Die große Leere von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 14: Verliebt, verlobt, verheiratet ------------------------------------------ XIV. Verliebt, verlobt, verheiratet Im Flur des Bürogebäudes, in dem die Testamentseröffnung stattfinden sollte, wurde sie bereits von Melanies ehemaligen Kollegen aus der Pittsburgher Kanzlei in Empfang genommen. Nachdem sie Beileidsbekundungen ausgetauscht hatten, erklärten die Anwälte, dass das Testament unter Verschluss gehalten worden sei, eine vorherige Sichtung daher nicht möglich gewesen war. Sie würden also unvorbereitet mit dem konfrontiert werden, was da kommen solle. Brian hatte sie bereits von der schwierigen Situation um das Sorgerecht für Gus informiert, dass zumindest schon Vorbereitungen getroffen worden waren, falls es in dieser Hinsicht zu Problemen kommen sollte. Probleme, die in Form von Lindsays Eltern bereits im Verlesungszimmer auf sie warteten. Lindsays Eltern trugen ebenso wie sie Trauer, aber auf eine betont gediegene Art und Weise, die ihnen bestimmt auch den anschließenden Besuch eines Golfclubs erlauben würde. Ebenfalls anwesend war Lindsays Schwester und ihr aktueller Gatte. Der wievielte war es? Immer noch der Dritte? Oder schon der Vierte? In jede Falle hatten Lindsays Eltern garantiert Geld zu den Feierlichkeiten zugeschossen, auch wenn es der zehnte Bräutigam gewesen wäre. Hauptsache es war ein Kerl. Lindsay hatte keine müde Mark für ihre Hochzeit von ihren Eltern zu Gesichte bekommen, die ihr deutlich zu verstehen gegeben hatten, dass ihre Beziehung, ihre Liebe, in ihren Augen nichts galt. Familie Peterson stand nicht auf, um sie zu begrüßen, als sie den Raum betraten. Die einzige Äußerung, die aus dem Mund von Lindsays Vater kam, war an Justin gerichtet und hatte einen fast angeekelt klingenden wütenden Unterton. „Wer sind sie denn?“ blaffte er Justin an. Justin zog nur eine Augenbraue hoch und antwortete ruhig: „Justin Taylor, angenehm, Sir. Mein Beileid auch an Sie, Mrs. Peterson.“ Er nickte höflich in ihre Richtung und setzte sich dann zwischen Brian und eine junge Anwältin in bordeauxfarbendem Kostüm. Brian hätte beinahe gegrinst, wenn die Situation ihn nicht derart unter Strom hätte stehen gelassen. Justin hatte sie mit ihren eigenen Waffen geschlagen, geschah ihnen recht. Da war Justins Country-Club-Erziehung mal zu etwas gut gewesen… Auch die Petersons hatten juristischen Beistand im Gepäck. Die Anwälte raschelten mit ihren Unterlagen, als der Testamentsverleser erschien. Er war ein etwas hutzeliger alter Mann, dessen runzeliges Gesicht beinahe hinter einer riesigen Hornbrille verschwand, die er wahrscheinlich schon als Student getragen hatte. Er stellte sich kurz als Mr. Smith vor, grüßte die Anwesenden und sprach ihnen routiniert sein Beileid aus. „Nun, kommen wir zum letzten Willen von Mrs. Lindsay Peterson“, erhob er schließlich das Wort. „Ich werde Ihnen jetzt die Kernpunkte erläutern, die Details klären Sie bitte anhand des Schriftstückes mit ihrem juristischen Beistand. Also“, hob er an, „Mrs. Peterson lebte in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft mit Mrs. Melanie Marcus. Da eine gleichgeschlechtliche Ehe in diesem Bundesstaat nicht als rechtsgültig anerkannt wird, haben die beiden Frauen einzelne, aber aufeinander abgestimmte Testamente hinterlassen. Die Eröffnung des Willens von Mrs. Marcus findet Morgen an diesem Ort statt, wenn die betroffenen Personen alle angereist sein werden. Der weltliche Besitz Mrs. Petersons, Schmuck, Möbel, persönliche Gegenstände werden hauptsächlich an ihre beiden Kinder zu gleichen Teilen vererbt. Um den familiären Pflichtanteil abzudecken, hat Mrs. Peterson Weisungen hinterlassen, welche Stücke, die ihrem eigenen, nicht dem mit Mrs. Marcus gemeinsamen Besitzstand angehörten, an ihre Blutsverwandten fallen sollen. Es besteht eine detaillierte Auflistung aller zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Testamentes erfassten Objekte, die genau kenntlich macht, was wer erhalten soll. Berücksichtigt werden auch Freunde der Familie, dabei handelt es sich jedoch weniger um Vermögenswerte als um Objekte persönlichen Wertes, die eine Anwesenheit der Empfänger nicht nötig gemacht haben. Ich bitte sie, die Besitzstandsauflistung nach der Sitzung an sich zu nehmen und ihr die entsprechenden Informationen zu entnehmen. Die anderen Erbbeteiligten werden von uns in schriftlicher Form informiert werden. Die Verantwortung für die Auflösung des bestehenden Hausstandes, der sich nach meinen Informationen inzwischen in Toronto befindet, obliegt den Sorgeberechtigten der beiden Haupterben, Gus Peterson und Jenny Rebecca Marcus.“ Justin rutschte nervös auf seinem Stuhl. Brian saß kerzengerade, jeder Muskel in seinem Leib schien angespannt zu sein. Die Petersons starrten gebannt auf den Redner. Jetzt kam es. „Das Sorgerecht für Jenny Rebecca wird im Testament ihrer leiblichen Mutter geregelt, wozu Mrs. Peterson in ihrem Willen die Zustimmung hinterlassen hat. Genauso verhält es sich mit der Regelung für Mrs. Petersons leiblichen Sohn. Das Sorgerecht für Gus fällt in erster Instanz an seinen leiblichen Vater, Brian Aidan Kinney, und an seinen Lebensgefährten, Justin Taylor.“ Eine Welle der Erstarrung schwappte durch den Raum. „Die beiden sind dazu verpflichtet, Gus regelmäßigen Kontakt zu seiner Schwester zu ermöglichen. Das Sorgerecht kann nur angetreten werden, wenn sich die beiden Genannten in einer festen, in der Lebensführung einer Ehe entsprechenden Beziehung befinden. Lehnen sie die Übernahme des Sorgerechtes ab oder leben getrennt voneinander, fällt das Sorgerecht an Lindsay Petersons Eltern mit denselben Auflagen. Sollten diese ablehnen oder aus nicht absehbaren Gründen nicht dazu in der Lage sein, den Jungen groß zu ziehen, fällt das Sorgerecht und die Verpflichtungen an Mrs. Petersons Schwester.“ „Das ist ja wohl ein Witz“, schrie noch ein paar Sekunden eisiger Stille Lindsays Mutter auf. „Meine Tochter war… verwirrt in ihrer Lebensführung! Sie können doch nicht zulassen, dass ich meinen Enkelsohn, diesen… Perversen überlasse!“ „Mrs. Peterson“, seufzte der alte Mann auf, der solche Ausbrüche durchaus gewohnt zu seien schien, „das Testament ist beglaubigt und wurde von ihrer Tochter im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte verfasst und unterschrieben. Es ist juristisch valide. Mr. Kinney ist Gus‘ leiblicher Vater, sein Anspruch käme auch ohne das Testament vor dem ihren. Und gleichgeschlechtliche Partnerschaften, gleichgültig ob zwischen Männern oder Frauen, sind in diesem Lande zwar nicht rechtlich anerkannt, wie das im Falle einer Ehe wäre, aber existent und dazu berechtigt, Kinder aufzuziehen. Das gilt besonders auch für die eigenen. Wenn Sie das anders sehen, können Sie das Testament anfechten. Aber ich warne Sie, hier ist dazu nicht der richtige Ort. Wichtig ist an dieser Stelle ist nur, ob die Erstgenannten die Konditionen erfüllen und bereit sind, die Fürsorge für Gus Peterson zu übernehmen.“ Der alte Jurist starrte sie unergründlich durch die dicken Gläser seiner Hornbrille an. Sowohl Justin als auch Brian erwachten aus ihre Erstarrung und schrien fast gleichzeitig: „Ja!“ „Nun gut. Sorgen Sie gut für ihren Sohn. Den Großeltern steht mindestens ein regelmäßiger Besuch Gus‘ im Monat zu. Die Details entnehmen Sie wie alles Übrige bitte der schriftlichen Fassung. Die Sitzung ist hiermit geschlossen.“ Er hämmerte tatsächlich mit einem kleinen Holzschlägel auf den Tisch, den er aus seiner Tasche gezaubert hatte, und verschwand mit einer für einen so klapperig aussehenden Mann erstaunlichen Geschwindigkeit aus der Tür. Wahrscheinlich weil er ahnte, was jetzt kommen würde. Lindsays Mutter war wie zu Eis gefroren, ihr Vater sah aus, als würde er ihnen gleich an die Gurgel gehen und Lindsays Schwester ließ sich von ihrem Gatten trösten und schien böse in sein Ohr zu flüstern. Mrs. Peterson trat auf Brian zu, der sich gerade vom Stuhl aufgerappelt hatte, ihre Augen waren Schlitze: „Damit kommen Sie nicht durch, das ist Wahnsinn! Gus kommt zu seiner Familie und in geordnete Verhältnisse, nicht zu Ihnen und Ihrem… Lustknaben!“ Brians Augen glühten bedrohlich: „Sie haben keine Ahnung von meinen Verhältnissen. Und auch nicht von Justins. Und falls sie noch weiter vorhaben gegen mich oder meinen… Mann ausfällig zu werden, sollten Sie bedenken, dass meine Anwälte gerade jedes Wort mithören. Glauben sie bloß nicht, dass ich Skrupel habe, Sie wegen Beleidigung zu verklagen. Oder wegen irgendetwas anderem, das ich amüsant finde. Dann können wir bei Ihren monatlichen Besuchen immer schön die Prozessakten austauschen. Willkommen in der Familie, Mrs. Peterson!“ Sie wollte noch etwas nachsetzten und auch ihr Mann hob zum Sprechen an, aber ihre Anwälte gingen dazwischen und hinderten Sie daran, die Sache noch weiter zu verschlimmern. Brian wandte sich zu Justin um, der etwas käsig im Gesicht aussah. Er packte ihn am Handgelenk und fauchte: „Komm, wir gehen… Schatz!“ Brian raste wortlos zum Auto, so dass Justin nicht viel anderes übrig blieb, als hinter ihm her zu japsen, schon allein, da Brian ihn noch immer am Handgelenk hinter sich her schleifte. Geistesgegenwärtig hatte er noch eine Kopie des detaillierten Testamentes geschnappt, die einer der Anwälte ihnen hingehalten hatte. Justin fand sich ins Auto gestopft, während Brian mit zusammen gebissenen Lippen Gas gab. Justin sagte lieber nichts, wartete ruhig, bis Brian sich wieder lösen würde. Brian fuhr in halsbrecherischem Stil durch den Berufsverkehr, bis Sie beim Loft angekommen waren. „Was ist mit Gus?“ wagte sich Justin jetzt doch vorsichtig vor. „Wir müssen erst reden“, erwiderte Brian nur abgehackt. Verriegelte das Auto und scheuchte Justin in Richtung Haustür. Sie nahmen die Treppen, auf den Aufzug zu warten hatten sie keinen Nerv gehabt. Die Wohnung sah so anders aus. Überall hatte Gus bereits seine Spuren hinterlassen. Immer noch schweigend, aber voller Anspannung, durchwühlte Brian seine Bar. So gut war die Putzfrau wohl doch nicht, zwischen den Flaschen hatte sich ordentlich Staub abgelagert. Er füllte zwei Gläser mit einem teuren Whiskey, den er normalerweise nur für besondere Anlässe aufhob, und drückte Justin eins der Gläser in die Hand. Justin hatte sich auf die Coach gesetzt, nippte vorsichtig und schaute Brian unter halb gesenkten Lidern hindurch an. Brian griff nach dem Telefon, während er auf und ab ging und den Inhalt seines Glases in sich kippte. „Mickey? Ich bin’s. Hör zu, wir müssen hier noch was klären, wird noch ein bisschen dauern. Ist mit Gus alles okay?... Gut… Sag Molly, sie ist ein Schatz und Hunter, dass er seine Zunge in Gegenwart meines Sohnes hüten soll, sonst ist sie ab… Kannst du Gus vielleicht rüber ins Loft bringen… so in einer Stunde? Du bist der Beste! Ja, ich dich auch… bis später.“ Er legte auf und blieb vor Justin stehen. Dann ließ er sich ächzend auf die Kissen neben Justin fallen und legte den Kopf in den Nacken. „Warum-zum-Teufel-hast-du-das-gemacht?“ fragte er Justin, während er an die Decke starrte. „Warum zum Teufel hast du das gemacht?“ fragte Justin in neutralem Tonfall zurück. „Ich weiß auch nicht. Ich hab nur Gus gehört und Sorgerecht und das ich’s nicht kriege, wenn ich verkünde, dass du und ich mitnichten… Und da ist es mit mir durchgegangen. Verdammt egoistisch, ich weiß. Was mich zu meiner Frage zurück bringt: Warum hast du das gemacht?“ er legte den Kopf zurück und blickte Justin prüfend an. Justin schaute in sein Glas und rührte gedankenverloren mit dem Finger in der scharfen Flüssigkeit. „Weil’s das Richtige war?“ sagte er etwas zaghaft. „Netter Versuch. Klar, das Richtige. Du hast’s versprochen, immer das Beste für Gus und blablabla… Du bist ja so ein Heiliger. Warum hast du das gemacht?“, schnaubte Brian. „Ich weiß es nicht“, sagte Justin und blickte vorsichtig zu Brian hinauf. „Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Es ist einfach aus mir raus geschossen, ohne dass ich darüber nachgedacht habe. Wenn du die ganze Wahrheit haben willst, musst du wahrscheinlich abwarten, bis irgendein Psychodoktor meine tiefsten Vaterkomplexe aus mir heraus gekitzelt hat.“ „Vaterkomplexe? In Bezug auf wen? Auf Gus? Oder – Gnade dir – auf mich?“ Brians Stimme hatte einen leicht entsetzten Unterton. Justin musste trotz des Ernstes der Situation fast lachen: „Immer noch Angst, für meinen Sugar-Daddy gehalten zu werden?“ „Wie vor allen Dämonen der Hölle… Aber anscheinend bin ich neuerdings keineswegs dein Sugar-Daddy, sondern dein treu liebender Sowas-wie-ein-Ehemann-wenn’s-in-diesem-Land-schwule-Ehen-gäbe?“ Justin zuckte zusammen. „Ach Scheiße!“ entfuhr ihm. „Sei froh, dass Gus dich jetzt nicht hört. Ich bin entsetzt, Sonnenschein, ich bin seit – lass mich auf die Uhr schauen – ah, 80 Minuten - dein Ehemann und alles, was dir dazu einfällt ist „scheiße“? Bist wohl diesmal nicht schnell genug gerannt?“ Brians neckende Stimme hatte einen… verletzten?... Unterton. Justin starrte ihn an. Brian hatte ihn Sonnenschein genannt. „Nein, Brian, nein, bitte nicht. Stell mich nicht als Runaway-bride dar. Wir hatten einen Entschluss gefasst. Zusammen. Aber ich habe nie gesagt, dass ich dich nicht will. Ich habe nur gesagt, dass ich dich so nicht will. Nicht als Zwang. Nicht als Lüge. Und wenn du ehrlich bist, dann musst du zugeben, das wolltest du auch nicht.“ Brian ließ die Schultern hängen. Er langte nach der Flasche und goss ihnen nach. Nach einer Weile antwortete er: „Du hast wahrscheinlich recht. Wir hätten uns wahrscheinlich nach einem halben Jahr gegenseitig mit unseren neuen Laura Ashley-Gardinen erdrosselt.“ Justin lachte kurz auf, aber es war kein freudvolles Lachen. „Als würdest du solche Scheußlichkeiten kaufen!“ „Vielleicht wäre ich dann so weit gewesen, wer weiß…“ Sie schwiegen beide gedankenverloren. „Und was machen wir jetzt?“ sagten sie beide fast gleichzeitig. Sie müssten beide lächeln. „Ein Schritt nach dem anderen, würde ich vorschlagen“, ergriff Justin das Wort. „Erst mal müssen wir das mit dem Sorgerecht für Gus hieb- und stichfest machen. Du hast Lindsays Familie gesehen. Die werden das nicht auf sich beruhen lassen. Aber, Justin, willst du das wirklich? Auch um deiner selbst willen? Was wird aus deiner Karriere? Ich kann auch versuchen, das alleinige Sorgerecht durchzusetzen…“ „Nein“, unterbrach Justin ihn, „die Verfügungen in Linds Testament waren recht klar. Es ist zu bezweifeln, dass Sie dir auf dieser Grundlage das alleinige Sorgerecht geben werden. Ein jahrelanges Gezerre um Gus wäre die geringste Folge – und was würde ihm das antun? Ich liebe Gus. Ich war in der Nacht seiner Geburt bei ihm, ich habe ihm seinen Namen gegeben, ich habe seine Windeln gewechselt, seinen Sabber weggewischt, mein Name war eines seiner ersten Worte – wie könnte ich das nicht? Auch wenn ich Mel und Linds nichts versprochen hätte, wäre das so. Ich will für ihn da sein, nicht weil ich muss, sondern weil ich kann und weil ich das wirklich wünsche. Und meine Kunst… Ich habe den Galerievertrag, ich kann auch hier arbeiten und ab und an pendeln. Klar, vielleicht gehen die Dinge dann etwas langsamer voran, als wenn ich ständig vor Ort wäre. Aber wen kümmert das? Mich nicht. Ich stehe jetzt schon an einem Punkt, den die meisten ihr ganzes Leben nicht erreichen. Und ich vermisse New York nicht. Klar, es hat vieles an Inspiration zu bieten, aber das hat fast jeder Ort der Welt. Selbst Pittsburgh. Ich kann ohne Probleme auch hier arbeiten.“ Brian musterte ihn. „Du übersiehst da nur eine Kleinigkeit“, hakte er ein. „Das alles wird nur laufen, wenn wir vor Gott und der Welt ein glückliches Paar sind. Wie stellst du dir das vor?“ „Ich weiß es nicht. Ich habe dir mehr als einmal gesagt, dass ich dich liebe. Daran hat sich nichts geändert.“ Brian musste schlucken, seine Finger verkrampften sich um sein Glas. „Aber wir befinden uns momentan nicht in einer Beziehung. Wir werden lügen müssen. Können wir das?“ Brian wagte nicht, ihn anzuschauen. Er sagte leise: „Das werden wir wohl müssen. Und nenn es nicht Lüge. Nenn es… mmm… fantasievolle Interpretation der Realität. Hast du mit irgendwem über den Status unserer Beziehung seit… du weißt schon… geredet?“ „Nein, nicht wirklich. Ich hab höchstens Daphne gegenüber etwas angedeutet, als sie versucht hat, mich zu löchern. Und du?“ „Höchstens Debbie. Und das, was der Rest sich vielleicht zusammengereimt hat.“ Justin hob erstaunt die Augenbrauen. „Wir müssen sie auf Linie bringen. Wir mögen damals zwar die Hochzeit abgesagt haben, weil es der falsche Zeitpunkt war – aber wir waren nie getrennt. Gibt es jemanden, der sich verplappern könnte?“ „Debbie hält dicht. Daphne bestimmt auch. Ted weiß seinen Job zu schätzen. Emmet hat keine Ahnung, und es gibt auch wichtigeres in seinem Leben. Michael...“ „Ich weiß, er ist dein bester Freund und du liebst ihn – aber er hat mehr als einmal den Schnabel aufgemacht, wenn er ihn besser gehalten hätte“, ein scharfer Zug erschien um Justins Mund. Meistens waren Michael und er gut miteinander zu recht gekommen, aber es hatte auch Spannungen gegeben, die meist auf Michaels Konto gingen. Brian behagte die Sache zwar nicht, aber er musste Justin zustimmen. Es ging um Gus, das hatte Priorität. „Also gut“, seufzte er, „Michael und Anhang bekommen die offizielle Version. Was ist mit deiner Mutter?“ „Schweigt wie ein Grab.“ „Wir werden als Paar auftreten müssen, für Michael und falls die Petersons wen auf uns ansetzten, der in unserer Schmutzwäsche wühlen soll.“ Justin fuhr zusammen. „Daran hatte ich gar nicht gedacht. Was, wenn Sie äh…, sagen wir, Untersuchungen über dein Sexualleben anstellen lassen.“ „Was sollen sie denn herausbekommen? Dass ich schwul bin? Na, so eine Überraschung!“ „Ich dachte da eher an deinen Bodycount“, meinte Justin mit einem betretenen Seitenblick. „Häh?“ starrte ihn Brian an und langte nach einer Zigarette. Justin verdrehte die Augen: „Was ist, wenn sie hinter die Polonaise nackter williger Kerle kommen, die normalerweise durch dein Bett trottet?“ Brian schüttelte sich nur. „Da müssen sie aber tief graben. Hier ist gar nichts getrottet.“ „Was?“ fragte Justin perplex. Brian schaute die Le Corbusier-Vase an, die schon lange keine Blume mehr zu Gesicht bekommen hatte. „Ich sagte: nada! Nix! Fehlanzeige. Aber schau doch mal in deiner verschissenen Duffle Bag nach. Ich glaube, du musst versehentlich meinen Schwanz mit eingepackt haben, als du dich nach New York verpisst hast!“ Brians Stimme bekam jenen aggressiven Tonfall, der typisch für ihn war, wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlte. „Und was ist mit dir? Was ist, wenn sie deine Dreckwäsche ausbuddeln? Was finden sie? Die Hauptattraktion auf allen Orgien der Christopher Street? Das Betthäschen der Reichen und Schönen? Oder jemanden, der sich unsterblich in irgendeinen seifigen Möchtegern-Künstlertypen verknallt hat, zu dem er wieder zurück will?!“ Jetzt wurde es auch Justin ein wenig zu bunt: „Red‘ keine Scheiße. Wenn ich auf dem Weg nach New York deinen Schwanz geklaut habe, dann hat sich meiner beim Abschnippeln so böse in deiner Sockenschublade verheddert, dass er dort wahrscheinlich immer noch vor sich hin schlummert. Und der einzige Künstlertyp, mit dem ich in irgendeiner Weise eine innige Beziehung aufgebaut habe, ist wahrscheinlich der anonyme Designer meiner guten Freunde Mr. Dildo und Mr. Buttplug!“ Brian prustete kurz los und fing sich dann schnell wieder. „Wir sind echt bescheuert“, stellte er fest und lächelte Justin an. „Sind wir wohl, ja“, stimmte Justin ihm zu. Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, das seiner berüchtigten Sonnenschein-Aura schon recht nahe kam, aber immer noch von Trauer und Stress getrübt war. Er rückte ein wenig an Brian heran und murmelte: „Wenn wir schon das liebende Paar spielen müssen, dann sollten wir vielleicht erst ein wenig üben.“ Brian starrte auf Justins Lippen. Er sah das Lächeln, er sah, wie rot und feucht sie waren, wie verheißungsvoll. Es war wahrscheinlich keine gute Idee, aber er konnte nicht anders. Er beugte seinen Kopf hinunter und legte sachte seine Finger unter Justins Kinn und zog ihn zu sich heran. Die erste Berührung ihrer Münder war fast keusch, ein sanfter Druck, Lippe an Lippe, dann öffnete Justin seinen Mund ein wenig und ließ seine Zunge tastend über Brians Oberlippe gleiten. Für Brian gab es kein Halten mehr. Er schlang seine Arme um Justin, zerrte ihn fast brutal an sich und drängte sich ihm entgegen. Ihre Zungen trafen sich, nass, fest, seidig, streichelten einander, bekämpften sich, neckten und lockten. Justin hatte seine Hände in Brians Haar vergraben. Ihr Blut kochte. Brian konnte Justins Erregung an seinem Schenkel spüren und wusste, dass auch er steinhart war. Sein Hirn konnte nur noch einen Gedanken fassen… Justin… Justin… wie er schmeckte, wie er roch, wie er sich anfühlte. Seine Finger krochen wie von selbst in Justins Traueranzug, zogen das Hemd aus der Hose, ertasteten die warme glatte Haut… er hatte ihn… und Gus… am selben Tag… es war fast wie einst. Ein metallisches Geräusch riss sie aus ihrem Rausch. Sie schafften es gerade noch, sich voneinander zu lösen, als Michael mit Gus auf dem Arm hinein spaziert kam. Verdammt… ihre Stunde war verflixt schnell umgegangen. Gus rannte auf sie zu und drückte sie abwechselnd, was sie mit hochroten Gesichtern über sich ergehen ließen, sich dezent die Sofakissen in den Schritt drückend. „Schaut mal Papa, Justin, was mir Molly gemacht hat!“ Er präsentierte den beiden atemlosen Männern ein Sammelsurium an Legofiguren, die sie so gut wie in ihrem Zustand möglich würdigten. „Sie sind wundervoll, Gus“, sagte Justin, „stell sie doch auf die Fensterbank, damit wir sie auch gut sehen können!“ Gus trabte strahlend mit seiner Beute zur Fensterfront, was Brian und Justin Zeit gab, sich einigermaßen wieder zu ordnen. Michaels wachsamen Blick war die Lage nicht verborgen geblieben. „Soso, ihr hattet also was Wichtiges zu klären“, grinste er. „ihr seid wieder zusammen?“ „Immer noch!“ ließ Brian verlauten und machte eine aufgebrachte Miene. „Wie jetzt?“ entfuhr es Michael verblüfft. „Wir waren nie getrennt!“ half Justin aus. „Nach der Hochzeits-Geschichte und mit mir in New York wollten wir das nur nicht an die große Glocke hängen.“ „Du hättest es mir echt sagen können“, meinte Michael etwas säuerlich zu Brian. „Tut mir leid, Mickey, aber ich musste das erst mal für mich klären“ versetzte Brian. „Das ist doch echt mal wieder typisch“, Michael verdrehte die Augen, „ihr seid echt unverbesserlich! Wie ist die Eröffnung gelaufen?“ Sie erzählten es ihm in wesentlichen Zügen und mit geschickten Aussparungen. Er nickte: „Glückwunsch, ihr beiden. Jetzt habt ihr eine richtige Familie, wie wir!“ Brians Züge versteinerten kurzzeitig. „Morgen bin ich dran mit Melanies Willen. Ihre Eltern mussten erst noch anreisen. Wünscht mir Glück!“ fuhr Michael unbeirrt fort. Das taten sie aufrichtig. Michael verabschiedete sich rasch, er wollte zurück zu Jenny. Gus hatte sich zwischen Brian und Justin aufs Sofa gesetzt und berichtete ihnen von den Ereignissen des Tages. Es war gut, dass er so gelockert erschien, Molly und Hunter hatten ganze Arbeit geleistet. Über seinem Kopf musterten sie sich. Hunger lag in ihren Augen. Aber auch das Wissen darum, dass vieles zwischen ihnen nach wie vor ungeklärt war. Und darum, dass sie mit Gus in einem mehr oder weniger offenen Raum schlafen würden. Schicksalsergeben bezog Justin das Sofa. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)