Dark Circle von Darklover ================================================================================ Kapitel 21: 21. Kapitel ----------------------- Den Leihwagen zurück zu geben, war eine relativ schnelle Sache. Natürlich hätte Ryon sich von dort aus locker ein Taxi bis zur Grenze seines Grundstücks nehmen können, aber gerade weil er einmal Abstand brauchte, hatte er den Wagen selbst zurück gebracht. Jetzt marschierte er zügig über Felder, Wiesen und Weiden außerhalb der Stadt. In den Wäldern lief er sogar, wenn er glaubte, keiner würde ihn dabei sehen. Sein Tempo war – wenn er sich nicht zurück hielt – wesentlich schneller, als dass ein Mensch so hätte rennen können. Allerdings legte er auch immer wieder Pausen ein, in denen er langsam vor sich hin schlenderte und den Duft der Natur einsog. Die frische, kühle Luft tat so unglaublich gut, dass er sich schon etwas besser fühlte, als er die Hälfte der Strecke zurück gelegt hatte. Inzwischen war es Nacht geworden, weshalb er noch mehr Stille und Ruhe um sich hatte. Ideale Voraussetzungen, um mit seinem Gewissen zu ringen und das tat er gründlich. Einerseits musste er sich einfach eingestehen, dass ihn wohl noch eine Weile lang die Tatsache bedrängen dürfte, dass er nicht in Crilins Eingeweide herum gepuhlt hatte. Andererseits war er langsam ganz froh darüber, dass Paige ihn aufgehalten hatte. Crilin war vielleicht alles andere als ehrenwert, aber er sah eher wie ein kleiner Ganove aus, als wie ein Berufskiller. Trotzdem würde das nichts ändern. Ryon hasste diesen Mann aus ganzer Seele. Genauso wie er das Tier verfluchte, dass ihm inne wohnte. Wäre es nicht da, er wäre niemals in diese Lage gekommen, in der er nun steckte. Seine Gefährtin wäre nicht tot. Seine Tochter würde nicht ebenfalls bei ihr Ruhen und er würde Paige nicht kennen… Allerdings hätte er dann Ai nicht helfen können. Paige war eine gute Frau mit einem guten Charakter, sie hätte ihre Freundin sicherlich nicht im Stich gelassen, aber manchmal reichte all der gute Wille nicht aus. Manchmal musste das Schicksal eingreifen… Wenigstens diesen einen Punkt konnte er nicht bereuen. Auch wenn es ihm noch immer schwer fiel, in seinem alten Haus herum zu gehen und die vielen Erinnerungen daran nicht los lassen zu können, so war es – wenn er es sich zugestand – doch angenehm, es so voller Leben zu wissen. Seine Freunde wohnten dort schon seit Jahren, verwalteten das Haus, kümmerten sich um den Garten, ließen nicht zu, dass die Zeit es zugrunde richtete. Doch erst mit den beiden Frauen war auch wieder etwas Farbe darin erschienen. Neues Leben würde bald einkehren, zumindest wenn Paige bis dahin Ai nicht zusammen gepackt und weit fort gebracht hatte. Ryon blieb mitten im Wald stehen und starrte ins Nichts. Die Bestie schwieg, trotzdem hatte er das Gefühl gehabt, ein leises Winseln gehört zu haben. Nicht mit den Ohren, sondern mit seinem kümmerlichen Herzen. Ja, er musste gestehen, so absurd es auch war, sein letzter Gedanke hatte leicht weh getan. Aber die Wahrheit sah nun einmal so aus, dass dieses Haus, das er mit seinen eigenen Händen gebaut und gestaltet hatte, niemals das Lachen fröhlicher Kinder hören würde. Obwohl er sich damals genau das beim Bau erhofft hatte. Ryon sank auf einen großen Felsen, stützte seinen Kopf in seine Hände und ließ seine Schultern hängen. Er brauchte eine Pause. "Oh Mann", mit der Einstellung des Fahrersitzes auf Ryons Größe erreichte Paige die Pedale nicht einmal mit den Fußspitzen. Sie zerrte an einem Hebel und schob den Schalensitz des Autos so weit nach vorn, dass es bequem für sie war, stellte die Spiegel ein und steckte den Schlüssel ins Zündschloß. Ihr Mundwinkel hob sich anerkennend, als sie das Aufheulen des Motors hörte. Sein Geschmack für teures Spielzeug ließ ihn also auch bei Autos nicht im Stich. Das eingebaute GPS lenkte sie zielsicher in die kleine Straße, die bei dem einstmals bekannten Sportstadion um die Ecke lag. In diesem Teil von London war es ruhig, grün und gepflegt. Teuer nicht zu vergessen. Paige staunte nicht schlecht über die Häuserfronten, die man oftmals nur hinter hohen Zäunen oder abwehrenden Toren sehen konnte. Neben einer korrekt gestutzten Ginsterhecke stellte sie das Auto ab, stieg aus und sah sich noch einmal nach der Hausnummer um, die an einem der beiden Pfeiler prangte, die einen Torbogen stützten. Wenn sie es richtig deutete, hatte an den vier Löchern im Stein vor ein paar Jahren noch ein Schild des Antiquitätenhändlers gehangen. Schlechte Karten dafür, dass sie hier noch etwas Brauchbares finden würde. Aber einen Versuch war es wert. Paige stellte sich an eine der dunkelsten Flecke neben der Hecke und sah sich nach allen Seiten um. Ja, den Versuch war es wert und außerdem konnte sie mit ein wenig Arbeit hoffentlich die Gedanken an Ryon, seine Gefährtin und das Kind aus ihrem Kopf verbannen. Je schneller sie das Rätsel löste, den Hexenzirkel zerschlug, desto schneller konnte sie ihn wieder aus ihrem Leben streichen. Naja, wenn das mit Tyler und Ai weiterhin so gut lief, würde Ryon vielleicht als Randnotiz in ihrem Leben bestehen bleiben. Aber mehr Platz wollte sie ihm nicht zugestehen. Kaputt war sie selbst schon genug... Bevor sie noch weiter vor sich hin sinnieren konnte, raffte sie sich auf, drückte sich durch die Hecke und stand schließlich auf dem perfekt gepflegten Rasen des Grundstücks. Alles lag im Dunkeln und ihre Schritte waren auf dem weichen Gras nicht zu hören, als sie sich dem großen Herrenhaus von der Seite her näherte. Wie schön, dass es immer eine Terrassentür oder ein kitschiges Rosengitter gab, das den Zugang ins Innere erleichterte. Auch wenn kleine Herausforderungen von Zeit zu Zeit mehr Spaß machten. In diesem Fall fand Paige eine Kellertür, die für sie wie eine große, bunte Einladung aussah und stahl sich nach geglücktem Knacken des Schlosses ins Innere. Der Ruf einer Eule schreckte ihn auf. Seine Glieder fühlten sich leicht steif an, als er sich streckte und sein Rücken schmerzte. Er war wohl tatsächlich für einen Moment eingenickt. Lange konnte es auf keinen Fall gewesen sein, da der Stand der Sterne noch nicht sehr viel weiter gewandert war. Es machte Ryon trotzdem klar, wie zerschlagen sich nicht nur sein Verstand, sondern auch sein Körper fühlte. Vielleicht sollte er sich langsam auf den Weg machen, wenn er heute noch eine heiße Dusche und ein weiches Bett haben wollte. So viel Grübeln auch manchmal brachte, im Augenblick tat ihm der Kopf zu sehr weh, um noch weiter sein schlechtes Gewissen zu streicheln. Damit konnte er auch morgen noch weiter machen. Wenn die Welt da nicht schon wieder völlig anders aussah … schlimmer. Der Wind frischte auf, wehte ihm vertraute Gerüche um die Nase, die er tief in sich einsog. Rehe waren ganz in der Nähe, irgendwo befand sich auch der Bau eines Fuchses und Raben. Seltsam. Waren die Vögel nicht eigentlich um diese Zeit schon an ihrem Schlafplatz? Oder lag der nicht direkt neben Feldern sondern geschützt tief im Wald? Ryon kannte sich mit diesen Vögeln nicht genug aus, um das genau sagen zu können. Weshalb er schließlich wieder auf seine Beine kam, sich noch einmal kräftig streckte und anschließend los lief. Es war fast stockfinster, trotzdem wich er Bäumen und Büschen aus, die an ihm vorbei sausten. Der Wind pfiff um seine Ohren, dennoch war ihm klar, dass er kaum Geräusche hinterließ. Allerdings war Laufen in Menschengestalt nicht zu vergleichen. Aber das musste es auch nicht. Er war nicht hier, um Spaß zu haben, sondern um sich wieder zusammen zu bauen, bis er auf seinem Grundstück ankam Natürlich konnte er nicht so tun, als wäre nichts gewesen. Er würde mit Paige sprechen müssen, wenn sie denn noch da war, aber ganz für sich alleine, wollte er wieder halbwegs stabil sein. Da dieses Gefühlschaos auf Dauer ziemlich anstrengend und vor allem äußerst unberechenbar war. Aber solange er an gewisse Dinge einfach nicht zu viele Gedanken verschwendete, fühlte es sich fast wieder wie vor dem Besuch von Crilins Laden an. Vielleicht, wenn er sich nur etwas mehr anstrengte und mehr Zeit verging, könnte er seinen Urzustand vor der Begegnung mit Paige wieder herstelle und ganz rationell an die Sache mit dem Hexenzirkel herangehen. Allerdings war er jetzt, da er erfahren hatte, dass das Ding um seinen Hals verflucht war, fast schon bereit dazu, dieser Boudicca das Schmuckstück hinterher zu werfen. Vielleicht brachte es diese alte Hexe auch um. Das wäre doch einmal was! Ein staubiger Keller, eine Treppe, die ins Erdgeschoss führte, das zwar weniger staubig, aber dafür angestaubt wirkte. Als würde hier gar niemand mehr leben. Es war so aufgeräumt und leblos, dass es sie an Ryons Haus erinnerte. Nur älter. Die Möbel waren schwer und dunkel, gepaart mit dicken Vorhängen und gemusterten Teppichen, die zumindest weiterhin Paiges Schritte dämpften. Kameras konnte sie zumindest an den gewohnten Stellen nicht entdecken. Was ihr Hoffnung hier auf Informationen zu stoßen sinken ließ. Denn hätte der Besitzer dieses Hauses noch eine lohnende Sammlung, wäre bestimmt die ein oder andere Kamera vorhanden. Genauso wie Lichtschranken, von denen sie ebenfalls keine entdecken konnte. Von einem Zimmer schlich sie ins nächste, wobei sie das erste Obergeschoss erst einmal mied. Dort befanden sich bestimmt die Schlafzimmer und damit auch die Bewohner des Anwesens, die Paige nicht aufschrecken wollte. Eine Tür öffnete sich zu einem Raum, der früher einmal für Ausstellungen genutzt worden sein musste. Noch immer standen Truhen, alte Regale und Schaukästen herum. In Einigen lagen sogar noch ein paar antike Münzen, die aber auf den ersten Blick nicht so aussahen, als wären sie noch besonders viel wert. Von einer Spur das Amulett betreffend konnte leider keine Rede sein. Was hatte sie denn auch erwartet? Dass hier eine Broschüre über die Ausstellung lag, in der es vorgeführt worden war? Oder das jemand mit der Geschichte seiner Herkunft auf sie wartete? Um ehrlich zu sein, wusste Paige überhaupt nicht genau, was sie hier eigentlich suchte. Sie schnaubte leise, um vor sich selbst nicht laut zugeben zu müssen, dass sie einfach nicht mehr in diesem anderen leeren Haus hatte bleiben wollen. Dass sie hier war, um Nachforschungen anzustellen, war mehr oder weniger nur ein Vorwand. Sie hätte genauso gut einfach mit dem Auto in der Gegend herumfahren können. Das hätte in etwas genauso viel gebracht. Mit behandschuhten Fingern strich sie über eine Reihe alter Bücher, schenkte den Titeln aber nur oberflächliche Beachtung. Es waren alte Münzkataloge, Briefmarkenalben und ähnlicher Plunder. Auch im Regal fand sie leider kein Buch mit der Aufschrift: 'Fragen zum verfluchten Amulett? Antworten finden Sie hier!" Bei einem Band, der zumindest nicht völlig abwegig aussah, streifte sie durchs Inhaltsverzeichnis, bevor sie es wieder zu den Anderen stellte. Fehlanzeige. Sie würde doch nicht wirklich hinauf gehen und den Besitzer mit einer lodernden Drohung aus dem Bett zerren müssen. Wenn sie sich recht erinnerte, war der Mann, dem das Amulett damals entwendet worden war, doch bereits tot... Als sie auf den Gang hinaustrat, fror sie mitten in der Bewegung ein. Ein Knarzen über ihrem Kopf. Jemand bewegte sich im Stockwerk über ihr - genau auf die Treppe zu, die in die Halle führte. Paige stand wie auf dem Serviertablett, während die Schritte sich weiter näherten. Mit zerwühlten Haaren, zerknittertem Anzug, nackten, schmutzigen Füßen und vollkommen außer Atem, öffnete Ryon die Tür zur Küche, so dass sich drei Köpfe mitten aus einem Gespräch zu ihm herum drehten und ihn zuerst erschrocken, dann aber schon wesentlich freundlicher entgegen blickten. „Mein Gott, ich dachte schon Big Foot käme zum Abendessen vorbei und hätte sich dafür sogar rasiert. Allerdings kommst du zu spät, Ryon. Es gibt nur noch kalte Küche.“ Tyler war so freundlich und fröhlich wie eh und je, vor allem, da er sich gerade noch zu Ai hinab gebeugt hatte, die ihm irgendetwas gezeigt hatte, das sie in den Händen hielt. Es sah aus wie gestrickte Babyschühchen mit einem ganz besonders schönen Muster und feiner Wolle. Einen Moment lang kam Ryon ganz aus dem Konzept, betrat dann aber den Raum und schloss die Tür wieder hinter sich, denn es wurde Abends ganz schön frisch draußen. Zumindest für Nicht-Wandler. Langsam beruhigte sich auch sein schneller Atem wieder und der Puls hämmerte ihm nicht mehr so laut in den Ohren. „Wo ist Paige?“ Kein Hallo, keine Begrüßung und allen voran keine Umschweife. Dass sie fehlte, war nicht ungewöhnlich, aber trotzdem leicht beunruhigend. Gerade jetzt, wo sie so schnell mit Ai abgezogen war, hätte er eigentlich geglaubt, die beiden Frauen wären noch eine ganze Weile nicht mehr auseinander zu bringen. Da hatte er sich wohl geirrt. „Ist ausgeflogen.“, kündigte Tennessey wie nebensächlich an, während er sich über ein paar seiner Notizen beugte und sie aufmerksam studierte. „Sie ist weg?“ Ryon stellten sich mit einem Mal alle Nackenhärchen auf und Blei legte sich schwer um seinen Magen. Sie war doch nicht etwa… Oder doch? „Bevor dich dein schlechtes Gewissen auffrisst, sei dir gesagt, dass sie eine junge, attraktive Frau ist, die ihren eigenen Kopf und deine Autoschlüssel hat. Gönn ihr doch ein bisschen den Spaß. Schließlich siehst du auch so aus, als hättest du den Kopf aus dem Fenster eines rasenden Porsche gesteckt. Also beschwer dich nicht. Sie hat dabei nur mehr Stil bewiesen.“ Entweder hatte hier keiner eine Ahnung, was vorgefallen war und sie machten sich deshalb keine Sorgen, oder hier war etwas verdammt faul. Sie benahmen sich alle so, als wäre nichts gewesen. Als hätte es heute Nachmittag ein herzliches ‚Hallo‘ und ‚schön dass ihr wieder zurück seid‘ gegeben und nicht dieses ‚Desaster‘, wie Tyler es so passenderweise bezeichnet hatte. Außerdem blickte Tennessey noch immer nicht hoch, obwohl der Arzt bei seinem Intellekt die Seite schon dreimal durchgelesen haben müsste. Wenn der Doc allerdings recht hatte und Paige einfach das gleiche Verlangen verspürt hatte, wie er, dann konnte er nichts dagegen tun. Bestimmt würde sie niemals Ai zurück lassen, wenn sie vorgehabt hätte, abzuhauen. Weshalb er sich nicht zu viele Gedanken darüber machen sollte. „Ich weiß zwar nicht, was hier los ist, aber wenn ich wieder komme, will ich ein paar Antworten hören. Ihr verheimlicht mir etwas.“ Seine Stimme war alles andere als ausdruckslos. Das tiefe Knurren war fast zu spüren, obwohl man es nicht hören konnte. Er hatte sich noch immer nicht ganz im Griff, aber das schrieb er auf seine Müdigkeit. Da hier sowieso alle den Eindruck machten, als würden sie nicht aus dem Nähkästchen plaudern wollen, zumindest vorerst nicht, und auch nichts, was wichtig wäre, beschloss Ryon erst einmal duschen zu gehen. Er war vollkommen durchgeschwitzt. Mit kontrollierten Atemzügen presste sie sich gegen eine raue Holzwand. Das Bild, das an der selbigen hing, drohte ins Schwanken zu geraten, als sie den Blick an die Decke richtete, um besser einschätzen zu können, wann der Mensch auf der Treppe ankommen würde. Wo er oder sie dann hinsteuern mochte, konnte sie natürlich deswegen noch lange nicht sagen. Ihr Herz klopfte lauter mit jedem Geräusch, das ihr die Person näher brachte. Derjenige war auf der Treppe. Nackte Füße auf den Holzstufen, die hinunter führten. Der Lüster in der Halle warf gleißend helles Licht durch den Raum, an dessen Rand Paige mit angehaltenem Atem klebte. Die Versuchung sich in das nächste Zimmer zu bewegen war groß. Aber diese Bewegung war genau der falsche Weg. Wenn der Mann, der gerade im gestreiften Morgenmantel die letzten Stufen hinunter ging sie nicht bemerken sollte, musste sie stehen bleiben, wo sie war. Vor Erleichterung hätte sie am liebsten laut geseufzt. Der Mann mit den grauen Haaren, dem verschlafenen Gesichtsausdruck und dem großen Schnurrbart hatte sich in die ihr entgegen gesetzte Richtung gewandt. Dorthin schlappte er in seinen hellblauen Hausschuhen und als Paige schon um die Ecke im Salon verschwand, konnte sie das typische Geräusch einer sich öffnenden Kühlschranktür hören. Erst als der ältere Herr die Stufen wieder hinauf und in sein Schlafzimmer gegangen war, sah Paige sich vorsichtig in dem letzten Raum des Erdgeschosses um. Der Salon war offensichtlich gleichzeitig als Studierzimmer eingerichtet worden. Mit einem großen Schreibtisch, weiteren Bücherregalen und auch ein paar Zeugnissen an der Wand. Der Herr war kein Antiquitätensammler, sondern Archäologe. Passte zu dem Eindruck, den Paige bei dem flüchtigen Anblick von ihm gewonnen hatte. Sie konnte ihn sich so richtig in kurzen Kakihosen und Helm bei einer Ausgrabung vorstellen. Nach kurzem Herumsuchen, fand sie sogar einen Zeitungsausschnitt mit einem Bild, auf dem er in ähnlicher Ausstattung zu sehen war. Er schüttelte einem recht korpulenten Mann die Hand, der breit in die Kamera lächelte und älter aussah als der Archäologe. Dieses Bild war vor fast neun Jahren in Agypten aufgenommen worden. Zumindest wenn man den Angaben im Zeitungsausschnitt glauben durfte. "Die gefundenen Schätze seien atemberaubend und werden direkt in die Sammlung des bekannten Antikenkurators Ben Smith übergehen, der sie in zwei Monaten für die Öffentlichkeit zugänglich machen möchte." Schätze aus Ägypten. Es wäre wirklich bloßer Zufall... Paige fuhr mit den Fingerspitzen über die Schubladen des Schreibtischs und zog einige daran leise auf. Darin befand sich ein Chaos an Stiften, Papieren, Schmierzetteln und anderen Dingen. Allerdings nichts, was auf diese alte Ausstellung hingewiesen hätte. Eine Schublade hatte ein winziges Schloss, an dem der Schlüssel fehlte. Langasm ließ sich Paige in die Hocke sinken, zog die obligatorische Klammer aus ihrem Haar und schob sie in das Schlüsselloch. Bereits nach wenigen Drehungen gab das Metall ein leises 'klick' von sich und sie konnte die Lade aufziehen. Die Aufgeräumtheit überraschte vor allem im Gegensatz zu den anderen Fächern. Vielleicht war es auch der übersichtliche Inhalt, der Ordnung in diesem Fall leicht machte. Paige griff sich eines von vier Büchern, auf denen jeweils ein Zeitraum von vier Jahren eingeprägt war. Das Jahr des Artikels war auch darunter. Ein flammender Finger erleichterte ihr das Lesen, als sie mit schnellen Blicken die Seiten überflog. Erst als sich ein zufriedens Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete, schob sie die Schublade wieder zu, steckte das Buch ein und verließ unauffällig auf dem Weg das Haus, auf dem sie gekommen war. Im Auto angekommen ließ sie den Motor an und fuhr aus dem Viertel heraus in die Innenstadt. Mehr oder weniger ohne Sinn und Ziel fuhr sie eine Weile durch die Gegend, bis sie an einem Imbiss ankam, der rund um die Uhr geöffnet hatte. Das Buch in der Hand betrat sie den in Bonbonfarben gestalteten Laden und bestellte sich eine große Portion Kaffee. Jedem Jahr waren in dem Buch 150 eng handschriftlich beschriebene Seiten gewidmet. Selbst für das betreffende Jahr, das sie interessierte, würde sie eine ganze Zeit lang brauchen. Immerhin versprach es ein wenig Erfolg. Sie würde nicht mit völlig leeren Händen und einem ebenso vollen Benzintank zum Haus zurück kommen. Die Dusche dauerte länger, als gedacht. Er hatte erst Blätter und kleine Zweige, manchmal sogar Flechten aus seinen Haaren entfernen müssen. Die ihm bis dahin gar nicht aufgefallen waren. Auch seine Füße mussten richtig geschrubbt werden, bis die ganze Erde daran verschwunden war. Doch schließlich war er annehmbar sauber, trocknete sich rasch ab und zog sich eine locker auf den Hüften sitzende Leinenhose in Ocker an und dazu noch einen gut anliegenden Kaschmirpulli, der jedoch dünn genug war, um ihm nicht zu heiß zu werden. Noch bevor er schließlich auf leisen Fußsohlen der Küche auch nur nahe kam, fiel ihm die vollkommene Stille im ganzen Haus auf. Sein erster Eindruck bestätigte sich auch noch, als er die Küchentür aufschob und ihm nur die für seine Nachtsicht erkennbaren Umrisse einer sauberen und verlassenen Küche entgegen blickten. Das Trio hatte also beschlossen, einfach schlafen zu gehen und ihn mit seinen Fragen einfach allein zu lassen. So konnte man sich natürlich auch vor Verantwortung drücken. Was blieb ihm bei so viel Sturheit anderes übrig, als sich für heute resigniert geschlagen zu geben. Doch anstatt selbst ins Bett zu gehen, wanderte er ins Wohnzimmer, wo er auf ganz altmodische Weise zuerst Holz im Kamin stapelte und es dann zum Brennen brachte. Aus alter Gewohnheit setzte er sich nicht auf die davor stehende auslandende Couch, die ihm und einer weiteren Person genug Platz geboten hätte, sondern setzte sich davor auf den weichen Teppich und lehnte mit dem Rücken dagegen. Er zog seine Knie an seine Brust und umschlang sie mit seinen Armen, während er das Kinn darauf ablegte und ins Feuer starrte, das rasch eine heimelige Wärme verbreitete. Lange rührte er sich nicht, sondern wartete. Wartete auf zarte Hände, die ihm nie mehr durchs Haar kraulen würden. Wartete auf einen warmen Schoß, gegen den er nie wieder seinen Kopf lehnen konnte. Wartete auf den weiblich femininen Duft, der stets seine Sinne berauscht hatte. Er wartete, bis das prasselnde Feuer nur noch ein sanftes glimmen geworden war und seine Augen voller Anstrengung brannten, bis er sie schließlich schloss und sein Gesicht in seinen Armen vergrub. „Ich vermisse dich…“, gestand er sich schließlich ein, als das Warten für ihn ein nie endender Prozesse geworden zu sein schien. Er würde immer warten, auch wenn er wusste, dass es sinnlos war. Was blieb ihm auch anderes übrig. Er war jetzt nun einmal alleine. Es war nahezu fahrlässig in ihrem Zustand noch Auto zu fahren. Sie war so müde, dass die Welt vor ihren Augen zu tanzen drohte und ihr Körper ihr nicht nur auf diese Art und Weise sagen wollte, dass es nun endgültig reichte. Paige zitterte und gähnte abwechselnd, während sie den Wagen vorsichtig den unbefestigten Weg zum Grundstück und schließlich nach der Kontrolle am Tor die Auffahrt zum Haus hinauf lenkte. Ihr war klar, dass sie nicht nur wegen des Buches so lange in der Stadt geblieben war. Die Seiten hätte sie auch durchaus in dem Zimmer bei Ai oder in der Küche lesen können. Aber das Gefühl hierher zu kommen, war genauso unangenehm, wie sie es sich ausgemalt hatte. Für Paige war es in diesem Moment nicht anders Ryons Haus zu betreten, als vor einigen Stunden der Einbruch bei dem Archäologen. Bloß, dass man es ihr hier noch einfacher machte. Die Tür vom Inneren der Garage zum Haus war nicht abgeschlossen. Nachdem sie den Autoschlüssel wieder an seinen Platz gehängt und alle Lichter draußen gelöscht hatte, ging sie auf Zehespitzen durch den Flur, um bloß niemanden aufzuwecken. Bei der Garderobe angekommen, streifte sie ihre Stiefel ab und blieb einen Moment zitternd stehen, bevor sie den Mantel ebenfalls auszog und ihn aufhängte. Dabei legte sie das mitgebrachte Buch nicht einen einzigen Moment aus der Hand. Sie hatte tatsächlich etwas darin gelesen, was sie weiterbringen könnte. Ob es allerdings mehr als nur ein Hoffnungsschimmer war, würde Ryon entscheiden müssen. Sie würde ihm das Buch einfach irgendwo hinlegen, mit einer Notiz, auf welchen Seiten er die Hinweise finden konnte. Paige hatte vor, Morgen auszuschlafen und je länger sie ihm aus dem Weg gehen konnte, desto besser. Etwas rüttelte an seinem schlafenden Verstand. Instinktiv zucken seine Ohren leicht und er neigte den Kopf etwas zur Seite, um besser hören zu können. Sein Gehirn arbeitete mit der Geschwindigkeit von im Koma liegenden Omas. Er begriff erst dann, dass er knirschenden Kies gehört hatte, als auch schon die Tür von der Garage ins Haus geöffnet und wieder geschlossen worden war. Leise Schritte strichen über den Flur und rissen ihn endgültig aus seinem Dämmerschlaf. Ruckartig fuhr sein Kopf in die Höhe und er sah sich blinzelnd und leicht verwirrt um. Das Feuer im Kamin war inzwischen fast ganz verloschen und sein Hintern kribbelte, da dieser vom Sitzen ebenfalls eingeschlafen war und gerade erst aufwachte. Lautlos kam Ryon auf seine nackten Füße, wich diversen Möbelstücken aus und schob die angelehnte Tür zum Wohnzimmer auf, die in den Hausflur führte. Er sah die Silhouette einer Person, wie sie langsam auf den Weg zu den Gästezimmern ging. „Paige?“, flüsterte er noch immer leicht schlaftrunken, ehe er etwas lauter weiter sprach. „Du bist zurück?“ Eher eine Frage, als eine Feststellung. Vielleicht träumte er auch immer noch, weshalb er sich kurz über die müden Augen rieb. Die Gestalt war immer noch da. Nein! Sie zuckte zusammen, als hätte ihr Name sie wie ein winziges Geschoss in den Rücken getroffen. Sie griff das Buch in ihrer Hand fester und drehte sich um. Ryon stand in der Tür zum Wohnzimmer, aus dem nur noch eine Winzigkeit von warmem Licht hervorglimmte. So, wie er sich anhörte, war er wohl auf der Couch eingeschlafen und sie hatte ihn geweckt. Am liebsten hätte sie innerlich über seine Wandlernatur geflucht. Aber nach dem, was sie inzwischen über ihn wusste, würgte sie diesen Gedanken ab, bevor er entstehen konnte. Wie angenagelt stand sie dort, wo er sie mehr oder weniger 'erwischt' hatte und war bloß froh, dass sie auf die Entfernung seine leeren Augen nicht sehen konnte. "Hallo. Ja, ich war nur kurz weg." Obwohl niemand sie in diesem Haus hören würde, sprach Paige nur halblaut. Was sollte sie denn bitteschön sagen? Warum ging er denn nicht einfach schlafen? Warum sie selbst nicht einfach dorthin ging, wohin sie unterwegs gewesen war, wusste sie ebenfalls nicht. Müdigkeit wäre absolut keine Ausrede gewesen. Stattdessen stand sie unbeweglich im Flur, bis ihr das kleine Gewicht in ihrer Hand wieder einfiel. "Hier." Sie hielt ihm das Buch entgegen, in dem sie mit einem Zettel zumindest den Anfang des richtigen Jahres markiert hatte. Gott sei Dank. Wenigstens sprach sie überhaupt noch mit ihm. Das Schweigen war in letzter Zeit immer bedrängender geworden und war somit auch schon ohne die damit begleitende Ausstrahlung sehr unangenehm gewesen. Zurecht zwar, aber sie konnten beide nicht Ewig so weiter machen. Es sei denn, Paige hatte vor, schon morgen mit Ai zusammen das Haus zu verlassen und sich alleine durch zu schlagen, obwohl die Bedrohung durch den Hexenzirkel immer noch über ihnen hing. Zugegeben, bis jetzt hatte sich noch nicht sehr viel an dieser Front getan, aber für diese Ruhepause konnten sie eigentlich nur dankbar sein. Sie hatten innerhalb ihrer Reihen schon genug Probleme. Wenn jetzt auch noch Druck von außen dazu käme, würde das wohl endgültig den hauchzarten Zusammenhalt innerhalb dieses Haushaltes sprengen. Zumindest was die Konstellation mit den beiden Frauen anging. Ryon wäre zwar lieber einfach davon gelaufen, anstatt sich diesen unangenehmen Problemen zu stellen, aber schlussendlich würde ein Aufschub die ganze Sache nur noch verschlimmern. Warum sich also nicht jetzt gleich damit befassen? Etwas zögerlich löste er sich von seinem Platz an der Tür und kam lautlos zu Paige hinüber, da sie ihm etwas entgegen gestreckt hielt, das er erst bei genauerer Betrachtung als kleines Buch erkannte. Es war keines aus seiner Bibliothek, soviel konnte er schon auf den ersten Blick erkennen. Aber woher hatte sie es dann und vor allem, was war so interessant daran? Für den Augenblick schob er diese Fragen beiseite, während er das Buch entgegen nahm, aber keinen weiteren Blick mehr darauf warf, sondern Paige in die Augen blickte. Was sein Unbehagen nur noch verstärkte, doch wenigstens standen sie sich nicht in vollem Rampenlicht gegenüber, weshalb die Intensität durch die dämmrigen Lichtverhältnisse abgemildert wurde. „Hast du einen Augenblick Zeit?“, wollte er mit gesenkter Stimme erfahren. Er war noch immer müde, aber bei vollkommen klarem Verstand. Trotzdem lag nichts Kaltes in seiner Stimme. Im Moment hatte er nicht die Kraft, sich hinter irgendetwas zu verbergen. Dafür würde Morgen noch genug Zeit bleiben. „Ich kann natürlich verstehen, wenn du lieber schlafen möchtest, immerhin ist es schon spät, aber… Ich würde gerne mit dir reden.“ Seine Finger glitten über den weichen Ledereinband des Buches in seinen Händen. Es war schon älter und abgegriffen, aber offenbar von edler Herkunft. Ein Tagebuch vielleicht? Auf jeden Fall fühlte es sich nicht wie eine gedruckte Ausgabe von etwas an. Auch wenn er das eher nur am Rande wahrnahm. Er sah immer noch Paige an … wartend. Wie sie ihn für etwas Anderes als eine Raubkatze hatte halten können, war Paige unbegreiflich. Als Ryon sich auf sie zu bewegte, völlig lautlos und dennoch ohne sichtliche Anstrengung darauf verwendend, konnte sie gar kein anderes Tier mit ihm überein bringen. Aber gerade weil sie jetzt wusste, was in ihm wohnte, da sie es deutlicher sehen konnte, als jemals zuvor, hämmerten ihr die Gedanken an seine Vergangenheit in den Verstand. Als er sie fragte, ob sie Zeit zum reden hätte, wollte sie am liebsten verneinen. Paige war schon zu oft in dieser Situation gewesen, um nicht zu wissen, was jetzt kommen würde. Alles in ihr sperrte sich gegen die Bereitschaft ihm zuzuhören und dadurch in die Sparte 'gute Freundin' gedrängt zu werden. Es musste daran liegen, dass sie auf der kühlen Distanz ihrer Partnerschaft bestehen wollte. An der allerdings allein seine Tonlage zu rütteln vermochte. Er war immer noch nicht der, den sie kennen gelernt hatte. Da war Gefühl in seiner Stimme. Wenig zwar, aber im Gegensatz zu sonst einfach unüberhörbar. In einer Übersprungshandlung schob sie die kalten Hände in ihre Hosentaschen und nickte leicht. "In Ordnung." Sie würde jederzeit gehen können. Im Flur war es kühler, als in den Zimmern, da die großen Fensterbögen zwar sehr gut isoliert waren, aber trotzdem mehr Angriffsfläche boten. Aber nicht nur deshalb, wandte er sich wieder zum Wohnzimmer herum und hielt Paige die Tür auf. Er wollte diese Dinge nicht stehend im Flur bereden, außerdem war er seit dem Vorfall im Tunnel deutlich aufmerksamer, wenn es um Temperaturen in ihrer Nähe ging. Denn auch wenn er ihren Körper nicht verstand, so vermutete er doch, dass sie nicht selbst ausreichend Wärme erzeugen konnte und deshalb wärmere Orte vorziehen würde. Der noch immer warme Kamin war dafür sicher eine passende Alternative. Vor allem, als er noch einmal Holz nachlegte, nach dem er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Entgegen seiner Gewohnheit setzte er sich dieses Mal auf einen der weichen Couchsessel. Es fühlte sich befremdlich an, aber lange nicht mehr so neu und ungebraucht, wie er es noch in Erinnerung gehabt hatte. Seine Freunde hatten wohl schon viele Tage und Nächte lang die Zeit genutzt und seine Möbel eingesessen. Trotzdem wusste Ryon nicht so recht, wie er sich hinsetzen sollte. Er hätte den Boden vorgezogen. Er saß eine Weile schweigend da, hielt noch immer das Buch fest in seinen Händen, während er den kleinen Flämmchen im Kamin zu sah, wie sie langsam an dem trockenen Holz leckten und somit immer größer wurden, bis sie wieder richtig brannten und der Klang von knackendem und zischendem Holz die Stille beendete. Daran nahm er sich ein Beispiel. „Ich wollte, dass du weißt, dass die Drohung in diesem Laden nicht dir gegolten hat.“, begann er schließlich leise und ruhig, ohne von dem Feuer aufzublicken. „Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich mich dir gegenüber so benommen habe. Das hattest du nicht verdient.“ Da er zwar das Verlangen hatte, sich bei ihr zu entschuldigen, aber nichts an dem ändern konnte, was er dennoch empfand, wenn er an diese Situation dachte, versuchte er auch gar nicht erst mit irgendwelchen Erklärungen zu kommen. Wenn er könnte, er würde Crilin immer noch töten. Das machte ihn zwar nicht besser, aber er war nun einmal jemand, der schon oft getötet hatte. Diese Unschuld konnte ihm also nichts mehr zurück bringen, er hatte also gar keine andere Wahl, als damit zu leben. „Ich würde verstehen, wenn du nach all dem, was du gesehen hast, Zweifel an unserm Deal hast. Aber ich kann ehrlich und mit reinem Gewissen sagen, dass ich nicht die Absicht habe, dir oder Ai zu schaden. Ob du mir das glaubst, oder nicht.“ Sie war ihm ins Wohnzimmer gefolgt und unendlich dankbar, dass der Kamin dort noch brannte und Ryon es sogar noch weiter anfachte. Trotzdem konnte sie ein leichtes Zittern ihres Köpers nicht unterdrücken, das von der Müdigkeit und den überspannten Nerven herrührte. Nach dem Gespräch mit seinen Freunden war sie von ihrer Abwehrhaltung einigermaßen wieder herunter gekommen. Aber jetzt hier allein mit Ryon in einem leeren Zimmer seines Hauses zu sitzen, setzte sie in gewisser Weise wieder einem hohen Grad an Stress aus. Sie ließ ihn keinen Moment aus den Augen, beurteilte jede seiner Bewegungen nach dem Potential das sie enthalten könnte. Nur weil er ruhig aussah, musste das nicht heißen, dass er das in zwei Minuten auch noch sein würde. Allerdings sollte sie, wenn sie ein bestimmtes Thema nicht anschnitt, einigermaßen sicher sein. Dass er genau mit der Situation anfing, die sie zum Zweifeln an seiner Zurechnungsfähigkeit gebracht hatte, war irgendwie passend. Offensichtlich hatten ihn die Anderen nicht darüber informiert, was in der Zwischenzeit besprochen worden und passiert war. Ryon wusste also nicht, was Paige wusste. Das machte die Sache nicht gerade leichter. Sollte sie ihm denn sagen, dass ihr klar war, warum er so ausgerastet war? Dann würde er seine Freunde wahrscheinlich als Verräter ansehen. Das waren sie in gewissem Sinne auch, aber Rache hatten sie trotzdem nicht verdient. Obwohl der Raum überall angenehm warm war, hatte Paige sich an den Punkt gesetzt, der dem Feuer am nächsten war. Ein Sessel, ähnlich dem, auf dem Ryon Platz genommen hatte. Beide standen sich an jeweils einer Seite der Couch gegenüber. Paige drängte sich der Vergleich mit einem Schachspiel auf. Auch wenn kein Brett auf einem Tisch zwischen ihnen stand. "Ja, ich habe sogar sehr große Zweifel. Und es ist nur dein Glück, dass du so gute Freunde hast..." Wären sie nicht gewesen, hätte er Ai und Paige nie wieder gesehen. "Ich vertraue darauf, dass die beiden sich gut um Ai kümmern werden." Ihre Augen funkelten ihn an. "Und darauf, dass du ihr kein Haar krümmen wirst." Sie war nicht mehr so sauer, dass diese Aussage den Nachdruck gehabt hätte, den sie sich wünschte. Es hörte sich eher wie eine eindringliche Bitte an. Wieder gähnte sie leise hinter vorgehaltener Hand. Eingeschlossen von der Wärme des Feuers und in dem bequemen Sessel hätte sie am liebsten einfach die Augen geschlossen und hätte geschlafen. Aber das stand nicht zur Diskussion. "Die Entschuldigung ist angenommen.", meinte sie leise und deutete auf das Buch, das sie ihm mitgebracht und das er auf einem Tischchen neben der Couch abgelegt hatte. "Das habe ich von jemandem, der nun das Haus des Antiquitätensammlers bewohnt. Es enthält den Bericht einer Ausgrabung in Ägypten. Ich denke, dass dein... dass es dich interessieren wird." Sie vermied es sogar, das Amulett direkt anzusprechen. Dabei war das bis jetzt noch nie ein Problem gewesen. Was die Informationen, die sie inzwischen erhalten hatte, alles ausmachten. Da er es für sinnlos hielt, sich noch einmal zu wiederholen, schwieg er lieber, was die Sache mit dem Schutz der beiden Frauen anging. Er würde ihnen nichts tun. Ebenso wenig wie seine Freunde. Wahrscheinlicher war auf jeden Fall das Gegenteil davon. Immerhin war Ai hier, weil er sie beschützen wollte und Paige, weil sie zusammen eine Lösung für ihr gemeinsames Problem suchten. Ryon konnte also noch so oft beteuern, dass er keine Hintergedanken bei alle dem hatte. Sinnvoller war es daher, es ihr einfach zu zeigen, auch wenn sich seine Worte nur schwer beweisen ließen. Aber vielleicht würde die Zeit selbst für seine Ehrlichkeit in diesem Fall sprechen. Man konnte nur abwarten. Ryon gab sich damit zufrieden, dass Paige seine Entschuldigung angenommen hatte. Das war mehr, als er von ihr verlangen konnte und erleichtere ihn etwas. „Ägypten?“, hakte er bei ihrem Themenwechsel ein und blickte erst das Buch und dann die Frau ihm gegenüber an. „Ich bin zwar kein Archäologe, aber für mich sieht das Amulett nicht wie ägyptisches Handwerk aus. Allerdings… Nach allem was ich bisher darüber gehört habe, würde es mich nicht wundern, wenn es viel herum gekommen wäre. Wer weiß, wie alt es ist…“ Wenn die Besitzer alle nach einander starben, blieb es nicht lange in ein und demselben Besitz. Da war es kein Wunder, dass es so weit gereist war. Was ihn selbst in dieser Sache betraf, fühlte er sich wahrlich verflucht, allerdings gab es keine Anzeichen dafür, dass das Schmuckstück auch ihn umbringen wollte. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er sagen, es wäre einfach nur schön anzusehen und mehr auch nicht. Ryon wurde von einem Gähnen geschüttelt, dass sogar seine Augen leicht tränen ließen. Er fühlte sich so müde und erschöpft, dass er sich am liebsten zum Schlafen auf dem Teppich vor dem Kamin zusammen gerollt hätte. Ihm war nicht entgangen, dass es Paige vermutlich ähnlich ging. Zumindest was die Müdigkeit betraf. „Ich danke dir für das Buch und wenn du nichts dagegen hast, würde ich mich gerne morgen weiter mit dir darüber unterhalten. Aber im Augenblick halte ich es für besser, wenn wir schlafen gehen. Ich wollte dich ohnehin nicht allzu lange aufhalten.“ Die Reise hier her war anstrengend gewesen und sie beide hatten sich danach trotzdem keine Pause gegönnt. Dabei brauchten sie ihre Kräfte, wenn sie weiter machen wollten. Jetzt, da wenigstens wieder etwas zwischen ihnen halbwegs gerade gebogen worden war. Wie lange das allerdings anhielt, konnte er nicht sagen. Fast schon befürchtete er, dass er wieder etwas verbocken würde. Irgendwie war das in Paiges Nähe vorprogrammiert. Aber auch darüber wollte er sich jetzt keine Gedanken mehr machen. Das Gästezimmer wartete auf ihn. Ryon nahm das Buch zur Hand und stand auf. Einen Moment lang, blickte er schweigend zu Paige hinüber. Musterte ihre Gesichtszüge. Die stetig wachsamen Augen. Den wortgewandten Mund, das feine und doch energische Kinn. Wie ihre Augenbrauen arbeiteten, wenn sie Gefühle zeigte. Er wusste noch ganz genau, wie es aussah, wenn sich ihre Schuppen wie ein schützender Panzer über ihre Haut zogen. Die Flämmchen, wenn sie züngelnd darüber tanzten. Paige war vielleicht nur eine halbe Feuerdämonin, aber zugleich gab es etwas, in dem sie beide sich ähnelten. Auch sie konnte tierische Elemente annehmen, hatte sogar teilweise Eigenschaften einer Echse und trotzdem schien sie keinen Kampf gegen sich selbst führen zu müssen. Sie war was sie war und lebte trotzdem offen ihre Gefühle. Für Ryon war sie die lebende Erinnerung daran, wenn nicht sogar eine Art Mahnung dafür, dass es ihm einst genauso ergangen war. Er konnte seinem Tier noch so oft weh tun, es einzwängen, ihm die Freiheit nehmen und es leugnen. Letztendlich blieben sie ein Wesen. Der Schmerz des Tieres würde auch immer sein eigener sein, so wie seiner, das Tier zum Wehklagen brachte. Vielleicht sollte er eines Tages in Erwägung ziehen, ihm zu verzeihen und es wieder zu respektieren, so wie früher. Aber selbst wenn, so würde es noch ein weiter Weg bis dorthin sein. Zumindest Paige schubste ihn mit dem was sie war, ein bisschen in die richtige Richtung. Sie führte ihm, ohne es zu wollen, vor Augen, was er sein könnte und was er nicht war. Das allein genügte, um ihr einen winzigen Hauch … lediglich einen Schatten von einem aufkommenden Lächeln zu schenken, als er ihr eine gute Nacht wünschte und den Raum verließ. Paige saß noch eine Weile vor dem niederbrennenden Feuer. Es erstarb nur langsam und es wurde für ihre empfindliche Haut schnell sehr viel kühler im Raum. Doch gerade weil sie so müde war, schien ihr der Weg in das Gästezimmer zu weit. Sie hatte ihre Füße auf den Sessel gezogen, sich halb umgedreht und lag mit dem Kopf an das Ohr des Sessels gelehnt. Um sich nicht weiter verwirren zu lassen, versuchte sie für sich selbst einen Plan zum weiteren Vorgehen zu erstellen. Erst einmal die Fakten. Ein Gähnen schüttelte sie so durch, dass sie ihre Arme um ihren Körper schlang und kurz die Augen schloss. Das Amulett war aus Ägypten gekommen. Bei einer Ausgrabung war es zusammen mit anderen Schmuckstücken gefunden und dann in einer Ausstellung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. So weit, so gut. Allerdings war in dem Tagebuch des Archäologen die Rede von einem zweiten Teil des Schmuckstückes gewesen. So etwas wie ein Gegenstück oder... eine zweite Seite? Paige raffte sich aus dem Sessel hoch und wollte in die Bibliothek. Das kam ihr doch alles zu bekannt vor, als das sie es hätte bis zum Morgen ruhen lassen können. Wobei es bis zum Sonnenaufgang sowieso nur noch ein paar Stunden sein konnten. Sie sollte schlafen und hier nicht wie ein Zombie herumgeistern. Wenn ihr Herz nicht wie eine Kesselpauke vor sich hindröhnen würde, hätte sie auch nichts lieber getan, als sich in ihr Bett zu verkriechen. Allerdings wusste sie nur zu genau, was sie vermutlich sehen würde, sobald sie die Augen schloss. Da war es so viel besser, sich noch eine Weile wach zu halten, bis sie buchstäblich einfach vor Müdigkeit umfiel und gar nichts mehr träumte. Leise betrat sie den Raum, in dem ihre Reise so zu sagen angefangen hatte. Tyler hatte die Truhe mit den Dokumenten fein säuberlich an einen freien Platz gestellt. Als Paige sie öffnete, lag das Pergament, das sie suchte oben auf. Wie damals, als sie noch nach einem ersten Hinweis auf das Schmuckstück gesucht hatte, knipste sie die Schreibtischlampe an und strich das Dokument mit vorsichtigen Fingern glatt, um die Stelle zu suchen, die ihr beim ersten Lesen bereits aufgefallen war. Zwei Seiten. Da war es. Paige hatte sich also richtig erinnert. Wenn sie die Informationen auch jetzt nicht besser verstand als damals. Ryon hatte nachgesehen und ihr versichert, dass das Schmuckstück keine deutlich unterscheidbaren Seiten hatte. Nichts, das diesem Eintrag entsprechen könnte. Aber Zufall konnte es dennoch nicht sein. Es gab ein Gegenstück. Paige ließ sich in dem harten Stuhl zurücksinken und blickte zur Decke auf. Das Gegenstück - vielleicht sogar ein gegensätzliches Teil - musste von dem Amulett getrennt sein. Sonst machte es keinen Sinn. Es gab also bestimmt zwei von der Sorte. Mit dem selben Fluch belegt? Aber warum war dann der Begriff 'Gegenstück' gefallen? Mit kühlen Händen versuchte sie ihre Unterarme etwas warm zu rubbeln, auf denen sich Gänsehaut gebildet hatte. Sie gehörte dringend ins Bett. Denken konnte sie ohnehin nicht mehr. Als sie sich mit leisem Frösteln unter die Decke kuschelte, versuchte sie im Dunkeln die Augen offen zu lassen. Das hatte sie als Kind oft getan, damit sie augenblicklich einschlief, sobald sich ihre überstrapazierten Augen endgültig nicht mehr offen halten ließen. Denn das bedeutete, dass sie zu müde war, um den Nachhall des Tages in Gedanken noch einmal durchleben zu müssen. Paige wollte es nicht sehen und mit ihrem kleinen Trick schaffte sie es, das Bild nicht aufkommen zu lassen. Doch es besuchte sie im Schlaf. Zusammengerollte und mit einem grüblerischen Runzeln der Stirn seufzte sie leise über das, was ihr Verstand und auch ein anderer Teil von ihr sie noch einmal sehen ließ. Ein Lächeln, wo sie es nicht erwartet hätte, bevor die Hölle zufror. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)