Schrottplatz von pustebluemchen (Leben im Jahr 2050) ================================================================================ Kapitel 1: Schrottplatz ----------------------- Mathilda Felsen, sechszehn Jahre jung, schlug an einem trüben Tag im November sehr früh ihre Augen auf. Schon von ihrem Bett aus konnte sie aus dem gegenüberliegenden Fenster sehen, dass die Sonne nicht schien. Natürlich schien sie nicht, denn das tat sie nie. Jedenfalls nicht im November. Mathilda schlug die leichte Bettdecke beiseite und schwang sich aus dem Bett. Ihr Blick fiel auf den Kalender an der gegenüberliegenden Wand und sie seufzte. Der dreizehnte November und sie hasste diesen Tag. Sie hasste ihn fast noch mehr als den elften März. Wie gesagt nur fast, trotzdem fand sie, dass dieses Datum etwas Bedrohliches hatte, vor allem an einem Freitag. Ein wenig traurig und zugleich schon widerwillig schlurfte sie ins Bad und zog sie sich ihre Kleidung, sprich eine abgewetzte Jeans und ein viel zu graues Shirt über ihrer Unterwäsche, an. Mit lustlosen Bewegungen ließ sie die Bürste durch ihre haselnussbraunen Haare fahren. Das Gesicht ließ sie ungewaschen. „Wir müssen Wasser sparen!“, predigte ihre Mutter jeden Tag, obwohl es Mathilda lächerlich erschien. Immerhin hatte der Meeresspiegel in den letzten Jahren rasant zugelegt und so konnte sie nicht verstehen, warum Wasser plötzlich so kostbar war, dass es für ihre Mutter sogar notwendig schien den Regen aufzufangen. Als sie die Küche betrat, flimmerten über den kleinen Fernseher gerade die Nachrichten. Ihre Mutter kümmerte sich derweil um das Pausenbrot ihrer Tochter. Auf dem Bildschirm sah man den Regenwald, oder was davon noch übrig war, aus einem Helikopter heraus und am unteren Bildschirmrand lief ein Band durch, das in Kurzform die neuesten Meldungen aus dem Krisengebiet brachte. Der Nachrichtensprecher redete unterdessen davon, wie sich Greenpeace-Aktivisten und die USA um die letzten fruchtbaren Hektar des Bodens zankten. Mathilda schüttelte den Kopf und sah ihrer Mutter zu, die sorgfältig eine hauchdünne Scheibe Brot abschnitt. „Warum gibst du mir nicht gleich Luft mit zu essen?“, fragte Mathilda sarkastisch und nahm sich eine Tasse aus dem Schrank. Ihre Mutter seufzte. „Du weißt, dass das Brot sehr teuer ist. Nimm nicht zu viel!“ Mathilda wäre fast ihre Tasse und die Kaffeekanne ob dieser lauten Warnung ihrer Mutter aus der Hand gefallen. Gerade noch rechtzeitig konnte sie beides festhalten und es dann auf dem Küchentisch abstellen. Sie setzte sich gegenüber von ihrer Mutter hin. „Sei doch vorsichtig. Auch der Kaffee ist nicht billig. Dein Vater musste hart dafür arbeiten und ich habe lange angestanden. Wir haben…“ „…gerade so die letzte Packung abgreifen können“, setzte Mathilda genervt fort und verdrehte die Augen, während sie Zucker und Milch in die schwarze Brühe gab, „ich weiß, Ma. Kaffee ist teuer. Brot ist teuer. Strom ist teuer. Ich bin froh, dass ich umsonst atmen darf. Obwohl selbst Luft bald teuer werden dürfte.“ Sie deutete mit dem Kopf auf die Nachrichten, wo gerade ein Sprecher von Greenpeace predigte, dass der Regenwald einer der wichtigsten Sauerstofflieferanten ist und alle Menschen ersticken werden, wenn die kapitalsüchtigen US-Staaten nicht aufhören, ihn auszuschlachten wie eine Weihnachtsgans. Frau Felsen seufzte und tätschelte ihrer Tochter die Hand. „Reg dich nicht so auf Mathilda. Es sind einfach schwere Zeiten für die ganze Welt. Es wird schon alles wieder in Ordnung kommen.“ Sie machte noch die Brotbüchse fertig. Mathilda schnaubte: „Ja sicher, und Schweine können fliegen.“ Sie trank den Kaffee in schnellen Zügen aus, nahm sich dann ihre Brotbüchse und ihren Rucksack, der in irgendeiner Ecke lag, und machte sich auf den Weg in die Garage, um ihr Fahrrad zu holen. Sobald sie an der frischen Luft war, wusste sie wieder warum sie den frühen Novembermorgen so hasste. Es war deutlich zu kühl selbst für diese Jahreszeit und sie wäre viel lieber mit dem Auto oder dem Bus gefahren. Aber auch das war zu teuer. Eine Karte für den Bus kostete viel Geld, weil die Benzinpreise so hoch wie noch nie waren. Wer heutzutage noch mit dem Auto oder dem Bus fuhr, hatte definitiv zu viel Geld. Frustriert erinnerte sie sich an die beinahe utopisch klingenden Erzählungen ihrer Tante, die oft von früher schwärmte. Damals war es selbstverständlich mit einem Schulbus zu fahren, da konnte man sich das auch noch leisten. Während Mathilda so über den Feldweg fuhr, fragte sie sich, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie früher gelebt hätte. Zum Beispiel wenn sie in den 1980ern geboren worden wäre. Dann hätte sie viele großartige und vor allen Dingen positive Ereignisse miterlebt so wie den Fall der Berliner Mauer und die deutsche Wiedervereinigung. Die letzte Fußballweltmeisterschaft im Jahre 2038 hätte sie ganz bewusst miterleben können und nicht als vierjähriges Mädchen, das davon nicht viel verstand. Jetzt wurden solche sportlichen Wettkämpfe schon seit Jahren nicht mehr ausgetragen, weil die Staaten das Geld für Lebensmittel und Rohstoffe brauchten. Die Stadien wurden abgerissen, da man Baumaterial benötigte. Die Stahlteile kamen der Rüstungsindustrie zu Gute. In den letzten Jahren hatten viele Länder Kriege untereinander geführt und führten sie noch immer. Es gab immer wieder neue Unruhen überall auf der Welt. Da ging es um die letzten paar Quadratmeter fruchtbaren Bodens, der durch die egoistische Verschmutzung und Überlastung durch den Menschen immer seltener geworden war. Oder um die letzten Tropfen Erdöl oder Erdgas. Die besten Standorte für Windparks, Gezeitenkraftwerke oder Solaranlagen waren hart umkämpft, da nach den Katastrophen von Japan und der Türkei fast alle aus der Atomkraft ausgestiegen waren und die Natur als einzige Strom und Energie lieferte. Darum war auch Elektrizität ein kostbares Gut. Am belanglosesten waren aber die Kämpfe im arabischen Raum oder die Angriffe der französischen Naziregierung, die seit mehr als zwanzig Jahren das Sechseck kontrollierte. Da ging es immer nur um die eigene Ehre. Der Traum vom Weltfrieden war so fern wie noch nie. Mathilda erschien dieser Traum von Friede, Freude, Eierkuchen sowieso schon immer schwachsinnig. Selbst als es dem Planten noch besser ging, war das Humbug gewesen. Das ganze Gerede von Frieden, kein Hunger und alle haben sich lieb, wäre niemals Wirklichkeit geworden. Die Menschen waren einfach zu intolerant, als dass sie ihre Unterschiede jemals anerkennen würden. Es würde immer Querschläger geben. Der Mensch ist nicht als friedlebendes Wesen konzipiert worden, da er in seinem egoistischen Streben nach Macht alle Steine in seinem Weg zermalmt wie Staub, der dann im Wind verweht. Inzwischen hatte Mathilda die von Autos befahrene Bundesstraße erreicht und ließ sich bergab rollen, um die Geschwindigkeit und den grausamen Novemberwind ein bisschen zu genießen. An der nächsten Kreuzung traf sie sich mit Bianca, ihrer besten Freundin aus einem anderen Dorf. Die langen Haare hatte die Blondine in einem Pferdeschwanz gebändigt und der dicke Schal, den sie sich umgebunden hatte, verdeckte ihr Gesicht fast vollständig. „Morgen“, brummte sie verschlafen, als Mathilda neben ihr zum Stehen kam, „ich hab heute keine Lust auf Schule.“ Mathilda nickte zustimmend: „Dito. Wollen wir zum »CarCrash«?“ „Auf geht’s!“, rief Bianca und fuhr in nördliche Richtung voraus. Ein Verkehrsschild verwies ganz deutlich darauf, dass sich in dieser Richtung eine Sackgasse befand: Der Schrottplatz, von den Jugendlichen »CarCrash« genannt, auf dem die Metallteile ihre letzte Ruhe fanden, die man überhaupt nicht mehr verwenden konnte. Nun verbrachten viele Halbstarke ihre Zeit lieber dort und werkelten mit dem toten Stahl und Eisen herum, als in der Schule etwas über den schnellen Verfall der Erde zu hören. Die Statistiken über Schulschwänzer wurden deswegen schon seit Jahren gefälscht, doch auch der Anteil der potentiellen Bildzeitungsleser, die Zeitung an sich war zum Glück seit Jahren verboten, hatte inzwischen mitbekommen, dass die wenigsten zwölf- bis achtzehnjährigen ihre Zeit in den stickigen Klassenräumen zubrachten. Als die beiden Räder der beiden Mädchen zwischen Schrottteilen zum Stehen kamen, konnten sie ein einsames Hämmern hören. An diesem trüben Tage waren sie wohl nicht alleine hier. Natürlich nicht. Ikarus, der selbsternannte Rumtreiber, lebte schon seit Jahren auf dem Schrottplatz. Sein schäbiger Wohnwagen stand zwischen verrosteten Metallträgern und er selbst bastelte jeden Tag an irgendeiner neuen Maschinerie, die aber selten funktionierte. Bianca und Mathilda fuhren bis zu seiner mit Graffitis übersäten Behausung, vor der der Schwarzhaarige im Schneidersitz sitzend mit einem Hammer auf eine runde Metallplatte einschlug. Er trug nur ein weißes Unterhemd kombiniert mit einer dunklen Stoffhose und Bianca fröstelte bei dem Anblick. „Der ist doch nicht ganz dicht“, flüsterte die Blonde Mathilda zu. Die Angesprochene nickte nur, während Ikarus brüllte: „He, das hab ich gehört!“ Die Mädchen stellten ihre Räder ab und schlenderten zu ihm herüber. Mathilda ließ sich auf der Treppe des Wohnwagens nieder. Bianca bevorzugte es, zu stehen. „Warum seid ihr nicht in der Schule, eh?“, er blickte von seiner Arbeit auf und die dunklen Augen wanderten rastlos zwischen den Mädchen umher. „Was sollen wir da?“, fragte Bianca genervt zurück und ließ sich dann doch neben Mathilda nieder, „Diese Stümper mit ihren überbewerteten Studienabschlüssen singen uns doch eh nur ein Lied vom Ende der Welt. Das können wir schon fast auswendig!“ Mathilda nickte. „Außerdem musst du keine Reden schwingen, Mister Ich-hau-mit-sechszehn-von-zu-Hause-ab-und-leb-dann-auf-‘nem-Schrottplatz“, die Brünette verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte den jungen Mann angriffslustig an. Irgendwie hatte sie gerade Lust auf einen Streit. Lust darauf dem Vorbild der großen Weltstaaten zu folgen. „Kommt runter, Ladies“, winkte er nur ab und warf die Metallplatte wie eine Frisbeescheibe auf einen extra großen Haufen Schrott. Dann stand er auf und klopfte sich den Staub von der Hose. „Lasst uns reingehen Mädels, es riecht nach Regen.“ „Dann sind ja gleich die Getränke fertig“, fügte Bianca sarkastisch hinzu und spielte damit auf ihre ganz persönliche Wassernutzungsmisere an. Bei der Blonden verhielt es sich nämlich so, dass das Regenwasser wie in den meisten Haushalten gesammelt und dann abgekocht wurde. Nur benutzten ihre Eltern das abgekochte Wasser auch zum Trinken und nicht nur zum Waschen. „Nur werden diese Getränke nicht nur aus abgekochten Wasser bestehen“, grinste Ikarus und bedeutete den beiden, vor ihm in den Wohnwagen zu treten. Es war sehr klein, die Decke war niedrig und als einzige Sitzgelegenheit diente sein Bett rechts von der Tür, aber dennoch war es warm. Ganz furchtbar warm und es roch himmlisch. Mathilda liebte den Geruch und sie mochte das Wort, das zum Geruch gehörte. Vanille. Das klang so herrlich, so exotisch. Ikarus weigerte sich immer wieder ihr zu erklären, warum es so roch. Vanille war schon immer eines der teuersten Gewürze und in so schweren Zeiten wurde sie zu Wucherpreisen gehandelt. „Das ist mein Geheimnis“, sagte er immer. Heute ließ sich Mathilda auf seinem Bett nieder, ohne ihn zu fragen. An einem Tag im November war ihr nicht danach, besonders nicht am dreizehnten November. „Seht mal, was ich hier habe“, grinsend machte er den kleinen Kühlschrank der Küche auf und holte eine Karaffe gefüllt mit einer gelblichen Flüssigkeit heraus. „Ist das etwa…?“, aufgeregt sahen die beiden zu, wie er drei Gläser mit dem Saft füllte. Er nickte und reichte ihnen jeweils ein Glas. Zur Linken der Tür stand ein schäbiger Holzstuhl, auf dem er sich niederließ. „Jep, frisch gepresster Orangensaft. Ich musste ihn mit Wasser strecken, aber die Früchte schmeckt man noch raus.“ „Wo hast du die her?“, kam es von Bianca, die dann einen genüsslichen Schluck von dem Saft nahm. Ein überlegenes Grinsen schlich sich auf das Gesicht des Rumtreibers: „Hab mich heimlich bei der letzten Früchtelieferung ins Lager geschlichen. War gar nicht so einfach und ich musste echt schnell sein. Konnte leider nur fünf Orangen erwischen, aber immerhin. Ich hab dann alles, was irgendwie flüssig war aus den Biestern raus gequetscht.“ „Hast du gut gemacht“, murmelte Mathilda und setzte das Glas an ihre Lippen. Sie schloss die Augen. Das letzte Mal, als sie Orangensaft getrunken hatte, war vor sechs Jahren bei ihrer Tante gewesen. „Früher hätte es solche Engpässe nicht gegeben!“, hatte ihre Tante geflucht, „Das ist ja schlimmer als zu Honeckers Zeiten!“ Mathilda schüttelte den Kopf, um die Erinnerung an ihre fluchende Tante auszublenden und sich stattdessen ganz und gar von dem Geschmack nach dem fernen Süden durchströmen zu lassen. Den Saft ließ sie lange im Mund, bevor sie ihn herunterschluckte, um das Aroma und die Gedanken an Sonne und Unbeschwertheit voll und ganz auszukosten. „Unserer Matti scheint’s ja kräftig zu schmecken, eh“, witzelte Ikarus und Mathilda schlug die Augen auf. Den Saft schluckte sie schnell runter, um zu ihrer bissigen Antwort anzusetzen: „Du sollst mich nicht ‚Matti‘ nennen! Ich heiße Mathilda. M-a-t-h-i-l-d-a!“ Ikarus warf den Kopf in den Nacken und lachte laut auf. Auch Bianca konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Jetzt wusste Mathilda plötzlich wieder, woher die Wärme in seinem Wohnwagen kam. Sie kam von Ikarus und seiner unbeschwerten Art. Ein sanftes Lächeln bildete sich auf den Lippen der Brünetten, die den Saft weiter in kleinen Schlucken genoss. Mit den Gedanken war sie nicht mehr bei der Sonne, sondern bei ihren Freunden. Hier in diesem warmen Wohnwagen, der weit weg von allen Problemen auf dem Schrottplatz stand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)