Verbotene Liebe von Devils_Daughter (Das Geheimnis einer Schülerin) ================================================================================ Kapitel 1: Der Streit --------------------- Schon als Claire erwachte, wusste sie, dass es ein mieser Tag werden würde. Ihre äußert sympathischen Brüder hatten ihr Schlagsahne in die Pantoffeln gesprüht, was für eine tolle morgenliche Überraschung sorgte. Sie hatte nicht gut geschlafen. Dreimal mitten in der Nacht schreckte sie auf, doch an den Traum erinnerte sie sich nicht mehr. Ihre Ohren rauschten. Das hatte sie öfter in letzter Zeit. Genervt torkelte sie ins Bad nebenan, schmiss die Pantoffeln ins Waschbecken und drehte das Wasser auf. Sie sah auf die Uhr. Halb fünf. Verdammte Träume. Irgendwann hatte sie es nicht mehr ausgehalten und seitdem stand sie jede Nacht auf, wenn sie Albträume hatte. Sie schlief ja eh nicht mehr ein. Sie gähnte. Fast hätte sie vergessen, das Wasser abzudrehen, bevor sie das Bad verließ. Sie hatte keine Lust, die Sahne herauszuschrubben. Aber es ging ja nicht anders. Aber das konnte bis morgen früh warten. Jetzt brauchte sie was zu trinken. Müde wankte Claire die Treppe rauf. Fast wäre sie auf einer Unterhose ihres Bruders ausgerutscht. Gerade rechtzeitig hielt sie sich am Geländer fest. "Bääh!", kreischte sie und kickte die Unterhose die Treppe runter. Ihre Mutter kam aus dem Zimmer gestürmt. Zuerst war ihr Gesichtsausdruck besorgt, dann verärgert. "Was machst DU denn hier? Weißt du, wie spät es ist?", schimpfte sie. "Halb fünf", flüsterte Claire. "Das ist ein bisschen früh für Krach, meinst du nicht?" rief ihre Mutter zornig. "Doch, meine ich. Warum brüllst du dann so? Du wirst noch alle aufwecken." argumentierte Claire gekonnt. Sie war gut darin, sich zu verteidigen, und ihre Mutter schnappte nach Luft. "Fräulein...", sagte sie drohend, doch Claire war schon auf dem Weg in die Küche. Ihre Mutter kam hinterher. "Du hast meine Frage noch nicht... oh!", begann ihre Mutter, brach dann jedoch abrupt ab, als sie die Tränen in den Augen ihrer Tochter sah. "Was ist los?" "Lass einfach, ok Mama?" sagte Claire niedergeschlagen. "Ich erwarte eine Antwort!" "MAMA, bitte!" Claire bettelte fast. Warum konnte ihre Mutter es nicht akzeptieren und sie in Ruhe lassen? Sie ließ sie doch auch in Ruhe, wenn es um heikle Themen ging. Papa zum Beispiel. Endlich ließ ihre Mutter von ihr ab. Claire goss sich ein Glas Wasser ein und stürzte es hinunter. Ihre Mutter wuschelte ihr durch die langen, braunen Haare und ging zur Tür. Doch auf halben Weg drehte sie sich um und fragte: "Waren es wieder Albträume?" Claire zuckte zusammen und schüttete sich dabei das zweite Glas Wasser über die Hose. "MAMA!" "Schon gut, schon gut." Pause. "Magst du bei mir schlafen?" Claire blickte ihre Mutter perplex an. "Wie bitte?" "Ich fragte, ob du bei mir schlafen möchtest. Als du noch klein warst bist du immer bei Albträumen zu mir gekrochen. Fast jede Nacht." "Genau, Mama. Als ich klein war. Jetzt bin ich aber nicht mehr klein. ICH BIN 17!" Claire schrie fast. Erneut hatte sie Tränen in den Augen. Nicht vor Trauer oder Müdigkeit, sondern vor Wut. "Ich bin 17 Jahre alt und kein kleines Kind mehr! Wenn du wen bemuttern willst, such dir einen von den Zwergen aus. Die haben eh nichts Besseres zu tun, als in meine Schuhe Sahne zu schütteln und ihre dreckige Unterwäsche auf die Treppe zu werfen! Die könnten deine Hilfe wirklich brauchen, wenn du sie nicht gleich zum Physiotherapeuten schicken willst! Du schleichst mir ständig hinterher, sagst mir was ich zu tun und zu lassen habe und lässt mir überhaupt keinen Freiraum. Aber ich weiß, was ich tue! Ich weiß, was ich bin! ICH BIN KEIN KIND MEHR!" Den letzten Satz hatte Claire so laut gebrüllt, dass nun Schritte auf der Treppe zu hören waren. Claires kleiner Bruder Marc schob sich an seiner Mutter vorbei, die immernoch vor der Tür stand, und sah auf die Uhr. "Menno.",brummte er und blinzelte. "Was soll´n der Krach. Es ist halb 6!" "Frag das deine Schwester, Marc", sagte seine Mutter verbittert und sah Claire anschuldigend an. "Ich weiß auch nicht, was das soll." Mit diesen Worten drehte sie sich um und legte dem elfjährigen einen Arm um die Schulter. "Geh wieder ins Bett, Süßer", sagte sie zu ihrem Sohn und warf Claire einen bösen Blick zu. In diesem Moment war Claire so wütend, dass sie nicht anders konnte. "Und weißt du, was das schlimmste ist?" brüllte sie den beiden hinterher, "So verhältst du dich erst, seit Papa dich verlassen und zu einer Hübscheren gezogen ist!!!!" Sie schämte sich schon, bevor sie den Satz zuende gesagt hatte. Das hätte sie nicht tun dürfen, das wusste sie. Etwas Schlimmeres gab es nicht. Unsicher sah sie ihrer Mutter hinterher. Diese ließ sich nichts anmerken, doch Claire wusste, dass das sie sehr getroffen hatte. Sie hörte das Schniefen, und da wusste sie, dass ihre Mutter weinte. Marc sah sie traurig an, dann blickte er zu Claire. Er zog die Mundwinkel ein und schüttelte den Kopf. Claire sah ihm nicht in die Augen. Sie wusste, was sie sehen würde. Sie wusste, dass er Recht hatte. Sie wusste, was sie fühlte. Tiefe Reue. Sie hatte etwas Unverzeihliches gesagt. Kapitel 2: Ein guter Morgen --------------------------- Der Morgen war noch schlimmer als die Nacht. Beim Frühstück redete ihre Mutter kein Wort mit Claire und nippte bloß an ihrem Kaffee. Claire wäre es lieber gewesen, sie hätte sie geschlagen und wenigstens gebrüllt, damit sie überhaupt beachtetet worden wäre. Doch die rotgeweinten Augen ihrer Mutter schienen sie nicht einmal wahrzunehmen. "Ich geh jetzt.",sagte Claire leise. Keine Antwort. Sie nahm ihren Rucksack und schloss schlechten Gewissens die Tür. Auf dem Schulweg dachte sie über die gestrige Nacht nach. Sie könnte sich selbst ohrfeigen. Wie hatte sie das nur sagen können? Sie wusste doch, dass ihre Mutter das nicht gut vertrug. Ihr ging es in letzter Zeit eh sehr schlecht. In Gedanken versunken merkte Claire kaum, dass sie die Schule inzwischen erreicht hatte und ihren Spind ansteuerte. Ihre besten Freundinnen Michelle und Nicole, die Zwillinge, warteten bereits auf sie. "Und als er sich die Haare aus der Stirn gestrichen hat!", schwärmte Michelle gerade. "Danach war er total verwuschelt!" kreischte Nicole und beide kicherten. Die Rede war einmal mehr von Nick, dem Schwarm aller Mädchen, in den sie beide unsterblich verknallt waren. "Und gestern..", Michelle holte tief Luft, "Gestern, da hat er ´Hi` zu mir gesagt! Voll süß!!" "Das ist doch gar nichts!" erwiderte Nicole. "Vor einer Woche hat er... Claire!" Claire war gerade bei ihnen angekommen. "Hi Leute.", sagte sie emotionslos. "Du siehst furchtbar aus!", sagte Nicole und reichte ihr einen Spiegel. Claire betrachtete sich seufzend darin. Ihre grün-grauen Augen waren rötlich und ihre Nase dick und geschwollen. Ihre langen, dunkelbraunen Haare fielen ihr in Strähnen ins Gesicht. Wimperntusche und Eyeliner waren verwischt und liefen ihr in schwarzen Rillen die Wangen hinunter, das Lipgloss, das rötlich schimmerte, war über das ganze Kinn verschmiert. Ihre Unterlippe hatte Claire aufgebissen, sie blutete. ´Furchtbar` war untertrieben. Sie sah aus wie ein Monster und fühlte genauso fühlte sie sich auch. Bei ihrem Anblick stiegen Claire wieder Tränen in die Augen. Sie gab Nicole den Spiegel zurück und wischte sich die Augen, wobei sie die Wimperntusche bis zu den Ohren schmierte. Die Zwillinge sahen sie mitfühlend an. Da hellte sich Michelles Miene etwas auf. "Ich weiß, wie wir dich aufmuntern können!" Sie ging ein wenig in die Knie, schmiss sich die blonden Haare hinter die Schulter, schielte ein wenig, flatterte mit den Armen und gackerte: "Bock bock bock bock! Ich bin Nicole! Bock bock bock bock!" "Du musst nicht immer von dir auf andere schließen, Michelle.", grinste Nicole. "Ach so, das hatte ich vergessen: Du bist ja SO!" Sie ließ sich auf Viere nieder, streckte den Hintern raus, wackelte damit und blökte:" Muh! Muh! Ich bin Michelle, die Kuh!" So umkreisten sie sich gegenseitig, Michelle "Bock bock bock!" und Nicole "Muh, muh!" kreischend. Doch Claire, die normalerweise über die Scherze ihrer Freundinnen lachte, lächelte nur schwach. "Leute.." murmelte sie. Sofort standen die Zwillinge wieder vor ihr und grinsten sie an. "Das ist echt lieb von euch, aber ich denke, ich brauche etwas Zeit für mich." Damit drehte Claire sich um und ging davon. "Es hat nicht geklappt.", flüsterte Michelle Nicole zu. "Ach nee! Was du nicht sagst!", fauchte diese zurück. "Du musst es immer übertreiben!" "Warum ist das denn jetzt meine Schuld?" verteidigte sich Michelle. "DU hast mit dem Huhn angefangen!" "Ich wollte doch nur helfen!" "Tja, das hast du jetzt davon. Lass es lieber mit dem Helfen, du machst eh immer alles kaputt!" Klatsch. Nicole rieb sich die Wange. "Und was war das jetzt??" "Die Rache.", antwortete Michelle selbstgefällig. PATSCH! Nun hatte Michelle ebenfalls einen roten Flecken im Gesicht. Sich die Wange haltend rannten die Zwillinge hinter ihrer Freundin her. Claire stand vor dem Spiegel im Mädchenklo und wusch sich das Gesicht. Sie bekam Seife in die Augen, und das tat so weh, dass sie beinahe wieder angefangen hätte zu heulen. Vorwurfsvoll betrachtete sie sich. "Du bist selber schuld, Clarisse de la Fontaine.", sagt sie zu sich selbst. Clarisse. Sie hasste ihren richtigen Namen. Niemand nannte sie so. Doch im Moment war dieser Name die einzige passende Beleidigung, die ihr einfiel. Claire sah, dass ihre Freundinnen im Hintergrund standen und flüsterten, doch sie drehte sich nicht um. Langsam kamen die Zwillinge auf sie zu. "Claire.", sagte Nicole sanft und legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Magst du uns nicht sagen, was los ist? Uns kannst du doch vertrauen." Plötzlich wich das schlechte Gewissen aus Claires Körper und machte der Wut wieder Platz. Ihr wurde klar, wie ungerecht alles war. Dass sie keine Schuld hatte. Dass ihre Mutter auch manchmal die Beherrschung verlor. "OK." sagte Claire, drehte sich um und lehnte sich gegen die Wand. "Ich bin diese Nacht aufgestanden, weil ich wieder einmal Albträume hatte, die Zwerge haben mich genervt und ich bin in die Küche gegangen, weil ich was trinken wollte. So, und dann kam Mama rein und hat mich voll auf die Palme gebracht, weil sie mich dauernd behandelt wie ein Kind. Das hab ich ihr auch so gesagt, und es wurde ein richtiger Streit draus. Heute morgen hat sie mich nicht mal angeguckt weswegen ich natürlich gleich wieder mein tolles schlechtes Gewissen kriege und außerdem..." Claire atmete tief ein, "Und außerdem gehts mir eh scheiße weil ich nich geschlafen hab OK??" Die Zwillinge sahen sich an und lächelten. "Klar.", sagten sie im Chor. "Gut." Seufzend drehte Claire sich wieder zum Spiegel. Gegen die roten Augen und die dicke Nase konnte sie im Moment nichts tun, doch die schwarze Farbe und den Lipgloss hatte sie inzwischen weggeputzt. Dafür war ihre Haut jetzt dunkelrosa wegen der Seife. Na toll. Claire kramte in ihrem Rucksack nach Mascara und Kayal, doch passenderweise hatte sie gerade heute nichts dabei. Toll. Und jetzt sollte sie auch noch ungeschminkt durch die schule laufen? Schlimmer konnte es echt nicht mehr werden. Da hielt Michelle ihr eine schwarze Tasche hin. "Da!", sagte sie und grinste. "Danke." schniefte Claire. Frisch geschminkt wirkten die Augen gar nicht mehr so rot und die rosige Haut deckte Claire mit etwas Puder ab. Na bitte. Einigermaßen zufrieden betrachtete sie sich im Spiegel. Da zog jemand an ihren Schultern, damit sie grade stand, hob ihr Kinn und sah ihr fest in die Augen. Michelle. "Lächeln." befahl sie. Claire lächelte zaghaft, während Nicole ihre Kette zurechtrückte und an ihrem Ärmel zupfte. "Na bitte.", sagten sie selbstzufrieden und betrachteten Claire. "Keiner weiß, das du einen schlechten Tag hast.", sagte Nicole und Michelle erwiderte:"Bezaubere sie. Lächle. Du bist wunderhübsch." "Danke." Nun lächelte Claire wirklich. Sie fiel Beiden gleichzeitig um den Hals. "Ihr seid die Besten." "Wissen wir.", sagten sie im Chor und grinsten. Als Claire den Waschraum verließ, um zur ersten Stunde zu gehen, die die drei nicht zusammen hatten, klatschten sie ein. "Ich bin wirklich die Beste!!" kreischten sie gleichzeitig. "Nee, ich!" sagte Nicole. "Du träumst wohl!" kreischte Michelle. "Und wie kommst du drauf, das DU die Beste bist? Ich hab doch die meiste Arbeit gemacht!" Und streitend verließen sie ebenfalls den Waschraum und gingen zum Unterricht. Kapitel 3: Der Neue Lehrer -------------------------- Claire war zu lange im Waschraum geblieben. Wenn sie sich jetzt nicht beeilte, würde sie zuspät zu Französisch kommen. Claire seufzte. Sie hasste Hetzerei. Um keine Zeit mit Auspacken verschwenden zu müssen, kramte sie im Gehen nach dem Französischbuch. Gerade wollte sie einen Zeichenblock zur Seite schieben, als jemand schwungvoll um die Ecke bog und gegen sie stieß. Der Rucksack flog ihr aus der Hand und breitete seinen gesamten Inhalt im Flur aus. Claire lief knallrot an. "Verzeihung",sagte der junge Mann vor ihr und streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen. "Kein Problem",erwiderte Claire und und ergriff die angebotene Hand. Sie lächelte, während sie sich bückte, um ihr Französischbuch aufzuheben. Doch innerlich kochte sie vor Wut. Der Mann hob ihren Zeichenblock auf. Er war aufgeschlagen und eine Zeichnung war zu sehen. Eine schwarze Katze auf einer Mauer. Der Mann betrachtete das Bild lächelnd, dann klappte er den Block zu und sah auf ihren Namen. "Nun, Clarisse..." "Claire",unterbrach sie ihn. "Claire.",verbesserte er sich und lächelte. "Ich hoffe, ich habe dir keine Schwierigkeiten gemacht.". Er sah sie an. Zum ersten Mal sah sie im in die Augen. Sie waren himmelblau mit einem Hauch von grün und grau. Wunderschön. Sowieso sah dieser Mann sehr gut aus. Er hatte etwas längere, braune Haare und ein nettes Lächeln. Claire hatte ihn noch nie gesehen. "Aber nein, gar nicht...",hauchte sie zaghaft. Der Mann lächelt erneut und beugte sich etwas vor. Claire spürte seinen Atem im Gesicht. Er roch nach Minze und ein wenig nach Kräutern. Claire dachte schon, er wollte sie küssen, doch dann zog er den Kopf zurück und lachte. Ein fröhliches Lachen. Er war glücklich. "Nun dann, freut mich, dich kennengelernt zu haben, Kätzchen auf der Mauer." Mit diesen Worten drehte er sich um und ging. Claire blieb allein zurück. Die ganze Französischstunde musste sie an diesen Mann denken und daran, wie er er sie genannt hatte. "Kätzchen auf der Mauer",murmelte sie vor sich hin. "Qu`est-ce que tu dit, Clarisse?" unterbrach ihre Französischlehrerin sie. Sie wollte wissen, was sie gesagt hatte. Ja, was? Um nicht lügen zu müssen, murmelte sie bloß eine müde Entschuldigung und schlug das Buch auf. Die restliche halbe Stunde verlief quälend langsam. Sobald der Gong ertönte sprang Claire auf und lief aus dem Raum. Jetzt hatte sie Geschichte, und sie musste drei Stockwerke runterlaufen. Das verschaffte ihr genug Zeit, um nachzudenken. Unten angekommen packte sie die Geschichtssachen aus und setzte sich. Diese Stunde hatte sie mit Nick und den Zwillingen zusammen, denn feste Klassen gab es nicht. Jeder hatte zu einer anderen Zeit bestimmten Unterricht, nur manchmal kamen Freundinnen und Freunde zusammen Unterricht. So wurde Gespräche verhindert. Gerissen. Doch Claire fand immer und überall Freunde, also war es relativ sinnlos. Als es endlich klingelte, war ihre Lehrerin noch immer nicht da. Unruhe kam auf. Gerade wollten sie den Klassensprecher zum Lehrerzimmer schicken, als die Tür sich öffnete ein der Direktor eintrat, mit einem jungen Mann im Schlepptau. Claire stockte der Atem. Es war der Mann aus dem Flur. Seine Augen schwirrten durch den Raum. Er entdeckte sie sofort. Da saß sie, zwischen zwei Zwillingen. Hatte sie es auch gespürt, eben im Flur, als ihre Hände sich fast berührten? Fast hätte er sie geküsst. Mist. Er musste mehr Kontrolle über sich bringen. Jetzt sah sie ihn. Ihre wunderschönen Augen drückten Überraschung aus, dann Freude. Sie lächelte. Er lächelte zurück. "Darf ich vorstellen: Das ist Michael Kramer. Er ist Referendar. Die letzten Wochen hat er sich in der Schule umgeschaut und unterrichtet, und nun bringt er euch etwas bei. Nur, es gibt ein kleines Problem.... Eure Geschichtslehrerin ist plötzlich erkrankt, weshalb Herr Kramer den Unterricht vorerst allein führen wird.",erklärte der Direktor. Er stellte ihn da wie einen neuen Klassenkameraden, wie ein Kind. Das ärgerte ihn, doch er ließ sich nichts anmerken, sondern lächelte bloß. "Nun, die Klasse ist Ihre. Viel Erfolg.", sagte der Direktor noch, bevor er ging. Michael Kramer strich sich mit einer lässigen Bewegung eine Haarsträhne aus der Stirn und räusperte sich. "Hallo. Ich bin Michael Kramer, euer neuer Geschichtslehrer. Nun, ihr wisst, wer ich bin, aber ich nicht, wer ihr seid. Deswegen werde ich jetzt erstmal eure Namen aufrufen, ihr steht kurz auf und setzt euch wieder, damit ich weiß, wer ihr seid." Er ging zu dem Lehrertisch und nahm das darauf liegende Klassenbuch in die Hand. "Alnier, Jean." Ein etwas rundliches, blondes Mädchen erhob sich, blieb zwei Sekunden stehen und setzte sich wieder. "Alix, Emma." Ein schlaksiges Mädchen stand auf und sank auf den Stuhl zurück. So ging es weiter, die A-B-C-Liste entlang, bis zum Buchstaben F. Ein einziger Name stand dort. Clarisse de la Fontaine. Michael Kramer zögerte kurz. "Kätzchen." sagte er dann deutlich und bestimmt. Kapitel 4: Die Mappe -------------------- Den restlichen Tag über hatte Claire gute Laune. Munter hüpfte sie aus dem Klassenraum in die Pausenhalle, von da zum Spind und auf dem Schulhof hinaus. Ihre Freundinnen folgten ihr kopfschüttelnd. Als Claire auch noch anfing zu singen, brachen sie in Gelächter aus. "Was ist denn?", wollte Claire verwundert wissen. Nur langsam erholten sich die beiden von ihrem Lachkrampf. "Was los ist? Die ganze Stunde hast du den Kramer angestarrt wie ein Mondkalb und jetzt singst du sogar, obwohl du eben noch geheult hast. Und außerdem...", Nicole prustete los, "Und außerdem strahlst du wie ein Honigkuchenpferd. Und uns noch fragen was los ist!" Sie und Michelle brachen erneut in Gekicher aus. "Na und?", strahlte Claire. "Na und?", kicherte Michelle. "Du bist verknallt!" "Quatsch!", wehrte Claire ab, was aber nicht ganz wirkte, weil sie dabei knallrot anlief. "Und ob!!", quiekten die Zwillinge im Chor und brüllten vor Lachen. Nach einer Runde um die Schule gingen sie wieder hinein, um ihre Sachen aus dem Spind zu holen. Claire betrachtete ihre Freundinnen kopfschüttelnd, die sich gar nicht mehr einkriegten. Sie selbst war inzwischen wieder abgekühlt. Michelle flüsterte Nicole etwas zu und sie beide lachten, brachen jedoch abrupt ab als ein blonder Junge sich an ihnen vorbeischlängelte. Die beiden holten tief Luft und brüllten laut:"HI NICK!!". Doch der Junge beachtete sie gar nicht. Die Zwillinge ließen die Köpfe sinken und stöhnten. Claire kicherte und schlug den Spind zu. "Und ich bin verknallt, ja?", fragt sie und ging. Die restlichen Stunden verliefen reibungslos. Claire wurde kein einziges Mal drangenommen und konnte so ganz in dem blauen Paradies versinken, das genau die Farbe hatte von Herrn Kramers Augen. Michael Kramer. Sie seufzte. Als es endlich klingelte packte sie eilig ihre Sachen zusammen und verließ die Schule. Sie ging nicht nach Hause, sie hüpfte. Sie war glücklich. Als es klingelte räumte Michael Kramer seinen Platz am langen Lehrertisch und schaute in sein Fach. Es war leer. Michael schulterte seine Tasche und ging zu seinem Wagen in der Garage. Er war glücklich, warum auch immer. Er sagte sich, dass das an dem tollen Tag liege, aber er konnte sich selbst nichts vormachen. Ständig sah er dieses Bild vor sich. Die schwarze Katze. Das hübsche Mädchen. Ihr strahlendes Lächeln. Er liebte sie. Den letzten Gedanken verwarf er schnell wieder. "So ein Blödsinn", sagte er zu sich selbst. Er war 21 Jahre alt, und sie? Allerhöchstens 17. Er startete den Wagen und fuhr los. Fast hätte er ein Stoppschild übersehen. Ihretwegen baute er noch einen Unfall! Doch es half alles nichts. Er kriegte sie nicht aus dem Kopf.Er musste es sich eingestehen: Er liebte sie. Claire öffnete summend die Haustür, pfefferte ihren Ranzen in die Ecke und schleuderte die Schuhe von den Füßen. Sie sang laut die letzte Zeile von "I love you" von Rue ("HERE IS THE PLAAAAAAAAAAACE WHERE IIII LOVE YOUUUUUUUUUUU!!!!!!") und brüllte:" Mama! Ich bin wieder da!", bevor ihr der Streit von gestern Nacht einfiel. Langsam öffnete sie die Küchentür. Ihre Mutter saß zusammen gesunken am Küchentisch, tief über ein aufgeschlagenes Heft gebeugt. Ihre Schultern zuckten hysterisch, während sie lautlos Schluchzte. Sie hatte Claire den Rücken zugewandt, und obwohl diese sehr laut gewesen war, bemerkte Janette ihre Tochter nicht. Claire räusperte sich. Ihre Mutter fuhr herum. "Mama, ich...", begann Claire, da hatte Janette sie schon in die Arme genommen. Dicht umschlungen standen sie da, Mutter und Tochter, bis Claire sich löste und ihrer Mutter in die Augen sah. Sie musste nicht fragen, um zu wissen, dass ihre Mutter ihr längst verziehen hatte. "Ich hab dich lieb", murmelte Claire und nahm Janette de la Fontaine erneut in die Arme. "Ich dich auch.", flüsterte ihre Mutter dicht über ihrem Ohr. "Ganz schrecklich lieb." Janette drückte ihre Tochter ein letztes Mal an sich, und verschwand in ihrem Zimmer. Mit gerunzelter Stirn blickte Claire ihrer Mutter hinterher, dann sah sie zum Tisch. Langsam ging sie darauf zu. Die Mappe war geschlossen. "Krankendiagnose.." las Claire laut und schlug die erste Seite auf. "Die folgenden Seiten berichten ausführlich über die Ergebnisse der Diagnose ihrer Herzschwäche...". Claire blätterte um. Ein Steckbrief ihrer Mutter. Die nächste Seite zeigte einen Graphen. Claire verfolgte die Kurve mit den Augen, hinauf und hinab, bis sie auf eine Stelle stieß, die sie aufstöhnen ließ. "Nein.", hauchte sie. "Oh bitte, NEIN!" Sie blätterte weiter, und weiter, und weiter, doch... Claire ließ sich auf den Stuhl fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Das konnte nicht war sein... . Es...ging...nicht... Einzelne Textausschnitte schwirrten ihr im Kopf herum, "Es tut und leid, Ihnen mitteilen zu müssen..", "Ergebnisse haben bestätigt..", "LÜGEN!!" brüllte Claire. Lehre Worte, Lügen, was konnten sie schon? Konnten sie den Graphen am Ende nach oben biegen? Konnten sie die Krankheit heilen? Konnten sie irgendetwas tun? Nein. Konnten sie nicht. Garnichts konnten sie, diese Worte. Nichts. Nicht helfen. Nicht heilen. Nicht das Leben ihrer Mutter retten, nicht verhindern, dass ihr Herz immer schwächer schlug. Nein. Nichts konnte verhindern, dass Claires Mutter binnen einer Woche sterben würde. Kapitel 5: Das Paradies ----------------------- Claire war aus dem Haus, ehe sie wusste, wohin. Die Tränen verschleierten ihre Sicht, doch es war ihr egal. Alles war ihr egal. Der Weg gabelte sich, und Claire zögerte einen Moment. Rechts führte zur Schule, links in den Wald. Claire sah nach oben. Eine halbe Stunde war sie schon unterwegs, und Wolken waren aufgezogen. Es war kühl, doch Claire drehte nicht um. Sie ging nach links. Nach gut hundert Metern endete der breite Wanderweg und mündete in einen Pfad. Claire kämpfte sich durch Brennnesseln und Gestrüpp und blieb stehen. Vor ihr lag das Paradies. Der Mischwald wurde langsam zum Buchenwald und endete unregelmäßig am Rande einer Wiese. Diese Wiese fiel leicht ab und war jetzt, im Sommer, mit roten, gelben und blauen Blüten bewachsen. Mitten auf der Wiese, von kleinen Felsblöcken umgeben, war ein Teich mit rosa und lila Seerosen, ab und zu weiß. Das breite Tal war von einer steilen Felswand begrenzt, die mit einigen Felsvorsprüngen eine perfekte Kletterwand bildete. Ziemlich oben war eine kleine Höhle, aus der ein dünnes Rinnsal klares Wasser floss und einen kleinen Wasserfall ergab, der im Teich mündete. Vögel flatterten munter umher, und wäre Claire nicht so traurig gewesen, wäre sie von diesem Anblick verzaubert worden. Kleine Vögel waren frei. Claire sehnte sich nach nichts mehr, als frei zu sein. Stattdessen war sie an das Leben gebunden. Langsam ging sie Richtung Teich, dann fing sie an zu rennen, immer schneller. Sie stolperte, überschlug sich zweimal und blieb im hohen Gras liegen. Claire schloss die Augen. Etwas krabbelte über ihren Arm und verharrte an ihrem Handgelenk. Claire sah gerade noch, wie zwei rote Marienkäfer davonflogen. Sie stand auf, klopfte sich den Dreck von der Hose und setzte ihren Weg fort. Es waren nur noch wenige Meter bis zum See, sie stolperte vorwärts. Bienengesumm und Vogelgezwitscher erfüllten die blumige Luft. Claire setzte sich auf ein Felsen und ließ die Füße ins Wasser baumeln. Sie hatte aufgehört zu weinen, nachdem sie das Haus verlassen hatte. Diese Heulerei brachte auch nichts. Claire musste an heute morgen denken. Hatte sie wirklich heute noch mit ihrer Mutter gestritten? War sie als Monster zur Schule gekommen? Hatte sie wirklich Michael Kramer angerempelt, um dann festzustellen, dass es ihr neuer Geschichtslehrer war? War das alles erst heute morgen gewesen? Ja. Unfassbar, aber ja. Claires Augen füllten sich erneut mit Tränen. Es war alles so ungerecht! Warum erwischte immer SIE das größte Pech? Claire sprang auf, griff sich einen Stein und schleuderte ihn mit aller Wucht ins Wasser. Es spritzte, ihre Hose wurde nass. Sie griff nach weiteren Steinen und donnerte sie in den Teich. Erneut begann sie zu weinen, vor Ungerechtigkeit und Wut. Sie hob ein schweren, dicken Stein auf und schmiss in fort. Gerade hob sie einen Handtellergroßen auf, als sie hinter sich eine Stimme hörte. "Was haben die Frösche und Molche dir getan, dass du so wütend auf sie bist?" Claire zuckte zusammen, doch sie drehte sich nicht um. "Nichts.", sagte sie tonlos. "Ich bin nicht wütend auf sie." "Ist es dann fair, sie mit Steinen zu bewerfen?", fragte die Stimme ruhig. Sie war männlich, und ernst. Und bekannt. Claire gab keine Antwort. Sie hob die Hand. "Ist ihr Leben nicht schwer genug? Täglich müssen sie ums Überleben kämpfen, müssen sich vor Schlangen und Störchen in Acht nehmen und sich selbst Nahrung suchen. Eigentlich hätten sie eine Belohnung verdient, und du bestrafst sie mit Steinen? Ist das fair?" Claire kniff die Augen so fest zusammen, dass es weh tat. Ihrer gesamten Wut machte sie Platz. "Was kümmert mich dass?", schrie sie voll Verzweiflung. "Das Leben ist auch nicht fair zu mir, warum sollte ich es sein?" Sie hatte sich noch immer nicht umgedreht, doch sie wusste schon, wer da hinter ihr stand. Die Hand hoch erhoben, den Stein fest in ihrer Faust, stand sie da. Sie zitterte leicht. Doch sie warf nicht. "Auch ich werde bestraft, auch ich bin unschuldig, und doch kümmert es niemanden! Immer trifft es mich, immer wird aller Ärger an den falschen ausgelassen, und niemand interressiert sich dafür! Egal was man tut, nie wird es richtig aufgefasst, immer ist es falsch! Das Leben ist nicht fair! Niemand ist fair, NICHTS IST FAIR!" Sie wurde ganz leise, den letzten Satz flüsterte sie nur noch. "Wen kümmert es schon?" Sie ließ die Hand sinken und betrachtete den Stein voller Schmerz. "Niemanden. Es kümmert niemanden. Und wenn es jemanden kümmert, dann wird er zertreten wie eine Wanze. Was kümmert es Sie?" Sie hob den Stein erneut, doch er hielt ihr Handgelenk fest. "Bitte.", sagte er leise. "Mich kümmert es. Bin ich niemand für dich, Kätzchen?" Claire schluchzte auf und ließ den Stein fallen. Er rollte durch das Gras und landete mit einem sanften Platschen im Wasser. Claire folgte ihm mit den Augen und blieb an dem gebrochenem Wasserspiegel hängen. Langsam beruhigte sich die gekräuselte Wasseroberfläche und Claire erkannte ihr Gesicht. Sie betrachtete ihr Spiegelbild, besah sich ihre Gesichtszüge und folgte ihrer gespiegelten Schulter bis zum Handgelenk, dass er immer noch umklammerte. Langsam ließ sie den Arm sinken, er folgte ihr, ließ nicht los, bis sie unten angekommen war. Claire sah auf seine Hand, dann in sein Gesicht. "Bekomm ich jetzt eine schlechte Note?", fragte sie mit besorgter Stimme. Michael Kramer lachte. "Nun, ich kann ja schlecht deinen Charakter benoten, darüber hinaus bin ich nur Referendar. Aber selbst wenn, eine SCHLECHTE Note wäre es auf keinen Fall.". Er zwinkerte ihr zu. "Wir wollen doch fair bleiben, nicht wahr?" Claire lächelte nicht. "Was Sie jetzt von dir denken müssen...", sie senkte den Kopf und errötete. Michael lachte. "Meine Meinung von dir ist in keinem Fall getrübt. Immerhin bist du ehrlich zu mir.". Er kicherte und und deutete auf die Felsen hinter ihnen. "Wollen wir uns nicht setzen?" Claire betrachtete ihn von der Seite, während sie sich ihm gegenüber auf einen Felsvorsprung setzte. Himmel, war der albern! Michael wickelte ein Sandwiches aus, das er in seiner Tasche dabei hatte. "Auch ein Stück?", fragte er und bot Claire die Hälfte an. "Sicher.", erwiderte sie und griff danach. Michael sah sie an. Als sie seinen Blick bemerkte, runzelte sie die Stirn und fragte: "Ist was? Oh, Verzeihung, ich meine nur, sie gucken sie komisch..." Michael lächelte. "Ich überlege nur, was ein so... na ja, ROBUSTES Mädchen dermaßen aus der Fassung bringen kann. Ich meine, dass eben war doch nicht deine Normalzustand, oder?" Claire brachte ein Lächeln zustande. "Nein, dass war er wirklich nicht. Aber wissen Sie...", sie blickte hinauf zum Himmel. Es war windig geworden und der Himmel wurde immer dunkler. Die paar schwarzen Wölkchen von eben hatten eine Sturmfront gebildet. "Ich denke, ich sollte jetzt wohl besser....", "Oh ja, natürlich. Ich sollte jetzt auch gehen." Michael stand auf. "Darüber hinaus geht es mich ohnehin nichts an. Bis morgen, Clarisse." "Claire!" sagte Claire. "Ja, bis morgen. Wiedersehen, Herr Kramer." "Weißt du was, Claire? So viele Jahre trennen uns gar nicht, uns ich duze dich auch. Sag einfach Michael zu mir, ja? Oder Mike. Ja, Mike ist besser. Bis morgen!" Claire machte große Augen. "In Ordnung, Herr Kr....M...Mike. Bis...morgen." Doch Herr Kramer war bereits im Wald verschwunden. Kapitel 6: Ein schwieriges Versprechen -------------------------------------- Claire war gerade an ihrer Straßenecke eingekommen, da begann es schon zu regnen. Regentropfen so groß wie Murmeln klatschten auf die Straße. Innerhalb von Sekunden war Claire klitschnass. Sie fror. Sie bog um die letzte Ecke und stutzte: Vor ihrer Haustür stand ein Rettungswagen. Erschrocken schnappte Claire nach Luft und begann zu rennen, da fuhr er auch schon los. Keuchend sah Claire dem Wagen hinterher und begann zu weinen. Mit zittrigen Fingern schloss sie die Haustür auf und stolperte in den Flur. Sie hatte gerade genug Kraft, die Tür zuzuschlagen, bevor sie zusammenbrach. "Fabien!", kreischte sie panisch. "Marc! BITTE!" Ihr dreizehnjähriger Bruder kam die Treppe hinunter. "Claire! Was ist denn los?", rief er erschrocken, als er sie an die Wand gestützt auf der Fußmatte stehen sah. "Was los ist? Sie haben sie mitgenommen!", schluchzte Claire und sank erneut zu Boden. "Sie haben Mama mitgenommen. Und sie kommt nicht mehr zurück. FASS MICH NICHT AN!". Fabien, der seiner großen Schwester hatte aufhelfen wollen, zuckte erschrocken zurück. "Aber natürlich kommt sie zurück!", versicherte er und versuchte, die Tränen aus den Augen wegzublinzeln. "Sei nicht dumm!", brüllte Claire. Sie war es leid, angelogen zu werden. "Sie wird nicht zurückkommen! Du hast die Mappe auch gesehen! Und wahrscheinlich...", Claire hauchte die Worte nun so leise, dass Fabien Mühe hatte sie zu verstehen. "Wahrscheinlich habe ich sie umgebracht.", beendete Claire den Satz und übergab sich auf die Fußmatte. Fabien, der teils verzweifelt, teils angeekelt auf sie hinunterschaute, seufzte und packte sie am Arm. "Was redest du. Du bist nicht Schuld an Mamas T...Unfall.". Claire riss sich los und sah ihn fassungslos an. "Sie ist schon tot?" "Nein", sagte Fabien zögernd, doch er sah zu Boden und schluchzte. Claire stürzte an ihm vorbei zum Kleiderschrank, riss ihre Jacke und einen Schirm heraus und öffnete die Tür. "Wo willst du hin?", rief ihr Bruder ihr nach, doch Claire hörte ihn nicht mehr. Sie rannte gerade davon. Als der erste Donnerschlag ertönte, saß Claire bereits seit einer Viertelstunde im Wartezimmer und sah auf die Uhr, die über der Eingangstür stand. Tick! Tack! Tick! Tack! Tick! Tack! Es war zum Verrücktwerden. Endlich nickte die Frau hinterm Empfangsschalter ihr zu und lächelte. "Du bist dran. Kann ich dir helfen?" Claire stand auf und ging zu der Dame hinüber. "Ja.", sagte sie leise. "Ich möchte jemanden besuchen. Meine Mutter." "Der Name?" "Fontaine. Janette de la Fontaine." "Ah ja, die Franzosen, die vor einem Jahr hierher gezogen ist, nicht wahr? Deine Mutter arbeitete hier einen Monat, dann ging sie zu der Kinderpraxis auf die andere Seite der Straße. Eigentlich ist das ja unsere Konkurrenz, weißt du, aber im Prinzip geht es ja nur darum, Menschen und vorallem Kindern zu h...". Claire unterbrach sie. "Bitte!" sagte zu nachtrüglich. "Ich habe es wirklich eilig. Wenn sie also bitte..." "Ha! Natürlich!", meinte die junge Dame eingeschnappt. Beleidigt vor sich hin murmelnd suchte sie im Computer nach :"De la Fontaine" und brummte schließlich: "Flügel C, Korridor 6, Zimmer zwei.". "Vielen Dank!", sagte Claire und stürmte die Treppen hinauf. Ihre Mutter lag in einem Bett, ihr Lieblingsbuch in der Hand, weiß wie das Laken. Als Claire eintrat, legte sie das Buch weg und sah sie an. Claire trat näher und umarmte sie. "Du lebst noch", schluchzte Claire und nahm das Gesicht ihrer Mutter zwischen die Hände. "Jede kleinste Aufregung könnte mir den Todesschlag versetzen.", sagte ihre Mutter ernst. Das war es. Immer hatte Claire sich gewünscht, dass jemand ehrlich zu ihr war. Und jetzt war es endlich jemand und dann.... "Du wirst nicht sterben!", rief Claire. "Ich verbiete es!". Das brachte ihre Mutter tatsächlich zum Lachen. Die Maschinen piepsten schneller. "Nein, nicht lachen!", rief Claire entsetzt. "Das lässt den Herz schneller schlagen!". Jetzt hatte ihre Mutter Tränen in den Augen. "Du bist so ein liebes Mädchen.", schluchzte sie. Die Maschinen piepsten schneller, der Graph, der den EKG anzeigte, schwankte bedrohlich nach unten. "NICHT WEINEN!", kreischte Claire verzweifelt. Ihre Mutter griff sich an die Brust und keuchte. "Nein, nicht.", Claire nahm die Hand ihrer Mutter und tätschelte sie. "Alles wird gut. ALLES WIRD GUT!" Ihre Mutter sank in ihr Kissen zurück und schloss die Augen. "Claire.", hauchte sie. "Mama!", rief Claire und Tränen liefen ihr über die Wangen. "Mama, nicht..." "Versprich mir...", begann ihre Mutter. "HILFE!", brüllte Claire verzweifelt und schlug mit der Hand auf den Schwesternknopf. "Versprich mir, dass du durchhältst.", sagte ihre Mutter. "Deine BrÜder brauchen dich. Sei stark. Sei stark für sie...", sie atmete keuchend ein und aus, "und für mich.". Claire nickte, dann schüttelte sie den Kopf, dann nickte sie wieder. "Versprich es.", flüsterte ihre Mutter leise. "Ich verspreche es.", sagte Claire mit fester Stimme. "Sing.", sagte ihre Mutter. Fast hätte Claire sie nicht verstanden. Singen? Aber was? Schließlich entschied sich Claire für ihr Lieblingslied. Under the Gras Deep in the Forest in a chalet of Glas don´t let me alone. Water so deep Air so high Trust come true in the place where i love you i must such so long the way was so strong the question in my head was darkness and wet the question which knows what is, and how, the question is true where is the place where i love you under the gras deep in the forest isn´t the place where i´m looking for but deep in my heart where answer is wart where all it´s true here is the place where i love you Ihre Mutter hatte die Augen geschlossen. Das Lied war noch nicht zuende, doch Claire unterbrach sich. "Mama?", fragte sie. Keine Antwort. "Mama?", fragte Claire noch einmal. Der Mund ihrer Mutter formte sich zu einem warmen Lächeln. Und die Maschinen verstummten. Kapitel 7: Ein stiller Abschied ------------------------------- Mit einem Ruck wurde die Tür aufgerissen. Ein Arzt und zwei Schwestern in weißen Kitteln stürmten hinein, wahrscheinlich hatten sie den sinkenden EKG auf dem Monitor gesehen. Claire fuhr herum. Verstohlen wischte sie sich die Tränen von den Wangen. "Was tust du hier?", fuhr der Arzt sie an und stürzte zu ihrer Mutter. er fühlte ihren nicht vorhandenen Puls und wich zurück. Entsetzt starrte er Claire an. Diese jedoch stand still auf, drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Schläfe und ging zur Tür. Sie schrie nicht mehr. Sie hatte aufgehört zu weinen. Sie hatte ihrer Mutter den Tod verschafft, den sie sich gewünscht hatte: Still und friedlich, mit den Liebenen an der Seite. Auch wenn es verdammt früh gewesen war. Claire ging den Flur entlang, die Treppe hinunter und verließ das Krankenhaus. Sie war nicht traurig, im Gegenteil. Sie wusste, dass ihre Mutter gern gegangen war. Auf der Straße drehte sie sich noch einmal um und sah zum Fenster hinauf. Sie summte ihr Lied, das Lied ihrer Mutter. "Here is the plaaaaaaaaaaaaaaace, where iiii love yooou.....". Und erst als der letzte Ton verklungen war, begann sie erneut zu weinen. Sie ging langsam. Sehr langsam. Für den weg, den sie eben in zehn Minuten geschafft hatte, brauchte sie eine halbe Stunde. Sie weinte nicht mehr, summen tat plötzlich weh, und selbst zum Laufen fehlte ihr die Kraft. Doch sie zwang sich, durchzuhalten. Sie hatte es versprochen. Sie bog in den Vorgarten ein, da fühlte sie plötzlich, dass sie beobachtet wurde. Sie blickte auf und sah, dass ein Polizist in der Wohnungstür stand. Jetzt bemerkte Claire auch das Polizeiauto, dass vor ihrer Auffahrt geparkt war. Der Polizist sah halb misstrauisch, halb besorgt aus. "Claire de la Fontaine?", fragte er mit einer herrischen Stimme. Claire konnte nur nicken. Ein paar Minuten später saß sie zwischen dem völlig verweinten Fabien und Marc, der ziemlich verzweifelt aussah. Der Polizist ging vor dem Sofa hin und her und stellte Fragen. "Sie wurden beobachtet, Miss, wie Sie seelenruhig aus dem zweiten Zimmer des sechsten Korridors im Krankenhaus gingen. Bestätigen sie diese Vorlage?" Claire nickte. "Kurz darauf wurde entdeckt, dass die zuvor kerngesunde Madame de la Fontaine tot in ihrem Bett lag. Kannten Sie diese Dame?" "Ja.", antwortete Claire bestimmt. "Das ist...war meine Mutter. Aber sie war nicht gesund. Sie hatte Koronarinsuffizienz und hatte sich gewünscht, dass ich bei ihrem Tod bei ihr wäre. Und das.....war ich halt." Der Polizist zog die Augenbrauen hoch. Er wandte sich Fabien und Marc zu. "Stimmt ihr dem zu?" Fabien nickte, doch Marc fing an zu weinen. "Was ist hier eigentlich los? Wo ist Mama und was ist überhaupt passiert?" Claire griff nach seiner Hand und hielt sie fest. "Mama war ganz dolle krank, Süßer, das weißt du doch. Die Ärzte haben sie mitgenommen und ich bin hinterher gegangen, um zu sehen, wie es ihr geht. Da hab ich bemerkt, wie schlecht es ihr geht, und dann ist sie gestorben. Ich soll euch beide aber ganz lieb grüßen.". Marc starrte sie an, die nussbraunen Augen entsetzt aufgerissen. Er sah angstvoll zum Polizisten, dann zu Fabien, der mit Mühe die neuen Tränen zurückhalten konnte, und zu seiner großen Schwester, die ihn so komisch ansah, dass er auch weinen musste. "Nein!", schluchzte er. "Nein! Du lügst! Das glaube ich dir nicht!". Er riss sich los und rannte hinaus. Claire wollte hinterher, doch der Polizist hielt sie fest. "Ich brauche Sie hier, Miss. ER soll gehn.". Er wies mit dem Kopf zu Fabien, der langsam ebenfalls aus dem Zimmer ging. "Ich bin fest überzeugt davon, dass Sie die Wahrheit sagen, Miss. Ist ein weiterer Erziehungsberechtigter im Haus oder sollten wir wen verständigen? Ihren Vater viell...?" "Wir haben keinen Vater!", unterbrach ihn Claire. Der Polizist sah sie einen Moment lang stirnrunzelnd an, dann seufzte er. "Unsere Oma vielleicht. Sie wohnt im Nachbardorf.", sagte Claire nachdenklich. Der Polizist zuckte die Schultern und fragte:"Übernehmen Sie den Anruf oder soll ich das erledigen? Dann bräuchte ich aber den Namen und die Telefonnummer." Claire schrieb beides auf einen Zettel und sagte:"Hier. Ich muss nach den Kleinen sehen." Sie ließ den Polizisten allein und ging die Treppe hinauf. Das Zimmer von Fabien war leer, doch aus Marcs Zimmer ertönten Stimmen. Claire öffnete die Tür und trat ein. Marc lag mit dem Gesicht im Kissen in seinem Bett, während Fabien sich an den Schreibtisch gesetzt hatte. "Hey.", flüsterte Claire leise und ging auf Fabien zu. Sie griff seine Hand und zog ihn zu Marc. Zu dritt saßen sie da, ohne ein Wort zu sagen, alle mit verheulten Gesichtern, ganz still. Claire wickelte ein Decke um sie alle drei und drückte jedem einen Kuss auf die Wange. Dann sang sie. Es war nicht das Lied von Rue, auch kein sonstiges berühmtes Stück. Sie sang das, was ihr in dem Kopf herumschwirrte, während sie sanft hin und her schaukelte. Ich halt deine Hand und singe für dich Ich singe für dich und für mich. Ich denke an alles, was war und was wird sein werd dich nicht vergessen, denn du bist mein. und wenn du gehst, bin ich trotzdem nicht allein denn du wirst für immer bei mir sein. ich vermisse dich nicht ich ersehne deine wärme ich vergesse nicht dein Gesicht und wenn du gehst, bin ich trotzdem nicht allein, denn du wirst für immer bei mir sein. du und ich dein Herz und meine Seele sind das Wunderquartett der Liebe ich vermisse dich nicht ich ersehne deine wärme ich vergesse nicht dein Gesicht und wenn du gehst, bin ich trotzdem nicht allein, denn du wirst für immer bei mir sein. lass mich trotzdem nicht allein. Sie saßen noch immer da, still und vereint, und lauschtem den leisen Regen, der einen eisigen Rhythmus an die Scheiben trommelte, untermalt von grollenden Bass des tiefen Donners. Kapitel 8: Angst ---------------- Mit einem Ruck ging die Tür auf. "Da sind Sie ja", sagte der Polizist und steckte den Kopf ins Zimmer. Mit ihrer Großmutter ist alles geklärt, sie wird in den nächsten Tagen erscheinen. Allerdings...." "Was?" schniefte Claire. "Sie fragte ob sich nicht ihr Sohn darum kümmern könne." "Ja und?" "Es verwirrte mich. Ich dachte, sie hätten keinen Vater?" "Er hat uns nach Marcs Geburt mit einem Haufen Schulden sitzenlassen. Für uns ist er gestorben." Der Polizist nickte und verließ gute, anstrengende zwei Stunden später das Haus, nachdem Claire ziemlich viele, stressige Fragen hatte beantworten müssen. Als die Kinder endlich im Bett waren, versuchte Claire zu schlafen, gab es jedoch bald auf. Sie würde keine Ruhe finden, dass war ihr klar, so verließ sie das Haus und ging im strömenden Regen ruhelos umher. Sie weinte nicht mehr; es schien, als wären alle Tränen fort, außerdem fühlte sich Claire mit siebzehn zu alt dafür. Das einzige, wozu sie fähig war, war lautlos und heftig aufzuschluchzen. ^^Mitte der Ferien, drei Tage später^^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)