Dark Circle von Darklover ================================================================================ Kapitel 33: 33. Kapitel ----------------------- Auch als sie hinein hauchte und sie fest aneinander rieb, wollten ihre durchgefrorenen Finger nur langsam warm werden. Aber das würde sich ändern, sobald sie eine große Tasse Tee in ihnen hielt und sich wieder in Dr. Brukes kleinem Büro befand. Die Irin holte Paige am Empfang ab, wie beim letzten Mal, ließ sie ihr einen Besucherausweis ausstellen und ging anschließend mit ihr ein paar muffig riechende Gänge entlang. Paige wunderte sich, dass die hier Arbeitenden nicht jeden Tag auf's Neue mit Kopfschmerzen nach Hause gingen. Das Haus musste alt sein. Und nicht renoviert. An den Wänden hingen Tapeten, die Paige das Fürchten lehrten und ihrem Kater nur noch einmal Auftrieb verliehen. Um das einigermaßen in Grenzen zu halten, sah sie auf den grünen, ausgelatschten Teppichboden und ging schnell neben Dr. Brukes her, bis sie das Büro erreichten, das die Frau wohl aus gutem Grund mit hohen Bücherregalen und ihren Diplomen gefüllt hatte. Von der lila karierten Tapete war nur an wenigen Stellen noch etwas zu sehen. Auch wenn das durchaus reichte, um das Pochen in Paiges Kopf zu verstärken. Mal von den Bildern, die sie erneut zwischen sich ausbreiteten, vollkommen abgesehen. „Ich habe Ihnen die gewünschten Kopien gemacht.“ Die Rothaarige schob Paige eine braune Papiermappe zu, auf der ein kleiner USB-Stick lag. Um Ryon wenigstens minimal über ihre Ergebnisse zu informieren, hatte sie um einen Scan der Bilder gebeten, den sie ihm mailen konnte. „Vielen Dank, das ist wirklich entgegen kommend von Ihnen.“ Das war es tatsächlich. Und Paige war ganz froh, dass sie nicht wusste, was Stanley dieser Frau über sie selbst erzählt hatte, um dieses große Vertrauen zu rechtfertigen. Immerhin hatte sie hier Vertrauliches in den Händen und konnte darüber verfügen, wie sie wollte. Vielleicht war den Menschen auch gar nicht klar, wie wichtig die Bilder und dieser runde Raum in Ägypten in Wirklichkeit waren. Eigentlich wusste sie das selbst auch nicht. Bloß weil der Schatten in ihr einen derartigen Nachklang verursachte, hieß das noch lange nicht, dass er auch wirklich so gewichtig war, wie sie annahm. Unter Umständen fischte sie hier total im Trüben, ohne etwas zur Lösung ihres Problems beizutragen. „Keine Sorge,“, Dr. Brukes winkte ab und lächelte freundlich. „Mir wurde garantiert, dass die Daten bei Ihnen in sicheren Händen sind.“ „Haben Sie denn über meine Idee nachgedacht?“, fragte Paige unverwandt, um von ihren 'sicheren Händen' auf ein anderes Thema zu lenken. Immerhin war sie in ihrem Zuhause dafür bekannt, dass sie sich solcherlei Dinge mit ihren geschickten Fingern normalerweise auf illegale Weise beschaffte. „Sie meinen das mit dem Schloss?“ Der Ausdruck im Gesicht der Wissenschaftlerin war weniger ablehnend, als Paige erwartete hatte. „Ja. Es wäre doch nicht das erste Mal, dass so etwas vorkommt. Ich meine ... nicht nur in irgendwelchen Abenteuerfilmen.“ Sie hatte ehrlich gesagt keine Ahnung. Denn Indiana Jones war nunmal die Quelle, aus der sie ihr Halbwissen über Archäologie zog. Verschiedene Stellen an ihrem Körper kribbelten unangenehm, als sie daran dachte, dass sie jeden Moment auffliegen könnte. „Schon, aber Sie müssen auch bedenken, dass Vieles bei den Kelten hauptsächlich symbolisch zu verstehen war. Nicht jedes Schloss muss zwingend auch etwas Reales einschließen. Es könnte nur für etwas Anderes stehen. Zum Beispiel, dass die Menschen sich vor schlechten Gedanken oder Ähnlichem hüten sollten.“ Das leuchtete leider ein. Aber sobald Paiges Blick wieder auf dieser undefinierbare schwarze Masse mit den hellen Augen fiel – und auch wenn sie sie nicht sehen konnte, wusste sie doch, dass da auch Reißzähne waren – war sie sich sicher, dass das nicht alles war. Eine halbe Stunde später hatte sie sich mit einem festen Händedruck von Dr. Brukes verabschiedet und war zurück ins Hotel gegangen, um die E-mail an Ryon aufzusetzen. Auf ihre kurze SMS hatte er schnell mit seiner Adresse geantwortet. Paige sah noch einmal auf ihr Handy, bevor sie die Buchstaben in den PC in der Lobby eintippte. Sonst hatte er nichts geschrieben. Keinen Gruß, keine Frage – nicht ein überflüssiges Wort... „Hallo Ryon, vielen Dank für die schnelle Antwort. Ich hoffe bei euch ist alles in Ordnung und du kommst mit der Suche besser voran als ich es im Moment von mir behaupten kann. Im Anhang findest du die Fotos des Raumes. Damit du dir von meinem 'Schatten' selbst ein Bild machen kannst. Mein Kontakt konnte mir mit der Auslegung leider auch nicht sehr viel weiter helfen. Liebe Grüße an alle! Paige PS:„ Mit jeweils einem einzelnen Klick der Entfernen – Taste löschte Paige die letzten drei Zeichen. Der Cursor hatte einige Sekunden dort geblinkt, wo sie etwas wie 'Ich hoffe es geht dir gut.' oder 'Dublin ist schön. Du hättest mitkommen sollen.' hatte anfügen wollen. Aber was brachte es? Sie wusste sehr genau, dass sie sich damit nur noch mehr herunter ziehen würde. Aus Ryon konnte sie keine nette kleine Reaktion heraus kitzeln. Er vermisste sie nicht und würde daher auch nichts Derartiges in einer E-mail schreiben. Vor seiner eigenwilligen Veränderung hätte sie es trotzdem versucht. Nach ihrer Nacht auf dem Boden, den friedlichen Stunden, die sie gegenseitig im Arm des Anderen geschlafen hatten... Widerwillig schüttelte sie so stark den Kopf, dass sie mit einem schmerzhaften Pochen belohnt wurde. Was dachte sie denn da? Bloß weil sie eine Flugreise weit von einander entfernt waren, brauchte sie doch noch lange nicht anfangen zu spinnen. Ryon war Ryon. Eiskalt und gefühllos. Er hatte Gründe dafür und würde es nie aufgeben. Und Paige verstand es sogar ansatzweise. Sie ging noch einmal hinaus auf die Straße, besorgte sich asiatisches Essen zum Mitnehmen in kleinen Pappkartons, Schokopudding mit Sahne und eine dicke Frauenzeitschrift. Etwas, das sie sich nur in speziellen Fällen gönnte. Und da sie keinen Fernseher hatte, auf dem sie die halbe Nacht hätte Cartoons schauen können, musste es eben das sein. Nachdem sie das Essen an der Rezeption vorbei in ihr Zimmer geschmuggelt hatte, ließ sie sich mit allem auf dem knarzenden Bett nieder und breitete die Fotos aus, um sie sich noch einmal anzusehen. Es war beinahe unglaublich, wie sehr es sie wurmte, dass sie nicht darauf kam, woher sie ihn kannte. Schweiß überströmt und mit pochendem Herzen riss sie die Augen auf. Eins der Bilder lag unter ihrer Wange, die Anderen waren in ihrem Kampf mit der Decke auf dem Boden gelandet. Sie wusste es! Ihr wurde schwindelig, als sie so aus einem Albtraum hochgeschreckt vom Bett sprang und durch das stockdunkle Zimmer ins Bad stürmte. Paige schlug mit der flachen Hand auf den Lichtschalter und war so schnell bei ihrem Kulturbeutel, dass das Bad noch gar nicht ganz erleuchtet war, bevor sie wie wild in ihren Sachen kramte. Ihr Atem ging schnell und ihr Herz schlug beim Anblick dessen, was sie in der Hand hielt nur noch eine Spur schneller. Drei Phiolen hatte sie noch übrig. Die Vierte war bereits angefangen. Aber für Paiges Zwecke würde sie hoffentlich dennoch ausreichen. Eine ganze Injektion auf einmal würde sie... Entschlossen stand sie auf, schloss die Badezimmertür und verriegelte sie, bevor sie die Badewanne mit kaltem Wasser voll laufen ließ. Mit zitternden Muskeln und einem schweren Stein ihrer zusammengezogenen Angst im Magen stand sie Momente später nackt und reglos vor der glatten Wasseroberfläche. In der Hand hielt sie die Injektionspistole, die sie mit sich nahm, als sie mit zusammen gebissenen Zähnen in die Wanne stieg. Zufrieden stellte sie fest, dass ihr das Wasser, Dank des Sockens, den sie in den Überfluss gestopft hatte, bis zum Hals ging. Wenn sie sich vorsichtig hinlegte, würde es ihren Körper vollkommen bedecken. Es war nicht perfekt, aber es musste reichen. Ihre gesamte Haut war überdeckt mit Gänsehaut. Sie zitterte vor Kälte und Anspannung, als sie die Pistole mit der rechten Hand direkt über ihrem Herzen aufsetzte. Als ihre Hände von ihm abfielen, war es, als würde sich zugleich auch eine unsichtbare Fessel um seinen Körper deutlich lockern. Eine Art Kontrolle, die seinem körperlichen Empfinden und seinen Hormonen etwas aufzwang, das sein Verstand nicht nachvollziehen konnte, da, wie schon so oft in letzter Zeit, das passende Medium dafür fehlte – seine emotionalen Gefühle. Deshalb empfand er weder Reue, Wut, Hass noch Abscheu der toten Hexe gegenüber, die er einfach wie einen unbedeutenden Gegenstand zu Boden gleiten ließ. Genau aus diesem Grund hatten ihre Kräfte auch nicht vollständig auf ihn wirken können. Ryons Körper mochte vielleicht verrückt gespielt haben, aber das war unbedeutend, wenn man bedachte, dass sein Verstand immer noch vollkommen nüchtern und klarsichtig war. Nur eines hatte letztendlich der Hexe diesen vorzeitigen Tod beschert und die Farce beendet, die er da gespielt hatte. Das Wissen, dass ein kleines Mädchen in dieser unwirklichen Gegend gefangen gehalten wurde und er hier kostbare Minuten vergeudete, um noch ein paar Fragen zu erhalten, hatte seine Geduld weit überstrapaziert. Darum schenkte er der toten Frau auch keine Beachtung mehr, sondern schnappte sich stattdessen seine Sachen vom Fußboden und streifte sie sich über, während er im Laufschritt aus dem Raum lief. Im Flur gab es weitere Türen links und rechts von ihm, doch Ryon ersparte sich zeitaufwendiges Suchen, in dem er einfach den deutlichen Spuren auf dem Fußboden folgte, welche die Hexe in der dicken Ascheschicht hinterlassen hatte. Sie führten drei Türen weiter zu einer Abstellkammer, wo ein Blitz förmlich Ryons Schädel spaltete, als er die Tür aufzog und den Anblick dahinter realisierte. Seine Kopfschmerzen kehrten mit solch einer Wucht zurück, dass der Boden unter ihm zu schwanken schien und einen Moment alles um ihn herum verschwamm. Mit einem schmerzlichen Stöhnen, das nicht nur seinem Kopf galt, sank er auf die Knie und hielt sich am Türrahmen fest, während er um Fassung kämpfte. „Mia…“, kam es ihm wortlos über seine Lippen. Das kleine Mädchen lag in dem leeren Raum auf einer dünnen Schicht alter Zeitungen. Vermutlich ein humaner Versuch sie daran zu hindern, beim Schlafen etwas von der Asche einzuatmen, da ihr Kopf nichts außer dem schmutzigen Boden hatte, auf den sie ihn hatte ablegen können. Sie war noch nicht einmal zugedeckt, sondern lag mit ihrer hellgelben Latzhose, einer dünnen Strumpfhose und einem kurzärmeligen Hemdchen in dem kalten Raum. Ein Schuh fehlte. Ihre Kleider waren schmutzig und zerrissen, das für gewöhnlich schokoladenbraune Haar von Asche verklebt, was vermuten ließ, dass sie auch nass geworden war, obwohl es hier in diesem Raum trocken aussah. Mias Atmung war tief und unnatürlich ruhig, wenn man die Umstände bedachte, unter denen sie hier so fest schlief. Was vermuten ließ, dass man ihr irgendetwas gegeben hatte, um sie ruhig zu halten. Kein Wunder, wenn man die rot geschwollenen Augen des Mädchens so sah, musste sie entsetzlich geweint haben. Als Ryon endlich den ersten Schock überwunden hatte und den kleinen Körper vorsichtig vom Boden hoch hob, verspürte er den gewaltigen Drang diese Hexe noch einmal umzubringen und zwar in aller Ruhe, um keinen der Schmerzensschreie zu verpassen! Doch als er Mias viel zu kalte Haut spürte und ihren trägen Herzschlag hörte, verflogen diese Rachegedanken schnell. Stattdessen musste er sich fragen, ob er sie noch rechtzeitig zu Tennessey bringen konnte. Sie war in einer absolut schlechten Verfassung. Umso vorsichtiger drückte er sie unter seinem Mantel an seinen warmen Körper, während er sicher ging, dass auch wirklich kein Zentimeter ihrer Haut noch ungeschützt blieb, sie aber dennoch genügend Luft zum Atmen bekam. Danach stand er auf, war aber gezwungen frustrierend langsam zu gehen, um sie nicht unnötig heftig durch zu schütteln. Endlich unten auf der Straße angekommen, krümmte er seinen Rücken etwas, um sie vor dem strömenden Regen zu schützen, während er mit platschenden Schritten zum Auto ging. Obwohl er nichts lieber getan hätte, als wie ein Irrer los zu rasen, musste er sich im Wagen erst einmal davon überzeugen, dass sie immer noch atmete. Außerdem streichelte er immer wieder ihre Wange, während er ihren Namen sagte, doch sie reagierte überhaupt nicht darauf. Also ließ er den Motor an und fuhr mit Mia an seiner Brust los. Während der viel zu lange andauernden Fahrt, in der er sie auch weiterhin beschützend fest hielt, begann Mia sich langsam zu regen. Erst war es nur eine leichte Bewegung ihrer Finger oder den Füßen, bald darauf drehte sie sogar ihren Kopf auf die andere Seite und gab ein leises Wimmern von sich, bis sie schließlich Ryons schwer angeschlagenes Gemüt erleichterte, in dem sie leise zu Weinen anfing. Als er dann mit dem Wagen endlich die Einfahrt erreichte, war sie wieder richtig lebendig geworden. Zwar drückte sie sich instinktiv näher an ihn heran, aber sie weinte so herzzerreißend laut, dass das Empfangskomitee nicht lange auf sich warten ließ, als Ryon mit dem kleinen Mädchen aus den Wagen stieg und durch den strömenden Regen zum Haus lief. Tyler riss im selben Moment die Tür auf, als er sie erreichte. Völlig verdutzt sprang der Diener in letzter Sekunde zur Seite, bevor Ryon ihn rammen konnte. Ohne auf irgendwelche Fragen zu antworten, die gegen das Weinen der kleinen Sirene gerufen wurden, schnappte er Tennessey am Arm und zog ihn im Laufschritt mit zu Ryons Büro, das der Doc auch zeitweise als sein eigenes Arbeitszimmer benützte. Dort angekommen sperrte er unnötiges Publikum entschlossen aus. „Hast du deine Arzttasche hier?“, verlangte er zu wissen, während er langsam seinen Mantel aufzog, um das strampelnde Bündel in seinen Armen zu befreien. „Natürlich.“ Tennessey ging zu dem Regal wo er seine Sachen unter gebracht hatte und holte die schwarze Ledertasche, die er auf dem Schreibtisch abstellte und schon einmal öffnete. „Kannst du mir vielleicht einmal erklären, was du mitten in der Nacht mit einem kleinen Kind bei diesem Wetter willst? Wer ist die Kleine überhaupt?“ „Später, okay?“ Ryon ließ den Mantel einfach auf den Boden fallen, nachdem er mit seinen Armen daraus geschlüpft war. Hier im Raum war es warm genug, so dass Mia nicht frieren musste und nun, da sie hatte sehen können, wer sie da die ganze Zeit herum trug, war auch ihr Weinen etwas leiser geworden, doch man sah ihr deutlich an, wie verstört sie noch war. „Ich will erst sicher gehen, dass es ihr gut geht. Meiner Vermutung nach hat man sie betäubt und sie muss auch einige Zeit ungeschützt der Kälte ausgesetzt gewesen sein. Ich kann leider nicht fühlen, ob sie Fieber hat.“ Er legte zärtlich seine Hand auf ihre Stirn, aber für ihn war sie einfach nur kalt. Einen Moment lang sah Tennessey verwirrt von Ryon zu Mia und wieder zurück, bis er schwer seufzte und sich entschlossen die Ärmel hoch krempelte. „Na gut. Setzt dich mit ihr auf den Stuhl da. Damit ich sie mir ansehen kann.“ Ryon tat wie ihm befohlen und setzte sich. Während er Mia so zu Tennessey herum drehte, dass er sie besser untersuchen konnte, flüsterte er ihr beruhigende Worte ins Ohr, um ihr die Angst vor seinem Freund zu nehmen. Was natürlich nur mäßig half. Immerhin waren ihr wohl in letzter Zeit genug fremde Gesichter zugemutet worden. Mit einem Taschentuch wischte er ihr die laufende Nase und den beständigen Tränenstrom ab, während Tennessey in ihrem Ohr ihre Temperatur miss. „Sie hat erhöhte Temperatur, aber kein Fieber.“, beruhigte Tennessey ihn, als Ryon ihm einen fragenden Blick zugeworfen hatte. Danach nahm der Arzt sein Stethoskop und wärmte es zwischen seinen Handflächen etwas an. Inzwischen war Mia zu erschöpft, um noch weiter lauthals zu schreien. Stattdessen legte sie ihren Kopf an Ryons Brust und weinte nur noch im Stillen vor sich hin, während sie zuließ, wie Tennessey ihr die Träger der Latzhose über die Schultern zog, um unter ihr Hemdchen zu kommen, damit er ihren Herzschlag und die Lungenfunktion abhören konnte. Ryon streichelte unablässig Mias Wange und wurde es nicht müde, immer wieder leise zu ihr zu sprechen, während sein Freund sie untersuchte. Es war deutlich zu spüren, wie die Anspannung langsam von ihnen beiden abfiel. Die Kopfschmerzen wurden weniger, auch wenn sie nicht ganz verschwanden, aber dafür fühlte er sich zumindest im Augenblick beruhigt. „Und?“, fragte er schließlich, als er sah, wie Tennessey seine Sachen zusammen packte. „Wie lautet die Diagnose?“ Nachdem er den Koffer wieder verstaut hatte, sank der Doc in den Bürosessel und betrachtete einen Moment musternd das Bild, das Ryon und die kleine Mia für ihn abgeben mussten. Erst nach gründlicher Analyse brach er das Schweigen. „Einmal davon abgesehen, dass sie dringend ein Bad, neue Kleider, etwas zu Essen und viel Ruhe braucht, dürfte sie mit dem Schrecken davon gekommen sein. Von was auch immer. Im Augenblick scheint sie mir nicht traumatisiert zu sein, aber das kann ich erst wirklich mit Sicherheit sagen, wenn ich sie länger beobachten konnte. Ich nehme an, sie bleibt für eine Weile hier?“ Ryon nickte nur, während er sich unbewusst die leicht brennenden Augen rieb. Das Licht in diesem Zimmer tat ihm weh und er fühlte sich ungefähr genauso erschöpft, wie das kleine Mädchen, das im Begriff war, auf seinem Schoß gekuschelt einzudösen. Daher bemerkte er auch nicht Tennesseys musternden Blick, der ganz und gar ihm galt. Schon als er hier ohne Paige angekommen war, hatte nicht nur der Arzt sondern auch Tyler ihn so seltsam angesehen und sich hinter seinem Rücken gegenseitig Blicke zugeworfen. Aber bisher hatte jeder von ihnen ihren Fragen für sich behalten, wenn auch sicher war, dass sie hinter seinem Rücken das Thema gründlich bearbeitet hatten. Ryon wusste, irgendwann würde er nicht mehr einfach so ohne Erklärungen davon kommen. Aber zumindest heute, konnte es ihm egal sein. Vorsichtig hob er Mia an seine Schulter und stand auf, während sie sich in seine Halsbeuge kuschelte und sich mit ihren kleinen Fäustchen an seinem Hemd fest krallte. „Ich werde sie jetzt erst einmal baden und ihr was anderes anziehen. Danke für deine Hilfe, Tennessey.“ Bevor er die Tür erreicht hatte, rief ihn sein Freund noch einmal zurück. „Hier. Nimm die dreifache Dosis von der angegebenen Menge. Das dürfte gerade so reichen.“ Ryon blickte auf das kleine Tabletten Schächtelchen, das Tennessey ihm hinhielt. „Was ist das?“ „Schmerzmittel. Damit du vielleicht wenigstens heute in Ruhe durchschlafen kannst. Zwar kann ich dir nicht versprechen, dass die Symptome deiner Migräne dadurch ganz abgestellt werden, aber zumindest dürften sie wenigstens für ein paar Stunden etwas gemildert werden. Darüber sprechen wir übrigens auch ‚später‘.“ Tennessey drückte ihm die Schachtel in die Hand, öffnete ihm die Tür und schmiss ihn förmlich mit einem Für-heute-bist-du-noch-einmal-davon-gekommen-Blick raus. Von den anderen war nichts zu sehen, wofür Ryon auch mehr als dankbar war. Im Augenblick hatte er wirklich nicht den Nerv, sich unnötigen Fragen zustellen. Außerdem wollte er Mia nicht noch länger in diesem Dreck lassen. Ein warmes Bad würde ihr sicher ganz gut tun. Es war ein sehr seltsames Gefühl gewesen, nach all den Jahren das Kinderzimmer wieder zu betreten und dabei nichts zu empfinden. Zwar waren bei dem fast schon vertrauten Anblick Erinnerungen hoch gekommen, an jene Zeit, als er es liebevoll bis ins letzte Detail eingerichtet hatte, während Marlene nicht da war oder bereits schlief, aber da war kein Schmerz. Kein Verlustgefühl oder Trauer. Stattdessen war da eine seltsame Leere, die sich nicht richtig anfühlte. Zum Glück hatte er Mia bei sich, die seine volle Aufmerksamkeit forderte und ihn somit von seinen Gedanken ablenkte. In dem extra für Kinder eingerichtetem Badezimmer, hatte er eine Wanne voll Wasser eingelassen, während er Mia von den schmutzigen Kleidern befreite. Dank einer speziellen Gummiente, die er im Badewasser hin und her schwenkte, konnte er die richtige Temperatur des Wassers bestimmen. Falls es zu heiß gewesen wäre, hätte sich das Gelb der Ente blau gefärbt. So aber war es genau richtig, als er Mia in die kleine Wanne setzte und ihr mit einem flauschigen Schwamm den Schmutz von der Haut entfernte, während sie sich völlig überfordert von den vielen neuen Eindrücken im Badezimmer umsah. Ihr Blick blieb schließlich an ihm hängen. „Katse…“, flüsterte sie leise, mit heiserer Stimme, während sie ihre Händchen nach ihm ausstreckte. Ryon beugte sich zu ihr hinab und sah ihr tief in die großen grauen Augen. „Ich bin hier, Mia. Und ich geh auch nicht mehr weg. Das verspreche ich dir.“ Eine Weile ließ er sich von ihr in die feuchten Haare fassen, bis sie nach der Gummiente griff und diese gründlich musterte. Das machte es leichter, ihr auch noch die Haare zu waschen und sie schließlich in ein kuschelweiches Handtuch zu wickeln. Wieder nahm er sie hoch, damit er im Kinderzimmer nach ein paar Sachen für sie zum Anziehen suchen konnte. Damals hatte er keine Kindersachen kaufen dürfen, da Marlene sie selbst nähen wollte. Natürlich war sie so vorrausschauend gewesen, auch größere Kleidungsstücke zu machen, da Kinder in diesem Alter auch sehr rasch wuchsen. Ryon fand die Sachen schön zusammen gefaltet in einer der Schubladen. Er suchte sich einen lavendelfarbenen Strampler und eine der waschbaren Windeln heraus, die Mia passen könnten. Marlene hatte noch nie etwas von den Wegwerfwindeln gehalten, die Tonnen von Müll verursachten und in diesem Punkt hatte Ryon ihr stets voll und ganz zugestimmt. Zurück auf dem Wickeltisch sah man dem kleinen Mädchen an, wie müde sie bereits war. Sie hielt ganz still, als er sie sanft abtrocknete, ihren wunden Hintern eincremte und puderte, da sie Stundenlang in einer nassen Windel hatte ausharren müssen. Als er ihr schließlich den Strampler anzog, schlief sie sogar schon mehr, als dass sie wach war. Dennoch würde er sich noch um etwas Warmes zu Essen für sie kümmern. Damit ihre Kleidung nicht feucht wurde, während er sie trug, immerhin tröpfelte er selbst immer noch vor sich hin, nahm er eine der weichen Babydecken zur Hand und wickelte sie darin ein. Nun, da sie friedlich an seiner Brust schlief, hatte er keine Hektik mehr, als er Mias schmutzige Sachen in den Mülleimer warf, die benötigten Sachen wider wegräumte und schließlich leise das Zimmer verließ. Weit kam er allerdings nicht, da vor der Tür Tyler mit einer Babyflasche schon auf ihn wartete. Er hatte ein breites Grinsen im Gesicht, schwieg aber, da er Mia offenbar nicht wecken wollte. Stattdessen überreichte er Ryon die Flasche mit richtig temperierten Babygries und zog sich dann leise zurück. Wie dankbar er seinem Freund für diese einfache Geste war, würde er ihm wohl niemals zeigen können. Als das heiße Wasser seine Wirkung tat und den Boden zu seinen Füßen grau färbte, fiel nicht nur der ganze Dreck von Ryon ab, sondern auch eine Zentner schwere Last, die sich immer weiter angehäuft hatte, seit er diesen Anruf von Amelia erhalten hatte. Nun, da er wusste, dass Mia gesättigt, sauber und sicher in dem großen Bett schlief, das früher seine Gefährtin mit ihm geteilt hatte, war ihm so viel leichter ums Herz. Zu wissen, dass offenbar nichts, was ihm etwas im Leben bedeutete, sicher vor diesem Zirkel war, belastete ihn sehr. Zumal Paige irgendwo in Irland ihren Nachforschungen nachging und er nicht einmal bei ihr sein könnte, falls man auch sie angriff. Die Wahrscheinlichkeit war zwar äußerst gering, aber beruhigen konnte ihn das nach den ganzen Vorkommnissen der letzten Stunden überhaupt nicht. Hätte er nicht diese eine SMS von ihr bekommen, die Sorge um sie hätte ihn vermutlich ebenfalls aufzufressen begonnen. Zu fühlen und doch nichts zu fühlen, das war schon eine äußerst merkwürdige Angelegenheit. Doch inzwischen konnte Ryon sehr gut die Anzeichen seines Körpers deuten. Eine Gefühlsregung würde diesen Umweg zwar ersparen, aber im Moment, gab er sich mit Informationen aus zweiter Hand zufrieden. Wenn er unruhig und rastlos war, seine Gedanken immer wieder zu Paige schweiften und er sich fragte, was sie wohl gerade tat, was anderes konnte man sonst daraus schließen, als dass er sich einfach Sorgen um sie machte? Das war einfach so. Ob Gefühl oder nicht. Er würde froh sein, wenn sie wieder sicher zurück gekommen war. Mia schlief tief und fest, noch genau an der Stelle, wo er sie in einer kleinen Festung aus Decken und Kissen auf dem großen Bett eingebunkert hatte. Es war weniger eine emotionale Regung gewesen, sie hier unter zu bringen, als eine rationale Entscheidung. Sein ehemaliges Schlafzimmer lag Tür an Tür mit dem Kinderzimmer und da mit einem kleinen Baby gerechnet worden war, stand folglich kein geeignetes Bett für Mia in dem Kinderzimmer. Also hatte er beschlossen, sich mit ihr in seinem alten Bett zum Schlafen zu legen, da er ebenfalls vollkommen erschöpft war und die eingeworfenen Schmerztabletten bereits ihre Wirkung zeigten. So angenehm erschöpft, hatte er sich zuletzt vor ein paar Tagen mit Paige im Arm gefühlt und er wusste noch sehr genau, warum er dieses Gefühl so sehr geschätzt hatte. Als er zu Mia unter die Decke schlüpfte, sie wieder ordentlich zudeckte und ihr eine Weile beim Schlafen zu sah, da fühlte es sich behaglich, gut und sicher an. Für sie beide. Doch eines fehlte so deutlich in dieser stetig anwachsenden, bunten Familie, dass es sich nicht leugnen ließ. ‚Paige…‘ Es war seltsam irreal darauf zu warten, dass es tatsächlich passierte. Paiges Finger krallten sich um den Rand der Wanne und ihr Atem ging stoßweise, während sie ihren Blick konzentriert auf ihren nackten Körper im Wasser gerichtet hielt. Die Injektionspistole lag unbeachtet auf dem Vorleger neben der Badewanne. Vor wenigen Augenblicken hatte sich die Substanz aus dem Glasröhrchen schäumend in Paiges Haut und die Blutgefäße darunter entleert. Wenn sie es richtig gemacht hatte, würde es nur noch Sekunden dauern. Das letzte Mal, als man ihr eine derartige Dosis gegeben hatte, war es von ihrer Seite nur halb freiwillig geschehen. Sie war auf einem Untersuchungstisch im Labor ihres Vaters festgeschnallt gewesen. Paige hatte ihm flehentlich in die Augen gesehen und nur zu gern glauben wollen, dass er die Wahrheit sagte. Er wollte nur das Beste für sie. Ihr Vater hatte endlich dafür sorgen wollen, dass sie vollständig war. Keiner Seite richtig angehörte und daher gar keine Chance darauf hatte, dass man sie akzeptierte – geschweige denn liebte. Wie jetzt hatte Paige damals gezittert. Aus Angst, Anspannung und wegen der Miene ihres Vaters in der auch so etwas wie skurriler freudiger Erwartung zu lesen gewesen war. Wasser spritzte hoch, als ein Muskelkrampf ihren Körper schüttelte und Paige die Zähne fest zusammen biss. Ihr blieb die Luft für einen Moment im Hals stecken, als sie eine Spur von Schwefel auf ihrer gespaltenen Zunge wahrnahm. Es regte sich. Kratzend löste sie ihre Finger mit den langen Nägeln nur deshalb vom sicheren Rand der Wanne, um sich einen rauen Waschlappen zu greifen und ihn sich als Knebel in den Mund zu stopfen. Das kalte Wasser würde helfen, aber sie durfte mitten in der Nacht nicht so laut werden, dass irgendjemand sich genötigt fühlte, die Polizei zu rufen oder das Zimmer aufzubrechen. Ihre Haut wölbte sich. Zuerst vom Knöchel aus ihr Bein hinauf, umkreiste es ihre Knochen und Muskeln wie eine gierige Schlange. Wand sich in Richtung ihrer Körpermitte und hinterließ das Gefühl von tausenden kleiner, beißender Insekten, die sich unter ihrer Haut entlang arbeiteten. Ihre Zähne bissen fester in den Frotteestoff des Waschlappens, als sich das Beißen auch auf ihre Arme ausbreitete. Nur noch ein paar Momente durchhalten. Sie musste es sehen! Am ganzen Körper bebend ließ sie sich etwas zurück sinken, um ihren Bauch betrachten zu können. Trotz der Kälte, die sie im Wasser umfing, klebten ihr Haarsträhnen auf der schweißnassen Stirn. Die Wunde an ihrer Seite brach auf, als das Ding sich darunter entlang schlängelte. Paige würgte. Ihre Bauchdecke dehnte sich unnatürlich unter dem Druck der Substanz, die sich gleich einem riesigen Blutegel durch sie fraß. Ihre Fingernägel quietschten ohrenbetäubend auf der Keramik des Wannenrandes, als sich Paige ein letztes Mal dazu zwang hinzusehen. Blauschwarz drückte es sich von innen gegen ihre Haut, wand sich auf der Suche nach mehr Nahrung, bevor es sich zum eigentlichen Schlag in ihrer Bauchgegend zusammen zog. Noch nie zuvor hatte Paige um eine Ohnmacht gebetet. Das Ding spürte die Kälte; spürte Paiges Gegenwehr, die trotz des Übelkeit erregenden Anblicks immer noch da war. Damals hatte man sie gezwungen und sie hatte trotzdem nicht aufgegeben. Sie würde es auch jetzt nicht tun. Noch ein tiefer Atemzug, bevor sie sich vollkommen ins Wasser gleiten ließ und ihre Hände und Füße gegen die Seiten der Wanne drückte, um sich einigermaßen festzuhalten. Sie musste nur durchhalten. Sie hatte es schon einmal geschafft. Wie bei einem elektrischen Schlag zogen sich ihre Muskeln zusammen. Ihr Rücken wurde durchgebogen, bis Paige es laut knacken hörte. Der Schmerz durchzuckte sie so stark, dass sie in den Stoff in ihrem Mund hinein schrie. Große, scharfkantige Schuppen explodierten aus ihrer Haut und ließen das Wasser, das nach den ersten Krämpfen noch übrig war hellrot werden. Paige wand sich. Noch nie hatte sie das werden wollen, was ihr Vater für sie vorgesehen hatte. Diese grüngelblichen Schuppen, die viel härter und stärker waren als ihre eigenen, das Ding in ihr und das bläulich heiße Feuer, das sich über ihren Körper ziehen wollte. Das war nicht sie. Ein weiterer Muskelkrampf ließ sie erneut aufschreien, drückte ihr die Luft aus den Lungen und hielt so lange an, dass sie Wasser schluckte, als sie schließlich auf den Grund der Wanne zurück sank. Der Egel kämpfte in ihr um die Überhand. Wollte jede Faser in ihrem Körper unschädlich machen, die sie zu dem machte, was ihr Vater an ihr so hasste. Schwach und menschlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)