Die große Leere von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 3: Im Atelier --------------------- Justin streckte sich gähnend nach hinten aus. Die Schicht im Kunstbedarfshandel war lang gewesen, er spürte die lange Steherei in den Knochen. Dennoch war er ausgesprochen zufrieden. Auf dem Anrufbeantworter war die Nachricht gewesen, auf die er so sehr gehofft hatte. Katlin’s, eine der führenden New Yorker Galerien, hatte ihm das Angebot unterbreitet, eine kleine Ausstellung seiner großformatig angelegten Werke an zusetzten. In der Feinmotorik hatte er nach der Attacke mit dem Baseballschläger noch immer Probleme, aber auf der Leinwand konnte er noch immer ausgezeichnet arbeiten. Außerdem war er ja auch kein Porträtmaler für Touristen, sondern jemand, der mit Farbe und Form eine andere Ebene anstrebte. Er konnte sich förmlich die neidvollen Blicke seiner ehemaligen Kommilitonen am PIFA vorstellen. Die drückten immer noch artig die Schulbank – und er war schon da, wo sie hin wollten. Aber man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben. Es gab immer noch viel, was schief gehen konnte. Nicht übermütig werden oder auf den eigenen Lorbeeren ausruhen, sondern immer auch den nächsten Schritt im Auge behalten, gewappnet sein, handeln… Es war zunächst ein harter Brocken gewesen, von Galerie zu Galerie zu rennen, Hände zu schütteln, sich selbst ins Gespräch zu bringen. Phasenweise hatte er sein Äußeres verflucht und darüber nach gedacht, sein Haar wieder ratzekahl kurz zu schneiden, wie er es zur Zeit getragen hatte, als er mit Cody auf seiner ganz persönlichen Rachetour gewesen war. Sobald er seine Haare etwas länger trug, hielt ihn jeder für… niedlich. Bei dem Gedanken war ihm zunächst die Galle hoch gekommen. Dann hatte er beschlossen, diesen Kontrast zwischen seinem Äußeren und der Wucht seiner Bilder zu nützen. Es erwies sich als famoser Vermarktungstrick. Zehn Arbeiten wollte Katlin’s von ihm haben – zwei lehnten bereits halbwegs fertig gegen die bröckelnde Wand seiner Bleibe. Von dem Geld, das er nach Hollywood und seinen ersten Galerie-Verkäufen in Pittsburgh angespart hatte, hatte er zumindest die ersten drei Monatsmieten der kleinen Atelierwohnung sowie eine rudimentäre Inneneinrichtung bezahlen können, doch allmählich musste wieder mehr Geld in die Kasse kommen, wenn er seine vier Wände halten und nebenher noch etwas vom Leben mitbekommen wollte. Der Lohn aus dem Kunstbedarfshandel deckte mit Ach und Krach die laufenden Kosten, aber immerhin bekam er durch den Job seine Materialien etwas günstiger. New Yorker Mieten lagen in abartigen Höhen, selbst für so eine Bruchbude wie seine. Immerhin sah es hier etwas vertrauenserweckender aus als in seiner Pittsburgher Wohnung, wenn man von den typischen New Yorker Kakerlaken mal absah, mit denen er inzwischen schon fast auf Du und Du war. Eine große Fensterfront vom Boden bis zur hohen Decke, die ihm für seine Arbeit das so wichtige Licht bot, eine kleine Kochnische mit zwei Herdplatten, einer Spüle und einem laut brummenden Kühlschrank, den er bei seinem Einzug garantiert zehnmal schaudernd mit allen zur Verfügung stehenden Putzmitteln ausgeschrubbt hatte. Nahe der Eingangstür, wo das Licht nicht mehr zum arbeiten reichte, hatte er ein schlichtes dunkelblaues Schlafsofa von Ikea aufgestellt, das für seine Bedürfnisse reichte. Neben der Küche ging ein kleines dunkles Bad ab, in dem sich eine leicht lädierte Dusche, aus der sogar manchmal halbwegs warmes Wasser kam, ein Waschbecken, die Toilette mit gesprungenem Deckel und ein Schränkchen für Waschutensilien drängten. Die Fliesen hatten auch schon bessere Zeiten gesehen, vermutlich in den 70ern, denn sie waren in einem leicht minzigem Türkiston gehalten, den man entweder für retro oder für grauenerregend halten konnte. Aber immerhin musste er die sanitären Anlagen mit niemandem teilen. Er dachte schaudernd an das Etagenklo in Pittsburgh. Den Rest der Wohnung füllten ein paar Regale und Tapeziertische, auf denen Leinwände, Farbtöpfe, Pinsel, Paletten und Lappen ein wildes Durcheinander bildeten. Nicht dass er ein besonderes Faible für Unordnung gehabt hätte – aber wenn er malte, ordneten sich die Dinge nach ihrer eigenen Logik, da war für Pedanterie kein Platz. Der Boden bestand aus einem dunkelrot-bräunlichem Linoleumüberzug, wahrscheinlich aus derselben Kulturepoche wie die Fliesen. Er war schon bei seinem Einzug total lädiert gewesen, so dass seine gelegentlichen Farbkleckser auch nicht weiter auffielen. Die Wände hatten eine nicht wirklich definierbare helle Farbe, die sich bereits in größeren Teilen gemeinsam mit dem Putz verabschiedet hatte. Insgesamt handelte es sich um ein irgendwann mehr oder eher weniger durchdacht zur Wohnung umgebautes Dachgeschoss eines älteren rot verklinkerten New Yorker Büro-Gebäudes. Die Lage war halbwegs zentral, die Nachbarschaft bestand größtenteils aus Studenten, die sich meist zu mehreren die kleinen Wohnungen teilten, um sich die Mieten leisten zu können. New York war ein Moloch, aber zumindest in dieser Straße konnte man auch bei Dunkelheit vor die Tür gehen, ohne postwendend um sein Bargeld erleichtert zu werden. An der Ecke gab es einen kleinen rund um die Uhr geöffneten Lebensmittelladen, was Justin sehr entgegen kam, da er beim Malen häufig die Zeit vergaß und dann plötzlich mitten in der Nacht von Heißhungerattacken geplagt wurde. Gähnend schlurfte er zum Kühlschrank, musterte kritisch den Inhalt und schnappte sich den Eierkarton. Ein paar Spiegeleier könnten ihm jetzt ganz gut tun, dann ein kräftiger Kaffee und dann ab an die Arbeit. Den ganzen Tag im Laden hatte er bereits gegrübelt, wie er sein nächstes Gemälde anpacken sollte. Farben und Formen nahmen langsam Gestalt an, ein komplexes Muster an Bezügen im Raum, das erst konkret werden würde, wenn er es auf die Leinwand ließ. Wenn er malte, hörte die Zeit auf zu existieren. Meist kam er erst Stunden später wieder zu sich, wenn seine Energie restlos aufgebraucht war, und war dann selbst erstaunt, dass es beinahe schon wieder Morgen war und was in der Zwischenzeit auf der Leinwand Gestalt angenommen hatte. Diese Zeitlosigkeit hatte er bisher nur bei zwei Dingen empfunden: Wenn er sich seiner Kunst widmete… und wenn er mit Brian zusammen war. Brian… Es krampfte kurz in ihm zusammen. Nein, er durfte nicht an das denken, was er zurückgelassen hatte, sonst würde er es nicht schaffen, weiter vorwärts zu gehen. Nicht auf diesem Weg. Und einen anderen hatte er, trotz allen Schmerzes, damals auch nicht erkennen können. Jetzt zurückzublicken und alle Was-wäre-wenns durch zu deklinieren, würde ihn wahrscheinlich irre machen. Und es hatte keinen Sinn, die Vergangenheit ließ sich nicht ungeschehen machen, was zählte, waren die Konsequenzen für das Hier und Jetzt. Er war gegangen, um seinen Traum, ein Künstler zu werden, zu verfolgen. Das beinhaltete nicht nur zu malen, eine Galerie zu finden, in Kunstmagazinen besprochen zu werden, auf Kunstmessen gezeigt zu werden, Interessenten zu finden – das bedeutete vor allem auch, selbständig zu sein, er selbst zu sein, so zu leben, wie er es wollte, nicht wie andere es von ihm verlangten. Er hatte hart darum gekämpft. Und er könnte dies nicht tun, wenn er den Bruch nicht vollzogen hätte. Eine Beziehung, die darauf baute, dass man sich selbst verriet um des anderen Willen – nein, das war keine Liebe. Das wäre ein Highway to Hell geworden. Irgendwann wäre der Punkt gekommen, an dem sie einander nicht mehr hätten verzeihen können, an dem aus Liebe Hass geworden wäre. Sie hatten die Wahrheit der Lüge, die Freiheit dem Zwang vorgezogen, das Ich dem Wir. Ein Wir hatte es noch nicht gegeben, ein gemeinsamer Marsch in dieselbe Richtung, der sie beide hätte erfüllen können. Dazu fehlte ihnen trotz aller Liebe die Grundlage. Er würde seine Liebe zu Brian immer mit sich tragen. Er hatte ihm, als er fast noch ein Kind gewesen war, einen Teil von sich geschenkt, den man nie wieder zurücknehmen konnte, ohne dass er damals begriffen hätte, was da geschah. Er begriff es auch heute noch nicht gänzlich, vielleicht würde er es auch nie vollständig tun. Was auch immer die Zukunft brachte, auch wenn er Brian niemals wieder sehen würde – ein Teil von Justin würde immer nur Brian gehören. Und Brian war immer bei ihm, ganz wie er es ihm in ihrer ersten Nacht vorausgesagt hatte. Manchmal, wenn er nach einer Phase stundenlanger Versunkenheit beim Malen wieder zu sich kam, konnte er fast Brians Hände fühlen, die sich von hinten auf seine Schultern legten. Er brauchte dann einige Augenblicke um zu begreifen, dass dort niemand war. Manchmal konnte er Brians Geruch in einem Luftzug wahrnehmen, als wäre er gerade vorüber gelaufen. Dann war es an der Zeit, die Augen zu schließen, sich zu besinnen und wieder nach vorne zu blicken. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)