Der unerwünschte Mieter von Pansy ================================================================================ Kapitel 12 ---------- Kapitel 12 Es will einfach nicht sechzehn Uhr werden, sodass ich meine Tasche schnappen und gehen kann. Zum Glück eilen meine Projekte nicht, da deren Abgabetermine noch ein paar Tage oder sogar einige Wochen weit in der Zukunft liegen. Es ist unrecht, an seinem Schreibtisch zu sitzen und aufgrund privater Angelegenheiten im Internet zu surfen, und dennoch kann ich nicht gegen meinen Drang ankämpfen, genau das zu machen. Ich kann nicht einfach nur dasitzen und in die Luft starren. Wenn ich mich schon absolut nicht auf Mathematikaufgaben konzentrieren kann, dann kann ich wenigstens versuchen, etwas über Joshua Lentile in Erfahrung zu bringen. Im world wide web muss es einfach etwas über ihn geben, das mir mehr über ihn verrät. Doch egal, wie oft ich seinen Namen in die Suchmaske eingebe, mehr als Treffervorschläge, die mich nicht weiterbringen, erhalte ich nicht. Auch 123people und yasni halten nichts über ihn parat, selbst wenn sie ganz oben in der Trefferliste erscheinen. Lentile ist so ziemlich in jedem Bundesland mehrere Male vertreten, was bedeutet, dass mich nicht einmal sein Nachname auf eine heiße Fährte lenkt. Ich seufze. Über Joshua ist im Internet ja noch weniger zu finden als über mich. Seufzend lehne ich mich in meinem Stuhl zurück und schaue durch die breite Fensterfront neben mir nach draußen. Die dunklen Wolken haben sich mittlerweile so weit verdichtet, dass feiner Nieselregen gen Erde fällt. Das Wetter passt wirklich hervorragend zu meiner Stimmung. „Alissa?“ Ich wende meinen Kopf Marens Stimme entgegen. Ich habe gar nicht mitbekommen, wie die Tür zu unserem Büro auf- und zuging, dabei kann man sie eigentlich nicht überhören. Das ist so eine schwere in Metall eingefasste Glastür, die früher mal ein Notausgang gewesen war und jetzt ziemlich knallt, wenn man nicht aufpasst. Und selbst wenn man versucht, sie ganz langsam und leise zu schließen, verursacht sie ein Knacken, das mich schon öfter aus meiner Konzentration gerissen hat. „Hier“, grinse ich verlegen, denn an Marens tadelndem Blick erkenne ich, dass sie genau weiß, dass ich mit meinen Gedanken schon wieder ganz woanders gewesen bin. Vorhin beim Mittagessen hat sie mir das auch vorgehalten, weshalb sie jetzt auf eine Standpauke verzichtet und mich lediglich vorwurfsvoll ansieht. „Das Wetter, du weißt doch“, versuche ich mich an einer lahmen Ausrede. Maren schaut sich im Büro um und zuckt dann mit den Schultern. „Hier ist nicht der richtige Ort, um zu fragen, was los ist. Manchmal ist es echt schade, dass wir keine Einzelbüros haben“, flüstert sie. „Aber weshalb ich eigentlich hier bin“, fährt sie lauter fort und streicht sich eine Strähne ihres blonden Haares zurück. „Du hast doch schon mal diese Auskopplung der neuen Aufgaben für das Lehrerabonnement gemacht. Was muss ich da noch mal gleich alles berücksichtigen? Bekomme ich den Innentitel und das Copyright dazu automatisch oder muss ich es in Auftrag geben? Bleibt das Layout der Aufgaben erhalten oder ändert sich was in der Kopf- und Fußzeile? Wo stand das aktuelle Jahr noch mal?“ Nun bin ich diejenige, die sich im Raum umsieht. Eine Kollegin sitzt hinten in der Ecke, zwei weitere Kollegen hinter einer kurzen Schrankwand. „Wir sollten in einen Besprechnungsraum gehen, dann können wir das in Ruhe durchsprechen.“ Doch kaum haben wir den kleinen Gruppenraum betreten, der extra für solche Gespräche erst ein paar Monate zuvor angemietet worden ist, sind Marens Fragen vergessen. „Jetzt rück schon endlich damit raus, was los ist“, platzt es aus ihr heraus und sie sieht mich fordernd an. „Und kommt mir ja nicht wieder mit dem Wetter, dafür kenne ich dich mittlerweile zu gut. Setz dich hin“, weist sie mit ihrem rechten Zeigefinger auf einen Stuhl, „und beichte.“ Prompt wandert ein Lächeln auf meine Lippen, denn mich rührt es, dass mein Zustand ihr keine Ruhe lässt. „Schon gut.“ Ich hebe abwehrend beide Hände und setze mich auf den kleinen Tisch, der zwischen jeweils zwei Stühlen zu beiden Seiten steht. „Du hast mich durchschaut.“ „Du kommst heute nicht eher nach Hause, bis ich die ganze Geschichte weiß, die dich so bedrückt. Am Freitag warst du schon so seltsam und wenn du geglaubt hast, dass ich das nicht gemerkt hätte, dann kennst du mein feines Gespür für heikle Angelegenheiten noch nicht. Also, fang am besten ganz von vorne an und lass keine Einzelheiten aus.“ Mein Blick schweift auf meine Hände, die in meinem Schoß liegen, und ich spiele mit meiner Zunge, die ich immer wieder an der Innenseite meiner Vorderzähne entlangfahren lasse. Wenn ich Maren jetzt alles erzähle, dann weiß noch ein Mensch mehr, wie leichtsinnig ich war, Herrn Hilkers meine Zustimmung zu geben und einen mir völlig fremden Mann bei mir wohnen zu lassen. Wenn ich ihr dann noch sage, dass ich mich auch noch in ihn verguckt habe, dann hält sie mich für verrückt. „Komm schon, Alissa, ich bin die Verschwiegenheit in Person und obendrein eine gute Analytikerin. Gib dir einen Ruck, du wirst es nicht bereuen.“ „Also gut“, seufze ich. „Aber mach mich am Ende nicht verantwortlich dafür, wenn du nur noch kopfschüttelnd dastehst, okay?“ Sie hält zwei überkreuzte Finger hoch. „Ehrenwort.“ In den nächsten fünfzehn Minuten fasse ich zusammen, was in den letzten vier Tagen vorgefallen ist. Dabei lasse ich tatsächlich kaum Details aus, obwohl es mir schwer fällt, alles so ausführlich wie möglich zu beschreiben, ohne sagen zu müssen, dass er mir in der kurzen Zeit derart ans Herz gewachsen ist. Leider zieht sie diese Schlussfolgerung von ganz allein. „Ich würde sagen, du hast ein Problem.“ Ach, was für eine Analyse, da wäre ich nicht von selbst drauf gekommen. „Jetzt schau mich mal nicht so herablassend an, mir ist doch klar, dass dir das bewusst ist.“ Maren kommt auf mich zu und drückt kurz meine Hand. „Aber ich verstehe gar nicht, warum du dir solche Sorgen machst. Wenn man auf der Welt gar niemandem mehr vertraut, dann braucht man auch keinen Fuß mehr vor die Tür zu setzen. Und wenn einer hier gerne mit anderen Leuten spricht, dann du. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass dein Vermieter dich ausgewählt hat. Allerdings hätte er ruhig den Mumm aufbringen können, dich direkt um Hilfe zu bitten, anstatt eine solche – entschuldige meine Wortwahl – bescheuerte Aktion zu bringen. Aber lassen wir das mal beiseite. Viel wichtiger ist jetzt, was wir mit Joshua machen.“ Unstet setzt sie einen Fuß vor den anderen und reibt sich das Kinn. Was wir mit Joshua machen? Ich bin ihr wirklich dankbar, dass sie nicht kopfschüttelnd den Raum verlässt und mich für total naiv hält, denn im Gegensatz zu Jessi weiß sie kaum etwas über mein früheres Leben und könnte daher problemlos meine Beweggründe als nicht driftig genug ansehen, um ein solches Risiko einzugehen, einen Fremden in meiner Wohnung hausen zu lassen. Aber sie trägt weder Anmaßung in ihrer Stimme noch Verurteilung in ihrer Mimik. „Du sagtest, dass er seit gestern Morgen verschwunden ist. Aber nach dem zu urteilen, was du über ihn erzählt hast, dann wird er zurückkommen. Daran besteht kein Zweifel.“ Neugierig horche ich auf. „Wenn deine Beschreibung der Szene vor der Küche nicht zu subjektiv war, dann mag er dich.“ „Echt?“, frage ich, ohne es zu merken. „Das ist doch sonnenklar.“ Findet sie? Bisher habe ich mich meistens in den Männern getäuscht, darum glaube ich so was nur noch, wenn es mir konkret gezeigt wird. Und was ist daran bitte konkret, wenn sich jemand vor dich stellt und eine Berührung über sich ergehen lässt? Das kann er auch rein als Trost für den Ärger am Telefon angesehen haben. Das muss überhaupt nichts mit mir als Person zu tun haben. „Wenn es anders wäre, hätte er kein 'es tut mir leid' von sich gegeben, ehe er gegangen ist.“ „Man entschuldigt sich öfter mal, ohne den anderen zu mögen.“ „Tief in dir drin weißt du, dass ich recht habe. Und egal, wie sehr du dich dagegen sträubst, du kannst es nicht leugnen.“ Ich stehe auf und stelle mich ans Fenster, schaue auf die Regentropfen, die sich an der Scheibe sammeln. Es stimmt schon, ich hatte das Gefühl, dass er mir in diesem Moment nicht abgeneigt war, aber wenn ich zulasse, das felsenfest zu glauben, dann verrenne ich mich noch mehr. Wie kann ich wieder Abstand nehmen, wenn ich der festen Überzeugung bin, dass meine Gefühle auf Gegenseitigkeit beruhen? Falls dies dann nämlich nicht der Fall ist, ist der Schmerz am Ende noch schlimmer. Bei meiner Variante könnte ich mir immerhin noch einreden, dass es einfach eine dumme Schwärmerei meinerseits gewesen ist. „Weißt du, was das Schlimmste ist?“ Ich drehe mich wieder zu Maren um und schaue sie gepeinigt an. „Ich komme mir wie ein Teenager vor, der sich den ersten Kuss ersehnt. Dabei bin ich achtundzwanzig und auch nicht ungeküsst.“ „Das macht die Liebe nun mal aus einem und ist damit völlig normal.“ Sie hat gut Reden, ihr passiert das bestimmt nicht mehr, dazu ist sie schon zu lange mit ihrem Freund zusammen. Als ob sie meine Gedanken errät, lächelt sie ein wenig verlegen und meint: „Du hast ja keine Ahnung, wie dümmlich ich grinsen kann, wenn Lars mit einem Strauß Blumen heimkommt, oder wie aufgeregt ich bin, wenn er mir sachte über den Rücken streicht. Manchmal erwische ich mich sogar noch dabei, dass ich ihn nachts anstarre und befürchte, jeden Moment aus meinem schönsten Traum aufzuwachen. Wenn man verliebt ist, tut man zudem die skurrilsten Dinge. Oder würdest du sonst wie verrückt durch den Wald rennen und schreien, dass du deinen Freund gerne küssen würdest?“ Ich sehe Maren stirnrunzelnd an. Bei ihr kann ich mir echt nicht vorstellen, dass sie mal aus dem Rahmen fällt und dazu auch noch in der Gegend herumschreit. „Das war erst letztes Jahr“, fügt sie beschämt an. „Er war eine Woche geschäftlich weg und am vierten Tag drehte ich durch, rief ihn ständig an. Irgendwann hielt ich es nicht mehr allein in unserer Wohnung aus und … äh, den Rest kennst du ja jetzt.“ „Du hattest dich doch nicht etwa betrunken, weil er ein paar Tage weg war?“, frage ich skeptisch. „Ganz im Gegenteil, ich war vollkommen nüchtern.“ „Okaaaaay.“ Ich ziehe das Wort absichtlich in die Länge, weil ich immer noch nicht recht glauben kann, dass sie von sich redet. „Na, jetzt ein wenig beruhigt?“, fragt sie und stellt sich neben mich. „Und wie“, grinse ich und schüttle den Kopf. „Das hätte ich von dir wirklich nicht erwartet.“ „Da siehst du mal, wie kindisch und unreif man werden kann, wenn die Liebe mit einem durchgeht. Dabei ist es völlig belanglos, wie alt man ist. Sobald Gefühle im Spiel sind, ist das Erwachsensein vergessen. Aber sei doch mal ehrlich zu dir selbst. Willst du dich zu den Menschen zählen, die nie aus sich heraus können und immer nur gefasst und gleichmütig durchs Leben gehen?“ Ich brauche nicht mal überlegen, um zu verneinen. „Dann doch lieber ein bisschen spinnen.“ „Eben, also vergiss mal deine Sorgen, dass du Joshua bei dir aufgenommen hast. Was andere darüber denken, kann dir völlig egal sein. Jessi weiß Bescheid und kann im Notfalle einschreiten, das reicht. Naja und jetzt ich.“ „Danke“, erwidere ich ernst. „Keine Ursache, dafür sind Freunde doch da. Und ehe wir hier sentimental werden, müssen wir uns überlegen, wie wir die Wahrheit aus Joshua quetschen können, wenn er zurück ist. Denn ich bin ganz deiner Meinung, dass diese Arroganz nicht sein wahrer Wesenszug ist. Da ist was faul, das rieche ich.“ Maren und ich haben uns viel zu lange unterhalten, weshalb ich jetzt erst nach Hause fahre, die Uhr in meinem Auto zeigt 17:05 Uhr. Schließlich hatte mich das schlechte Gewissen geplagt, sodass ich mich nach dem Gespräch dazu gezwungen habe, alle trüben Gedanken beiseitezuschieben und endlich was zu arbeiten. Die Fahrt dauert wie immer keine fünf Minuten und ich stelle meinen Polo um neun nach fünf in der Garage ab. Wenn das Wetter gut ist, fahre ich mit dem Rad zur Arbeit oder ich laufe, aber heute Morgen habe ich dann doch das Auto vorgezogen. Und so wie es jetzt schüttet, ist das eindeutig die richtige Entscheidung gewesen. Ich haste die dreißig Meter um das Haus herum, hole schnell die Post aus dem Briefkasten und betrete dann leicht geduscht den Hausflur. Dass es hier aber auch immer wie aus Eimern gießen muss, das kenne ich von Zuhause nicht. Solange ich bei meinen Eltern gewohnt habe, hat es nur ganz selten so heftig geregnet, aber hier in Fenden scheint das Dauerzustand zu sein. Schon zweimal bin ich deshalb völlig durchnässt auf Arbeit angekommen und musste allen Ernstes noch mal zurücklaufen, um mich umzuziehen und dann letztendlich das Auto zu nehmen und zurückzufahren. Seitdem fahre ich, wenn Regen vorhergesagt ist, immer gleich anstatt es zu Fuß zu versuchen. Ehe ich meine Wohnungstür öffne, lege ich mein Ohr an sie und horche. Nichts. Mit seichter Melancholie im Herzen drehe ich den Schlüssel und schiebe das helle Holz auf. Wie ich mir gedacht habe, stehen Joshuas Schuhe nicht im Flur. Er ist also nicht wieder zurückgekommen. Ich stelle meine Tasche ab und schlüpfe in meine Hausschuhe, dabei streift mein Blick mein Ebenbild, sehe die traurigen Züge, die es prägt. Trotz des erbaulichen Gespräches mit Maren bin ich enttäuscht, dass Joshua nicht hier ist. Um mich der feuchten Kleidung zu entledigen – ich hatte mal wieder keine Regenjacke dabei –, gehe ich erst mal ins Bad, tausche meine an den Knöcheln völlig nasse Jeans gegen eine bequeme Jogginghose. „Lass dich nicht stören“, ertönt es hinter mir, als ich gerade im Begriff bin, meinen Pullover auszuziehen. Hastig streife ich ihn wieder über meinen schwarzen BH und fahre herum. „Dass du immer das Talent haben musst, einen so zu erschrecken!“ Ist doch wahr! Muss der sich immer so anschleichen? Was macht er überhaupt hier? Und was fällt ihm eigentlich ein, ins Bad zu kommen, wenn ich mich gerade umziehe? „Hast du noch nie was von anklopfen gehört?“ Doch ich muss nur in seine tiefgrünen Augen blicken, um meinen Ärger zu vergessen. Kaum sehe ich ihn an, schon befällt mich wieder das Verlangen, ihn anzufallen und zu küssen. Schnell rufe ich mir ins Gedächtnis, was ich vorhin mit Maren besprochen habe. Ruhe bewahren und abwarten, was er tut. Leichter gesagt als getan, wenn er so lässig im Türrahmen steht und mich mal wieder nicht aus den Augen lässt. „Die Tür stand sperrangelweit offen“, meint er gleichmütig. „Konnte ja auch keiner ahnen, dass du hier bist. Und sich dann einfach anzuschleichen, ist nicht die feine englische Art.“ Froh über seine Anwesenheit zu sein, heißt noch lange nicht zu dulden, dass er mich hier einfach überfallen kann. Ich darf gar nicht dran denken, dass er mich eben von der Seite nur in BH gesehen hat, sonst steigt mir noch mehr Röte ins Gesicht als jetzt schon. Außerdem ist mir das peinlich. „Ziehst du dich immer vor anderen einfach aus?“ Ein süffisantes Grinsen schleicht sich in seine Mundwinkel und er lehnt sich mit dem rechten Unterarm an den Türrahmen, bettet seinen Kopf in seine rechte Hand. „Wenn ich das vor vier Tagen schon gewusst hätte, hätte ich meine Sachen nicht so offensichtlich im Flur stehen lassen.“ Dem geht’s wohl zu gut! Verschwindet für mehr als einen Tag und hat jetzt schon wieder die große Klappe. Vehement lasse ich das Gespräch mit Maren in meinem Kopf ablaufen und suche meine innere Mitte. Ich darf nicht auf seine Sprüche reagieren, sondern muss sachlich und emotionslos bleiben, dann wird er seine wahre Seite an sich zeigen und ich finde endlich heraus, wer er wirklich ist. Auf Arbeit klang der Plan ja noch richtig gut, aber wie soll man sachlich bleiben, wenn er einen auf diese Weise ansieht? „Nur wenn mir danach ist“, erwidere ich nach einer geschlagenen Minute. So lange habe ich gebraucht, Ruhe in mich zu bringen. „Um deine fehlende Schlagfertigkeit zu vertuschen, gehst du also ganz schön ran. Erst verlangst du einen Kuss und jetzt lässt du vor mir die Hüllen fallen. Was kommt als nächstes?“ Seine Anspielung mühsam ignorierend schiebe ich ihn zur Seite und schlüpfe aus dem Badezimmer. Soll er doch gegen eine Wand reden, die antwortet ihm vielleicht eher als ich. Kaum ist er wieder hier, spielen die Gefühle in mir verrückt. Fraglich, wie lange ich es aushalte, nicht mit tausend Fragen auf ihn einzustürmen, bis er mir endlich erzählt, wo er gewesen ist und was ihn gestern so bedrückt hat. Doch ich gebe Maren recht, dass er mir es auf diese Weise nicht sagen würde. Vielmehr würde er allen Fragen mit noch mehr Arroganz und Blasiertheit begegnen. Vor irgendetwas versteckt er sich und wenn ich wissen möchte, was das ist, muss ich cool bleiben. Milly und völlig tiefenenstpannt! Jessi würde mich jetzt mit Sicherheit auslachen. Ich beiße mir auf die Lippe und rücke eine Postkarte auf der Magnettafel zurecht. Wäre toll, wenn sie hier wäre, sie wüsste bestimmt, was zu tun ist. Als angehende Anwältin wäre es für sie ein Kinderspiel, ihm die Informationen zu entlocken, die sie haben möchte. Das ist leider etwas, das ich noch nie richtig beherrscht habe. „Heute bist du aber spät dran“, haucht Joshua mir plötzlich ins Ohr und ich mache einen Satz nach vorne. Wann hat der sich denn bitteschön angeschlichen? Argh und schon durchflutet mich wieder dieses Kribbeln. Der macht es mir aber auch nicht leicht, seelenruhig und zurückhaltend zu bleiben. „Wenn du mal arbeiten würdest, wüsstest du, wie das ist“, entgegne ich lapidar und versuche, möglichst gleichgültig zu klingen. Man, fällt mir das schwer. Joshua ist auch heute wieder bis ins kleinste Detail gestylt und ihn umwirbt eine Aura, die ich gerne berühren würde. Das tiefe Grün ist so von Glanz überzogen, dass seine Augen funkelnden Sternen gleichen. Ja, das hört sich kitschig an, aber ich finde einfach keinen besseren Vergleich. Ich muss mich regelrecht ermahnen, ihn nicht mehr direkt anzusehen. „Ich weiß immer noch nicht, was dich denken lässt, dass ich nicht arbeite. Aber mir soll’s recht sein.“ Er läuft ein paar Schritte weiter, nimmt einen kleinen Notizblock vom Esstisch und schmeißt ihn mir zu. Reflexartig fange ich ihn auf und schaue stirnrunzelnd auf die wenigen zusammenhangslosen Worte, die auf der obersten Seite stehen. Rückruf nach 20 morgen „Was soll ich damit?“, frage ich, nachdem Joshua nicht von selbst erzählt, was das zu bedeuten hat. Dieses Grinsen in seinem Gesicht lässt meine Nackenhärchen zu Berge stehen. Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, dass ich hören möchte, wen ich zurückrufen soll. „Deine Mama lässt dich grüßen“, ist alles, was er sagt, denn er ist sich dessen bewusst, dass ich mir den Rest zusammenreimen kann. Er hat doch nicht einfach abgehoben? Sag mir, dass du das nicht getan hast! Auf dem Telefondisplay hat in Großbuchstaben MAMA PAPA gestanden, das kann er nicht übersehen haben. Wo ist die innere Mitte noch mal??? Ist es hier drin so heiß oder liegt das rein an mir? Zwar bin ich erwachsen und stehe schon länger auf eigenen Füßen, aber im Regelfall erzähle ich meiner Mama so ziemlich alles, was hier um mich herum passiert. Und dennoch ist mir in den letzten Tagen nicht mal der kleinste Gedanke gekommen, sie über meinen unerwünschten Mitbewohner in Kenntnis zu setzen. Allerdings auch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass sie mir ohnehin nur eine Predigt gehalten hätte, die sich gewaschen hätte. Wahrscheinlich hätte sie mir nicht mal bis zum Ende zugehört, sondern wäre sofort einer Litanei aus Vorwürfen verfallen. Die innere Mitte ist dort, wo ich mich vollkommen entspannt fühle. Wo mir nichts anhaben kann. Wo ich nichts tue, was ich später bereue. Keine Chance. Vermutlich existiert sie in mir gar nicht. „Du willst mit allen Mitteln erreichen, dass ich dich verabscheue.“ Mit verengten Augen und erbostem Blick nähere ich mich ihm. „Denkst du etwa, ich durchschaue dich nicht? Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Ich weiß, dass du dich hinter einer Maske versteckst, da kannst so impertinent sein wie du willst. Jetzt rück schon damit raus, was das Ganze hier soll! Welches Spiel spielst du, Joshua? Und was hat dich gestern so aus der Bahn geworfen, dass du einfach davon gestürmt bist? Dieses Knistern zwischen uns musst du doch auch gespürt haben, sonst hättest du nicht dieses es tut mir leid gemurmelt. Also? Ich höre!“ Okay, das war jetzt das exakte Gegenteil von dem, zu was Maren mir geraten hat. Aber meine leicht impulsive Art kennt einfach keine stoische Ruhe, geschweige denn tiefenentspannte Gelassenheit. „Ich bekam einen Anruf, musste weg und jetzt bin ich hier. Ende der Geschichte“, meint Joshua vollkommen abgestumpft. Schön, dass er gelassen bleiben kann. Würde mich nicht wundern, wenn ich gerade die Augen verdrehe. „Das kannst du deiner Großmutter erzählen, aber nicht mir. Gut, du willst es nicht anders.“ Ich stämme beide Hände in die Hüften und funkele ihn an. „Dann wünsche ich es mir eben.“ „Was wünschst du dir?“, fragte er vorsichtig an und kommt mir ein Stück näher. „Ich wünsche mir, dass du mir sagst, was du hier abziehst, wer du wirklich bist und weshalb du gestern so aufgebracht warst und deprimiert abgezischt bist.“ „Das sind aber drei Wünsche.“ „Nein, das ist mein zweiter Wunsch, mit allem, was dazu gehört.“ Jetzt steht er direkt vor mir und beugt sich ein wenig zu mir herunter. „Das kannst du nicht.“ „Und ob ich das kann“, entgegne ich mit Inbrunst der Überzeugung. „Nein, kannst du nicht.“ „Muss ich allen Ernstes das Wort Ehrenschulden in den Mund nehmen?“ Abwartend ziehe ich meine Brauen nach oben und sehe Joshua fest an. „Das gilt nicht als Wunsch.“ „Und ob es das tut.“ „Tut es nicht.“ „Tut es doch.“ „Nein, tut es nicht.“ „Dieses Spiel können wir meinetwegen ewig spielen, aber am Ende sagst du es mir doch!“ „Nein, sage ich nicht, da es nichts zu sagen gibt.“ „Wer’s glaubt, wird selig, also raus mit der Sprache.“ „Ich bekam einen Anruf und musste weg. Hatten wir das nicht schon?“ „Das zählt nicht.“ Denkt der, ich lasse mich hier in die Irre führen? „Doch, das zählt, da es die Wahrheit ist.“ „Mag ja sein, aber nicht die Ganze, und ich habe mir die ganze, nichts als die nackte Wahrheit gewünscht.“ „Lass es endlich gut sein.“ Bisweilen funkelt er mich an und von seiner Gelassenheit ist kaum noch etwas zu spüren. „Nein, lasse ich nicht. Du hast mich hier einfach stehen lassen und bist mir nun eine Erklärung schuldig. Außerdem bist du derjenige, der nicht mit offen Karten spielt, und damit ist jetzt Schluss! Ich lasse mich nicht länger an der Nase herumführen!“ Jetzt komme ich erst richtig in Rage. Der soll mich mal erleben, wenn ich ihren Höhepunkt erreiche! „Jetzt hör endlich damit auf, ich habe dir alles gesagt, was es zu sagen gibt.“ „Warum stehst du dann noch hier herum und versuchst mit aller Kraft, deine Beherrschung zu wahren? Ha! Meinst du, ich sehe nicht, wie du dich hier abquälst?“ „Milly!“, zischt er und packt mich mit beiden Händen. „Nun ist es gut, ja?“ Ich schaue erst auf seine Linke, dann auf seine Rechte, die meine Oberarme fest umklammert halten. „Soll mich das etwa einschüchtern?“ „Du willst es anscheinend nicht anders“, presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und schiebt mich gegen die nächste Wand. Da ich ihm kräftemäßig unterlegen bin, spüre ich alsbald die Kälte der verputzten Steine im Rücken. „Hör mir gut zu, Milly. Frag mich nie wieder nach etwas, das dich nichts angeht. Wünsch dir meinetwegen, was du willst, aber nichts, was mit mir als Person zu tun hat.“ Er bringt seine Augen direkt vor meine. „Hast du das kapiert?“ „Was war gestern mit dir los? Was verheimlichst du?“, wiederhole ich langsam und nachdrücklich, als ob ich ihn eben nicht verstanden hätte. „Du weißt nicht, wann es genug ist, oder?“ „Du doch auch nicht“, gebe ich ihm die Retourkutsche. Der Druck seiner Hände wird stärker, was mich veranlasst, meine Gesichtszüge weicher werden zu lassen und ihn flehend anzusehen. „Bitte, Joshua, sag es mir.“ Ich muss es einfach wissen. Und als ob ich damit irgendeinen Schalter in ihm umgelegt hätte, lässt er mich auf einmal los und schließt die Augen. Gerade als ich denke, dass wir das gestern doch schon mal hatten, wandern seine Hände plötzlich über meine Arme hinweg nach oben zu meinem Gesicht und legen sich besitzergreifend in meinen Nacken. Noch im selben Moment zieht er mich an sich und drückt mich gegen seine Brust. Als ich meine Nase zwischen dem Stoff seines jadegrünen Hemds wiederfinde und seinen ganz eigenen Joshua-Duft einatme, wird mir ganz schwindelig. Auch alle anderen Sinne registrieren nach und nach, wo ich mich gerade befinde. Seine Unterarme pressen gegen meine obere Rückenpartie, seine Hände spielen mit meinem Haar und wie ich gerade erst feststelle, haben sich meine eigenen Hände in der Baumwolle vor seinem Bauch verkrallt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)