Die große Leere von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 9: Roadtrip to Hell --------------------------- IX. Roadtrip to Hell Brian würgte. Mit einer Hand kralle er sich an der offen stehenden Autotür fest. Die laue Sommernacht um ihn herum schien ihn zu verhöhnen. Er meinte, irgendeine Eule aus dem nahen Wald schreien zu hören. Verpiss die zurück nach Hogwarths, du Mistvieh! Ab und an brauste ein Auto vorbei. Er nahm es nicht wahr. Sein Körper krampfte, obwohl sein Magen längst leer war. Er sackte ins Gras des Straßengrabes. Mit geschlossenen Augen versuchte er wieder zu Atem zu kommen. Jedes Gliedmaß schien zu schmerzen. Er hatte es gerade noch geschafft, rechts ranzufahren, als es ihn wie ein Keulenschlag überkommen hatte. Er musste weiter… Mach jetzt nicht schlapp, Kinney. Gequält schüttelte er den Kopf. Gus. Justin. Er musste weiter. Ächzend stemmte er sich wieder auf die Beine. Hinter seiner Stirn klopfte es schmerzhaft. Wo waren nur die Drogen, wenn man sie brauchte. Er wühlte in seiner Aktentasche. Alles, was er fand, war eine schnöde Aspirin. Besser als nichts… Andererseits war es wohl auch besser so. Es war verlockend, sich jetzt die Birne vollzuknallen. Vergessen… Das letzte, was Gus jetzt gebrauchen konnte, war, dass sein vollgepumpter Vater sich um den nächsten Baum wickelte. James Dean mochte sich das erlauben können – er hingegen hatte Verpflichtungen. Oh Gott, so weit war es mit ihm gekommen. Jung und schön abzutreten – davon hatte er sich schon vor langer Zeit verabschiedet. Ein solches Unterfangen führte nicht zu Unsterblichkeit – man war lediglich mausetot und hatte den größten Teil seines Lebens verschenkt. Und die meisten glamourös klingenden Todesarten waren in Wirklichkeit äußerst unfotogen. Ersatzweise zündete er sich eine Zigarette an. Der Qualm beruhigte ihn ein wenig. War in Hinsicht auf seine Krebserkrankung auch nicht gerade weise, fröhlich weiter zu rauchen – aber irgendein Laster musste er sich ja erhalten, wenn alle anderen sich mehr oder minder verabschiedet hatten. Allmählich fühlte er sich wieder klarer im Kopf. Er goss sich vorsichtig ein wenig Wasser aus einer Plastikflasche über das Gesicht, schüttelte sich und stieg wieder in den Wagen. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Der Abend dämmerte schon, als Brian die Stadtgrenze New Yorks passierte. Hatte er zuvor alle dämlichen Geschwindigkeitsbegrenzungen zur Hölle gewünscht, die ihn zwangen, trotz aller PS des geliehenen BMW im Schneckentempo zu fahren, wenn er nicht von der Polizei einkassiert werden wollte, hätte er jetzt liebend gern die Karre gegen etwas eingetauscht, das ihn rascher durch den tobenden Stadtverkehr gebracht hätte. Einen Panzer, zum Beispiel. Inzwischen herrschte in ihm eine Leere, die ihn hatte ruhiger werden lassen. Seine Gedanken waren nur noch auf sein Ziel fokussiert. Er dachte nicht daran, was dann sein wollte. Er dachte nur daran, endlich anzukommen. Es dauerte noch fast eine komplette Stunde, bis er sich bis zu Justins Wohngebäude durchgeschlängelt hatte. Zwischenzeitlich war er mehrfach versucht, das dämliche Navigationsgerät einfach aus dem Fenster zu schmeißen, das ihm wahnwitzige Anweisungen gab und offensichtlich darauf programmiert war, immer den weitesten Umweg zu wählen. In einer Nebenstraße fand er eine Lücke, die er als Parkplatz definierte. Selbst wenn nicht – sollten sie ihn doch abschleppen und ihm ein Bußgeld aufbrummen. Das war ihm sowas von egal. Er war da. Die Wohngegend war studentisch geprägt. Junge Menschen flanierten auf der Straße, genossen den Sommerabend in Kaffees, lachten miteinander. Für Brian sahen sie aus wie Lebewesen von einem fremden Planeten. Er prüfte noch einmal die Adresse. Er war richtig. Das Haus war ein älterer Rotklinkerbau, der einst wohl Büros beherbergt hatte. Jetzt zeigte eine Fülle von Klingelschildern, teils mit mehreren Namen, an, dass es inzwischen in ein dicht frequentiertes Wohngebäude umfunktioniert worden war. Hastig überflog Brian die Schilder. Da. Taylor. Er drückte den Knopf. Ein paar Herzschläge zu viel passierte nichts. Dann ging der Brummer. Brian stolperte ins Treppenhaus, vorbei an den teils überquellenden Briefkästen. Welcher Stock war es? Er wusste es nicht. Er rannte los, immer zwei Stufen mit seinen langen Beinen auf einmal nehmend. Das ständige Training auf dem Laufband machte sich jetzt bezahlt. So schaffte er es, ohne einen Herzinfarkt zu erleiden, immerhin wohlbehalten die gefühlt zehntausend Stufen hinauf. Er schwitze und atmete schwer. Er hatte immer noch den anthrazitfarbenden Armani-Anzug an, den er heute Morgen frisch aus der Reinigung angezogen hatte. Das schien ein ganzes Leben lang her zu sein. Inzwischen war er schlimm zerknittert. Und er selbst musste stinken wie ein Iltis. Er hatte nichts zum Wechseln dabei. Es war ihm gleichgültig. Er blickte auf und sah direkt in Justins schräge Augen. Sie erschienen noch blauer als er sie in Erinnerung gehabt hatte. Die Pupillen waren geweitet, das Weiße gerötet, tiefe Augenringe warfen Schatten. Justins blondes Haar war wieder länger, wie Brian es damals so geliebt hatte, und stand unordentlich in alle Richtungen ab. Er sah dünn aus. Brian konnte nicht anders als ihn gelähmt anzustarren. Es war so, als würden sie sich von zwei Seiten eines endlos leeren Raumes ansehen, unfähig, sich zu bewegen. Es war einfach zu viel. „Brian“, sagte Justin leise. Er löste sich aus seiner Lähmung und rang um Stimme. „Justin.“ Justin trat zur Seite, und Brian schritt an ihm vorbei ins Innere der Wohnung. Eine kleine Atelierwohnung. Es roch nach Essen und nach Farbe und nach… Sie roch… vertraut. Sie war so… Justin. Ein bisschen von der Spannung, die Brian in den letzten Stunden voran getrieben hatte, fiel von ihm ab. Auf der auseinander geklappten Ikea-Coach lag sein Sohn und schlief in sich zusammen gerollt auf der Seite, tief in Justins Decken gekuschelt. „Hast du Hunger?“ fragte Justin. Brian wollte ablehnen, aber da fiel ihm die schreckliche Leere in seinem Magen auf. Die Reste seines kläglichen und Figur freundlichen Frühstücks hatte er irgendwo im Straßengraben den Krähen überlassen. Seine gute Tat für diesen Tag. „Mmm“, murmelte er vorsichtig und wich Justins Blick aus. Der jüngere Mann machte sich in der Küche zu schaffen, während Brian neben dem Bett stehenblieb. Sein Sohn. Sein Sohn… traf es ihn wie ein Blitzschlag… und Justin… sie lebten. Hatte Justin nicht am Telefon gesagt, sie hätten den Flieger verpasst? Oh Gott… Das hätte er nicht überlebt… Er beugte sich herab und drückte dem schlafenden Jungen einen Kuss auf die Stirn. Gus bewegte sich leicht, wachte aber nicht auf. Justin trat zu ihm und hielt ihm einen Teller vor die Nase. „Jambalaya, aufgewärmt“, sagte er. „Wir mussten uns irgendwie beschäftigen“, fügte er fast entschuldigend hinzu. Brian schluckte jeden Kommentar hinunter und nahm die Schale dankbar an. Er setzte sich auf den leeren Tapeziertisch, den Justin wohl normalerweise zum Malen benutzte. Im Augenblick waren keine Gemälde in der Wohnung. Waren wohl alle in Justins Ausstellung gelandet. Lindsay hatte ihm am Telefon davon erzählt, während er unbeteiligt geblieben war und, so schnell es ging, das Thema gewechselt hatte. Oh Gott, Lindsay! Er spürte, wie es in ihm aufstieg und schluckte hart. Er musste sich zusammen reißen. Wenn er jetzt zu heulen begann, würde es kein Halten mehr geben. Das durfte er nicht tun, nicht jetzt! Justin räumte leise in der abgedunkelten Kochnische herum. Er wirkte schrecklich jung und müde in der dunkelblauen Pyjamahose und dem engen weißen T-Shirt, doch der gestreckte Rücken verriet seine Stärke. Brian trat zu ihm und stellte die leere Schüssel in die Spüle. Schweigend reinigte er sie und hängte sie dann auf den Trockenständer. Sie sahen einander nicht an. In einem stillen Übereinkommen traten sie gemeinsam ans Bett und blickten auf das schlummernde Kind. „Was hast du ihm gesagt?“ fragte Brian. „Dass ich es auch nicht weiß, was mit seinen Mamas los ist. Ich konnte ihm nicht sagen, dass sie… Nicht, solange wir keine Gewissheit haben. Sie rufen an, sobald es Neuigkeiten gibt.“ „Wie hat er es aufgenommen?“ „Er ist verwirrt. Und er hat Angst. Er spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es ist gut, dass du da bist. Er hat nach dir gefragt.“ Brian nickte. Dann streifte er seine Anzugjacke ab und krabbelte neben seinen Sohn ins Bett. Vorsichtig schlang er seine Arme um den schlafenden Jungen. „Papa?“ murmelte Gus. „Schhht, mein Kleiner. Ich bin bei dir. Papa ist da. Es ist gut, schlaf weiter.“ „Steig nicht in das Flugzeug!“ bat Gus mit dünner Stimme und klammerte sich plötzlich heftig an seinen Vater. „Nein. Ich verspreche es. Ich steige nicht in das Flugzeug. Ich bleibe bei dir. Ich verspreche es“, flüsterte Brian beruhigend und streichelte den kleinen Körper. Gus entspannte sich wieder. Dann zuckte er erneut. „Justin!“ schrie er auf. Justin erwiderte aus der Dunkelheit des Raumes: „Ich bin hier, Gus. Ich bin hier. Es ist gut.“ „Justin“, flüsterte Gus erneut und streckte suchend seine Hand aus. Justin trat näher, so dass Gus ihn erreichen konnte. Die kleinen Finger krallten sich erstaunlich kräftig in sein Haar. Und ließen nicht locker. Justin setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. Er griff nach Gus Hand und löste sie vorsichtig. Gus lockerte seinen Griff und umklammerte stattdessen Justins Hand. Brian schaute ihn mit unleserlichem Blick an. Dann streckte er seine Hand nach Justin aus und zog ihn vorsichtig zu ihnen herab. Justin verspannte kurz, dann ließ er es geschehen. Er kam auf Gus‘ anderer Seite zum Liegen, das Gesicht Vater und Sohn zugewandt. Brians linker Arm lag über Gus gebettet, seine Hand hielt sachte Justins Hüfte. Nach ein paar Minuten entspannte sich Justins Körper, er rutschte ein wenig näher, legte eine Hand auf Gus‘ Nacken, die andere auf Brians nach ihm ausgestreckten Arm. So ineinander verflochten, das Kind von beiden Seiten schützend umgeben, schliefen sie ein. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Brian erwachte aus traumlosem Schlaf. Er meinte das Läuten eines Telefons gehört zu haben. Wer rief ihn denn mitten in der Nacht in der Firma an? Oder war es schon Morgen? Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Justins Geruch stieg ihm in die Nase. Phantom-Justin kannte keine Gnade, dachte er niedergeschlagen. Er schlug die Augen auf. Vor ihm lag Gus und schlief tief und fest. Die Wirklichkeit schlug schmerzhaft über ihm zusammen. Er löst sich vorsichtig von seinem Kind und blinzelte. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Vor der breiten Fensterfront stand Justin und sprach leise am Telefon. Hinter ihm leuchtete der Glanz der nimmermüden Stadt. Sie konnte ihm gestohlen bleiben. Er rappelte sich auf und ging auf leisen Sohlen hinüber zu seinem… Ex-Verlobten`? Ex-Freund? Ex-undefinierte-Beziehungspartner? Justin blickte ihm in die Augen. Bitte… dachte Brian… sag, dass sie wohlauf sind. Dass es sich um einen schrecklichen Irrtum handelt. Dass ich auf einem Horror-Trip bin… irgendwas. Langsam schüttelte Justin den Kopf. Brian schluckte. „Keine Überlebenden“, sagte Justin leise. „Sie brauchen die zahnärztlichen Unterlagen… für die Identifikation“, setzte er heiser hinzu. „Wir müssen es den anderen sagen“, flüsterte Brian, „und Lindsays und Mels Eltern…“ Jedes Wort fühlte sich auf seiner Zunge an, als bestünde es aus reinem Arsen. Er dachte an Lindsay. Seine Freundin. Sein Halt. Die Mutter seines Sohnes. Und Melanie… Tief aus seinem Inneren stieg ein Schütteln empor. Er musste es aufhalten. Er schaffte es nicht. Der Laut, der über seine Lippen kam, war nur sehr leise – aber er hatte etwas Unmenschliches. Am Rande nahm er wahr, dass er taumelte. Er würde fallen und hatte keine Kontrolle mehr. Da schlossen sich kräftige schlanke Arme um hin, hielten ihn fest. Ein warmer Körper, einziger Fixpunkt in dieser verrückt gewordenen Welt. Er schluchzte tief auf. Und Justin hielt ihn, weinend, das Leid teilend. Brian vergrub sein Gesicht in Justins Haar, atmete ihn ein. Justins Finger strichen über ihn, tröstend, während Fassungslosigkeit und Trauer sie im Würgegriff hielten. Und er hielt Justin, so fest, dass es ihm fast wehtun musste, aber er musste ihn spüren, wissen, dass er noch am Leben war, dass er selbst noch ein Leben war. Sie hätten beide nicht sagen können, wie lange sie so da gestanden hatten, versunken in ihrem Elend und dem Trost, den sie einander spendeten. Nach einer Ewigkeit löste sich Justin vorsichtig von ihm. Er streichelte über Brians tränennasses Gesicht. „Wir schaffen das. Wir müssen das schaffen. Und wir können das schaffen“, sagte Justin mit klarer Stimme zu ihm. Brian war sich nicht sicher, was er damit meinte. Aber er war sich sicher, dass er recht hatte. Niemand hielt Justin auf, wenn er etwas beschlossen hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)