Der unerwünschte Mieter von Pansy ================================================================================ Kapitel 9 --------- Kapitel 9 Sehnsüchtig schaue ich auf den Airbus A340 der Lufthansa, der eben direkt vor mir von der Startbahn abgehoben hat und zunehmend an Höhe gewinnt. Mit in Hosentaschen vergrabenen Händen stehe ich da und wünsche mich weit fort. Am liebsten würde ich dem Flugzeug nachlaufen, mich an es ranhängen, mit ihm zusammen durch die Lüfte schweben und in fremde Welten reisen. Mit leerem Blick starre ich dem Flugzeug nach, bis es nur noch ein dunkler Punkt am Himmel ist. Ein sachtes Orangerot mischt sich nach und nach in den Abendhimmel und taucht die weiteren Flugzeuge, die unter lautem Dröhnen starten, in ein warmes Licht. Ich bin gerne hier. Der Kiesweg am südlichen Gatter entlang ist selten belebt, weil hier zum einen keine Autos fahren dürfen und weil zum anderen die Besucherhügel auf der anderen Seite des Flughafens liegen. Das ist genau der richtige Ort, um nachzudenken und allein zu sein und dennoch in gewisser Weise viele Menschen um sich zu haben, die voller Erwartung, Erregung und Freude sind. Kaum dass ich mein Auto in der Garage abgestellt und das Tor geschlossen habe, bin ich ziellos losgelaufen. Doch schon nach wenigen Metern habe ich gewusst, wohin mich meine Füße führen. Den Weg hierher kennen sie bereits im Schlaf, so viele Male bin ich ihn in den letzten zwei Jahren abgelaufen. Zu sehen, wie die Flugzeuge die Schwerkraft überwinden und Unmögliches doch möglich machen, hat eine beruhigende Wirkung auf mich, weil es ein Zeichen dafür ist, dass man mehr erreichen kann, als der Schein vermuten lässt. Unter Azur schweben sie wie kleine Punkte, erheben sich vor mir in die Lüfte, in die Welt, um die Erde. Von lauten Wellen umgeben, von einer sanften Brise getrieben folge ich ihnen in meinen tiefsten Gedanken. Tief in mir schwebe ich mit und fliege ebenfalls davon, blicke auf die unendliche, sattgrüne Weite unter mir. Gefolgt von meinem eigenen dunklen Schatten ziehe ich meine metaphorischen Bahnen der Unvernunft. So mir nichts dir nichts allem entrinnen, alles zurücklassen, verbannen, frei und unbeschwert im sachten Hauch des Himmels. Vergessen und verloren, vertrieben sind Als mich was Feuchtes am Arm touchiert, schrecke ich auf und muss mich erst einmal orientieren. Treuherzige braunschwarze Augen schauen mich erwartungsvoll an. „Ja, wer bist du denn?“ Ein Vierbeiner mit längerem dunkelbraunem Fell, durchmischt mit einzelnen schwarzen Strähnen schleicht um mich herum und hechelt mit herausgestreckter rosafarbener Zunge. Wenn ich die einzelnen Hunderassen alle kennen und obendrein unterscheiden könnte, könnte ich jetzt sagen, welche vor mir steht. Ganz vorsichtig strecke ich eine Hand aus und lasse ihn schnuppern. „Er tut Ihnen nichts“, ertönt eine tiefe Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und erblicke einen älteren Mann mit einer schwarzen Leine in der Hand und einem grauen Hut auf dem Kopf. „Bisher scheint er wirklich ganz lieb zu sein“, erwidere ich mit einem freundlichen Lächeln. „Ist er auch“, bestätigt er mit einem bekräftigenden Nicken und läuft gemächlich an mir vorüber. Da ich grundsätzlich viel Respekt vor Hunden habe, streichle ich das Tier vor mir nur ganz kurz an seinem Kopf und gehe dann ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung. „Schönen Abend“, wünsche ich den beiden noch, nehme das Nicken des Mannes zur Kenntnis, ehe ich mich gänzlich von ihnen abwende. Irgendwie ärgere ich mich gerade ein bisschen. Seit Monaten versuche ich, meine Schreibblocke zu überwinden, und jetzt, wo mir ein paar Zeilen durch den Kopf rauschen, habe ich kein Papier zur Hand. Und zu allem Überfluss weiß ich ganz genau, dass ich sie sowieso nicht mehr rezitieren kann, sobald ich daheim bin. Daheim, bei Joshua. Bestimmt hat er sich dort schon wieder eingenistet und fühlt sich zwischen meinen Sachen pudelwohl, wenn man mal von meinen Puzzles absieht, über die er sich ja ausreichend mokiert hat. Mit einer flinken Hundertachtziggraddrehung schaue ich noch mal zu den beiden und laufe derweil rückwärts weiter. Ein Pudel war es nicht, so viel kann ich sagen. War es ein Labrador? Nein, die haben ein kurzes Fell, denke ich. Schulterzuckend drehe ich mich erneut um Hundertachtziggrad. Ich werde mir nie merken können, was die typischen Merkmale einer Hunderasse sind. Es war das erste Mal, dass ich jemanden einfach stehen gelassen habe. Normalerweise müsste mich jetzt ein schlechtes Gewissen plagen und mich von innen heraus auffressen, doch ich verspüre nicht mal den kleinsten Hauch davon. Joshua hat andere Menschen in unsere Differenzen hineingezogen und das ist nicht in Ordnung. Und wer eben mal einen Hunderteuroschein aus der Tasche zückt, hat auch das Geld, sich ein Taxi zurück nach Fenden zu nehmen. Jetzt muss ich mir nur noch darüber im Klaren werden, ob ich einfach aufgeben möchte. Ob ich Herrn Hilkers und vor allem mich selbst enttäuschen möchte, indem ich Joshua heute noch vor die Tür setze. Meine Augen schweifen durch den strombetriebenen Zaun hindurch über eine Boing 737. So mir nichts dir nichts allem entrinnen, alles zurücklassen, verbannen, frei und unbeschwert im sachten Hauch des Himmels. Vergessen und verloren, vertrieben sind Menschsein und Physis. Hüllenlos in unbekannte Sphären dringen, alles niederzwingen, was der reinen Seele entgegenwirkt, sie verdirbt. Eilig öffne ich meine Handtasche, die diagonal über meine Schultern hängt und krame nach einem Stift. Als meine Finger tatsächlich kühles Metall umschließen, schleicht sich ein erlöstes Lächeln auf meine Lippen. Auch auf den Rückseiten von Kassenzetteln kann man gut schreiben und davon habe ich immerhin genug in meinem Geldbeutel, nicht zuletzt den riesigen Bon, den mir Joshua ja vorhin dankenswerterweise vermacht hat. Ich setze mich auf die von der Abendsonne gewärmten Kieselsteinchen und halte das kleine Gedicht fest, das meine Gedanken gefangen nimmt. Wie von selbst wiederholen sich die Worte in mir immer und immer wieder. Ich hatte fast vergessen, wie es ist, wenn die Worte in mir sprudeln und sich wie von selbst aneinanderreihen. Wow, und wie ich das vermisst habe! Mit lauter kleinen Glücksgefühlen in mir stehe ich wieder auf. Ich brauche nicht auf die Uhr zu sehen, um zu wissen, dass es langsam Zeit wird, nach Hause zu gehen. Bisweilen hat die Dämmerung vollends eingesetzt und zieht bereits lange Schatten. Die Bäume zu meiner Rechten ragen wie bedrohliche Riesen in die Höhe und bergen Schwärze und Unbekanntes. Oh ich bin ein totaler Verfechter von Horrorfilmen und Psychothrillern, aber wenn ich allein unterwegs bin, ziehe ich es dann doch vor, von unbesiedeltem Terrain zu hell beleuchteten und belebten Straßen zu eilen. Als ich zwanzig Minuten später das Ortsschild erreiche und unter den Lichtschein der ersten Laterne trete, fühle ich mich bedeutend wohler. Dennoch blicke ich sehnsuchtsvoll zurück. Ich streife gerne nachts durch dunkle Straßen und über Feldwege, sie strahlen dann so viel geheimnisvolle Mystik aus, aber währenddessen befinde ich mich dann doch gerne lieber in Gesellschaft. Kurz vor der nächsten Straßenecke kommt mir ein kleiner Chihuahua – mit die einzige Sorte Hund, die auch ich auf einen Blick erkenne – entgegengelaufen. Er schnüffelt mich an und zieht einen weiten Kreis um mich, dann fügt er sogar noch einen zweiten an. So langsam fühle ich mich wie ein Hundemagnet, aber ich knie mich nieder und tätschel den kleinen Kopf. Dabei muss ich aufpassen, keine nasse Zunge ins Gesicht zu kriegen, weil der Kleine einfach seine Vorderpfoten auf mein Bein stellt und sich nach vorne reckt. „Wenn Sie jetzt noch ein Leckerli zücken würden, würde er Sie nie wieder gehen lassen.“ Eine junge Frau in figurbetonter Jogginghose und Tanktop, mit einem langen Pferdeschwanz und einem hübschen Gesicht lehnt sich an den Eisenzaun neben mir. Nach den kleinen Schweißperlen auf ihrer Stirn und dem Pulsuhr an ihrem Arm zu schließen, ist sie bis eben gejoggt. „Nur gut, dass ich keine dabei habe“, grinse ich und fahre dem Chihuahua erneut über den Kopf. Diese kleinen Geschöpfe sind einfach zu niedlich, als dass man ihnen widerstehen könnte. „Ich möchte Sie nicht aufhalten“, füge ich entschuldigend an und weise auf ihre Montur. „Schon gut, ich bin es von Kell schon gewohnt, dass er mit jedem flirtet, der um die Ecke kommt.“ Trotzdem pfeift sie einmal kurz durch ihre Zähne und läuft los. Kell schaut abwägend zwischen ihr und mir hin und her und entscheidet sich letztendlich für sein Frauchen. Wenn ich die Lebensmittel vorhin nicht einfach im Auto gelassen hätte, würde ich jetzt noch eine Runde hier im Dorf drehen. Die Luft ist noch erstaunlich mild und es ist einfach herrlich, draußen zu sein. Doch die Vernunft siegt, wie man so schön sagt. „Stopp! Draußen bleiben! Bewege dich keinen Zentimeter!“ Ein hektischer Joshua in meiner gelben Schürze mit den braunen Bärchen kommt mir entgegengeeilt und lässt mich ziemlich dumm aussehen, so wie ich ihn völlig konsterniert anstarre mit einem Bein in der Luft, dessen Fuß fast die weiße Fliese des Flurs meiner Wohnung berührt. „Ich habe gerade gewischt und deine Schuhe sind bestimmt dreckig. Zieh sie vor der Tür aus, dann darfst du eintreten.“ Gewischt? Ungläubig sehe ich ihn an und weiß gar nicht, wie mir geschieht, als er sich bückt und die Schlaufen von meinen Schuhen öffnet. „Das kann ich allein“, beschwere ich mich, lasse ihn aber ungehindert die Schuhe von meinen Füßen ziehen. „Komm schon rein, sonst habe ich umsonst gelüftet. Hier draußen riecht es schon wieder nach Zigarren und den Gestank willst auch du sicher nicht hier drin haben.“ Bin ich im falschen Film? Unsicher schaue ich hin und her und lege meine Stirn in Falten. „Joshua? Was ist hier los?“ „Das Essen ist gleich fertig, setz dich doch schon mal, dann erkläre ich dir alles.“ „Wovon hast du bitte gekocht?“ Die Lebensmittel wollte ich doch gerade aus dem Kofferraum holen. „Garagenschlüssel“, hält er eine Handfläche nach oben, „Ersatzschlüssel von deinem Auto“, hält er die andere Handfläche nach oben, „macht zusammen?“ Er legt beide Handflächen aneinander. „Sesam öffne dich.“ „Du warst nicht an meinem Nacht-“ „Doch war ich!“, interveniert er. „Wie hätte ich dir sonst etwas kochen sollen?“ Der Geruch von gebratenem Gemüse kriecht in meine Nase und ich folge ihm argwöhnisch. Meine Küche blitzt und in der Pfanne auf der Herdplatte köchelt eine rötliche Soße, durchsetzt mit Zucchini, Tomaten und Mais. Daneben steht ein Topf mit Nudeln, die so aussehen, als ob sie gerade erst pünktlich zu meiner Rückkehr hineingeschmissen worden wären. „Nur für dich.“ Joshua stellt sich neben mich, nimmt den Kochlöffel zur Hand und rührt die Nudeln um. „Naja und für mich.“ „Was soll das Ganze?“ „Damit möchte ich meine Wettschulden einlösen.“ Entspannt zuckt er mit den Schultern und taucht einen silbernen Teelöffel in die Soße. „Hier probier mal. Ich weiß nicht, ob ich deinen Geschmack getroffen habe.“ Er dringt mir den Löffel förmlich auf, sodass ich nicht anders kann als meinen Mund zu öffnen. Als mein Gaumen mit der Soße in Berührung kommt, erlebe ich eine Explosion meiner Sinne. Perplex sehe ich Joshua in die tiefgrünen Augen. Der Kerl kann kochen und wie er das kann! „Zu scharf?“, fragt er mich besorgt. „Ich hätte doch weniger Tabasco nehmen sollen.“ Ich lege ihm eine Hand auf den Arm und schüttele den Kopf. „Nein, genau richtig, glaub mir.“ Da er auf meine Hand blickt, ziehe ich sie zurück und stecke sie halb in die Hosentasche. „Du weißt, dass dir damit nicht verziehen ist“, sage ich so beiläufig wie möglich. „Damit hat das auch nichts zu tun. Wettschulden sind Ehrenschulden und ich lasse mir einfach ungern nachsagen, dass ich unehrenhaft wäre.“ Daher weht also der Wind. Wie aufs Stichwort knurrt mein Magen. Kein Wunder, außer dem Zwieback habe ich heute noch nichts gegessen. Mit einem Mal überfällt mich auch noch leichtes Schwindelgefühl, was Joshua mitbekommen haben muss, denn er packt mich und führt mich zum Esstisch und drückt mich auf einen der vier Stühle mit den blauen Bezügen. „Wird Zeit, dass du was zwischen die Zähne bekommst. Trink erst mal was, die Flaschen habe ich vor ein paar Minuten erst aus dem Kühlschrank geholt. Einschenken kannst du selbst, ich muss zurück in die Küche.“ Wahrhaftig sitze ich an einem gedeckten Tisch mit einem Teller, einer Gabel und einem Glas vor mir und dasselbe noch einmal auf der anderen Seite. Eigentlich mag ich mir das gar nicht so genau betrachten, denn Joshua hat das Geschirr auf die bloße Glasplatte gestellt. „Ich besitze auch Tischdecken“, rufe ich und lange währenddessen nach der Wasserflasche. Trinken ist eine sehr gute Idee. „Zu spät“, kommt es aus der Küche zurück. Dann muss das heute auch so gehen, ich mag ja nicht als kleinliche und übervorsichtige Nörglerin dastehen, die Angst davor hat, ihr Tisch könne Kratzer abbekommen. „Aber Armbanduhren sind heute verboten.“ Ein bisschen Vorsicht ist ja nicht zu viel verlangt, oder? Joshua kommt mit der Pfanne hergelaufen und stellt sie auf den einzigen Untersetzer, den ich besitze. „Wo kann ich die Nudeln hinstellen?“ „Moment, warte.“ Mitsamt meinem Stuhl drehe ich mich ein Stück, öffne die Schranktür hinter mir und hole ein Holzbrett heraus, das ich ganz langsam auf dem Tisch absetze. „Ähm, ich improvisiere da immer.“ „Ist ja auch egal, was da liegt“, entgegnet er gleichgültig und geht wieder. Als alles auf dem Tisch steht und jeder was auf seinem Teller hat, schaue ich mir Joshua genauer an. Das Sonnengelb der Schürze passt auch noch perfekt zu seinen tiefgrünen Augen, die braunen Bärchen perfekt zu seinen Haaren, eigentlich ist das ja schon etwas gemein. Dass er darin so süß aussieht, war nicht meine Intention, als ich meinen Wunsch aussprach. Manche Menschen sehen einfach in allem gut aus und Joshua gehört ihnen eindeutig an. Mh, aber dennoch ist es amüsant, ihn so zu sehen. Die Schürze macht immerhin seine obercoole Ausstrahlung zunichte, die er so gerne an den Tag legt. „Jetzt iss mal, Milly, ich habe mich hier schließlich nicht umsonst abgerackert.“ „Ist ja gut.“ Hungrig spieße ich eine Nudel auf und schiebe sie mir in den Mund. Soooo köstlich! „Ein bisschen mehr habe ich mir ja schon von dir erwartet“, meint Joshua und fuchtelt mit seiner Gabel vor meinem Gesicht herum. „Du könntest mich ruhig ein wenig loben.“ „Schmeckt ganz okay.“ Ich muss ihm ja verraten, dass ich bei jedem Bissen dahinschmelze und mir insgeheim wünsche, dass er mich jeden Tag bekocht. „Du bist immer noch sauer.“ Das ist mehr eine Feststellung als eine Frage. Und obwohl mein Ärger ziemlich verraucht ist, als er mich in der Schürze und mit der sauberen Wohnung überfahren hat, nehme ich ihm seine Aktion im Kaufland immer noch übel. „Andere Menschen in unsere Angelegenheiten hineinzuziehen, ist nun mal nicht okay.“ Er verdreht die Augen. „Jetzt hab' dich mal nicht so. Es ist alles bezahlt und so ein kleiner Rückstau an der Kasse ist halb so wild.“ „Bist du immer so rücksichtslos?“ Obwohl ich die Gabel gerne beiseite legen und das Essen boykottieren würde, kann ich es nicht, das Essen ist einfach viel zu lecker. Voller Genuss kaue ich auf einer Nudel nach der anderen herum. „Was heißt rücksichtslos? Mir ist nur egal, was die anderen denken.“ „Hätte ich den Rest nicht bezahlt, hättest du Diebstahl begangen. Das ist dir also auch egal?“ „Und?“ Seine Stimme ist kühl und sein Gesichtsausdruck starr. „Ist das deine Lebenseinstellung?“ „Und wenn es so wäre?“ Dann frage ich mich, warum er mich letzte Nacht nach Hause gebracht hat. „Was bin ich dann für dich?“ Jetzt lege ich die Gabel doch auf den Teller und schaue Joshua einfach nur an. „Du?“ Ja, ich? Was gibt es da so lange zu überlegen? Desinteressiert schaufelt er sich frische Nudeln auf den Teller und verteilt ordentlich Gemüsebolognese darüber. „Um ein Dach über dem Kopf zu haben, muss ich dich ertragen.“ Ein schmerzlicher Stich durchzuckt mich und krampft mein Herz zusammen. Was habe ich auch erwartet. Dass er sagt, dass er mich mag? Indem ich mehrere Schlucke Wasser trinke, spüle ich den Schmerz hinunter. „Ah, so definierst du das. Würde ich auch machen, wenn ich jemanden nach Hause bringe anstatt ihn sich selbst zu überlassen.“ Ich hoffe, ich klinge so abgeklärt, wie ich es beabsichtige. Ernüchtert nehme ich meine Gabel wieder in die Hand und esse weiter. „Du willst das doch jetzt nicht fehlinterpretieren!? Ich habe dich nur nach Hause gebracht, weil mich mein Opa sonst enterben würde.“ Ich spüre ganz deutlich, wie sich in mir alles zusammenkrampft. Nur mit vollster Konzentration schaffe ich es, meine Hand ruhig zu halten und unerschütterlich weiterzukauen. Von ihm lasse ich mich nicht verletzen, so weit darf ich das einfach nicht kommen lassen. „Um das Geld geht es dir also. Nur deswegen hast du dich überhaupt auf das hier eingelassen.“ Ich wedele mit den Händen herum und deute auf meine Wohnung, auf ihn und dann auf mich. Sein gefühlloser Blick ist mir Antwort genug. Während ich weiter esse, rede ich mir ein, dass er das nicht so meint, dass das alles nur ein Missverständnis ist und er nur scherzt. Kaum dass ich fertig bin, stehe ich allerdings auf und greife nach meinem Festnetztelefon. „Ich muss telefonieren.“ Und schon bin ich in meinem Schlafzimmer verschwunden. Zwar bin ich gerade nicht in bester Verfassung, um mit Jessi zu reden, aber ich bin ihr diesen Anruf schon lange genug schuldig. Ich darf einfach keine weiteren Gefühle zulassen, dann bekomme ich alles in den Griff und werde meinem Wort, das ich Herrn Hilkers gegeben habe, gerecht. Nachdem ich einmal tief ein- und ausgeatmet habe, lasse ich es bei Jessi klingeln. „Milly, da bist du ja.“ Jessi klingt mehr als nur erleichtert. „Wie sie leibt und lebt. Hi Jessi“, erwidere ich mit einem Grinsen. „Was war das heute Nacht?“ Wie immer kommt sie sofort auf den Punkt. „Ich hatte einen schlechten Tag, zu wenig gegessen und habe daher den Alkohol nicht so gut vertragen. Damit hatte ich gar nicht gerechnet und mir ging es ja auch soweit gut, bis ich an die Frischluft kam. Naja... und als ich mit dir telefoniert habe, hat mir Joshua das Handy weggenommen.“ Sachte streiche ich mit einer Hand am Vorhang entlang, der in leichten Falten vor dem einzigen Fenster meines Schlafzimmers hängt. Ich darf nicht darüber nachdenken, was eben beim Essen vorgefallen ist. „Was machst du eigentlich, Milly? Wie kannst du diesen Kerl nur bei dir wohnen lassen?“ „Er hat mich gut nach Hause gebracht und mich eben sogar bekocht.“ Sind das für Jessi genug Gründe? „Aber deshalb lässt man noch lange niemanden einfach bei sich wohnen.“ Wohl nicht. „Weißt du, mein Vermieter hat mich so angefleht, da konnte ich nicht nein sagen.“ „Was hat dein Vermieter eigentlich damit zu tun?“ „Also es ist so … Joshua ist sein Enkel.“ „Sein Enkel?“, dringt Jessis überraschte Stimme durch die Leitung. „Aber wie kommt er auf die absurde Idee, ihn dann bei dir einzuquartieren? Erwähntest du nicht mal, dass er ein großes Haus für den Eigengebrauch besitzt?“ Wie winde ich mich jetzt am besten aus dieser Sache heraus? Ich laufe im Zimmer auf und ab, während ich fieberhaft überlege. „Jessi, ich habe alles unter Kontrolle. Außerdem möchte ich mir selbst beweisen, dass ich mit jemandem wie ihm zusammenwohnen kann. Wenn ich das schaffe, dann halte ich es mit jedem aus.“ Ehrlichkeit währt doch am besten. Erst einmal tritt Schweigen zwischen aus und ich höre nur, wie Jessi unaufhörlich mit einem Stift auf etwas Hartes, vermutlich ein Tisch, klopft. „Deine Mama hat dir da was total Dummes eingeredet, aber das sage ich dir nicht zum ersten Mal.“ Ich bin so froh, dass sie dann doch wieder etwas sagt, auch wenn es nicht ganz das ist, was ich gerne zu hören bekomme. „Ich kenne deinen Sturkopf und daher weiß ich, dass du dich nicht so einfach von deinem Vorhaben abbringen lässt. Aber versprich mir eines.“ „Alles.“ Naja so ziemlich. „Sobald du dich auch nur auf irgendeine Art unwohl fühlst oder er dir zu nahe kommt, meldest du dich sofort bei mir.“ „Mach ich.“ „Versprich es.“ Sie kennt mich einfach zu gut. Sie weiß, dass ich mit meinem Notruf länger warten würde, als ihr lieb ist. „Ich verspreche es.“ Allerdings gilt mein Versprechen nur für alles, was jetzt noch kommt. Mit dem, was bisher war, schließe ich heute ohnehin noch ab, das zählt nicht mehr. „Oh man, in was reitest du dich eigentlich immer rein?“ Kann ich was dafür, dass bei mir alles Drunter und Drüber geht, seitdem ich hierhergezogen bin? Für mein Auto kann ich nichts, für meinen Laptop schon gar nicht. Die Sachen gehen ohne mein Zutun einfach kaputt. Mir wäre es ja auch lieber, wenn die Technik einmal zuverlässig wäre. Und die Verletzungen habe ich mir auch nicht mutwillig zugezogen. Ganz im Gegenteil! Die Kapselprellung an meinem linken Knöchel habe ich am Ende gut überstanden, die Verstauchung in meiner Hand auch, die Entzündung in meinem Bein werde ich auch noch restlich auskurieren. „Ich muss dir ja was zu erzählen haben.“ „Ich würde ja lieber von dir hören, dass du endlich einen netten Mann kennengelernt hast. Aber ich weiß, wie schwer es ist, den Richtigen zu finden. Meinen Grafen suche ich ja auch noch“, lacht sie. Ich glaube mittlerweile auch, dass ein edler, groß gewachsener Graf am besten zu ihr passen würde. „Du weißt, ich halte die Augen für dich offen. Aber die, die ich bisher entdeckt habe, gibt es nur im Fernsehen.“ „Zu dumm. Milly, du bist vorsichtig, ja?“ „Natürlich.“ „Dann wünsche ich dir jetzt eine gute Nacht. Ruh dich aus und genieß das restliche Wochenende.“ „Danke, du auch. Und stress dich nicht zu sehr in deinen neuen Fall.“ Seit einer Woche schon arbeitet sie fast ununterbrochen. „Nein, nein, mach ich nicht.“ „Gaaar nicht“, necke ich sie. „Träum was Süßes.“ „Du auch. Tschüs.“ Es klickt und mit einem Mal ist es ganz still um mich herum, bis meine Aufmerksamkeit durch lautes Geschepper auf die Küche und Joshua gelenkt wird. „Was ist denn hier los?“, frage ich, nachdem ich in die Küche gestürmt bin und rote Flecken auf hellgrauen Fliesen erblicke „Nach was sieht es wohl aus? Der Griff deiner blöden Pfanne hat sich verabschiedet.“ „Der ging noch nie ab. Was hast du mit ihm angestellt?“ „Du schiebst die Schuld mir zu?“ „Klar, wer hat sie denn sonst angefasst?“ „Da putze ich wie blöd und du wirfst mir vor, ich habe absichtlich alles wieder dreckig gemacht.“ „Erstens: Du hast nur deine Wettschulden eingelöst. Zweitens: Da du das gesamte Wochenende Dienst hast, wirst du das jetzt wieder saubermachen.“ Wenn Blicke töten könnten, würde ich jetzt umfallen. „Du genießt das, nicht wahr?“ Warum auch nicht? Ihm könnte ruhig mehr schief laufen. Das zeigt mir nur, dass auch er seine Schwächen hat. Er mag sich ja noch so makellos vorkommen, aber das ist er nicht. Es tut gut mit anzusehen, dass auch ihm nicht alles gelingt. „Wenn du hier fertig bist, kannst du im Wohnbereich Staub wischen. Nimm dazu am besten einen feuchten Lappen, sonst ist auch das mehr oder minder umsonst.“ Und ob man es glaubt oder nicht, im Anschluss genieße ich wirklich eine volle Stunde, in der Joshua den Putzlappen schwingt, sich in der gelben Schürze um meine Möbel herum räkelt und auf ständige nicht zu überhörende Anweisungen meinerseits sogar alle Ecken mitschrubbt. Der Laptop auf dem kleinen Glastisch reizt mich dabei ununterbrochen. Es juckt mich in den Fingern, nach seinem Namen zu googeln, nachdem ich ihn nun vollständig kenne, aber ich kann mich gerade so davor bewahren, diesen Fehler zu begehen. Je weniger ich über ihn weiß, desto mehr Abstand kann ich gefühlsmäßig zwischen ihn und mich bringen. „Die andere Seite nicht vergessen“, erinnere ich ihn. Der Schrank unter dem Fernseher hat schließlich zwei DVD-Fächer, die von Staub befreit werden wollen. „Bis ganz hinter!“ Mit einem mörderischen Blick dreht er sich zu mir um und funkelt mich an. „Ja Madam“, faucht er. „Immer schön den Lappen dazwischen auswaschen, sonst wird’s nicht sauber.“ „Kannst du nicht endlich den Mund halten?“ „Magst du eine ehrliche Antwort?“ „Verzichte.“ „Ich gebe so lange Kommandos, bis du alles richtig machst.“ „Sagte ich nicht, dass ich verzichte?“ „Eben drum.“ Ich schiebe mich auf dem Sofa ein Stück nach vorn, um an Joshua vorbeilinsen zu können. „Genau, da jetzt bis ganz nach hinten.“ Grummelnd fährt er mit dem Lappen über die Stelle, die ich meinte. „Und jetzt noch die Schränke auf der Galerie“, grinse ich und klatsche in die Hände. „Auf, auf, nach oben mit dir.“ Ich gehe ihm voraus, immerhin möchte ich nichts verpassen. Doch als ich meinen Fuß auf die unterste Treppenstufe setzen möchte, verhakt sich mein Hausschuh mit der Kante und ich stolpere rückwärts, direkt in seine Arme. „Alles in Ordnung?“, fragt er fast schon fürsorglich. Ich verlagere mein Gewicht zurück auf meine Füße. „Ja, passt schon“, entgegne ich gereizt. Dass ich aber auch immer so ein Tollpatsch sein muss! „Warte, du hast da was.“ Mh? Mit beiden Händen hält er mich fest, dreht mich zu sich um und fährt mit seiner Rechten immer wieder durch mein Haar. „Du bist direkt mit meinem Staubwedel kollidiert“, erklärt er. Kann er seine Hand nicht von mir nehmen? „Jetzt halt still oder willst du wie 'ne Vogelscheuche rumlaufen?“ Plötzlich stehe ich stocksteif da und lasse ihn gewähren. Ich fühle nichts. Rein gar nichts. Schön, was man sich so alles einreden kann. Der Verstand mag es ja begriffen haben, aber das Herz nicht. Nicht an ihn denken. Ihn nicht ansehen. Die Hand an mir einfach ausblenden. Doch dann gleitet diese einfach tiefer und streicht hauchzart über meine Wange. Nein, das tut er jetzt nicht. Da streift nur ein feiner Luftzug meine Wange. Doch seine Finger sind warm und riechen leicht nach Zitrone. Als ich aufschaue, bohren sich seine tiefgrünen Augen in meine und in seinem Blick liegt etwas, das mich aller Worte und jeden Widerstands beraubt. Mit jedem Moment, der verstreicht, spüre ich die unbändige Hitze, die seinen Fingern folgt. Die Welt um mich herum verschwimmt und ich sehe nur noch ihn, sein braunes Haar, seine grünen Augen, seine markanten Gesichtszüge. Wie in Trance weiche ich ein Stück zurück und spüre alsbald die Wand in meinem Rücken. Ungehindert folgt er mir und presst seinen Körper gegen meinen. Unablässig streicht seine Hand über meine Wange, zart wie eine Feder. Meine Brust droht zu zerspringen, als mein Herz anfängt, unrhythmisch und rasant zu schlagen. Es überschlägt sich fast und raubt mir den Atem. Den Zeitpunkt, ihn von mir zu schieben, habe ich wohl verpasst. Ich stehe da und sehe ihn an, versinke immer mehr in diesem Grün, das sich vor mir ausbreitet wie ein See, in den man hineinschwimmt. Ich schwimme und komme ihm Zug um Zug näher. Ich sehe dabei zu, wie sich seine Lippen den meinen nähern, und lasse es einfach geschehen, dass sie sich sachte auf meine legen. Und für einen kurzen Augenblick schalte ich auf Durchzug, hebe meine Hände und vergrabe sie in seinen Haaren. Aus einer hauchzarten Berührung wird bald schon etwas Forderndes, etwas Verlangendes. Seine Rechte legt sich in meinen Nacken, seine Linke hebt mein Kinn weiter an. Willig schiebe ich mich ihm entgegen. Mein Körper ist voller Verlangen, voller Gier. Ich öffne meine Lippen, um seine kurz darauf einzufangen und zu umwerben. Er drückt mich noch weiter gegen die Wand und seufzt in unseren Kuss hinein. Ein Laut, den ich sofort verinnerliche und mit meinem Herzen wie eine Ertrinkende umklammere. Mit jeder Faser meines Körpers fühle ich ihn, spüre ihn, seine Hände, seine Lippen, seinen Leib. Aus Sekunden werden Minuten. Aus Minuten wird die Unendlichkeit. Eine Unendlichkeit, die abrupt unterbrochen wird. „Hallo? Milly?“ Mit klopfendem Herzen, zerzausten Haaren, roten Lippen stehe ich da und atme schwer. Fehlt nur noch, dass ich kraftlos zusammensinke und mir an die Brust fasse. „Milly?“ Schnippende Finger vor meinen Augen. Was? Das Bild vor mir klärt sich und ich sehe das Treppengeländer, an dem ich mich festhalte. War ich nicht eben drüben an der Wand? „Trittst du sogar nüchtern völlig weg?“ Schon möglich. Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Die Berührung, die Nähe, der Kuss … alles meiner Fantasie entsprungen. Ich schlucke. Dann stoße ich Joshua beiseite und eile zum Spiegel in meiner Garderobe, gleich um die Ecke. Die Frisur sitzt, die Lippen blassrosa, der Kragen meiner legeren Bluse ordentlich heruntergeschlagen. Nichts, rein gar nichts deutet auf einen leidenschaftlichen Kuss hin. Ich wusste ja schon immer, dass ich eine blühende Fantasie habe, aber so blühend? Und ich kann nicht mal sagen, ob ich jetzt total erleichtert oder todtraurig bin. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)