu der Zeit einfach nur dagesessen und ihre beiden Gefährten angestarrt. Schweigend, ausdruckslos, wie die Hülle, die ihre Geliebten momentan waren. Tyler räusperte sich einvernehmlich, um die Stimmung etwas zu lockern. „Hier, für Kevin.“ Er drückte Delila eine Flasche voller Milchgrieß in die Hand, woraufhin sie den Kopf senkte und einen leisen Dank murmelte. „Ich will mit dir reden.“ Instinktiv rutschte Ryon näher, als Paige das sagte. „Alleine.“ Delila nickte, erneuerte noch einmal den Griff um Kevin, ehe sie sich umdrehte und in das inzwischen neu renovierte Wohnzimmer ging. Ryon war klar, dass er hier bleiben musste. Aber er würde nicht weit weg sein. Das war sicher. Paige stand unsicher auf ihren Beinen, was aber nicht unbedingt an ihrer körperlichen Schwäche lag. Sie kam sich vor wie der Henker, der eine schwangere, junge Mutter zur Schlachtbank führte. So zumindest schienen sie alle in der Küche angesehen zu haben, als sie nach Delila den Raum verließ um ihr ins Wohnzimmer zu folgen. „Scheinbar hat sich vieles verändert...“, sagte sie leise, als sie den Raum betrat, der bereits genutzt aussah und von dem sie bis gerade eben noch nicht einmal gewusst hatte, dass Tyler ihn bereits wieder frei gegeben hatte. Mit schwer klopfendem Herzen und immer noch einer gehörigen Portion Wut im Bauch betrachtete Paige ihr Gegenüber für ein paar Augenblicke. Delila sah gelinde gesagt schrecklich aus. Abgemagert, ausgezehrt und übernächtigt. Mitleid für diese arme Frau wollte Paige vor allem deshalb übermannen, weil Delila ihren Sohn Kevin immer noch auf dem Arm hielt, es aber noch nicht einmal wagte, ihm das Fläschchen zu geben, nach dem der Kleine mit aufgerissenen Augen und kleinen Händchen grapschte. „Bitte. Setz' dich.“ Paige bot Delila einen Platz auf der großen Couch an und ließ sich ebenfalls in die weichen Kissen sinken, die akurat aufgereiht vor der Rückenlehne platziert waren. Zwar hielt sie den Blick der jungen Frau, versuchte aber nicht mehr ganz so aggressiv auszusehen, dass diese sich sofort in die Ecke gedrängt fühlen musste. Paiges Wut verrauchte allmählich. Aber dennoch gab es ein paar Sachen zu sagen, die sie einfach nicht ungeklärt lassen konnte. „Wie geht es den beiden?“ Die Frage war ehrlich gemeint. Auch wenn sie mehr bedeutete, als dass Paige etwas über die Genesung der beiden Werwölfe herausfinden wollte. Sie wollte wissen, wie groß die Gefahr immer noch war, dass sie das Haus und damit Mia oder Ai angriffen. Delila setzte sich vorsichtig, als Paige sie dazu aufforderte. In einer ihr schon lange vertrauten Geste, legte sie Kevin in die Beuge ihres linken, noch bandagierten Armes, während sie mit der rechten noch einmal die Temperatur an ihrem linken Handgelenk überprüfte. Als sie damit zufrieden war, gab sie ihrem Sohn schließlich die Flasche zu trinken, richtete noch einmal die Jacke um ihn herum, damit er es bequem hatte. Nicht etwa, weil er sonst nackt wäre oder frieren würde. Er war der Sohn seiner Väter. Er würde höchstens in der Arktis frieren. Nachdem alles zu Kevins Zufriedenheit war und er genüsslich an der Flasche sog, hob Delila wieder ihren Blick und versuchte den von Paige stand zu halten. Sich selbst beruhigend strich sie durch den weißen Flaum auf Kevins Kopf. Er war ihr in vielem so ähnlich, aber für sein Alter war er schon sehr groß, bestimmt würde es nicht nur bei seinen Gestaltwandlergenen bleiben. „Der Doktor meint, körperlich betrachtet, geht es ihnen wieder besser, auch wenn ihre Wunden langsamer heilen. Man kann ihnen momentan nur flüssige Nahrung einflößen.“, meinte sie viel zu ruhig und tonlos. Verletzungen, die sie ihnen beigebracht hatte. Denn, auch wenn sie kleiner und schwächer als ihre beiden Jungs war, so kannte sie doch von jedem ihre Schwächen sehr genau. Niemals hätte sie gedacht, dass sie dieses Wissen einmal gegen sie einsetzen würde. „Was ihren Verstand angeht … er meinte, er bekommt das wieder hin. Es braucht nur seine Zeit weil, soweit ich das verstanden habe, die ganzen Programmierungen in ihrem Kopf schon so festgefahren und eingeprägt sind, dass er sie nur langsam lösen kann, wenn er ihnen keine bleibenden Schäden zufügen will. Trotzdem weiß ich nicht, ob…“ Delila ließ den Kopf hängen, als ihr Sohn jedoch die Augen aufschlug, lächelte sie ihn müde an. Er hatte viel durchgemacht, sie wollte nicht, dass es noch länger so weiter ging. Wenigstens für ihn wollte sie ein gewisses Maß an Schein bewahren. „Wir werden sehen, ob ich mit Kevin alleine nach Hause fliegen werde.“, fügte sie schließlich an und versuchte dabei gar nicht so zu tun, als wisse sie nicht ganz genau, was passieren würde, wenn die Zwillinge immer noch unter Boudiccas Einfluss standen. Den Tod ihrer Gefährten, hatte sie schon lange auf harte Weise zu akzeptieren gelernt. Darüber machte sie sich keine Illusionen mehr. Eines würde ihr in ihrem Leben auf alle Fälle verwehrt bleiben: Die Verhältnisse von Gestaltwandlern zu ihren Gefährten vollkommen zu verstehen. Aber das musste sie auch nicht. Es war lediglich nötig sich vorzustellen, was sie an Delilas Stelle tun würde. Oder getan hätte, wenn sie die Qualen der jungen Frau hätte erleben müssen. „Tennessey weiß, was er tut, Delila. Er würde nicht sagen, dass er sie wieder hinbekommt, wenn er es nicht so meint.“ Warum war es so leicht, Delila das verständlich machen zu wollen, wenn sie doch selbst noch Zweifel daran hegte, dass ihr Freund die beiden Werwölfe zuverlässig unter Kontrolle hatte. Konnte es nur daran liegen, dass Delila auch beinahe entflohen war? „Ich... Ich nehme an, wir sind uns darüber einig, dass wir vergessen sollten, wie wir uns kennen gelernt haben.“ Nun war es an Paige kurz den Kopf zu senken, damit die Gestaltwandlerin nicht sah, wie ihr die Röte ein wenig in die Wangen und die eigene Schwäche ihr in die Augen stieg. „Es mag ziemlich unfair von mir sein, aber...“ Sie sah wieder hoch und in ihrem Blick war keine Wut, kein Abscheu, sondern nur Offenheit zu erkennen. „Du hättest Ryon fast getötet. Ich weiß, dass du es aus verständlichen Gründen getan hast. Um deine Familie, dein Kind zu beschützen. Aber... das werde ich vermutlich nicht so schnell vergessen können.“ Vergeben hatte sie ihr bereits. Wie grausam hätte sie sein müssen, um es nicht zu tun. Denn wäre sie in Delilas Situation gewesen, sie hätte vermutlich kaum anders gehandelt. Aber vielleicht eben doch. Sehr wackelig kämpfte sie sich von dem Sofa hoch und brachte sogar ein kleines Lächeln zustande, als sie der Gestaltwandlerin eine Hand auf die Schulter legte. „Sie kommen wieder in Ordnung.“ Delila sah Paige reglos an, hatte nur ganz kurz zurückgezuckt, als die andere Frau ihr die Hand auf die Schulter gelegt hatte und sie nun leicht anlächelte. Zuerst kam das Zittern, dann der Kloß in ihrem Hals, bis schließlich das Brennen an dieser Stelle so intensiv wurde, dass ihre Augen sich mit den ganzen Tränen füllten, die sie in den letzten Tagen nicht hatte vergießen können. Heiß liefen sie ihr über die Wangen, als sie zu schluchzen anfing und vorsichtig Paiges Hand berührte. Es tat ihr so leid. So unendlich leid… „Ich…“ Sie holte mehrmals Luft, konnte sich aber nicht wirklich beruhigen, sondern löste sich stattdessen nur noch weiter auf. „Ich … weiß, wie es ist … seinen Gefährten… Oh Gott, ich werde mir das niemals verzeihen können!“ Delila vergrub ihr Gesicht in ihrer Hand, während sie ihren armen Sohn vor lauter Zittern regelrecht durchschüttelte, doch sie konnte nicht mehr. Sie konnte einfach nicht mehr. „Es tut mir so leid, Paige.“ Ihre Stimme war heiser, brüchig, kaum zu verstehen. Das Schlimmste an der Sache war, dass sie Paiges Wut und Hass mit Recht hatte ertragen können, aber das hier… Was hätte sie anderes tun können, als sich vor dem Sofa auf die Knie sinken zu lassen und das Häufchen Elend, das Delila darstellte, festzuhalten. Die dünne Frau zitterte wie Espenlaub und konnte ihren kleinen Sohn kaum auf ihrem Arm halten. Paige wollte ihr das beruhigende Gefühl ihres Kindes sicher nicht nehmen, unterstützte den Halt aber mit einem Arm, während ihr anderer sanft über Delilas Rücken strich. „Das solltest du aber. Denk' an Ryon. Er hat dir offensichtlich verziehen. Wenn er es kann... dann darfst du es auch.“ Sie hielt die zitternde, weinende Wandlerin lange im Arm. Bis diese sich wieder ein wenig beruhigt hatte, wieder durchatmen konnte und so aussah, als würde sie nicht sofort wieder in Tränen ausbrechen. „Wahrscheinlich hat dir das jeder hier schon einmal gesagt, aber... Es wäre wirklich gut, wenn du dich ein bisschen ausruhen würdest. Und Tyler kocht wirklich ausgezeichnet...“ Paige würde vermutlich nie wissen, wie gut es Delila tat, im Arm gehalten zu werden. Vor allem für einen Gestaltwandler, der trotz der artlichen Unterschiede immer ein äußerst soziales Wesen sein würde, der Berührungen brauchte, war es nahezu lebenswichtig. Und Delila hatte, was das anging, eine Monate lange Durststrecke hinter sich, die sie selbst mit ihrem Sohn nicht mehr hatte auffüllen können. Sonst hätte sie ihn nämlich gar nicht mehr aus dem Arm gegeben und dabei war es offensichtlich, dass es ihm auch immer besser ging, je mehr er wieder andere Dinge um sich hatte, als Isolation. Die kleine Mia tat ihm ebenfalls unglaublich gut. Das sah man an seinen Verwandlungskünsten, die sich rasant verbessert hatten. „Danke.“ Delila rieb sich über die feuchten Wangen und zum ersten Mal war ihr Gesicht nicht wie der des herannahenden Todes, stattdessen waren ihre Wangen leicht gerötet und ihre Augen wieder klar und nicht mehr getrübt. Sie würde noch sehr lange an dieser ganzen Sache zu beißen haben, aber diese eine Berührung, hatte schon geholfen. Sehr sogar. „Wir sollten vielleicht beide… etwas ausruhen. Wenn Ryon auch nur annähernd so wie meine Jungs früher waren, ist, dann wirst du dir etwas anhören können, weil du wieder von selbst herumläufst.“ Sie versuchte schwach zu lächeln und das Hicksen unter Kontrolle zu bringen. „Andererseits … wird er gerade jetzt, da du noch geschwächt bist, umso nachgiebiger sein. Das kann ich dir versprechen.“ Sie wusste es aus Erfahrung. Noch immer leicht zittrig, nahm sie ihren Sohn wieder ordentlich auf die Arme und stand dann langsam auf. Delila half Paige vom Boden auf. „Komm. Lass ihn nicht länger warten. Er frisst sich vermutlich gerade selber vor Sorge auf.“ Mit einem Lächeln ließ sie sich hoch helfen und ignorierte das Gefühl von Wackelpudding in ihren Gelenken. Delila würde sie bestimmt nicht als Stütze benutzen, also hielt sich Paige an Möbelstücken und Wänden fest, bis sie die Küchentür erreicht hatte. Sobald Ryon auch nur ihre Nasespitze im Raum sah, war er ohnehin bei ihr, hob sie hoch und sah ihr sorgenvoll und auch ein wenig strafend ins blasse Gesicht. Zur Antwort schlang Paige ihm nur die Arme um den Hals, legte ihren Kopf an seine Schulter und bat darum, dass ihr persönliches Taxi sie wieder ins Bett brachte. *** Paige hatte schweißnasse Hände, die sie sich immer wieder an ihrer Jeans abrieb, bloß um dann nervös kleine Feuerbälle zwischen ihren Fingern tanzen zu lassen. Dabei war sie nicht diejenige, für die es hier um alles oder Nichts ging. Besorgt sah sie bestimmt zum tausendsten Mal zu Delila hinüber und versuchte ihren Blick aufzufangen, der schon wieder unangenehm beherrscht wirkte. Selbst wenn Paige die junge Frau in den letzten Tagen nicht ein wenig besser kennen gelernt hätte, wäre ihr klar, dass es in deren Inneren ganz anders aussehen musste. „Wir hätten später herkommen sollen... Das Warten ist schrecklich.“ Paige zappelte von einem Bein auf das andere und versuchte hin und wieder etwas von Ryons natürlicher Ruhe in sich aufzunehmen. Was aber auch nicht einmal im Ansatz funktionierte. Ganz im Gegenteil wurde sie mit jeder Minute immer nervöser. Und dabei vertraute sie Tennessey. Es würde bestimmt alles gut gehen. Für Delila und deren eigene Famile musste es das einfach. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)