Die große Leere von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 4: Elternplausch ------------------------ Das Telefon klingelte mit schrillen Tönen aus Richtung Küche. Michael hetzte die Stufen der engen Holztreppe herab und schaute sich hilflos um. Wer auch immer auf die Idee gekommen war, das schnurlose Telefon zu erfinden, schien keine Gedanken an die Vergesslichkeit seiner Mitmenschen verschwendet zu haben. Oder er hatte keine Ahnung davon, wie es war, wenn ein Telefon und ein Teenager sich unter demselben Dach befanden. Er folgte hektisch dem wütenden Klingeln, bis er den Hörer gut versteckt hinter einer halb leeren Cornflakes-Packung fand. Immerhin, nicht in den Cornflakes… So schusselig, wie Hunter trotz allen guten Willens manchmal seien konnte, hätte das auch der Fall sein können. „Novotny-Bruckner“, meldete er sich. „Hallo Michael, hier ist Melanie.“ Hätte er sich in Hinblick auf den aggressiven Tonfall des Telefonklingelns fast denken können. Die Mutter seiner Tochter gehörte nicht zu den friedfertigsten Zeitgenossen, davon konnte er ein Liedchen singen… „Alles in Ordnung bei euch? Ist mit Käferchen alles okay?“ „Ja, alles bestens – aber nenn Jenny nicht immer Käferchen, sonst hätt‘ ich mir die Mühe mit dem Namen auch sparen können! Also hör zu, es geht um Folgendes…“ Michael wollte kurz dazwischenfahren und Melanie erklären, dass er gar nicht daran denke, sein Baby um seinen Spitznamen zu bringen und dass das gar nichts mit der Qualität ihres wirklichen Namens zu tun hatte, schluckte es dann aber doch herunter. Zum einen würde ein Kommentar seinerseits lediglich einen sinnlosen Streit provozieren zum anderen ließ Melanie ihn ja gar nicht zu Worte kommen. Genervt atmete er tief durch, versuchte zu lächeln, um der aufsteigenden Frustration entgegen zu wirken. Melanie fuhr gnadenlos fort: „Nun ja, Jenny ist ja allmählich aus dem Gröbsten raus und da hatten wir überlegt… ob du vielleicht im Juli oder August Lust hättest, ein oder zwei Wochen mit ihr zu verbringen?“ „Was meinst du damit?“ Michael war erstaunt. Natürlich wollte er. Er hatte den beiden Frauen wegen eines derartigen Arrangements bereits mehrfach auf den Ohren gelegen. Er hatte damit gerechnet, dass er um jeden Moment mit seiner Tochter würde kämpfen müssen. Ab und an überkam es die Lesben und sie sahen ein, dass ein Kind vielleicht auch Zeit mit seinem Vater verdiente, selbst wenn er vor dem Gesetz als Elternteil nicht zählte – aber die Spielregeln wurden von den beiden Frauen gemacht. Besonders wenn dieser Vater sein Kind wirklich liebte, so wie Michael es tat. Es gab genug Väter, für die das kaum zutraf. Er musste an Brians Vater denken oder Justins. Nicht, dass die beiden nichts für ihre Söhne empfunden hatten. Aber ein liebevolles Verhältnis war etwas anderes. „Naja, ein wenig Zeit als Vollzeit-Papa für dich. Windeln wechseln, alle paar Stunden füttern, Schlaflieder singen… die volle Packung Elternglück.“ Melanie kicherte wissend. „Nun, was sagst du?“ „Das… das wäre großartig, Mel! Jederzeit, ich arbeite momentan von zu Hause aus, da lässt sich das problemlos einrichten! Wann sagtest Du? Im Juli?“ „Ende Juli, Anfang August. Linds hat da Ferien und wir würden gerne für ein paar Tage wegfahren. Wenn man zwei kleine Kinder hat, bleibt wenig Zeit für einander. Oh, man sieht sich ständig, aber der Alltag hält einen ganz schön auf Trab, so dass kaum Raum bleibt, mal wirklich länger zusammen zu sein, ohne dass ständig die Pflicht ruft. Jetzt halt uns bitte nicht für Rabenmütter…“ Aha, daher wehte der Wind… Aber Michael konnte den Wunsch der Frauen schon verstehen. Ihm sollte es recht sein, wenn er so sein Käferchen zumindest zeitweise für sich bekam. „Ach Quatsch, Mel, ihr beide seid großartige Eltern, das weiß ich doch, auch wenn es Zeiten gegeben hat, in denen wir einander unsere Eignung in dieser Hinsicht etwas infrage gestellt haben… Aber das ist Schnee von gestern. Wenn ihr beide Mal ein bisschen Erwachsenen-Zeit alleine braucht, um zu… reden, kann Jenny jederzeit gerne zu mir! Ben und Hunter werden ausflippen! Zwei Wochen sagtest du? Das ist fantastisch – ich hab da so eine Kinderbettwäsche in einem der Großhändler- Kataloge gesehen, mit lauter Baby-Superwomen-Bildern drauf! Total niedlich!...“ „Wenn du einen Comic-Nerd aus unserer Tochter machst, dreh ich dir den Hals um!“ schappte Melanie. „So wie mich?“ fuhr Michael sie an. „Das hättest dir überlegen sollen, bevor du mich als Samenspender eingespannt hast!“ In ihm kochte es. Kurz war es still in der Leitung. „Es tut mir leid, Michael“, ruderte Melanie zurück. „Manchmal ist meine Zunge schneller als mein Verstand… Ich habe es nicht so gemeint. Ich habe dich damals wegen der Vaterschaft gefragt, weil du der Beste warst – und bist. Ich schätze dich wirklich, auch wenn dein Comic-Fetischismus mir manchmal auf den Wecker geht. Und wenn Jenny dir in dieser Hinsicht folgen sollte – natürlich wäre das okay für mich. Solange niemand von mir verlangt, mit euch beiden bei Halloween im Batman-Kostüm durch die Öffentlichkeit zu ziehen…“ Halbwegs versöhnt murmelte Michael: „Schon gut. Ich würde es ja auch verkraften, wenn Jenny sich zur rasenden Anwältin entwickelt, die alles verklagt, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Solange es sie glücklich macht… Und solange sie nicht mich verklagt.“ Beide mussten sie lachen. „Und wie läuft es bei euch sonst so?“ wechselte Michael das Thema. „Ach, ganz gut. Linds gefällt ihre Arbeit als Lehrerin wirklich gut. Es ist toll, wie sie mit den Kindern und Jugendlichen umgeht! Und ich hab endlich meine Zulassung. Aktuell arbeite ich frei, erstelle Gutachten, recherchiere bei kniffeligen Fällen, die amerikanisches und kanadisches Recht betreffen. Das wirft zwar nicht so viel ab wie mein alter Job, aber ich bin frei in der Zeiteinteilung, so dass wir das mit der Kinderbetreuung gut hinbekommen. Linds arbeitet meist vormittags und Gus ist im Kindergarten, solange bin ich der Windelwechsler für Jenny. Nach Mittag holt Linds Gus ab und übernimmt, so dass ich dann arbeiten kann. Wir müssen ziemlich genau planen, aber momentan klappt es soweit prima.“ „Was wollt ihr eigentlich mit Gus machen, wenn ihr wegfahrt?“ fragte Michael. „Wir dachten da an Brian. Da fällt mir ein – weißt du, wo wir ihn erreichen können? Linds hat es die letzten Abende im Loft versucht, hat auf den Anrufbeantworter geredet – aber bisher kein Ton. Der große Gönner hat Gus zwar ein abartig teures Handy auf seinen Namen geschenkt, so dass die beiden miteinander telefonieren können, ohne dass unsere Telefonrechnung explodiert – aber das soll ruhig zwischen den beiden bleiben. Und Brian auf dem Handy anzurufen erscheint uns erfahrungsgemäß recht sinnlos – entweder stört man ihn bei der Arbeit oder beim Ficken, wie ich ihn kenne. Warum ruft der Scheißkerl nicht zurück?“ Michael wurde etwas mulmig zumute. „Äh, nun ja, wahrscheinlich, weil er eure Nachricht nicht bekommen hat. Ruf lieber bei Kinnetic an und lass seine Sekretärin ihm eine Bitte auf Rückruf notieren.“ „Was soll das denn? Ich will schließlich keine Audienz beim Kaiser von China! Und was soll das heißen, er habe unsere Nachrichten nicht bekommen? Ist er heimlich umgezogen? Hat er sich einen hohen finsteren Turm in den Tiefen der Wälder bauen lassen, um den die Blitze krachen und die Wölfe heulen, wenn er sein Unwesen treibt? Ich kann‘s mir bildlich vorstellen: Igor! Wir brauchen Schwänze! Bring mir Schwänze, Igor!“ sie imitierte Brians Tonfall erschreckend gut. Es war zwar gemein, aber Michael musste dennoch lachen. „Nein, das wohl nicht. Ich hab ihn in letzter Zeit kaum zu Gesichte bekommen. Aber ich hab‘ vor ein paar Tagen mit Ted gesprochen. Der meinte, dass Brian sich mehr oder weniger in der Firma verschanzt hat. Arbeitet wie ein Irrer und pennt wohl auch regelmäßig dort. Du weißt ja, wie das mit ihm ist: Keine halben Sachen.“ Er seufzte. Er und Brian hatten sich mit den Jahren immer weiter voneinander entfernt. Die alte Nähe ihrer Freundschaft war zwar immer noch da, aber hatte zu Teilen den Charakter einer nostalgischen Erinnerung angenommen. Er erinnerte sich an den Abend, als sie miteinander nach dem Bombenanschlag getanzt hatten. Das Leben würde weitergehen, und sie würden einander immer haben. Aber sie waren keine Teenager mehr, auch keine Twens auf der Suche nach Abenteuern. Er, Michael, war angekommen. Und auch Brian hatte sich verändert, auch wenn Michael den Charakter seines Wandels nicht richtig verstand. Brian blieb immer Brian – was auch beinhaltete, dass er zumeist blockte, sobald es um sein Innenleben ging. „Justin?“ fragte Melanie ernst. „Ich denke Mal. Was sonst? Wer wird schon aus den beiden schlau? Erst rennt Brian jahrelang vor ihm weg, dann macht er eine 180 Grad-Wendung und das nächste, was man sieht, sind die Staubwolken am Horizont, hinter dem Justin verschwindet. Völlig bescheuert.“ „Meinst du, die beiden haben noch Kontakt?“ fragte Melanie. „Ich glaube es nicht. Wie schon gesagt: Keine halben Sachen. Und Justin hat da gewiss vom Meister gelernt. Brian verliert kein Wort über seinen Ex-Verlobten. Als ich vorsichtig nachgefragt habe, hat er die Schotten sofort dicht gemacht, gesagt, dass alles in Ordnung sei und ich meine Nase aus seinen Angelegenheiten halten solle. Was hätte man auch anderes erwartet. Und Justin erwähnt ihn auch nie, wenn er ab und an mailt. Erzählt von New York, seiner Wohnung, seiner Arbeit – aber über Brian – kein Ton, nicht mal eine Nachfrage.“ „Es stimmt schon, es ist ihre Angelegenheit… obwohl ich ihr Verhalten auch ganz schön merkwürdig finde. Und wer weiß schon, was in ihren Köpfen vorgeht? Wenn sie meinen, sie müssten getrennte Wege gehen, wer sind wir, darüber zu urteilen. Ich bin nun wirklich nicht die Vorsitzende des Brian-Kinney-Fanclubs, aber dass er den Kleinen wirklich geliebt hat, das muss ich ihm schon zugestehen. Schon ein merkwürdiges Bild, Mr. Super-Hengst, verliebt.“ „Ach Mel, wenn’s nur Verliebtheit gewesen wäre. Vielleicht am Anfang, da hat es Brian aber nicht geblickt – oder nicht blicken wollen. Ich hab’s gesehen, und es hat mich damals, bevor ich David kennen lernte und vielleicht auch noch danach, ganz schön angefressen. Ich konnt‘ es einfach nicht verstehen. Er konnte jeden haben – und dann hatte er diesen Narren gefressen an diesem kleinen aufdringlichen und besserwisserischen Jungen, der obendrein noch die Schulbank drückte. Irgendwann hab‘ auch ich erkennen müssen, dass an Justin mehr dran ist, als der erste Blick verrät.“ „Ja“, griff Melanie den Gedanken auf, „Justin ist stark. Er gibt niemals auf, gleichgültig wie häufig er auf die Nase fällt. Und diese Qualität hatte er bei Brian auch mehr als nötig. Und er ist ein Scheiß-Genie, was seine Malerei angeht, Ich hab mich eigentlich immer viel eher gefragt, was er in Brian gesehen hat… Aber wie gesagt: nicht die Vorsitzende des Brian-Fanclubs, nicht mal ruhendes Mitglied. Aber lassen wir das. Also, ich fasse zusammen: Brian hat sich, nachdem Justin einen auf Runaway-Bride gemacht hat, bei Kinnetic eingeigelt, arbeitet wie ein Besessener und will ums Verrecken mit keinem über seinen Kummer reden, von dem er vermutlich behauptet, dass er nicht existiere und er einzig und allein den Geboten rationalen Handelns folge… richtig?“ „Richtig“, seufzte Michael. „Na, hoffentlich gerät Gus nicht zu sehr nach seinem Papa. Sonst sehe ich harte Zeiten auf uns zukommen.“ ………………………………………………………………………………………………………… „Peterson.“ Lindsay hatte sich den Telefonhörer auf die Schulter geklemmt, während sie das Gemüse fürs gemeinsame Abendessen klein schnippelte. Gus wuchs in letzter Zeit wie rasend und verdrückte unmögliche Mengen an Essen. Er überragte schon jetzt die anderen Kinder in seiner Kindergartengruppe um mindestens einen halben Kopf. Der Gemüseeintopf würde wahrscheinlich mit einem enttäuschten Blick aus den großen braunen Kulleraugen ihres Sohnes quittiert werden, aber sie weigerte sich, seine Ernährung seinem Wunsch entsprechend auf ausschließlich Spaghetti mit Ketchup umzustellen. Wenn er sich schon vorgenommen hatte, so ein langer Lulatsch wie sein Vater werden zu wollen, dann brauchte er reichlich Vitamine, um unterwegs nicht umzufallen. Sie selbst war ja auch nicht gerade winzig. „Hallo Lindsay, hier ist Brian“, meldete sich ihr alter Freund in geschäftsmäßigem Ton. Sie könnte darauf wetten, dass er immer noch am gläsernen Schreibtisch in seinem spartanisch eingerichteten, bis auf das letzte Detail durch designten Büro saß und sie zwischen zwei seiner wahnwitzig wichtigen Geschäftstelefonaten eingeschoben hatte. Nun ja, sie hatte sich ja auch wie seine Geschäftskunden bei seiner Sekretärin anmelden müssen, um ihn überhaupt zu fassen zu bekommen. Bei dem Gedanken runzelte sie ärgerlich die Stirn. Sie war nicht die Vorstandsvorsitzende eines kriselnden Hundefutterunternehmens, das durch Brians geniale Sex-sells-Kampagnen wieder auf einen grünen Zweig gebracht werden wollte, sondern seine Freundin und die Mutter seines Sohnes. Sich artig in die Schlange zu stellen, bis der hohe Herr mal einen Termin frei hatte, behagte ihr gar nicht. „Oh hallo Brian, schön, dass du zurück rufst“, sagte sie, den Ärger unterdrückend. Es hatte keinen Sinn, Brian jetzt schon einen zu verpuhlen. Wenn er sich verbarrikadiert hatte, wie Melanie es ihr nach dem Gespräch mit Michael berichtet hatte, würde ein Frontalangriff lediglich bewirken, dass er nur noch weiter auf Distanz ging. Und damit wäre keinem geholfen. „Was kann ich für dich tun?“ Brians Tonfall blieb freundlich, aber er klang irgendwie nichtssagend. Er hörte sich wirklich so an, als würde er mit einem Kunden und nicht mit ihr sprechen. Hatte er sich wirklich wieder in sein emotionales Schneckenhaus zurückgezogen, nachdem sein Gefühlsausbruch Justin gegenüber in einer üblen Bruchlandung geendet war? Nach dem, was Mel erzählt hatte, war das wahrscheinlich wörtlich zu nehmen – nur das sein Schneckenhaus vollgestopft war mit Mies van der Rohe-Möbeln und am Eingang ein großes Schild hatte, auf dem „Kinnetic“ stand. Sie seufzte innerlich auf. Das hatte Brian wirklich nicht verdient – auch wenn irgendetwas in ihm da anderer Meinung zu sein schien, schließlich tat er sich das größtenteils selbst an. Aber darin war er ja leider immer schon ein Meister gewesen. „Mmm, ja, warte kurz, ich muss mir kurz die Hände abwaschen, bin grad am Kochen, dein Sohn schlingt schneller alles runter, als ich „guten Appetit“ sagen kann… So, da bin ich wieder. Also, Mel und ich hatten mit Michael gesprochen…“ Sie konnte förmlich hören, wie Brian sich versteifte. Sein Atem ging flacher, als würden seine Muskeln unter plötzlicher Anspannung stehen. Er erwartete unangenehme Nachfragen zu seiner Verfassung und ging bereits in Abwehrhaltung. Den Gefallen würde sie ihm nicht tun. Rasch fuhr sie fort: „Also, Jenny besucht ihren Papa Ende Juli für zwei Wochen, und da wollten wir dich fragen, ob du nicht Lust hättest, wenn Gus in der Zeit dich besuchen kommt…?“ „Wohin soll die Reise denn gehen?“ Aus Brians Stimme hörte sie einerseits Erleichterung darüber, dass sie nicht versucht hatte, in ihn zu dringen, zugleich aber auch Spott. Hatte sie wirklich geglaubt, dass Brian es nicht sofort bemerken würde, dass sie nicht nur hehre Ziele damit verfolgte, ihm ein wenig Zeit mit seinem Sprössling zu gönnen? Jetzt stand sie da wie eine Rabenmutter, die versuchte, den Nachwuchs abzuschieben, um sich ins Lotterleben stürzen zu können… Pah, in dieser Angelegenheit sollte Brian ruhig die Klappe halten! Wenn sie daran dachte, wie ausgesprochen mäßig er sich als Verantwortlicher für seinen Sohn anfänglich geschlagen hatte… war auf irgendeine Fick-Party abgehauen und hatte Gus einfach dem völlig verknallten Justin in die Arme gedrückt, der alles für ihn getan hätte – sogar sein Kind hüten, während er andere Kerle vögelte! Bei dem Gedanken an diesen Zwischenfall hätte sie Brian noch heute genüsslich den Hals umdrehen können. Aber das war lange her. Brian liebte seinen Sohn und hatte sich aufrichtig um ihn bemüht. Die beiden telefonierten regelmäßig über Gus‘ „Papafon“, wie ihr Sohn das verrückte Edelteil, das ein Handy darstellen sollte, nannte. Bestand wahrscheinlich aus reinem Mithril und dem Geweih des letzten Einhorns… und das für ein Kleinkind. Aber seinen Hintern nach Kanada geschwungen hatte Brian, anders als Michael, nie getan. Sie hatte wohl zu lange ertappt geschwiegen, denn Brian setzte fort: „Ist schon gut Linds. Wenn man den ganzen Tag in Babyscheiße ersäuft, braucht man auch mal ne Auszeit, damit ihr eurer tiefen und wahren Liebe frönen könnt.“ Der letzte Satz hatte vor Sarkasmus nur so getrieft. Warum tat er das? Vor ein paar Monaten war er doch soweit gewesen, Justin vor aller Augen seine ewige Liebe zu schwören – und nun machte er sich über Gefühle dieser Art lustig, als seien sie eine Dummheit, die andere begingen und über der er hingegen weit stand? War er wieder da, wo er einst gewesen war, der Ich-glaube-nicht-an-die-Liebe-, der Liebe-ist-eine-Illusion-spießiger-Heten-und-solcher-Leute-die dasselbe-sein-wollen-aber-nur-billig-imitieren-Brian? Oder hatte ihm die Trennung mit Justin sogar noch mehr zugesetzt, als sie bisher erahnt hatten? Vorher hatte er kein Vertrauen in die Liebe gehabt, da hatte er Nichts zu verlieren gehabt. Aber nun, hatte er, nachdem er seine Gefühle einmal zugelassen hatte und in seinen Augen gescheitert war, resigniert? Waren seine Worte ein Zeichen von Verbitterung – und nicht von mangelnder Einsicht? Lindsay spürte tiefe Sorge um Brian in sich aufsteigen. „Hallo, Lindsay? Hat dich die Brut aufgefressen? Hat ein Eisbär das Telefonkabel gekappt? Bin ich spontan ertaubt, jetzt wo das Alter mich in seinen blutigen Krallen hält?“ „Äh…“, kam Lindsay wieder zurück in die Gegenwart, „‘tschuldigung, Jenny hat grad so süß gegähnt, da war ich völlig weggetreten.“ Puh, kleine Notlüge. „Ich muss gleich kotzen“, erwiderte Brian konsequent. „Wann hattet ihr denn vor, Sonnyboy zu seinem tatterigen Alten abzuschieben, damit der auch mal die Freuden des Elternglücks erleben kann, bevor er ins Gras beißt?“ „Letzte Juliwoche, erste Augustwoche.“ „Mist, das klappt nicht.“ „Was?“ „In dem Zeitraum liegen die Deadlines dreier unserer wichtigsten Kampagnen. Ich bin rund um die Uhr eingespannt, es tut mir leid.“ „Aber…“ „Nichts aber, Linds. Ich würde mich über einen Besuch von Gus sehr freuen. Aber nicht in diesem Zeitraum. Tut mir leid, wenn das mit eurer Zweiter-Honeymoon-Planung kollidiert, aber es lässt sich nicht ändern. Ich bin der Boss, ich muss da sein, wenn die Kampagnen laufen sollen. Und komm mir bitte nicht mit „er ist dein Sohn, du musst dir Zeit nehmen“ – es war euer Entschluss, nach Kanada zu gehen und ich respektiere das. Aber ich kann nicht einfach bei Fuß springen, wenn es euch mal in den Kram passt, dass ich Gus‘ Vater sein darf!“ Lindsay hörte die Wut in Brians Stimme. Das schlechte Gewissen stach sie. Er hatte ja nicht ganz unrecht. „Hör zu Brian… es tut mir leid, ich…“ „Schon gut Linds, wir können ja demnächst etwas anderes ausmachen, vielleicht um Weihnachten rum. Ich muss jetzt auflegen, da ist ein Kunde in der anderen Leitung. Bis dann.“ „Aber Brian…“ Es war zu spät, er hatte bereits aufgelegt. ………………………………………………………………………………………………………… Nach einigem hin und her einigten sich Lindsay und Melanie darauf, ihr Glück bei Lindsays Mutter zu versuchen. Diese war hellauf begeistert, ihren Enkel um sich haben zu dürfen. Sie hatte allerdings vorgehabt, in dem Zeitraum, um den es ging, Freundinnen in New York zu besuchen. Sie bot aber an, Gus mitzunehmen, um ihm die Stadt zu zeigen und ein wenig mit ihm angeben zu können, wie sie freudestrahlend betonte. Melanie konnte sich ausmalen, dass sie wohl kaum Thema in den Elegien ihrer Schwiegermutter sein würde und hoffte inständig, dass Gus sich verplapperte. Vor möglichst vielen Perlohrringen tragenden, Tee aus Porzellantassen schlürfenden alten Drachen, hoffte sie. „Ist Anfang August nicht auch Justins Ausstellung?“ fragte Melanie. Lindsay schaute in ihren Taschenkalender. „Du hast recht, am 6., hatte er geschrieben. Wir können Gus auf der Rückreise ja direkt in New York einsammeln und gehen dann gemeinsam zu Justins Eröffnung, was meinst du?“ „Finde ich gut. Ich mag den Kleinen, und ich weiß, dass du seine neusten Arbeiten sehr gerne sehen würdest. Er ist ja gewissermaßen dein Zögling, in künstlerischer Hinsicht zumindest. Den dreckigen Kram hat Brian zu verantworten. Und Gus würde sich bestimmt auch freuen, er fragt immer wieder nach seinem alten Babysitter.“ „Wenn Gus Glück hat, kann er eines Tages auch damit angeben, wer sein Babysitter gewesen ist“, grinste Lindsay. „Er kann mit dir angeben, weil du seine Mutter bist“, lächelte Melanie sie an. Lindsay schlang von hinten ihre Arme um sie und drückte die Lippen auf ihren Hals. „Und mit dir auch“, flüsterte sie in Melanies Ohr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)