Die große Leere von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 10: Hiobs-Botschaften ----------------------------- X. Hiobs-Botschaften Micheal ließ den Telefonhörer auf den Boden krachen. Fassungslos starrte er ins Leere. Dann rannte er los. Jenny lag in ihrem Baby-Bett und greinte leise, als er sie hoch hob. Hunters Mobile drehte sich im Luftzug. Michael erhaschte einen Blick auf eines der schiefen Herzen. Ben trat verschlafen hinter ihn und schlang von hinten seine muskulösen Arme um ihn. „Was ist los?“ wisperte er in Michaels Haar. „Sie sind tot“, flüsterte Michael tonlos. Bens Körper spannte sich, seine Hände streichelten ihn sanft über die Rippen. „Wer?“ hauchte er. „Mel und Lids – oh Gott! Es ist meine Schuld! Ich habe mir so sehr gewünscht, dass Jenny bei uns bleibt!“ keuchte Michael. Tränen liefen über sein Gesicht. „Wie heißt es so schön? Bedenke gut, was du dir wünscht, denn es könnte in Erfüllung gehen… Ich war das! Ich habe sie umgebracht!“, schluchzte er. „Nein! Nein, nein, nein, Michael“, trieb sich Bens Stimme in sein Bewusstsein, „Du hast Mel und Linds nie etwas Schlechtes gewünscht. Du hattest nur Sehnsucht nach deiner Tochter! Du trägst keine Schuld, was immer auch geschehen sein mag! Dein einziges Vergehen ist, dass du deine Tochter liebst. Und das ist kein Vergehen, sondern eine Gnade!“ Weinend klammerte sich Michael an seinen Ehemann, der ihn sanft streichelte. „Was immer nun sein mag, es geht um Jenny. Ich schwöre dir, dass ich sie liebe, als sei sie mein eigen Fleisch und Blut! Und das wird sie auch sein, genauso wie Hunter!“ schwor Ben, die großen Finger in Jennys kleinen Fäusten vergraben. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „NEIN!“ – ein schrecklicher Klageschrei erhob sich durch das Haus, der Carl und Emmet erbeben ließ. „Nein! Nein! Neinneinnneinnein – nicht meine Mädchen!“ schrie Debbie. Ihre Schminke floss in Tränenströmen über ihr Gesicht. Emmet schluchzte. Carl war wie gelähmt und versuchte, die tobende Debbie aufzufangen. Die beiden lebensfrohen jungen Frauen…. Oh Gott! Er hatte sie nur oberflächlich kennengelernt, aber er wusste, wie viel sie Debbie bedeuteten. Und die beiden Kinder.. Weisen jetzt… oh Gott! Aber es gab ja auch noch ihre Väter. Carl hoffte, während er die aneinander geklammerten Gestalten von Debbie und Emmet vor sich sah, dass sich irgendjemand der Kinder erbarmen würde. Aber Michael würde seine Tochter niemals von sich stoßen! Von sich selbst aus, niemals! Andernfalls würde seine Mutter ihn eigenhändig umbringen! Und das stellte er sich, so gut er Debbie kannte, alles andere als erstrebenswert vor. Und was war mit dem kleinen Jungen… Gus? Brian war ihm immer ein Rätsel geblieben. Man musste nicht schwul sein, um zu erkennen, was für ein schöner Mann Brian war. Schön, nicht im konventionellen Sinne. Aber er hatte etwa, was ihn über die muskelbepackte, eng anliegend bekleidete Meute erhob, die Carl inzwischen kennen gelernt hatte. Gleichgültig, wie vulgär er sich benehmen mochte, etwas in ihm ließ ihn immer… unnahbar?... erscheinen. Brian blieb letzten Endes immer… fern, was immer auch geschah. Das machte wohl einen Teil seiner Anziehungskraft aus – aber letztlich ließ ihn das in Carls Augen kalt erscheinen. Kalt und leer. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Peterson.“ Die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung war tonlos und klang heiser, als seien die Stimmbänder durch langes Weinen und Schreien wund geworden. „Sie wissen es schon“, dachte Brian erleichtert. Der Kelch, es Lindsays Eltern sagen zu müssen, würde an ihm vorüber gehen. „Kinney. Spreche ich mit Lindsays Mutter?“ meldete Brian mit halbwegs fester Stimme. „Was wollen sie? Wir haben jetzt keine Zeit“, wies die erschöpfte Stimme ihn ab. „Ich weiß“, antwortete Brian müde. „Es geht um Gus.“ „Haben Sie meinen Enkelsohn?“ wurde er jetzt angefahren. Brian beschloss es ihr in Anbetracht der Umstände nicht übel zu nehmen. „Die Leute vom Flughafen sagten mir, er sei mit irgendeinem Mann, der in Begleitung meiner Tochter reiste, mitgegangen. Haben Sie überhaupt eine Vorstellung, was für Sorgen wir uns um ihn machen? Warum haben Sie ihn nicht sofort zu seiner Familie gebracht!“ Die letzten Worte hatte die Frau geschrien. Brian schluckte. Bei aller Sorge… das ging ihm doch deutlich zu weit. „Er ist bei seiner Familie“, antwortete er fest. „Wer, sagten Sie, sind sie?“ fuhr Lindsays Mutter in unverändert aggressiven Tonfall fort. „Kinney. Brian Kinney. Gus‘ Vater“, sagte Brian so ruhig wie möglich. „Ich erinnere mich an Sie, kann mich aber nicht entsinnen, dass wir einander je offiziell vorgestellt worden wären. Lindsay…“, sie schluckte hart, „hat sie ab und an erwähnt. Sie sind der… Samenspender, den sie dann doch brauchte, um trotz ihres… Lebensstils an Nachwuchs zu kommen. Wenn ich mich recht entsinne, haben Sie keinerlei Rechte an Gus. Ich schlage vor, dass Sie uns unseren Enkelsohn so schnell wie möglich übergeben, dann werden wir die Fahndung nach ihm zurückziehen und auf eine Anzeige verzichten.“ In Brian stieg eiskalte Wut auf. „Hören Sie mir jetzt ganz genau zu“, zischte er. „Ich werde Ihnen meinen Sohn garantiert nicht „übergeben“. Sie haben im Augenblick ebenso wenig Rechte an ihm wie ich. Und er ist auch kein Möbelstück, das man einfach an den am lautesten Schreienden ausliefert! Ich bin sein Vater! Gewöhnen Sie sich schon mal dran! Und ich schlage vor, dass Sie es sich nochmal überlegen sollten, ob Sie mir die Polizei auf den Hals hetzten sollten, weil ich als sein Vater mich um meinen Sohn kümmere! Diese Sprache kann ich nämlich auch sprechen – und glauben Sie mir, das würde nicht schön werden! Gus bleibt da, wo er hingehört – und das ist bei mir! Wenn Sie ihn sehen wollen, werden wir uns darüber verständigen, Sie sind schließlich seine Großmutter und lieben ihn, das weiß ich. Aber das ändert nichts daran, dass ich der einzige Elternteil bin, den er noch hat. Und falls es damit Unstimmigkeiten geben sollte – nun, dann werden wir uns juristisch einigen!“ „Ich weiß wenig über Sie – aber das wenige ist genug“, schrie Lindsays Mutter. „Sie sind doch auch so ein… Schwuler! Sind das etwa die Verhältnisse, in denen mein Enkelsohn groß werden soll! Soll er sich jeden Tag Ihre Perversitäten anschauen, während er aufwächst?!“ Brian fuhr ihr ins Wort. Er musste sich zusammen reißen, um nicht zu brüllen: „So denken Sie über uns? Über Ihre eigene Tochter, die nicht mal unter der Erde liegt? Tut mir leid – das sind Verhältnisse, unter denen ich meinen Sohn unter keinen Umständen werde aufwachsen sehen! Sie werden ihn nicht zu einem bigotten engstirnigen Country-Club-Idioten drillen, solange auch nur ein Atemzug in mir steckt! Und jetzt schlage ich vor, Sie widmen sich dem Andenken an Ihre Tochter und überlegen mal, wie Sie ihrem Leben mit Achtung begegnen können, das wäre doch ein netter Anfang! Wir hören von einander. Mein Beileid auch an ihren Mann.“ Bevor sie noch etwas sagen konnte, hatte er aufgelegt. Er tastete nach einer Zigarette und ließ sich auf Justins nun wieder zusammen geklappte Schlafcoach fallen. Ikea, nahm er am Rande wahr. Aber seinem Hintern war’s egal, dass sie kein Mies van der Rohe-Stück war, sie war bequem. Die letzten vierundzwanzig Stunden steckten ihm in den Knochen. Er fühlte sich, als habe man ihn mit einem Nudelholz bearbeitet, sei immer wieder über ihn hinweg gerollt, bis er flach und breiig war wie eine tote Flunder. Nach seinem Zusammenbruch in der Nacht und Justins abschließenden Worten waren sie wieder auf Distanz zueinander gegangen. Dennoch klaffte keine wortlose Kluft mehr zwischen ihnen. Sie hatten sich daran gemacht, die Situation gemeinsam in den Griff zu bekommen. Sie mussten überlegen, welche Schritte zu unternehmen waren und welcher von ihnen beiden was machen würde. Brian hatte es schweren Herzens übernommen, die schreckliche Neuigkeit allen Betroffenen mitzuteilen, während sich Justin mit Gus für eine Weile verabschiedet hatte. Gus sollte vorerst nicht mitbekommen, was sein Vater am Telefon sprach, und das war in Justins Atelierwohnung mit dem großen offenen Raum nicht zu bewerkstelligen gewesen. Zudem hatten sie beschlossen, den verstörten Jungen eine Weile auf andere Gedanken zu bringen, ihm wieder ein Gefühl für Normalität zu geben. Justin hatte ihn damit gelockt, dass sie zum Zoo fahren würden. Gus liebte Tiere, und kurz war ein Leuchten in seinen Augen erschienen. Dennoch hatte er sich kaum von seinem Vater lösen wollen und war erst gegangen, als Brian ihm hoch und heilig versprochen hatte, die Wohnung nicht zu verlassen und ihn zwischendurch anzurufen. Sie würden mit ihm über den Tod seiner Mütter sprechen müssen. Brian graute davor. Die Gespräche mit Michael und Ted waren schon schlimm genug gewesen. Ted hatte er informieren müssen, damit der wusste, dass er bis auf weiteres für die Firma verantwortlich war. Die Stimme des Buchhalters war vom Schock geprägt gewesen, dennoch war er geistesgegenwärtig genug geblieben, um die geschäftlichen Belange der Situation gemäß zu ordnen. Ted würde Kinnetic am Laufen halten, Brian vertraute ihm. Auch Ted hatte seine Grenzen, obwohl er mit seinem neu gewachsenen Selbstbewusstsein souveräner im Auftreten geworden war. Er würde Brian aber nur in wohlbegründeten Notfällen kontaktieren. Brian betete, dass sich keine einstellen würden, er hatte jetzt wirklich wenig Spielraum, um sich darum zu kümmern. Und Lindsays Mutter… Bittere Wut stieg in Brian in Erinnerung an dieses Gespräch auf. Er konnte dieser Frau Gus nicht einfach überlassen. Lindsay und Melanie hätten das niemals gewollt. Und in ihm sträubte sich auch alles dagegen. Sie konnte Gus Großmutter sein, dagegen war wenig einzuwenden, auch wenn Brian darauf hätte verzichten können. Gus liebte seine Oma und sie liebte ihn, kein Zweifel. Aber Gus war sein Sohn. Wie kam diese Frau darauf, das infrage zu stellen? Ihn und das Leben ihrer Tochter als eine Anreihung von Verwirrungen und Abnormalitäten darzustellen? Nein, Gus konnte nicht bei dieser Frau aufwachsen. Aber bei ihm? Konnte er das? Wollte er das? Er wollte seinen Sohn. So einfach war das. Aber dennoch war es ganz und gar nicht einfach. Sein ganzes Leben war nicht darauf eingestellt, sich um ein Kind zu kümmern. Weder im Alltag noch in der Planung. Wollte er das ändern? Konnte er das? Wenn er seinen Sohn behalten wollte, würde er das müssen. Wie sollte er das hinbekommen? Ihm wurde klar, dass seine eigenen Bedürfnisse, die bisher das Zentrum seines Daseins gewesen waren, dann hintenan stehen würden müssen. Er würde alles tun… alles sein… damit Gus glücklich sein konnte. Das hatte er auch zu Justin gesagt. Und ihn damit in die Flucht getrieben. Aber das hier war etwas anderes. Justin war erwachsen, Gus war ein Kind. Hatte er Justin damals mit seinem Ansinnen wie ein Kind behandelt? Vielleicht war es das gewesen… Brian nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette und fuhr sich mit der Hand durchs derangierte Haar. Er sollte vielleicht endlich mal duschen. Der Gedanke war ihm, der normalerweise so sehr an sein Äußeres dachte, bisher noch gar nicht gekommen. Er musste inzwischen stinken wie tausend tote Hamster. Vielleicht war Justin deswegen auch mit Gus in den Zoo. Der Pumakäfig war wahrscheinlich wie eine laue Alpenbrise im Vergleich zu ihm. Seine Klamotten waren auch völlig jenseits von Gut und Böse. Er stand auf und wühlte in dem Regal mit Justins Kleidung. Die Hosen würden ihm nicht passen, dazu waren seine Beine einfach zu lang, aber unter den T-Shirts fand er eines, das gehen müsste. Glücklicherweise schien Justin in letzter Zeit eher funktionale Sachen gekauft zu haben, die tendenziell etwas schlabbrig saßen. Bei Justins alten Oberteilen, die immer mindestens eine Nummer zu klein gewesen waren und förmlich geschrien hatten „ich bin ein kleines geiles Früchtchen, vernasch mich doch“, hätte er keine Chance gehabt. Er schnappte sich das Schlabberhemd und ging in das Klaustrophobie auslösende Badezimmer. Das Wasser aus dem klapperigen Duschhahn war eiskalt, aber tat ihm jetzt gut. Während die kühle Feuchtigkeit reinigend über seinen nackten Körper prasselte, grübelte er noch. Er wusste nicht recht, wie es nun weiter gehen sollte. Ein beunruhigendes Gefühl. Er hatte sonst immer klare Vorstellungen von dem, was er erreichen wollte und wie ihm das gelingen würde. Aber seitdem es Gus und Justin gab, war er hierbei immer wieder an das Ende seines Lateins gelangt. Er konnte sich denken, woran das lag. Da fiel ihm ein, dass die ganze Last ja im Augenblick nicht einzig auf seinen Schultern lag. Auch das war ungewohnt. Er konnte mit Justin reden, gemeinsam überlegen. Er war nicht allein. Das hatte Justin ihm in der Nacht, als er ihn gehalten hatte, klar gemacht. Und er hatte es gesagt. Wir werden das schaffen. Er wagte nicht, an die Zukunft zu denken. Justin würde schon bald wieder außer Reichweite sein. Er hatte sein eigenes Leben hier in New York. Aber im Augenblick waren sie zusammen. Nicht als Partner oder Geliebte, aber als… Freunde? Es gab ein „wir“, hier, jetzt. Nur das zählte. Sie würden es schaffen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)