Die große Leere von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 19: Countdown --------------------- XIX. Countdown Sie waren in atemlose Betriebsamkeit verfallen. Ihr Unterfangen, das für den frühen Nachmittag des übernächsten Tages angesetzt worden war, verlangte trotz der schlanken Planung einiges an Vorbereitung. Michael hatte sich hastig verabschiedet, bevor Justin wieder auf der Bildfläche erschienen war, darauf hinweisend, dass Jenny wohl auch allmählich ins Bett gehöre, Ben mit dem Essen warte und er Hunters Hausaufgaben kontrollieren müsse. Sie saßen auf der Coach und erstellten eine Liste der Dinge, die sie im Laufe des folgenden Tages auf die Beine zu stellen hatten, tunlichst vermeidend, den eigentlichen Kern der Sache zu thematisieren. Irgendwann bemerkte Brian, dass Justin nicht in eine tiefe Phase des Grübelns verfallen war, sondern schlichtweg bereits den Schlaf der Gerechten schlummerte. Vorsichtig bugsierte er ihn in die Horizontale und machte sich an seiner Kleidung zu schaffen, sich darum bemühend, ihn nicht zu wecken. Dankenswerterweise pflegte Justin wie ein Stein zu schlafen, als sich Brian, die Zähne zusammen beißend, an seinem Gürtel zu schaffen machte. Er schlug sich innerlich mit Gewalt auf die Finger, Justins Körper nicht auf die Weise zu berühren, die ihm sein Bewusstsein – und sein eigener Körper – so dringend nahe legte. Jetzt ein Fehler – und ihre ganze krampfhaft zusammengehaltene Ordnung würde ihnen um die Ohren fliegen. Das würde noch früh genug passieren. Aber nicht jetzt, nicht bevor sie… nicht mit all dem Unausgesprochenem zwischen ihnen im Raum und mit Gus, der ein paar Meter entfernt von ihnen schlummerte. Er starrte atemlos auf Justins fein modellierte Bauchmuskulatur, seine sich wölbende Brust, die sich in tiefen Atemzügen hob und senkte, den Ansatz der beweglichen Schenkel, dann warf er hektisch sich selbst zwingend die Decke über ihn und schob ihm das Kissen unter den Kopf, den Blick nur so lange auf ihm ruhen lassend, wie es unbedingt nötig war. Oh Gott, er wollte ihn so sehr… Wie lange würde er diese Folter noch durchhalten? Irgendwann würde ihm der Faden reißen und er würde sich ohne Rücksicht auf Verluste über diesen vertrauten, immer wieder neu entdeckten, duftenden, biegsamen, drängenden Körper her machen, der ihm so wunderschön erschien. Weil er Justins war. Um seine Amok laufenden Nerven zu kühlen, ging er hinüber zur Küche und ging noch einmal die Liste durch. Hinter jedem Punkt war ein J oder ein B notiert, damit sie die kurze Zeit optimal nutzen konnten. Er kontrollierte noch mal alles und begann, eine zeitliche Reihenfolge auszuklügeln, die auch die Betreuung Gus‘ mit berücksichtigte. Dann stutzte er. Kurz entschlossen ging er um die Theke herum, kniete sich nieder und zog den Mülleimer aus seinem Fach. Rasch gab er die Kombination des dahinter verborgenen Safes ein. Er langte hinein. Seine Geburtsurkunde, na bitte. Darunter fand er den ununterschriebenen Stapel mit Partnerschaftsverträgen, die er und Justin vor der abgeblasenen Heirat von Mel hatten abfassen lassen, um so gut es ging die üblichen mit einer Ehe verbundenen Rechte und Pflichten zu gewährleisten. Sie würden in Hinsicht auf die aktuelle Situation neue Papiere aufsetzten lassen müssen, um die Situation mit Gus abzudecken – und sie nicht lebenslang zu knebeln. Schließlich sollte diese Hochzeit nicht aus denselben Gründen begangen werden wie die letzte. Er stocherte weiter, dann hatten seine Fingerspitzen im Dunklen die kleine Schachtel erspürt. Er holte sie hervor und öffnete sie. Nachdenklich starrte er auf die beiden schlichten Ringe. Im Gegenlicht der kleinen Küchenlampe blitzen die Gravuren auf. Ihr geplanter Hochzeitslag – lang verronnen und für erledigt erachtet. Die Ringe im Safe – Erinnerung daran, dass sie keine Schwüre brauchten, um beieinander zu sein, um sich zu lieben. Daran hatte sich nichts geändert. Abgesehen davon, dass danach alles im Argen gelegen hatte. Verfluchter Tag. Die Daten mussten weg. …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Der Wecker klingelte um Sechs. Ein langer Tag lag vor ihnen. Gus zuliebe saßen sie am Esstisch und Frühstückten. Sogar Brian erbarmte sich und genehmigte sich einen Toast mit dünnem Käsebelag zu seinem Kaffee. „Gus“, sagte er schließlich zu seinem Sohn, der bewundernd Justin dabei zusah, wie dieser mit einem Haps ein halbes Sandwich in sich hinein stopfte. „Ja, Papa?“ antwortete Gus und schaute Brian aus seinen großen braunen Augen neugierig an. Brian entschied sich dagegen, lange herum zu drucksen, sondern Gus gleich reinen Wein einzuschenken. „Ich und Justin werden Morgen heiraten“, sagte er schlicht. „Wie Mama und Mama? Gut“, sagte Gus einfach nur und widmete sich wieder seinem Essen. Brian war verblüfft. Das war’s? Einfach nur: „gut“? Na dann, wenn der Rest des Tages auch so laufen würde, hätten sie nichts zu klagen. Sie sprachen sich kurz ab, dann zogen sie sich rasch an und verließen die Wohnung. Da die Corvette nicht gerade ein kindertaugliches Auto war, hatte Brian den geräumigen Mietwagen bis auf weiteres behalten. Sie würden wohl beizeiten einen weiteren fahrbaren Untersatz brauchen. Spätestens, wenn sie beide wieder arbeiten würden. Kurz angebunden drückte er Justin den Schlüssel des Oldtimers in die Hand. Gus würde mit Brian fahren, und sie würden einiges an Besorgungen zu verstauen haben. „Wenn du mir einen Kratzer in den Lack machst, zwinge ich dich, dir Teds Lebensgeschichte anzuhören – jeden Tag der Woche, immer und immer wieder, bis ans Ende deiner Tage…“ warnte er Justin. Dieser zog nur die Nase in Falten: „Anders als du habe ich durchaus ein Ohr für meine Mitmenschen. Ich werde deine Schwanzverlängerung schon nicht gegen die nächste Mülltonne deppern.“ Justin schnappte sich die Schlüssel, drückte Gus einen Kuss auf den Scheitel, stieg ein, passte Sitz und Spiegel auf seine Größe an und brauste davon. Schwanzverlängerung… als ob er das nötig hätte. Aber wie hatte Michael den Wagen damals genannt? Ersatz für seinen abgehauenen Freund? Nun, juhu – er war wieder da… Brians erster Stopp galt dem Anwaltsbüro, wo er Mr. Harris auf den neusten Stand brachte. Gus saß im Wartebereich und ließ die Herzen aller karrierebewussten kinderlosen jungen Juristinnen im Umkreis von hundert Meilen schmelzen. Brian grauste schon vor Gus‘ Pubertät. Sollte sein Sohnemann nicht aus unerfindlichen Gründen auch schwul werden, würden ihnen Kohorten von Weibern die Tür einrennen. Und von denen gab es rein zahlenmäßig deutlich mehr als von schwulen Bewunderern… Vielleicht sollte er sich schon mal eine Schrotflinte besorgen und schießen üben. Mr. Harris stellte rasch den Kontakt zu einer assoziierten Kanzlei in Toronto her, die die notwendigen Papiere ausstellen und an den Friedensrichter überstellen würde. Zum krönenden Abschluss gratulierte der Anwalt Brian noch zu seinem Entschluss, auf seinem weisen Rat zu hören. Der nächste Halt galt Kinnetic. Sein unangemeldetes Erscheinen schien eine gewisse Nervosität bei einigen seiner Angestellten auszulösen… Wurde wohl anscheinend Zeit, dass er hier wieder erschien und sie alle ordentlich in den Arsch trat. Er eilte ohne anzuklopfen in Teds Büro, Gus auf dem Arm. Sein Buchhalter fiel fast vom Stuhl vor Schreck über sein brachiales Eindringen. „Himmel, Brian – noch nie etwas von klopfen – oder zivilisiertem Auftreten – gehört?“ „Du warst doch nicht schon wieder auf der Suche nach Informationen zur männlichen Anatomie im Internet?“ „Der Mensch lernt nie aus – und dieser Fehler passiert mir nicht noch einmal!“ „Gut. Sag hallo zu Onkel Ted, Gus! Wenn du ein lieber Junge bist, vererbe ich ihn auch nicht an dich!“ Ted überhörte die Gemeinheit und lächelte den Kleinen freundlich an. Er sah fand, das Gus aussah wie eine Kopie von Brian in klein – und liebenswürdig, was man von seinem zänkischen Alten nicht gerade behaupten konnte… „Huhu Ted“, grüßte Gus schüchtern. Brian setzte sich und stellte Gus auf seine eigenen Füße. „Hör zu Ted, ich hab‘ einen Auftrag für dich.“ „Okay…?“ fragte Ted abwartend. „Du fährst Morgen nach Kanada.“ Bei Ted fiel der Groschen. Michael hatte nicht lange gezögert. Ted wurde das Gefühl nicht los, dass da etwas im Busche war, das Brian und Justin ihnen nach wie vor verschwiegen – und das war keinesfalls dieser spontane Drang, ein liebend Ehepaar zu werden. Irgendetwas war da doch faul. Er hielt den Mund und stellte sich dumm: „Ich soll auf Geschäftsreise? Haben wir einen neuen Kunden in Aussicht?“ „Nein, es handelt sich um… äh… einen persönlichen Gefallen. Nichts Geschäftliches. Eine Aufgabe für einen… Freund“, brummelte Brian. Ted nickte nur. Egal, was Brian ihm gegenüber vom Stapel lassen mochte – er wusste es zu nehmen und verstand, dass Brian dahinter aufrichtigen Respekt und Vertrauen verbarg. Die Basis jeder ernst zu nehmenden Freundschaft, auch wenn sie in vielen Dingen nicht einer Meinung sein mochten. Brian atmete tief durch und zog Gus auf seinen Schoss, der neugierig Teds Radiergummi-Sammlung musterte: „Justin und ich heiraten.“ „Glückwunsch“, sagte Ted nur, ohne eine Miene zu verziehen. „Und du bist der Trauzeuge.“ Eine Feststellung, keine Frage. Typisch Brian. Das war allerdings endlich etwas Neues, so dass Ted ihn jetzt doch überrascht ansah. „I… ich?“ stammelte er perplex. „Nein, dein böser Zwilling – natürlich du!“ „Was ist mit Michael?“ „Ich habe meine Gründe“, antwortete Brian ausweichend und zugleich signalisierend, dass er diesen Punkt nicht zu vertiefen gedachte. Michael würde stinkbeleidigt sein. Ja, da war definitiv etwas im Busche… na, die beiden würden sich noch umschauen… „Ich fühle mich geehrt“, antwortete Ted schlicht. „Gut“, Brian wirkte erleichtert, „sei Morgen um 15:00 Uhr bei dieser Adresse. Komm ja nicht zu spät! Setzt den Flug auf meine Rechnung. Wir werden fahren, Gus und Justin sind momentan in kein Flugzeug zu bekommen.“ Er drückte Ted einen Zettel mit den notwendigen Informationen in die Hand und rauschte mit dem winkenden Gus im Arm davon. Mmm… sehr praktisch. So würde es keine unvermuteten Begegnungen am Flughafen geben… Zwei Stunden später saß Brian mit Gus in einem kleinen Restaurant. Das Diner war augenblicklich Tabuzone, Debbie hatte ein viel zu gutes Gespür für ihn… bestenfalls würde sie ihn mit einer Reihe unangenehmer Fragen und Ratschläge malträtieren. Gus bekleckerte sich insbrünstig mit einer Portion Spaghetti mit Tomatensoße, während er an einem Putenfilet nagte. Sie waren beim Schneider gewesen, um für sie alle drei passende Anzüge zu ordern. Er hatte ein ordentliches Trinkgeld hinterlassen, damit er sie noch heute bekäme. Gott sei Dank hatte er Justins Maße noch. Kleinere Korrekturen würden sich auch beim Abholen noch vornehmen lassen können. Dann war der Juwelier an der Reihe gewesen, der unter ähnlichen Bedingungen jetzt damit befasst war, die Gravuren zu ändern. Er hatte einen Fotografen in Toronto für die Hochzeitsbilder bestellt. Alles musste so echt wie möglich aussehen. Der Nachmittag würde damit angefüllt sein, allen Beauftragten noch einmal kräftig in den Hintern zu treten und noch ein paar kleinere Besorgungen zu machen… und Gus abzuschrubben, der inzwischen aussah wie ein Marienkäfer… ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Justin kehrte gegen sechs Uhr ins Loft zurück. Brian und Gus waren vor ihm wieder da gewesen. Gus dackelte neugierig hinter seinem Vater her, der für ihre morgige Fahrt die Taschen packte und Gus die feinen Unterschiede zwischen Designerkleidung und Kaufhausdreck erläuterte. Ihre Anzüge lagen fein säuberlich verpackt in Staubbeuteln. Justin musste schlucken, als er auf sie sah. Auch er hatte einen langen Tag hinter sich. Zum einen musste er in Hinblick auf seine Galerieverkäufe einiges regeln, zum anderen hatte er lange bei seiner Mutter und Molly gesessen. Zum Glück hatte seine Mutter ihre Arbeitstermine bereits hinter sich gebracht, als er bei ihr auftauchte. Es war sinnlos, ihr Märchen aufzutischen – zudem brachte er es nicht über sich, seine Mutter in dieser Angelegenheit hinters Licht zu führen. Er hatte ihr den Ernst der Lage erzählt und sie darum gebeten, seine Geburtsurkunde herauszusuchen sowie als seine Trauzeugin an der Eheschließung teilzunehmen. Er hatte Daphne in Erwägung gezogen, aber diese steckte in Chicago mitten in ihren Semesterklausuren, dass er sie nicht fragen wollte. „Oh, Justin…“ hatte seine Mutter gesagt und die Stirn in Falten gezogen, „ich wünschte, du – ihr – würdet das nicht tun. Müsstest das nicht tun. Nicht so.“ Justin hatte niedergeschlagen genickt, dann seine Schultern gestrafft und geantwortet: „Das Leben geht manchmal seltsame Pfade. Auch ich wünschte, es könnte anders sein. Dass Mel und Linds noch da wären… Dass Brian und nicht zu blöde wären, es unter normalen Umständen miteinander auf die Reihe zu bekommen…“ „Schatz, ich weiß. Versprich mir etwas“, sie sah ihm ernst in die Augen, „versuche das Beste daraus zu machen. Du gehst diesen Weg – aber niemand kann dich zu etwas zwingen, das dir völlig widerstrebt, das weiß ich. Etwas in dir will das.“ Justin starrte betroffen auf den Boden. „Und etwas in Brian will das auch“, fuhr sie fort, „sonst würde er das niemals tun. Es mag euch beiden nicht bewusst sein und es mag euch im Augenblick noch nicht möglich sein, dem ins Auge zu blicken. Lass nicht zu, dass es eine Sackgasse für euch wird. Versucht es auch als Chance zu sehen, ich bitte dich!“ Justin konnte ihr immer noch nicht in die Augen sehen: „Ich kann dir nicht versprechen, dass alles gut werden wird. Aber ich kann dir versprechen, dass ich den Kopf nicht in den Sand stecken und mich hinter dem bösen, bösen Schicksal verstecken werde.“ „Ich weiß, Justin, etwas anderes hätte ich auch niemals von dir erwartet.“ Sie hatten verabredet, dass sie Jennifer und Molly am nächsten Tag morgens abholen würden. Justin widerstrebte es, seine Familie in einem Flieger zu wissen. Er würde darüber hinweg kommen müssen, wenn er in seinem Leben noch etwas von der Welt sehen wollte. Auch seine Karriere würde das beizeiten fordern. Aber noch war der Schreck zu frisch. Er faxte eine Kopie der Geburtsurkunde nach Toronto und streckte das Original ein. Morgen um diese Zeit würde er eine Heiratsurkunde besitzen… auch wenn sie fast nichts zählen würde. Hoffentlich reichte dieses „fast“ für ihr Anliegen. Jetzt saß er schweigend auf einem der Küchenhocker und sah seiner Familie in spe beim Räumen zu. Er würde auch noch packen müssen, aber das hatte noch Zeit. Viel würden sie sowieso nicht brauchen. Wenn sie schnell durchkamen würden sie etwas über drei Stunden brauchen, sich in einem Hotelzimmer umziehen, heiraten, Fotos vom jungen Glück schießen und dann schon wieder auf der Rückreise sein, die kostbaren Papiere im Gepäck. Er beobachtete Brian, der sorgsam ein paar Waschsachen, um sich zwischendurch noch einmal frisch machen zu können, in einer Pradatasche verstaute. Brians Bewegungen waren immer eine merkwürdige Mischung aus Anmut und Schlacksigkeit, die seiner Körpergröße geschuldet war. Zusammen mit seinem Lächeln und dem verheißungsvollen Leuchten in seinen Augen, zugleich herablassend wie lockend, konnten sie ihm eine Sinnlichkeit verleihen, die jede glatte Katalogschönheit blass erscheinen ließ. Er vereinte Gegensätze auf eine faszinierende Art und Weise – er konnte hart sein, fast grausam ebenso wie liebevoll und anlehnungsbedürftig. Obwohl er letzteres nur selten zu ließ, geschweige denn, andere bemerken ließ. Kein Teil konnte ohne den anderen sein, ohne dass Brian dabei auf der Strecke blieb, wie die Vergangenheit gezeigt hatte. Es war nie Brians Perfektion gewesen, die ihn gelehrt hatte, den älteren Mann zu lieben, auch wenn dieser – und er selbst – lange gebraucht hatten, das nur ansatzweise zu begreifen. Es war Brian selbst gewesen mit seinen Fehlern und Stärken, aber immer bereits zu kämpfen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)