Nah am Herzen von Decken-Diebin (Original-Only Wichteln 2011 - Wichtelgeschichte für Prussia) ================================================================================ Kapitel 2: Mehr von dir ----------------------- Als Lukas an diesem Morgen den Schulhof betrat, war merkwürdigerweise Alex der erste, den er erblickte. Er stand an der Treppe zum Haupteingang. Obwohl er gestern etwas traurig gewesen war, freute Lukas sich, ihn zu sehen, in der Hoffnung, dass es ihm besser ging. „Lukas!“, wurde er auch schon begrüßt, als er fast bei Alex angekommen war, „So früh schon hier?“ „Japs“, antwortete er, „Meine Schwester hat heute Morgen den Fön im Bad fallen gelassen, ich bin von dem Knall aufgewacht.“ „Dann sollte sie das am besten jeden Morgen tun, damit du pünktlich kommst.“, meinte Alex. Lukas schnaubte. „Ich komme immer pünktlich!“ „Wenn du den Moment, in dem die Lehrer die Tür schon halb zugemacht haben und du noch da durch flitzt, als pünktlich definierst, dann ja.“, witzelte er. „Ach was, das ist pünktlich. – Bist du jeden Morgen so früh hier?“, fragte Lukas schließlich, denn mit einem Blick auf seine Uhr hatte er sich davon überzeugt, dass es wirklich noch nicht Zeit war, dass es rein klingelte. „Oh ja. Wenn ich nicht vor dem Klingelzeichen hier bin, kriege ich immer einen halben Kollaps. Ich brauch irgendwie immer meine Viertelstunde, um mich seelisch und moralisch im Klassenraum auf den Unterricht vorzubereiten.“, erklärte Alex wichtig. „Gerade du“, kommentierte Lukas das mit einem spöttischen Unterton. „Bei einigen Fächern schon. Allein, wenn ich daran denke, dass wir gleich wieder Biologie haben“, meckerte er. Im selben Moment ertönte die störend laute Schulglocke und sie begaben sich in das Gebäude. Wie jeden Morgen herrschte ein ziemlicher Trubel in den Fluren und Foyers. Die Mädchen nahmen sich fast immer an die Hand, damit sie nicht verloren gingen, doch die Jungs hielten es für klüger, das zu unterlassen. Größte Schule im Umkreis hieß nun mal auch viele Menschen. Damit musste man klar kommen, wenn man sich für diese Schule entschied. Biologie fand immer in den unteren Räumen statt. Auf der Treppe hinab zum Keller hatte der Trubel sich etwas aufgelöst. „Aber dir geht es wieder etwas besser, hm?“, fragte Lukas, als er der Meinung war, dass hier niemand zuhörte, den sie kannten. „Oh“, war Alex‘ erste Reaktion, dann schlich sich ein Hauch von Rot auf seine Wangen, „Ähm, ja. Mir geht es heute besser…“ „Gut“, grinste Lukas, „Und dir muss das jetzt auch nicht peinlich sein, mir davon zu erzählen. Ich würd’s doch auch machen. Außerdem, du hast doch bestimmt schon wem anders davon berichtet, nicht?“ „Ähm, nein.“, antwortete der Dunkelhaarige, „Eigentlich nicht. Du bist der erste, dem ich davon erzähle. Und ich denke, es wird auch so bleiben, ich möchte nicht bei jedem mit meinen Sorgen hausieren gehen.“ Lukas blinzelte überrascht. „Das hätt ich jetzt nicht erwartet“, sagte er, „Ich fühl mich mal geehrt, ja?“ „Mach doch“, erwiderte Alex und grinste. „Und keine Sorge, bei mir ist das, was du erzählt hast, sicher. Und zu mir kommen kannst du immer wieder, nur dass du das weißt. Mir ist die Freundschaft zu dir wirklich wichtig.“ Alex sagte nichts dazu, blieb schließlich zusammen mit Lukas vor dem Biologie-Raum stehen und schmunzelte nur. Verdutzt blickte der andere ihn an, bis ihm auffiel, was er eigentlich gesagt hatte. „Oh Gott. Das hat sich total kitschig und scheiße angehört, oder?“, fragte er nach und schlug sich mit der Hand vor die Stirn, doch grinsen musste er trotzdem. „Nein. Überhaupt nicht.“, sagte Alex sarkastisch. „Oh man. Du weißt schon, wie ich das meine. Ernst und so. Also nicht so bescheuert wie die Mädchen mit ihren ‚allerbeste Freundin for eveeer‘ und so. Also-… ach, verdammte Scheiße. Du weißt schon.“, plapperte Lukas ohne Sinn und Verstand, bis er sich schließlich total verstrickt hatte mit seinen Worten. Ein Gutes hatte es jedenfalls: Alex musste herzhaft lachen, und da konnte Lukas nichts anderes tun als mitzumachen. „Jo, Dicker, ist alles klar!“, sprach Alex aus Spaß mit einem schrecklichen Slang, um die Verwirrtheit seines Gegenübers widerzuspiegeln. Dann kamen die ersten Leute aus dem Kurs und die Biologie-Lehrerin, sodass sie sich zwangen, mit dem Lachen aufzuhören. Immerhin sollte man ja auch aufhören, wenn es am schönsten war. Lukas und Alex saßen zwar in Biologie zusammen, doch der Braunhaarige bat den anderen, ihn lieber nicht so sehr voll zu quatschen, da er sonst kaum etwas von dem Stoff, den er eh kaum verstand, mitbekommen würde. Also beugte Lukas sich diesem Wunsch und arbeitete sogar mit, was ihn selbst etwas verwunderte. Doch neben ihm schien ein kleines Häufchen Elend zu sitzen, was die Wissenschaft der Biologie betraf. Während der Arm des Blonden sich bei jeder Frage ihrer Lehrerin fast selbstständig hob, schien Alex allein bei den Antworten für die Fragen Verständnisprobleme zu haben. Es war zwar nicht wirklich neu für beide, denn sie wussten, dass Alex‘ Durchschnitt in Biologie bei sieben Punkten lag – aber mittlerweile schien er immer mehr hinterher zu hängen. Als sie schließlich einige Aufgaben still im Buch erarbeiten mussten, nutzte Lukas die Gelegenheit: „Seit wann bist du dermaßen schlecht in Bio?“ „War das gerade eine Beleidigung?“, fragte Alex zurück, aber man hörte, dass er es eh nicht wie eine aufnahm. „Nein, eine bloße Feststellung.“ „Keine Ahnung. Ich glaube, ich habe irgendwann letztes Jahr den Faden verloren.“, sagte er und zuckte mit den Schultern. Nicht überzeugt zog Lukas die linke Augenbraue hoch. „Warum hast du es dann erst überhaupt angewählt?“ „Was weiß ich denn. Wahrscheinlich hatte ich zu dem Zeitpunkt noch keine Schwierigkeiten.“, murrte er nun, aber Lukas seufzte einfach und sprach weiter. „Das kommt doch nicht einfach Schlag auf Schlag.“ Wieder nur ein Murren als Antwort. „Ach, hör schon auf, du kommst morgen einfach mal zu mir, und dann bring ich dir Bio bei, okay?“ Damit hatte er nun nicht gerechnet. Lukas wollte ihm Nachhilfe in Biologie geben? Das wär fantastisch. „Ernsthaft?“ „Natürlich, wo denkst du hin?“, fragte der Blonde grinsend zurück. Alex wollte zu einer weiteren Antwort ansetzen, doch das Räuspern der Lehrerin unterbrach ihr Gespräch. So lächelte er seinem blonden Banknachbarn nur zu und konzentrierte sich schließlich auf seine Aufgaben. Mittwoch war für beide ein kurzer Tag, also war es tatsächlich der beste Tag um sich für eine Biologie-Nachhilfe-Stunde zu treffen. Sie hatten gegen zwei Uhr Schluss gehabt, und da sie beide nicht weit weg von einander und von der Schule wohnten, hatten sie sich für um drei Uhr bei Lukas verabredet. Alex freute sich wirklich darauf. Besonders, als er mit seinen Eltern am Mittagstisch saß, die natürlich kein Wort miteinander redeten. Es war eine schreckliche Stille und er ließ es sofort, irgendetwas zu sagen – sie würden eh nicht reden wollen. Er verschwand hoch in sein Zimmer, sobald er seine Hefeklöße aufgegessen hatte, packte seine Tasche zusammen und ging wieder los, auch wenn er wusste, dass er zu früh bei Lukas sein würde. Es war ihm egal, und er hoffte, so war es für Lukas auch. Aber er war sich sicher, dass er ihn verstehen würde. Langsam schlenderte er die Wege lang, die von der Sonne erwärmt wurden. Es war wirklich angenehm, in der Wärme zu spazieren und ab und zu an einem Fliederbusch Schmetterlinge fliegen zu sehen. Schließlich bog er in einen Aufgang ein, der zu einem hübschen weißen Einfamilienhaus führte. Man erkannte, dass es etwas moderner war, denn alle anderen Häuser sahen noch nach typischer Backsteinfassade aus. Von Lukas wusste er, dass seine Nachbarn fast alle über sechzig Jahre alt waren. Er blieb an der Tür stehen und drückte auf den Klingelknopf, auf dem der Name Bonner stand. Kurz sah er auf seine Uhr, während er wartete. Sie zeigte dreiviertel drei an. Innerlich zuckte Alex mit den Schultern. Es würde schon nicht schlimm sein. Plötzlich öffnete die Tür sich und eine Frau mittleren Alters mit langen und blonden Haaren stand von ihr ihm. „Ach, hallo Alex!“, begrüßte sie ihn. Sie kannten sich schon seit einiger Zeit. „Du bist aber früh dran. Lukas meinte, ihr hättet euch für um drei verabredet.“ „Ja, aber ich hoffe doch, es ist nicht schlimm, wenn ich früher da bin?“, fragte er lieber noch einmal nach. „Ach was!“, winkte Frau Bonner das sofort ab. Alex stellte seine Schuhe zu denen der Familie. „Du kannst in Lukas‘ Zimmer gehen, aber du musst ein bisschen warten, er ist noch unter der Dusche.“, sagte sie zu ihm, „Ich weiß nicht, ob du es weißt, aber er kann es überhaupt nicht leiden, nach dem Sport nicht sofort duschen zu können.“ Er grinste. „Ja, sowas ähnliches hatte er schon mal erwähnt. Es ist aber kein Problem für mich zu warten, also machen Sie sich keine Sorgen um mich.“ „Gut, gut. Solange du mir nicht wieder die Treppe runterfällst.“, meinte sie nur noch, spielte damit auf ein Ereignis von vor drei Jahren an und brachte Alex damit zum Lachen. „Bloß nicht.“, erwiderte er und ging dann hoch in Lukas‘ Zimmer. Lukas‘ Zimmer war ein Stückchen größer als sein eigenes. Hier war Platz für Bett und Sofa – diesen Luxus hatte Alex bei sich zu Hause nicht. Er mochte den Raum wirklich sehr, und das lag nicht daran, dass er wirklich groß und geräumig war, sondern eher an der persönlichen Gestaltung, die Lukas hier vorgenommen hatte: Etliche Fotos hingen an den Wänden, in verschiedenen Größen, in verschiedenen Rahmen. Es schienen ausschließlich Erinnerungsfotos zu sein. Er fand Fotos von vor zwei Jahren, als Lukas mit seiner Familie in Ägypten Urlaub gemacht hatte, aber auch einige Familienfotos, die zu Weihnachten und Ostern entstanden sein mussten. Aber auch Erinnerungsstücke von Klassenfahrten oder Ausflügen sammelten sich an den Wänden, und auf einigen der Lichtbilder fand Alex sich selbst wieder, was ihm irgendwie ein gutes Gefühl bescherte. Er hörte die Tür hinter sich auf gehen und drehte sich von der Wand Richtung Tür. Und dort stand Lukas. Natürlich stand da Lukas, wer hätte auch sonst dort stehen sollen, aber da drüben stand Lukas – lediglich mit einem Handtuch um die Hüften. Sein kurzes Haar glänzte noch nass und Alex glaubte, von der Entfernung Wasserperlen an seinen hellen Wimpern kleben zu sehen. Er schien am Oberkörper leichte Gänsehaut zu haben, also musste er wohl eine kalte Dusche gehabt haben. Einige Wassertropfen, die er anscheinend noch nicht abgetrocknet hatte, liefen in nahezu geraden Bahnen an seinem Körper herunter und verschwanden teilweise unter seinem Handtuch, unter dem schließlich muskulöse Beine hervor guckten. Natürlich hatte Lukas muskulöse Beine, immerhin trieb er regelmäßig Sport. Alex‘ Augen wanderten noch einmal nach oben, blieben an den Brustwarzen von Lukas kleben, die sich wegen eines frischen Luftzuges aus dem offenen Fenster erhärtet hatten. Wie er wohl aussehen würde, wenn er das Handtuch nicht tragen würde…? Moment. Stopp. Was hatte er gerade gedacht? Und wie lange starrte er Lukas jetzt schon an? Wie auf Knopfdruck breitete sich eine verräterische Röte auf seinen Wangen und er versuchte, sich jetzt nicht mit seinen Worten zu verhaspeln. Die komischen Gedanken mussten jetzt weg. Weg, weg, weg mit euch!, dachte er und zwang sich dann zum Sprechen. „Ähm, hi.“, sagte er letztendlich. „Hi.“, erwiderte Lukas schlicht, kratzte sich am Kopf und schien für einen Moment ebenfalls nicht zu wissen, was er sagen sollte. Er war soeben total verwirrt worden. Hatte Alex ihn gerade nahezu vollständig gemustert und angestarrt? Am liebsten würde er ja sagen, das hatte er sich eingebildet, aber die Blicke waren eindeutig gewesen. Lukas erinnerte sich daran, dass er sprechen konnte. „Warum bist du so früh da?“ „Oh. Na ja, ich bin früher los. Wollte nicht mehr zu Hause sein.“, antwortete er und blieb steif an seinem Platz stehen, während Lukas sich in Bewegung setzte und zu seiner Kommode ging um sich Wäsche daraus zu nehmen. „Ach so, verstehe“, sagte er. Er konnte sich wirklich denken, warum Alex nicht lange zu Hause geblieben war. „Ich bin gleich wieder da. Geh mich umziehen.“ „Okay.“ Alex nickte und Lukas drehte sich um, um in Richtung Bad zu verschwinden. Unwillkürlich nahm der Braunhaarige noch mal einen Blick von Lukas‘ Rücken voll – im nächsten Moment hätte er seinen Kopf gegen die nächste Wand schlagen können. Was zum Geier war da gerade eben passiert? Es war doch nicht das erste Mal, dass er Lukas in so einem freizügigen ‚Outfit‘ gesehen hatte. Schließlich hatten sie sich erst heute in derselben Turnhallenumkleide umgezogen und er hatte sogar schon mal hier bei ihm auf dem Sofa übernachtet. Ihm war komisch. Nicht unbedingt schlecht oder übel, aber er fühlte sich merkwürdig. Oh Gott – es hatte ihm gefallen, Lukas anzustarren. Das war doch nicht mehr normal. War denn irgendetwas wirklich anders, seitdem er sich am Montagabend ihm anvertraut hatte? Er hatte das Gefühl, es war so, doch er konnte nicht benennen, was genau es war. Es fühlte sich auf jeden Fall so an, als könnte es Probleme machen. Er hörte Badezimmertür klacken, atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen und zu konzentrieren. Es klappte ganz gut. „Du stehst ja immer noch hier rum“, meckerte Lukas, als er das Zimmer betrat, „Setz dich doch, Mensch, meinetwegen auch auf’s Bett.“ So ließ Alex sich auf das Bett, das gleich neben ihm stand, nieder und kramte seine Biologie-Sachen raus. „Ich frage mich immer noch, wie du mir was beibringen willst“, sagte er, und öffnete sein Buch auf Seite neunzig, denn dort standen die Aufgaben, die zum morgigen Tag erledigt werden sollten. „Das sollte kein Problem werden. Erstmal schauen wir, ob du verstehst, was du machen musst – wovon ich mal ausgehe – und dann gucken wir, ob du das gelöst bekommst, und wenn nicht, werden die Schwierigkeiten hinter forscht. Okay?“, schlug Lukas seinen Plan vor. „Ähm. Wie du meinst. Ich passe mich mal lieber dem Bio-Experten an“, erwiderte er schlicht. Lukas grinste. „Du Charmeur!“, witzelte er und führte eine Bewegung aus, die sein imaginäres langes Haar zurück warf. Es war nicht schwierig für Lukas herauszufinden, worin Alex‘ Probleme lagen. Ihm fehlten schlicht und einfach einige grundsätzliche Fakten, die man für die Biologie allgemein und gerade für diese Thematik brauchte. Also wiederholte er diese mit Alex und schon waren die Hausaufgaben schnell erledigt gewesen. „Wow. Ich hab noch nie so schnell meine Bio-Aufgaben erledigt bekommen“, meinte der Braunhaarige, als er den Stift endlich weglegen konnte, „Wenn man die Zeit zur Wiederholung nicht beachtet, wohl gemerkt.“ „Das ist doch schön. Und ich glaube, das wird dir jetzt in den nächsten Stunden helfen, insofern du das immer wiederholst, wenn es nicht in deinem Kopf bleibt.“, fügte Lukas noch als guten Ratschlag hinzu. Der andere nickte. „Ich werde dran denken.“ Er verstaute seine Biologie-Sachen wieder in seiner Tasche. „Ach, sag mal“, fing er dann wieder an zu sprechen, „Wollen wir vielleicht noch die Kunst-Aufgaben zusammen machen?“ „Wir haben Kunst-Aufgaben? Na toll.“, antwortete Lukas auf seine Frage höchst begeistert. „Meinetwegen. Was sollen wir machen?“ „Dieses eine Porträt interpretieren, das sie uns letzte Stunde als Kopie gegeben hat.“ „Das von Paul Rubens?“ „Genau.“ „…ich hab keine Lust.“ „Das war wieder klar“, meinte Alex halb lachend, halb stöhnend. „Und warum hast du eigentlich Kunst gewählt?“ „Ich hab keinen Musikunterricht mehr. Ich meine, es ist beides nicht mein Fachgebiet, aber lieber Kunst als Musik. Im Gegensatz zu dir, du kreatives Etwas.“, erklärte Lukas. „Kreatives Etwas?“, hakte Alex spottend nach, „Was für eine harte Beleidigung. Nun schreib deine Interpretation.“ „Ja, ja, Mama…“, sagte er, aber er kramte tatsächlich die Kopie und etwas zum Schreiben hervor und begann seine wirren Gedanken aufzuschreiben. Alex tat es ihm gleich. Doch nachdem er sich das Porträt von Rubens angesehen hatte, wusste er nicht wirklich, ob er jetzt eine gute Interpretation schreiben würde können. Das Bild stellte eine Frau, die in einem großen Badezimmer nur mit einem Handtuch bekleidet einsam da saß. Und obwohl es eine Frau auf diesem Werk war, so sah er doch vor seinem inneren Auge nur Lukas, wie er halbnackt vor ihm stand, noch halb nass und mit leicht geöffnetem Mund ihn ansehend. Er hatte nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen war, während er in Gedanken bei dem halbnackten Lukas war, doch plötzlich beugte sich eben dieser (jedoch angezogen) zu ihm rüber und fragte, was er denn bereits geschrieben hätte. Allerdings sah er nur ein leeres Blatt. „Noch nichts?“, fragte Lukas ungläubig. „Ich kann mich nicht konzentrieren.“, antwortete der jüngere murmelnd. Der Blonde begann unheimlich zu grinsen. „Waruuum?“, fragte er absichtlich kindlich, und als Alex nichts sagte, wiederholte er es noch mal: „Warum denn? Mh?“ „Lukas. Das geht dich nichts an, ja?“ „Du willst es mir nur nicht verraten, das ist alles!“, protestierte er. „Und wenn schon.“, war die schwache Antwort. „Tss“, machte Lukas, „Wetten, ich finde es heraus?“ „Nie im Leben. Das solltest du wissen.“, beharrte Alex auf seinem Standpunkt. „Komm schon. Ich wette, dass ich es innerhalb von einer Woche heraus finde. Und wenn ich das schaffe, darf ich mir etwas von dir wünschen – wenn ich es nicht tue, darfst du dir was wünschen. – Deal?“ Alex grübelte kurz. Die Sache hörte sich nicht schlecht an. Ganz sicher war er sich nicht, doch sein Mund sagte fast von alleine: „Okay.“ Die Antwort ließ Lukas zufrieden grinsen. Seufzend steckte er seine Kunst-Sachen zurück in seine Tasche. Jetzt hatte es keinen Sinn, dieses Porträt interpretieren zu wollen, da würde wirklich nur Mist entstehen. „Was ist das?“, hörte er plötzlich die Stimme von Lukas und ehe er sich versah, hatte dieser nach seinem Zeichenblock gegriffen. „Nicht!“, protestierte Alex und wollte danach greifen, doch Lukas war bereits aufgestanden, sodass er außerhalb seiner Reichweite war. „Bitte, Lukas…“, flehte er ihn an. Sein Zeichenblock war schon fast etwas so Persönliches wie ein Tagebuch. Zumindest war das für Alex so, der sein Leben gern zeichnete und meist damit schöne Erinnerungen festhielt. Jetzt musste er zusehen, wie der Blonde einfach da durchblätterte. „Das sind doch alles sehr schöne Zeichnungen“, meinte Lukas, während er behutsam das Papier anfasste und sich jedes einzelne Werk ansah. „Die müssen dir nicht peinlich sein.“ Für Lukas waren es reine Kunstwerke. Dort waren Stillleben aus der Natur, aber auch welche, die ein Chaos an Federtaschen, Heftern und Büchern eines Schultisches zeigten. Einige Male fand er Zeichnungen von ein und demselben Hund – wenn er sich richtig erinnerte, war es der von Karolina Abel, einer Klassenkameradin und die beste Freundin von Alex. Aber auch sie selbst schien er zwei, dreimal gezeichnet haben, ebenso seine Eltern. Unglaublich, wie präzise und detailreich er sogar Menschen zeichnen konnte. Die Zeichnungen sahen aus wie Fotografien. Dann besah er sich das letzte Bild. Es war, als würde er in einen Spiegel schauen, denn sein eigenes Gesicht sah ihn an. Es war etwas im Halbprofil gezeichnet, doch die Augen wandten sich dem Betrachter zu. Es war perfekt. „Ich…“, begann Lukas zu sprechen, aber es wollten sich keine sinnvollen Wörter daran anreihen. Stattdessen sah er Alex, der da stand, als hätte man ihn bei etwas Bösem erwischt, an und lächelte ihm zu. Fragend blickte der Kleinere ihn an. „Wow. Es ist wirklich wunderschön.“ „Dir gefällt es?“, fragte Alex flüsternd und ungläubig. „Was denn sonst?“, fragte Lukas zurück und sah kurz noch mal die Zeichnung an, „Also bitte. Ich hab noch nie gesehen, dass jemand ein derartig schönes Porträt von mir gezeichnet hat. Es ist perfekt.“ „Das ist zu viel Lob des Guten“, murmelte Alex und nahm den Zeichenblock, den der Blonde ihm hinhielt, wieder an sich. „Ich wollte es dir eigentlich nicht zeigen, weil ich dachte, es würde dir nicht gefallen.“ „Ach was. Du hast wirklich Talent, das sehe und schätze ich. Wann hast du das gezeichnet?“ „Am Montag“, antwortete Alex, „In der Pause im Flur, als du dich ein bisschen weiter weg von mir gesetzt hast.“ Er lächelte kurz bei der Erinnerung, bemerkte Lukas, und wenn er genauer darüber nachdachte, dann war das tatsächlich eine schöne Erinnerung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)