Dark Circle von Darklover ================================================================================ Kapitel 18: 18. Kapitel ----------------------- Da sie alles weitere auch noch auf dem Weg bis zum Friedhof besprechen konnten, war das Essen schließlich schnell beendet. Sie trennten sich noch kurz, um sich umzuziehen. Paige würde hoffentlich auf wärmere Klamotten zurückgreifen, während er sich lediglich wieder ein dunkles Hemd anzog und dazu eine schwarze Lederjacke in edlem Design überstreifte. Allerdings nahm er das Kleidungsstück weniger für sich selbst, als mehr für mögliche Kälteeinfälle für Paige mit. Ryon hätte es immerhin auch bei Minusgraden noch kuschelig warm in seiner Haut gehabt. Kein Wunder. Das Land seiner Herkunft war nicht gerade die sonnige Karibik. Selbst um diese Uhrzeit war in der Metro noch immer alles gerammelt voll, so dass sie wieder einmal dicht an dicht mit anderen Menschen standen. Nur gut, dass Ryon noch nicht geschlafen hatte, was sich als sanfte Erschöpfung im Körper breit machte und ihn auf einem normalen Level hielt. Sonst hätte er dieser kleinen Gruppe von Japanern mit ihren Fotoapparaten und den Eifelturmshirts schon gezeigt, wo sein Revier war. So aber, hielt er sich lediglich an einem Haltegriff fest, während er die ganzen ungewollten Berührungen über sich ergehen ließ. Einmal von dem Übermaß an Aftershave abgesehen, das hier irgendjemand wie eine Windfahne vor sich her trug und ihm in der Nase brannte. "Ganz ehrlich gesagt finde ich es nie schwierig einen Händler zu finden ... wenn man das Richtige anzubieten hat.", meinte sie leicht hin, während sie neben Ryon her den Weg hinunter ging, dem sie schon in der vergangenen Nacht gefolgt waren. Diesmal würde sie sich nicht ohne triftigen Grund von ihrem Begleiter entfernen. Die Kältestarre war ihr eine Lehre gewesen. Erstens trug sie Jeans und einen Pullover über ihrem Spaghetti-Shirt und zweitens würde sie Ryon dem Plan entlang folgend, dem man ihm gegeben hatte. Selbst wenn sie in eine Falle liefen - was sie aus unerfindlichen Gründe nicht annahm - wäre Paige diesmal nicht so leichtsinnig. Bereits seit sie den Friedhof betreten hatten, ließ sie ihre Schuppen nur kurz unter ihren obersten Hautschichten hin und her laufen. "Warten deine Französinnen eigentlich auf uns?" Da er natürlich einen ausgezeichneten Orientierungssinn hatte und demnach die Nymphen schamlos angelogen hatte, fand er nicht nur den Weg zum Mausoleum rasch wieder, sondern hatte auch keinerlei Probleme damit, sich dort unauffällig Zugang zu verschaffen und Paige mit sich zu ziehen. Der Ort für diesen Eingang in die Unterwelt war wirklich gut gelegen, denn für Gewöhnlich kam hier nur selten jemand den abgelegenen Pfad entlang. Das hatte er heute Nachmittag schon feststellen können. Es war beengend in dem Mausoleum und sie mussten dazu auch noch an einem steinernen Grab in dessen Mitte vorbei, aber statt der Rückwand mit der gewaltigen Statue eines Engels darin, die offenbar eine optische Täuschung durch gekonnte Lichteffekte war, ging es dahinter noch ein Stückchen weiter, so dass man die Statue tatsächlich umrunden konnte und dahinter eine Treppe nach unten fand. „Vermutlich nicht.“, gab er zu, ohne Paiges Frage ganz zu verneinen. Es waren Nymphen gewesen. Sie fanden bestimmt ganz schnell jemand anderen, den sie in ihr Reich ‚einführen‘ konnten. Um es einmal in ihren Worten auszudrücken. Bestimmt hatten sie ihn schon wieder vergessen und er würde auch auf keinen Fall im ‚Passion‘ nach ihnen suchen. Alleine schon der Name ließ vermuten, dass es sich hierbei um ein Etablissement handelte, in dem Minderjährige keinen Zutritt hatten. Geld aber immer willkommen war. Im Mausoleum selbst war es noch dämmrig gewesen, aber kaum am unteren Ende der Treppe angekommen, war es so finster, dass er wieder nur Schemen erkennen konnte. Was aber auch so ausreichte, um den Weg erkennen zu können. Immer nur nach Links zu laufen, war auch garantiert kein Problem. Vor allem jetzt, da sie wussten, wo sie hin mussten. Ryon blieb am Fuße der Treppe stehen und wartete auf Paige. Entweder, sie setzte ihre Fähigkeiten ein, hatte eine Taschenlampe dabei oder sie ließ sich wieder von ihm führen. Diese Entscheidung überließ er dieses Mal ganz ihr. Paige legte den Kopf in den Nacken und warf einen raschen Blick durch das Mausoleum, in das Ryon sie geführt hatte. So beengt wie hier die Verhältnisse waren, konnte sie sich nicht vorstellen, dass der Eingang zur Unterwelt tatsächlich hier war. So ganz anders, als zu Hause... Ein kleiner Schauer lief ihr über den Rücken, als sie ungewollt den Stein des Sarkophags in der Mitte des kleinen Raumes berührte. Vor den Toten brauchte man nur in den seltensten Fällen Angst zu haben. Schon gar nicht, wenn man dem Element des Feuers zugeordnet war. Aber das hieß ja nicht, dass einem diese Aufbahrungsorte der Menschen nicht unheimlich vorkamen. Eine Art den Körper an die Erde zurück zu geben, die Paige nie verstehen würde. Ein kalter, modriger Hauch schlug ihr aus der engen Nische entgegen, in der Ryon erstaunlicher Weise verschwunden war. Sie hörte seine Schritte nach unten verschwinden und blieb einen Moment wie angenagelt auf der obersten Stufe stehen. Was sollte sie jetzt tun? Stockdunkle Finsternis und Kälte erwarteten sie und erinnerte sie nur zu deutlich daran, was gestern in den Gängen passiert war. Wieder konnte sie nicht einschätzen, wie weit es bis zur Unterwelt von Paris war. Noch einmal in Kältestarre zu verfallen war alles andere als eine gute Aussicht. Mit vor Anspannung etwas steifen Fingern zog Paige eine Injektionspistole aus ihrer Manteltasche. Eine kleine Phiole mit einer schäumenden Flüssigkeit war darin eingespannt. Paige atmete tief durch. Einmal. Zweimal. Die Substanz war die Richtige für diesen Anlass... Dennoch zögerte sie noch einen Augenblick, bevor sie zur Tat schritt. An ihren Fingerspitzen glimmten winzige Flammen, die ausreichten, um die Treppe zu ihren Füßen zu erhellen. Unten angekommen sah sie kaum zu Ryon hoch, sondern machte mit ihrer Haltung klar, dass sie bereit war weiter zu gehen. Wenn möglich so schnell es ging. Aber das sollte ihm selbst auch klar sein. Paige stieß schließlich nach kurzer Verzögerung wieder zu ihm. Wie immer war sie ihre eigene Beleuchtung, was allerdings Nachts unter der Bettdecke beim Lesen sicher nicht ganz ungefährlich gewesen wäre. Dafür wäre das Brandrisiko wohl viel zu hoch. Aber auch so fand er ihre Fähigkeiten recht praktisch. Ryon hatte in der Zwischenzeit die Gelegenheit gehabt, sich gründlicher umzusehen. Im Gegensatz zu dem Loch von gestern und dem daran anschließenden Labyrinth war hier der Tunnel mit Steinen ausgelegt worden und auch die Gefahr im Dunklen zu stolpern war trotz der sanften Neigung des Bodens viel geringer. Wäre es nicht trotzdem kalt und feucht gewesen, hätte der Gang mit ein paar Lichtern sogar richtig einladend gewirkt. Aber bestimmt war das nicht unbedingt die Absicht der Erbauer gewesen. Ryon vermutete sogar, dass es mehrere Eingänge zur Unterwelt gab und sie sich sozusagen auf einem Nebeneingang herumdrückten. Auf jeden Fall war der Weg unkomplizierter als der von gestern. Jetzt, da er wusste, wie er die vielen Abzweigungen zu nehmen hatte. Wer diese simple Vorgehensweise nicht kannte, würde sich wohl immer verwirren. Ob deshalb keine Wächter zu sehen waren? Ryon konnte auf jeden Fall weder etwas Verdächtiges sehen, noch wittern. Da war nur der Geruch von nassem Stein, modriger Erde und natürlich Paige. Ihr Geruch war für ihn inzwischen unverkennbar geworden. Dank seines gestrigen Ausrutschers und durch die Beihilfe seines Tiers, wusste er nun auch ganz genau, wie ihr Haar duftete und wie seidig weich es sich auf seiner Haut angefühlt hatte. Ganz anders, als die Beschaffenheit ihres Schuppenkleids und trotzdem fand er auch die dämonische Seite an ihr keinesfalls abstoßend. Viel eher würde er es als interessant bezeichnen. Denn obwohl er schon mit so einigen merkwürdigen Wesen zu tun gehabt hatte, war er früher einmal doch stets vorzugsweise unter den Menschen geblieben. Da seinesgleichen im Grunde Einzelgänger waren, hatte er mit anderen seiner Sorte nie viel zu tun gehabt. Selbst seine Eltern lebten viele Flugstunden weit entfernt an einem relativ dünn besiedelten Ort. Daher war Paige letztendlich etwas sehr Exotisches für ihn. „Eigentlich hätten wir gleich nach dem richtigen Weg fragen können.“, stellte Ryon fest, da Paige ihn vorhin an die Nymphen erinnert hatte. „Immerhin gibt es offenbar auch noch andere von uns, die keine Macke wie dieser möchtegern Charmeur haben. Die Französinnen waren dahingehend fast normal. Von ihrer Eigenart einmal abgesehen.“ Oder mussten sie beide immer so tun, als bestünde die Welt nur aus Bösartigkeit? Ryon vertraute zwar niemanden, aber gerade diese beiden Ladys hatten ihn auf etwas hingewiesen, das er in seinem alleinigen vor sich hin vegetieren schon ganz vergessen hatte. Sie mochten zwar alle keine richtigen Menschen sein, aber das hieß noch lange nicht, dass nicht jeder von ihnen wüsste, was Menschlichkeit bedeutete. Die einen ignorierten diesem Umstand, manch anderen nutzten ihn aus, aber er gehörte im Grunde nicht zu dieser Kategorie. Das sollte er nicht vergessen. Ohne sofort zu wissen, was es war, nahm Ryon plötzlich die Witterung von etwas Neuem auf. Es war so leicht und zart, dass er es sich auch nur einbilden könnte. Denn selbst in Hundert Jahren hätte er nicht sagen können, was genau er da roch, aber eines stand für ihn fest. Wenn es keine Einbildung war, dann kam es von Paige. „Alles in Ordnung mit dir?“, wollte er schließlich wissen, nach dem sie schon einige Zeit lang die dunklen Gänge entlang gegangen waren. Immer dem linken Gang einer Abzweigung folgend. Ihre Atmung hörte sich für sie selbst laut und verräterisch an. Als könne jeder ihre Angespanntheit hören, das Warten auf das Einsetzen der Wirkung. Bereits jetzt war Paige schlecht. Sie hätte es nicht tun sollen. Warum tat sie sich das überhaupt an? Bestimmt wäre es auch sehr gut ohne gegangen... Als sie ein Kribbeln auf dem rechten Schulterblatt bemerkte, wäre sie beinahe in Panik ausgebrochen. Ihre erste Reaktion schreiend um sich zu schlagen, um das loszuwerden, was sich da gerade in ihrem Körper aufbaute, konnte sie hinunter kämpfen. Die Dosis war nicht hoch gewesen. Gerade mal ein Hundertstel von dem, was ihr Vater an ihr erprobt hatte. Also kein Grund kopflos zu werden. Zumindest für's Erste nicht. Mit zusammen gebissenen Zähnen und konzentriertem Gang lief sie neben Ryon her. Sie spendete ihnen beiden Licht und versuchte alles außer seiner Stimme und ihrer direkten Umgebung aus ihrem Kopf zu wischen. Etwas krabbelte ihr Bein hoch. Paige konnte ein Wimmern unterdrücken, obwohl sie wusste, dass das Ding nicht außen an ihr hinauf kletterte. Hätte es etwas genützt, wäre sie in der nächsten Ecke verschwunden und hätte sich den Finger in den Hals gesteckt, um sich zu übergeben. Aber das Zeug wirkte nunmal am besten, wenn man es ihr direkt ins Blut spritzte. 'Immerhin wirst du nicht nochmal in Kältestarre verfallen.' Ryons Frage, die direkt an sie gerichtet war, kam bei Paige kaum an. Das Kribbeln zog sich langsam ihren Rücken hinunter, um ihre Hüfte herum... Sie fühlte selbst, wie sie grün um die Nase wurde, als sich die Essenz unter ihre Schuppen ihren ganzen Bauch entlang ausbreitete. "Ja. Mir geht's gut. Keine Anzeichen von Kälteschock." Das hatte er doch gemeint, oder? Natürlich, wie sollte er auch auf etwas Anderes kommen? Er konnte es nicht sehen. Solange sie die Klamotten anbehielt und es sich nicht bis zum Gesicht vorarbeitete... Zumindest log sie ihn nicht an. Was den Kälteschock anging. "Meinst du, das wir bald da sind? Was sagt denn dein Plan?" Paige hatte das wage Gefühl, ihn ablenken zu müssen. Nur für eine Weile. Es würde nicht lange vorhalten. Bald war es wieder vorbei. Gott sei Dank. Ryon schenkte ihr einen langen Seitenblick, da er sich nicht ganz sicher war, was ihre Worte anging. Sie schien zumindest nicht zu frieren, was ihn beruhigte, aber da war dieser… Ach, bestimmt bildete er sich das nur ein. „Der Plan besagt, immer nur nach links gehen. Allerdings weiß ich nicht, wie lange, aber dem Neigungswinkel nach zu urteilen, müssten wir inzwischen schon relativ tief unter der Erde sein. Ich denke, es kann nicht mehr allzu lange dauern.“ Die Karte auf dem Taschentuch erwähnte er nicht. Er hatte sie sich vorhin einmal kurz angesehen. Darauf war nur die Wegbeschreibung zum ‚Passion‘ gezeichnet. Der Geruch wurde stärker, was ihn langsam wirklich zu wurmen begann. Entweder, sein Verstand bildete sich diesen flüchtigen Hauch so intensiv ein, dass er einfach nur auf trügerischer Weise deutlicher wurde, oder... Ryon blieb stehen und drehte sich zu seiner Begleiterin herum. „Entschuldige, Paige…“ Er trat einen Schritt näher an sie heran, beugte sich noch näher zu ihr hin und sog tief die Luft ein. Einen Moment schloss er zwecks leichterer Analysierung die Augen. Danach richtete er sich wieder auf und ging weiter, allerdings tief in Grübelei versunken. Zwar hatte Ryon nicht an ihr direkt geschnüffelt, aber die geringe Distanz zwischen ihnen war für seine Sinne kein Hindernis gewesen. Mit ziemlicher Sicherheit, hatte er sich nicht geirrt. Da war etwas… Warum er nicht noch einmal eindringlicher nach fragte, wusste er nicht genau. Vielleicht weil Paige vor ihm ihre Geheimnisse haben durfte, da auch er genug davon hatte. Oder einfach, weil sie nicht so aussah, als würde jeden Moment etwas passieren. Es war auch so schon unhöflich genug gewesen, so offensichtlich an ihr zu schnüffeln. Wer weiß, vielleicht einfach irgendeine hormonbedingte Reaktion ihres Körpers auf eine Weise, die er nicht zu deuten vermochte, da sie mit ihrem Mischlingsblut etwas völlig Neues für ihn darstellte. „Wir sind bald da.“, kündigte er schließlich an, während er sich immer noch fragte, was in ihr vor ging. „Ich kann bereits Stimmengewirr und anderen Lärm hören, der definitiv nicht von Oben kommt.“ Flüssige Substanz. Mehr war es nicht. Das Ding, das sich da durch ihren Körper bewegte, unter ihrer Haut herum kroch und sie zu dem machen wollte, was ihr Vater als ihren einzigen Nutzen angesehen hatte, war nichtig. Es hatte kein Hirn, kein Herz – lebte im ursprünglichen Sinne nicht und würde dennoch bald sterben. Wie ein kurz aufflammendes Feuer, dem das Futter ausging. Die Essenz zehrte von sich selbst und ein wenig von Paiges Blut. Solange sie es in winzigen Dosen abbekam, würde sie immer die Oberhand behalten. Nicht einmal ein Gegenmittel war nötig, um es irgendwann wieder loszuwerden. Und dennoch war es unwahrscheinlich unangenehm und ekelerregend. Paige hätte sich am liebsten selbst die Haut von Leib gezogen, um das Ding beim nicht vorhandenen Hals zu packen und es aus sich zu entfernen. Der Vorteil war winzig. Wenn man bedachte, dass es sich so anfühlte, als würden Blutegel in ihrem Körper herumkriechen. Unter jedem Zentimeter ihrer Haut. Aus Selbstschutz wagte Paige es nicht auf ihre Hand zu sehen, die vom Licht ihrer flammenden Finger ebenfalls erhellt wurde. Sie hätte sich schlussendlich doch noch übergeben müssen. So starrte sie voran in die Richtung, die sie in die Unterwelt führen sollte. Immer nach links sollten sie abbiegen, um schließlich ihr Ziel zu erreichen. Vor ihnen gingen erneut zwei Gänge ab und Paige trat direkt auf den Linken zu, als sie um ein Haar gegen eine Mauer gelaufen wäre. Ryon war stehen geblieben und drehte sich um. Leicht panisch zog Paige ihre Hand aus seinem direkten Sichtfeld und versuchte sich nicht auffällig vor ihm zurück zu ziehen, als er zu ihr hinüber kam. Was, wenn er es sehen konnte? Wenn gerade in dem Moment, in dem er ihr ins Gesicht sah... Paige wagte nicht zu atmen und glaubte sogar das Ding innehalten zu spüren, als Ryon sich vorlehnte und tief die Luft einzog. Die Sekunde schienen wie Kaugummi in der Luft zu kleben. In ihr sträubte sich alles dagegen, dass Ryon es entdeckte. So stark, dass die Essenz darauf reagierte. Hatte Paige bis jetzt schon das Gefühl gehabt, ihr Körper würde von der Substanz in Beschlag genommen, fühlte es sich nun so an, als würde er für einer Sekunde nicht mehr ihr selbst gehören. Ein Rumoren ging von ihrem Magen aus, das bis in ihren Kopf drang und sogar ihren Blick kurz verschleierte. Gleich würde ihr das Abendessen hochkommen. Rote Schleier zogen sich über ihr Blickfeld, bis sie das Ding mit ein paar tiefen, aber einigermaßen unauffälligen Atemzügen niedergekämpft hatte. Dann war es still. Zumindest verhielt es sich wieder so, wie es sollte. Kletterte ihr Schuppenkleid entlang und sorgte für Wärme in ihrem Körper. Hätte Paige sich dazu entschieden, das ganze Potential der Substanz auszunutzen, hätte es noch sehr viel mehr vermocht. Aber es hätte auch sehr viel mehr zerstören können. Ryon hatte sie gewähren lassen. Egal, ob er nun etwas bemerkt hatte oder nicht. Diesmal war Paige froh, dass er so schweigsam und emotionslos war. Es kam ihr nur gelegen, dass er nicht über das sprechen wollte, was ihn zu dieser seltsamen Prüfung ihres Geruchs verleitet hatte. Lieber ging sie darauf ein, dass sie ihr Ziel wohl bald erreicht hatten. Paige selbst konnte noch nichts von dem hören, was Ryon wahrnahm. Aber sie wollte ihm nur zu gerne glauben, dass es nicht mehr weit sein konnte. Ablenkung und Menschenmassen, in denen sie untergehen konnten. Wenn sie ehrlich war, stieg ihre Spannung und Neugier auf die fremde Welt, mit jedem Schritt, den sie ihr näher kamen. Ob es so viel anders war, als zu Hause? Bestimmt hatte die Bevölkerung hier in Paris andere Schwerpunkte. Nicht umsonst schlug ihr auch zu dem Zeitpunkt, als sie ebenfalls Lärm vernehmen konnte, kaum ein anderer Geruch als Stein entgegen. Ryon verlangsamte seine Schritte, als er der Geräuschkulisse immer näher kam. Jetzt konnte er auch Stimmengewirr erkennen. Manche Sätze verstand er sogar. Sie mussten also ganz nahe sein. Obwohl er damit gerechnet hatte, hörte der Gang plötzlich so abrupt auf, dass Ryon einen Moment vollkommen verwirrt war, weil er einfach vor einer Wand stehen blieb. Nur dank dem Licht, das Paige spendete, erkannte er, dass sie wie bei der Engelsstatue um die Mauer herum gehen mussten, so dass sie schließlich in einer kleinen Nische, an einer unauffälligen Stelle heraus kamen. Als Ryon ins Freie trat, wich er zur Seite aus, um Paige ebenfalls durch zu lassen, aber allen voran, betrachtete er den Anblick vor sich mit großen Augen. Die Höhle war riesig und darin befand sich nicht einfach nur ein zusammen gewürfelter Haufen von Gebäuden und Bruchbuden, sondern teilweise waren kleine Kostbarkeiten aus dem Boden geschossen. Verschnörkelte Fassaden, steinerne Wasserspeier, als stammen die Gebäude aus einem anderen Jahrhundert. Mit auf einander abgestimmte Farben, die trotz des Dämmerlichts regelrecht leuchteten und eine saubere Atmosphäre boten, obwohl die Straßen nicht ganz so gepflegt waren, wie über der Erde, aber immer noch wesentlich sauberer als bei ihnen zu Hause. Hier liefen zwar ebenfalls die seltsamsten Gestalten herum, aber irgendwie wirkte alles weniger gefährlich, sondern viel mehr einladend. Wie eine bunte Traumwelt, die wahr geworden war. Ryon war positiv überrascht. „Was hältst du davon, wenn wir uns erst einmal in der Stadt umsehen?“, fragte er schließlich, nachdem er seine Sprache wieder gefunden hatte. Sich hier umzusehen, wäre wirklich eine gute Idee. Vor allem, da es seine heimliche Neugier stillen könnte. An so einem Ort war er noch nie gewesen, obwohl er schon sehr viel herum gereist war. Aber das war auch meistens in der Welt der Menschen gewesen. Hier unten, das war die mystische, die geheime und ja, auch manchmal verbotene Seite des Lebens und zugleich machte es ihm deutlich, wie viel er von den Geheimnissen der Welt noch nicht kannte. Das Amulett war nur ein Beispiel dafür. Der Gang durch die Straßen ließ ihn sogar eine Weile vergessen, weshalb sie wirklich hier unten waren. Allerdings war er gerade hier in dieser befremdlichen Welt besonders wachsam. Zwar konnte sich jemand wie sie hier unten frei bewegen, ohne schräg angesehen zu werden, das hieß aber noch lange nicht, dass es die Gegend auch harmloser machte. Ryon ging automatisch dichter neben Paige her. Er wollte sie hier auf keinen Fall verlieren. Gerade, als sie den Weg zum Markt einschlagen wollten – hier gab es sogar Wegweiser! – kam das, was er im Augenblick am Wenigsten erwartet hätte. „Chéri‼!“ Ryon blieb stocksteif stehen und schaffte es gerade noch, sich herum zu drehen, als er auch schon eine rotgelockte Frau am Hals hängen hatte, die ihn in ganz französischer Manier links und rechts auf die Wangen küsste. Als eine Parfumwolke ihn einnebelte, erstarrte er vollkommen. Zum Glück ließ Charlotte ihn schnell wieder los, als Jaqueline sie bei der Hand nahm, von ihm herunter zog und ihrer Freundin eine Warnung zu flüsterte. Trotzdem strahlten beide über das ganze Gesicht. „Tut mir wirklich leid, mein Hübscher. Charlotte vergisst gerne einmal die Anstandsregeln. Sei ihr also bitte nicht böse. Sie meinte es nicht so.“ Die Blondine setzte eine Unschuldsmine auf, die irgendwie das Gegenteil bewies. „Natürlich habe ich es so gemeint. Dich hier zu sehen, Chéri, das hätte ich so schnell nicht erwartet. Aber tut mir trotzdem leid, wegen des Überfalls. Da ging wohl etwas mit mir durch.“ Ganz bestimmt ihr Höschen. Ryon richtete sich den Kragen seines Hemds, ehe er einen halben Schritt näher an Paige heran trat und somit etwas von den Frauen zurück wich. Die beiden Nymphen so schnell wieder zu sehen, war nicht gerade das, was er sich von diesem Ausflug erhofft hatte. Noch dazu, wenn die eine ihn so stürmisch anfiel und gegen die Regeln des Gestaltwandleranstands verstieß, auch wenn sie es nicht böse gemeint hatte. Es war ihm trotzdem unangenehm. „Jaqueline … Charlotte, dank euer Wegbeschreibung habe ich schneller hergefunden, als gedacht. Darf ich vorstellen, das ist meine Partnerin, Flora Burke.“ Zumindest Partnerin in geschäftlichen Dingen. Aber auf alle Fälle wollte er nicht so tun, als wäre die Frau an seiner Seite Luft. Sie war ihm tausendmal lieber als das Modelduo. „Deine Partnerin?“ Beide setzten eine deutlich enttäuschte Schnute auf, allerdings konnte man in ihren Augen genau sehen, dass sie das nicht von möglichen Schandtaten abbringen könnte. Das war ein Grund, aber kein Hindernis, solange er Paige nicht als seine Gefährtin vorstellte, denn dann wäre der Zug abgefahren. „Ach, Flora. Du bist wirklich zu beneiden. Lass dir diesen Mann, ja nicht vom Haken springen. “, erklärte Jaqueline, während Charlotte zustimmend nickte. „Sonst schnappt ihn dir noch eine andere weg. Oder mehrere.“ Beide kicherten. Ryon warf einen Seitenblick auf Paige und war in diesem Augenblick wirklich froh, dass sie kein Wort von dem verstand, was die beiden Nymphen da von sich gaben. „Ach ja, Chéri. Wenn du ins ‚Passion‘ willst, ist gerade eine gute Zeit. Noch nicht so voll und unsere Pause ist in einer halben Stunde auch vorbei. Wir würden uns mit Freuden um euch beide kümmern.“ Charlotte lächelte lasziv und schnurrte beinahe. Alleine die Andeutung auf einen Vierer stellte ihm die Nackenhärchen zu Berge. Wenn sie nicht schon unter der Erde wären, hätte er sich unter Umständen überlegt, vielleicht in einem Erdloch zu verkriechen. Gut, dass er nichts dergleichen empfand. „Das ist wirklich nett. Aber eigentlich sind wir hier, weil wir jemanden suchen.“ Warum diese delikate Angelegenheit nicht gleich zu ihrem Vorteil nützen? Wer in einem Freudenhaus arbeitete, kannte doch bestimmt so einige Leute. Vielleicht auch einen Schmuck- und Antiquitätenhändler namens Crilin? „Ach ja? Wen denn? Vielleicht können wir dir weiterhelfen. Wir kennen hier so gut wie jeden in der ‚Dark Side of Paris‘.“ Kein Zweifel. Mit seiner Vermutung lag er also richtig. Mit einem so beiläufigen Tonfall wie möglich, warf Ryon den Namen ‚Crilin‘ in die Runde. Woraufhin sich die beiden Französinnen einen Moment lang in die Augen blickten und dann gleichzeitig zu grinsen anfingen. „Ja. Den kennen wir.“ Charlotte konnte sich das Lachen nun gar nicht mehr verkneifen. „Großes Ego, kleiner … Geldbeutel.“ „Mich wundert es jedes Mal, wie er sich unsere Dienste leisten kann.“, warf die Blondine ein. Aber irgendwie schien sie es nicht böse zu meinen. Der Tonfall der beiden war schon fast als mitleidig, wenn nicht sogar als gutmütig zu bezeichnen. „Was willst du denn von ihm?“ Charlotte wurde wieder etwas ernster. Ryon überlegte, ob er die beiden belügen sollte, andererseits, wenn sie ihnen so eben stundenlanges Suchen und anstrengendes Nachforschen ersparten, konnte er ruhig etwas großzügiger sein. „Ich möchte mich nach einem Schmuckstück erkundigen.“ Die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze Wahrheit. „Oh. Da seit ihr bei ihm an der richtigen Stelle. Es ist zwar meistens alles nur alter Plunder, das er verkauft, aber dafür preiswert. Manchmal hat er sogar wahre Schätze anzubieten. Wenn ihr wollt, können wir euch zu ihm bringen. Sein Laden liegt gleich hier um die Ecke.“ Ryon wollte sein Glück noch nicht fassen, weshalb er sich mit Begeisterung zurück hielt. Es könnte sich alles noch als Enttäuschung herausstellen. Immerhin gab es sicherlich nicht nur einen Schmuckhändler namens Crilin auf der Welt. „Merci. Das wäre sehr nett.“ Es sah aus wie im Süßigkeitenland. Paige fand die bunten Hausfassaden und übertriebenen Schnörkel wunderschön. Die Menschen taten ihr in gewisser Weise leid, weil sie sich selbst nicht erlaubten so in den Farbtopf zu greifen, was ihr Umgebung anging. Als würde es ihnen den gebührenden Anstand oder die Ernsthaftigkeit nehmen. Hier unten war man aber offensichtlich sehr stolz auf die Andersartigkeit und zelebrierte sie so gut man konnte. Das gefiel Paige außerordentlich. Immerhin hatte sie nicht umsonst in einer der buntesten Ecken von 'World Underneath' gewohnt. Und dorthin wollte sie auch wieder zurück, wenn das hier alles hinter ihr lag. Sie kamen an Verkaufsständen vorbei, an denen Paige gern angehalten und ein wenig gestöbert hätte. Das Angebot an langen Ketten mit bunten Glasperlen hatte es ihr wirklich angetan. Aber sie konnte den Mann an ihrer Seite sicher nicht darum bitten, ihr Ziel ein wenig nach hinten zu verschieben. Vielleicht hatten sie nach einem positiven Treffen mit Crilin etwas Zeit. Die Kette mit den fliederfarbenen Steinen gefiel ihr wirklich gut. Da blieb sie glatt ein wenig hinter Ryon zurück, um sie sich länger aus der Ferne anzusehen. Als sie sich umdrehte, hatte anscheinend eine rotgelockte Schönheit die Lücke bereits ausgefüllt. Paige klappte beinahe die Kinnlade herunter, als sie sah, dass die Frau Ryon ihre Arme um den Hals geschlungen hatte und ihm Küsse auf jede Wange drückte. Die helfenden Damen, wie Paige vermutete. Nymphen noch dazu. Und wie sie sich verhielten, war Ryon für sie ein echter Leckerbissen. Zumindest hätten sie bestimmt ganz gern an ihm geknabbert. Paige zog eine Augenbraue hoch, als ihr der Gedanke kam, dass die beiden Damen vielleicht das vermeintliche Vergnügen gehabt hatten... Sie musterte Ryon prüfend, während er sich unterhielt und schließlich ihren Decknamen fallen ließ. Das brachte die Nymphen zum Schmollen und Paige zu einem übertrieben breiten Lächeln, das vor allem auch eine Art Schutzmechanismus war. Denn sie wurde von einer der Sexbomben direkt angesprochen. Natürlich auf Französisch. Ryon hatte wohl nicht klargestellt, dass sie diese Sprache nicht beherrschte. War auch egal. Sie legte ehrlich gesagt keinen großen Wert auf ein ausführliches Gespräch mit den Frauen. Ryon selbst beendete seine Diskussion mit einem 'merci' und drehte sich dann zur Seite. Sie wollten wohl gehen, wie es aussah. Fragend blickte Paige zu ihm hoch und verkniff es sich ihn nach dem nächsten Schritt zu fragen. Er würde schon wissen, was er vorhatte. Vertrauen. Irgendwie verlangte er das für ihre kurze Partnerschaft schon recht oft von ihr. Wenn auch nicht immer deutlich ausgesprochen. Wüsste er, was sich gerade in ihrem Bauch sammelte, sich langsam aus ihrem Körper verflüchtigte ... hätte er sich bestimmt noch zu weniger Vertrauen hinreißen lassen, als er überhaupt schon zu ihr gefasst hatte. Gab es weniger als garnichts - fragte sich Paige, als sie schweigend hinter Ryon und seinen Nymphen herging, die sich wohl am liebsten je auf einer Seite von ihm an seine breiten Schultern geschmiegt hätten. Nicht zum ersten Mal kam sich Paige in Gesellschaft anderer übernatürlicher Frauen etwas kurz geraten vor. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)