Nah am Herzen von Decken-Diebin (Original-Only Wichteln 2011 - Wichtelgeschichte für Prussia) ================================================================================ Kapitel 1: Der Einzige ---------------------- Gelangweilt starrte der blonde Junge auf die Hand seines Nachbarn, der eilig irgendwelche Worte aufschrieb. Er sah hinüber. Dort stand: If I had one free wish, I would stop… Der Satz schien jedoch noch nicht beendet zu sein, und statt ihn zu beenden, wurde das letzte Wort gestrichen und go on a world tour hingeschrieben. Ach, wir behandeln gerade If-Sätze?, fragte Lukas sich im Stillen, während er beobachtete, wie der Junge neben ihm einen weiteren Beispielsatz aufschrieb. Er fragte sich, wie er den ersten Satz zuerst beenden hatte wollen, aber das würde er nicht so leicht aus ihm herauskriegen, das wusste er. Plötzlich hielt die Hand inne. „Willst du nicht auch etwas aufschreiben, Lukas?“, fragte Alex leise und sah ihn auffordernd an. Den Kopf auf die Hand abgestützt, blickte Lukas zu ihm und zog die Augenbrauen hoch. Mit einer langsamen Bewegung griff er zum Kugelschreiber. „Was sollen wir schreiben?“ Alex seufzte. „Zehn If-Sätze mit allen drei verschiedenen Typen.“ „Warum?“ „Wie warum?“ „Wir haben diese Dinger bereits vor ein paar Jahren gelernt! Ich kann die, ich hab keine Lust, noch mal irgendwelche Beispiele aufzuschreiben.“, regte er sich auf. Alex zuckte jedoch nur mit den Schultern und murmelte etwas, dass sich anhörte wie „Ich kann auch nichts dafür“. Zufrieden sah er jedoch, dass Lukas sich beugte und If I have money, I will buy a large bottle of vodka schrieb. Einen Kommentar verkniff er sich sicherheitshalber. Eine halbe Stunde später sah Lukas nahezu im Fünf-Minuten-Takt auf seine Handyuhr, nur um immer wieder festzustellen, dass er noch eine Weile hier hocken würde. Die Englischstunde war einfach nur totlangweilig. Würde Alex wenigstens mit ihm reden, wär das ja noch was ganz anderes, aber aus irgendeinem Grund, der sich ihm nicht erschließen wollte, erzählte Alex heute kein Stückchen von seinem Wochenende, wie er es sonst immer tat. Das hatte er eigentlich immer gemacht. Lukas und Alex saßen seit der siebten Klasse zusammen an einem Tisch im Englischunterricht. Für gewöhnlich erzählte der Junge mit den dunklen Haaren immer von seinem Wochenende und Lukas hatte stets gerne zugehört, egal ob es ein Montag wie heute war oder bereits mitten in der Woche. Daraus hatte sich eigentlich ihre Freundschaft entwickelt, denn sie hatten sich erst in der siebten Klasse kennengelernt, da Alex neu in die Klasse gekommen war. Er war jedoch ziemlich erzählfreudig gewesen und für Lukas war es kein Problem gewesen, mit dem äußerst sympathischen Jungen Freundschaft zu schließen. So war eines zum anderen gekommen. Und man konnte durchaus behaupten, Lukas würde Alex sehr gut kennen. Denn er bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmen konnte, wenn er so ruhig war. War irgendetwas am Wochenende vorgefallen? Wenn ja, was hätte es sein können? Lukas hätte gewusst, wenn Alex am Wochenende etwas vorgehabt hatte, zum Beispiel sich mit einem Mädchen zu treffen. Eigentlich wusste er sowas immer, auch wenn sie nicht beste, sondern ‚nur‘ sehr gute Freunde waren. Und trotz der Abwesenheit seiner logischen Denkfähigkeit aufgrund des langweiligen Unterrichts von Frau Schimannskih schaffte er es, aus Alex‘ Verhalten zu schlussfolgern, dass etwas passiert sein musste. Innerlich klopfte er sich auf die Schulter für diese Glanzleistung. Aus jahrelanger Erfahrung wusste er sogar, dass er ihn besser nicht einfach darauf ansprechen sollte. Zumindest nicht laut. Also wandte er sich von Alex ab – er hatte gar nicht gemerkt, dass er ihn angesehen hatte – und schnappte sich Stift und ein Blatt Papier, von dem er sich ein Stück abriss. Alex‘ schiefen Blick ignorierte er. Er kritzelte Ist das Ergebnis meiner Nachforschungen richtig, wenn ich behaupte, dass dich irgendetwas bedrückt oder scheine ich einen falschen Lösungsweg eingeschlagen zu haben? auf das Papier und schob es nach links zu Alex hinüber. Zuerst schielte er das kleine Blatt nur an und entschied sich dafür, zuerst seinen Gedanken zu Ende zu schreiben, bevor er danach griff. Alex sah seinen blonden Nachbarn an, bevor er las und Lukas erwiderte den Blick nur mit einem aufgesetzten breiten Grinsen. Schließlich wurde die Nachricht ganze zwei Minuten von Alex angestarrt, in denen er sie bereits mindestens zehn Mal hätte lesen können. Lukas wartete darauf, irgendeine Gesichtsregung zu erkennen, doch es war schwierig. Erst waren Alex‘ Augen noch ein paarmal mehr als nötig über das Papier gehuscht, dann waren seine Gesichtszüge nahezu eingefroren. Sicherheitshalber sagte er nichts und wartete auf eine Reaktion von Alex. Die kam sogar nicht wenig später, wenn auch nicht ganz so, wie er es sich vorgestellt hatte: Der jüngere der beiden nahm den Zettel, zerknüllte ihn (so gut, wie es bei dieser Größe möglich war) und ließ ihn zurück auf den Tisch fallen, um ihn dort schließlich unbeachtet liegen zu lassen. Lukas rührte in bis Stundenende nicht mehr an – es wäre sinnlos, denn er hatte gesehen, dass Alex keine Antwort darauf geschrieben hatte. Dennoch fühlte es sich an, als wäre dieser kleine Zettel in der Mitte des Tisches eine große Mauer zwischen Osten und Westen. Alex setzte sich zu der großen Gruppe an dem viel zu kleinen Tisch in der Cafeteria. Eigentlich hatte er keine Lust auf große Gesellschaft, doch er wollte nicht auffallen, indem er sich alleine irgendwo ins Schulgebäude setzte. So nahm er in Kauf Trubel um sich zu haben, aber nicht ausgefragt zu werden. Lukas beobachtete stumm, wie Alex sich zu der großen Gruppe setzte, sagte jedoch genauso viel wie Alex – nämlich nichts. Stattdessen hörte er den anderen zu und aß weiter sein Baguette. Der Salat war heute außergewöhnlich frisch… „Ey, Lukas!“, kam es plötzlich von der Seite. Der Blonde drehte sich zur Seite, nur um Haare zu sehen, die der Farbe seiner sehr gleich kam, jedoch viel länger und welliger waren. „Mh?“, machte Lukas also nur, denn hier handelte es sich um Finn Radtke, seinen besten Freund, und mit diesem legte er nun wirklich keinen Wert auf Höflichkeit oder Ausdruck. „Ist dir aufgefallen, dass die kleine Hannah heute nicht da ist?“ Lukas sah sich um. Er schien Recht zu haben. „Nein, bis eben nicht.“ „Und nun rate mal, was mit ihr ist!“, drängte Finn, scheinbar sehr erpicht darauf, eine bahnbrechende Story zu erzählen. Sein bester Freund seufzte nur mit einem Unterton, der von Genervtheit sprach, doch das schien Finn nicht zu stören. „Was weiß ich, sie hat wieder irgendein kleines Wehwehchen?“ „Richtig, sie hat erbrochen-…“ „Oh, wow.“, meinte Lukas nun, „Wo war jetzt die Pointe?“ Finn überging das Desinteresse wieder. „Alter! Ich hab gehört, wie Anna, also Anna Bruhns, und Lauren gesagt haben, sie wär schwanger!“ Dann passierte für Lukas vieles auf einmal. Er sah vor seinem inneren Auge, wie er normalerweise geschockt seinen Kopf in Richtung Finn drehen würde und laut „What the fuck?!“ rufen würde, aber dieses Mal hob er nur skeptisch seine Augenbrauen und murmelte: „So ein Quatsch.“ Gleichzeitig wurde von der anderen Seite des Tisches blitzschnell ein Apfel in Richtung Finn geworfen, der sich ebenso schnell noch in die Arme seiner neben ihm sitzenden Freundin retten konnte. Anna Bruhns am anderen Ende des Tisches war aufgestanden und ihre Wangen waren rot vor Zorn wie ihre Haare. „Du bist so ein hirnloses Genie, ehrlich mal.“, spuckte sie nur heraus und verschwand dann zusammen mit Lauren Beal, die etwas eingeschüchtert daneben gestanden hatte. „Wo sie Recht hat, hat sie Recht“, antwortete Finns Freundin, mit Namen Anna Semlow, und bückte sich, um den schönen roten Apfel aufzuheben. „Möchte jemand ‘nen Apfel?“ Keiner sagte etwas. Entweder waren sie verdutzt aufgrund der Situation eben oder ob der Frage. „Dann nicht. Dreck reinigt den Magen.“, sagte sie und biss in den Apfel, sodass das knackige Geräusch in der Stille nahezu laut erschien. „Kluges Mädchen“, murmelte Finn nur und blieb entspannt in ihren Armen liegen. Lukas zwang sich dazu, nichts zu sagen. Dieses Mal hätte Finn wirklich den Mund halten können, denn gerade Hannah war ein Mädchen, von dem man nicht erwarten würde, schwanger zu werden oder überhaupt bereits entjungfert zu sein. Und davon abgesehen – das war Privatsache. Er wunderte sich selbst, dass er so dachte, denn sonst hatte er dieselben Ansichten wie Finn. Wahrscheinlich war er einfach nur noch zu sehr in Gedanken versunken gewesen. Alex‘ Verhalten und dass er anscheinend Schwierigkeiten mit irgendetwas hatte, ließ ihn nicht in Ruhe. Aber apropos – wann hatte Alex die Gruppe verlassen? Es war ihm wohl wegen dem Trubel nicht aufgefallen, aber aus irgendeinem Grund beunruhigte ihn das. „Ich geh mal kurz pissen.“, sagte er leise zu Finn und nahm seine Tasche. „Läuft.“, war die einzige Antwort, und damit verschwand er. Er ging aus der Cafeteria heraus, nach rechts in Richtung Toiletten, jedoch ging er nicht um sich zu erleichtern, sondern um nachzusehen, ob Alex sich hier aufhielt. Dem war nicht so, also begann er einen kleinen Streifzug durch das Schulhaus, um nach Alex zu sehen. Er kannte Alex bisher nur als gutgelaunten Menschen. Umso mehr machte er sich Sorgen darum, wie er drauf war, wenn es ihm nicht gut ging. Er hatte bereits von Finn und seiner Freundin Anna gehört, dass eine von Annas Freundinnen bereits in solchen depressiven Phasen gesteckt hatte, dass sie angefangen hatte sich zu ritzen. Doch das traute er Alex nicht wirklich zu und er hoffte, dass es nicht so schlimm war, worüber er sich anscheinend Gedanken machte. Lukas fand Alex im obersten Geschoss in einer der Flure. Er hatte nicht vor, zu ihm zu gehen und ihn voll zu quatschen, also setzte er sich einige Meter weit weg von ihm, nachdem Alex ihn kurz skeptisch angesehen hatte. Er hatte einen Block auf seinem Schoß und schien irgendetwas mit seinem Stift darauf zu kritzeln, doch Lukas konnte nicht erkennen, was es war. Stattdessen tat er es ihm gleich und nahm sich einen Schreibblock und einen Kugelschreiber heraus. Er versuchte, die Gedanken von vorhin auszublenden. Jetzt wollte er nicht an deprimierende Sachen denken, vielleicht eher an schöne… er setzte den Stift an und schrieb. Die lange Mittagspause würde noch etwa eine Viertelstunde dauern, als Lukas den Stift weglegte. Er sah auf den Text, den er geschrieben hatte, und war sich nicht wirklich sicher, ob er gut gelungen war. Abends hatte er eher seine kreative Phase. Plötzlich nahm er eine Bewegung im Augenwinkel wahr. Da war etwas Schwarzes – und ihm fiel wieder ein, dass Alex ja die ganze Zeit einige Meter an der anderen Seite der Wand gesessen hatte. Er setzte sich jedoch plötzlich neben Lukas, schaute ihn zuerst stumm an – Lukas erwiderte den Blick blinzelnd – und fragte dann leise: „Was hast du da geschrieben?“ Da fiel ihm sein Text wieder ein und Lukas klappte schnell seinen Block ein. Der Text war nicht besonders gut, als dass Alex ihn hätte lesen sollen. „Nichts. Nichts Besonderes.“, antwortete er also. „Hm.“, machte Alex nur, „Schade. Ich hätte es gern gesehen.“ „Nur, wenn du mir zeigst, was sich jetzt in deinem Block bezeichnet.“, stellte Lukas eine Bedingung. Alex zog seine linke Augenbraue hoch und schmunzelte etwas. „Nein, das zeige ich dir bestimmt nicht.“, sagte er. „Tja, so wie du mir, so ich dir. So heißt es doch, oder?“ Alex nickte nur. Er ließ sich gegen die kalte Betonwand fallen, vollkommen gleich, ob sein schwarzes Shirt die Wand dreckig machen könnte. Es war angenehm hier zu sitzen. Draußen herrschten wohlig warme Temperaturen für Ende Mai. Er genoss es einfach, die Kälte der Wand hinter ihm und das angenehme Gefühl der Gesellschaft neben ihm. Lukas sagte auch nichts. Doch kein einziger Moment währte ewig, und so riss die Schulglocke die beiden aus ihren Tagträumen, sodass sie zusammen zuckten, und schickte sie auf zum nächsten Unterricht. Als Lukas an diesem Tag nach Hause kam, waren seine Gedanken wenigstens für einen Moment wo anders, als bei Alex. Seine Mutter kam ihm schon fast hüpfend entgegen. „Rate mal, was passiert ist!“, sagte sie, während Lukas noch seine Schuhe auszog. „Ihr immer mit euren Rate-Spielchen“, erwiderte er nur und blickte stirnrunzelnd seinen grinsenden Vater, der im Türrahmen zur Stube stand, an. „Mein Chef hat mir einen kleinen Zuschuss gegeben, weil mein letzter Artikel wohl ‚absolut lesenswert‘ und ‚genau auf den Punkt gebracht‘ war!“, erzählte sie und grinste dabei wie ein Honigkuchenpferd. „Der Rückblick auf das Erdbeben vor zwei Monaten? Wo du das alte japanische Pärchen interviewt hast?“ „Genau das! Er fand es ‚grandios und sehr berührend‘. – Freu dich doch mal richtig, das heißt, du bekommst doch auch ein oder zwei paar neue Schuhe. Oder was auch immer du willst.“, zeterte sie rum, verlor aber das breite Lächeln auf ihren Lippen nicht. „Mama, ist gut, ich weiß deine Arbeit sehr zu schätzen und du weißt eben das genauso.“, sagte Lukas nur seufzend. „Was gibt es zum Mittagessen?“ „Das Leibgericht deiner Mutter“, antwortete Lukas‘ Vater, „Lachs in Sahnesoße mit Reis.“ „Nichts anderes zu erwarten.“, meinte Lukas, „Deine oder ihre Idee?“ „Wessen wohl?“, murrte sein Vater nur. Es war schon später Nachmittag, als Lukas es schließlich geschafft hatte, sich von den höchst interessanten Erzählungen seiner Mutter über ihren Artikel loszureißen. Warum redete diese Frau eigentlich so viel, wenn das Schreiben doch ihr Beruf war? Ihm taten die Menschen leid, die sie interviewte, aber möglicherweise war sie bei denen nicht ganz so erzählfreudig. Immerhin war er nun in seinem Zimmer im oberen Stockwerk angekommen und konnte sich auf sein breites Bett fallen lassen. Am liebsten würde er jetzt den Fernseher anschalten und einfach nur, irgendwelche bescheuerten Doku-Soaps gucken, aber er wusste, wenn das Ding erstmal an war, würde er es nicht so schnell wieder ausschalten. Also überwand er seinen inneren Schweinehund, nahm sein Hausaufgabenheft und stellte betrübt fest, dass er tatsächlich noch etwas zu morgen aufhatte. Immerhin waren die Biologie-Aufgaben schon fertig, dennoch hatte er jetzt noch herauszufinden, was die Grundwertsätze waren. Erstaunlicherweise hatte seine Lehrerin sich mal nicht was Schwieriges mit dieser Aufgabe ausgedacht, denn es stand alles haargenau in seinem Mathematikbuch. Er schrieb sich das hinaus, was nötig war, und als er damit fertig war, griff er sich das Buch „Der Vorleser“, blätterte zur Seite, bis zu der sie im Unterricht gekommen waren, und las die nächsten zwei Kapitel, so wie es ihm vorgeschrieben war. Er war froh um die Tatsache, dass sie eine neue Deutschlehrerin hatten, die nicht darauf bestand, ein Exzerpt oder ähnliches anzufertigen. Für sie schien es nur wichtig zu sein, dass die Schüler alles zu dem Buch wussten beziehungsweise in ihrem Kopf hatten. Lukas hatte kein Problem damit – das hieß weniger Schreibarbeit für ihn. Was für ein angenehmes Gefühl es doch war, so früh mit den Hausaufgaben fertig zu sein. Das kam mittlerweile sehr selten vor, aber er nutzte es, schnappte sich seinen Laptop und legte sich damit auf sein Bett. Kurzerhand entschloss er sich, die freie Zeit wirklich auszukosten und ging, während der Computer hochfuhr, hinunter in die Küche um sich einige leckere Kekse und einen Kaffee zu holen. Wieder oben angekommen machte er sich zuerst ein bisschen gute Musik an – in dem Moment wünschte er sich wieder, bessere Boxen zu haben – und klickte sich dann durch das Internet. Er schaute nach, ob es vielleicht endlich einige neue Musik-Videos auf YouTube gab, doch umsonst, er schaute nach, ob vielleicht jemand einen Kommentar auf FanFiktion.de zu seinen Texten geschrieben hatte, und hier wurde er fündig: Jemand hatte einen sehr netten Kommentar unter einen seiner älteren Songtexte geschrieben, in dem stand, dass dieser Songtext nicht mehr mit den neuen zu vergleichen, aber trotzdem sehr gut wäre. Durchaus motivierend für Lukas, neue Texte zu schreiben. Das Lustige an der ganzen Sache war eigentlich, dass er nur Texte schrieb, aber nicht selber auch musizierte. Dafür fehlte ihm das Talent. Schließlich schaute er nach, ob es etwas Neues auf Facebook gab. Wenn Lukas darüber nachdachte, war es schon sehr lustig, wie sie alle auf dieses Netzwerk umgestiegen waren, als sie älter wurden. Damals war es noch cool gewesen, im SchülerVZ angemeldet zu sein, aber heute war das kaum noch einer von ihrer Klassenstufe. Er hatte zwar keine neuen Benachrichtigungen, aber sah sofort an oberster Stelle, dass Anna Bruhns etwas geschrieben hatte: „Finn Radtke ist so ein Arschloch. Und er merkt es nicht mal selber.“ Natürlich hatte sie seinen Namen verlinkt, damit jeder sofort wusste, um wen es sich genau handelte. Mittlerweile musste Lukas darüber nur lachen. Sicher war es nicht besonders höflich gewesen, das so laut herum zu erzählen – aber sich deswegen jetzt so kindisch aufzuspielen, erschien ihm auch nicht besser. Lustigerweise schienen aber nahezu nur Mädchen dieser Status zu gefallen. Tja, Mädels, so ist das Leben, dachte er und zwang sich dazu, nichts darunter zu schreiben. Stattdessen sah er lieber nach, ob Alex online war und tatsächlich, der kleine blaue Facebook-Chat zeigte an: Alex Lietzow ist online. Er fackelte nicht lange und schrieb ihn an. AAAALEX!, schrieb er, wie er es oft tat. Was ist?, kam nur zurück. Es klang ziemlich leblos. Lukas versuchte es zunächst mit der lockeren Tour. Alles klar bei dir? Joa. Die Antwort war nicht wirklich echt. Das konnte sie nicht sein, und man erkannte es mindestens daran, dass das „Und bei dir?“ fehlte. Nee, jetzt mal ehrlich. Was ist los mit dir? Es ist nichts. Wie kommst du darauf? Lukas seufzte auf. Sowas nannte man also Abblocken. Wie nervig… Alex, du bist total still, sagst nichts, verhältst dich abweisend und hast heute Kontakt vermieden. Völlig in Gedanken versunken warst du. Irgendwas muss doch los sein. Es dauerte ein wenig, bis Alex antwortete. Lukas sah, wie ein paarmal angezeigt wurde, dass er schrieb, doch er schickte die Nachricht nicht ab. Schließlich kam irgendwann bei Lukas an: Und wenn schon. Ist doch egal. Nichts ist egal, Alex. Wenn was ist, kannst du mit mir reden, das weißt du. Zumindest ist es so. Als er das eintippte, war er sich nicht sicher, ob er Alex jemals angeboten hatte, mit ihm zu reden, falls etwas nicht stimmen sollte. Aber im Moment fühlte sich dieses Angebot sehr richtig an. Ach ja?, war Alex‘ lieblose Antwort. Jaah!, schrieb Lukas vorerst nur zurück. Doch nach einer kurzen Weile stellte er fest, dass Alex nicht antworten würde, und so fügte er an: Bitte Alex, rede mit mir. Ich mache mir wirklich Sorgen. Brauchst du nicht. Lukas schnaubte. Dafür ist es jetzt zu spät, tippte er ein, denn so war es, und Alex sollte sowas eigentlich kennen. Wahrscheinlich war seine Antwort eine typische bockige, wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen verläuft, wie es soll. Nun, komm schon – was ist los? Nichts. Wirklich nichts. Tu nicht so. Du hast mir schon gesagt, dass etwas nicht stimmt, aber nur noch nicht was genau. Das schaffst du auch noch zu erzählen. Nein. Doch, doch. Warum sollte es denn nicht funktionieren? Ich… weiß nicht. Ist so. Nun sag. Nein… Alter – Alex! Ehrlich mal, ich steh gleich vor deiner Haustür, und wenn du mich nicht rein lässt, weißt du, was als erstes kaputt ist. Ja, ja, mach doch. Okay. Und mit diesen Worten ging Lukas offline und ließ Alex leicht verängstigt am anderen Ende der Leitung sitzen. Alex hatte eine viertel Stunde nur auf seiner Couch herumgesessen, bis ihn tatsächlich die Türklingel aus den Gedanken riss. Er war alleine zu Haus. Er musste nicht aufmachen. Vorerst wollte er hier sitzen bleiben, genau. Aber dann ging die Klingel wieder. Er raffte sich auf, zum Fenster zu gehen, und hinunter zu schauen. Er sah ein Fahrrad, doch keinen Menschen – der aber würde wohl direkt vor der Tür stehen, von Alex‘ Fenster aus nicht einsehbar. Es klingelte wieder, gleich zweimal hintereinander. Damit raffte er sich auf, zur Haustür runterzugehen. Auf dem Weg klingelte es noch einmal. Alex war unten vor der Tür, als Lukas den Klingelknopf gedrückt halten musste. Das Geräusch war ziemlich nervend und betäubend, und Alex hatte sich jetzt dazu entschlossen, doch für ihn aufzumachen. Und er tat es, indem er die Tür nur ein wenig öffnete, sodass ein kleiner Spalt zwischen Tür und Wand entstand. Lukas stand tatsächlich vor seiner Tür, wie er geschrieben hatte. „Du hast doch einen Knall“, murmelte er nur, aber der Blonde sah ihn nur glücklich an, als er schließlich die Tür ganz aufmachte, um ihn hereinzulassen. Umso erschrockener war er, als Lukas ihn plötzlich umarmte. „Du Spast, ich hab mir wirklich Sorgen gemacht. Ich komme mir gerade total bescheuert vor.“, meckerte er schon fast ein bisschen, aber selbst Alex hörte heraus, dass er nur gut gemeint war, und kam nicht umhin zu lächeln. Doch er sagte nichts. Er schloss die Tür, als Lukas ihn wieder losgelassen hatte. Ohne darauf zu achten, ob der Blonde ihm folgte, ging er hoch in sein Zimmer. Es war nicht das erste Mal, dass Lukas bei ihm zu Besuch war – er wusste, wo sich Alex‘ Zimmer befand. Sie blieben mitten im Raum stehen. Hier hatte sich kaum etwas verändert, doch im Moment herrschte eine kalte und unangenehme Atmosphäre vor. „Was möchtest du nun, Lukas?“, fragte Alex nach einem stillen Moment. Seine Stimme klang kalt, viel anders, als sie nach der herzlichen Umarmung hätte klingen sollen. „Was wohl?“, stellte Lukas die rhetorische Gegenfrage. Er erwartete keine Antwort darauf, also sprach er weiter. „Du weißt, dass ich mir Sorgen mache. Es ist schon fast beängstigend, wenn du so still wie heute bist. Irgendwas ist mir dir los, das sieht man dir doch an.“ „Du bist der einzige, der es gemerkt hat.“ „Tja, vielleicht habe ich ein Gespür dafür.“ Alex schien mit sich selbst zu hadern. Lukas sagte nichts, um ihn nicht aus Versehen doch noch vom Erzählen abzuhalten. Er beobachtete, wie der jüngere sich auf sein Bett setzte und als er mit der Hand auf den Platz neben sich zeigte, folgte Lukas der Aufforderung und ließ sich neben Alex nieder. Die Bettdecke lag ordentlich auf dem Bett – etwas, was bei ihm nie so war. Allgemein musste er sagen, dass Alex ordentlicher lebte, als er es tat. Sein Mülleimer quellte nicht über und es lag auch keine schmutzige Wäsche herum. Sie waren wohl etwas gegensätzlicher, als Lukas wirklich bewusst gewesen war. Er sah Alex still ins Gesicht. Die braunen Augen starrten irgendeinen Punkt auf seinen Knien an – Lukas‘ Blick erwiderte er nicht. Dennoch begann er zu sprechen. „Wahrscheinlich klingt es merkwürdig oder kindisch… aber ich habe Angst.“, murmelte er schon fast nicht hörbar. „Wovor?“, fragte Lukas nach und versuchte, Alex das Reden zu erleichtern. „Angst davor, dass meine Eltern sich scheiden.“, flüsterte er wieder. Er bettete seinen Kopf auf seine Knie und atmete tief durch. Die dunklen Haare fielen ihm fast in die Augen. Lukas sagte nichts darauf, forderte ihn lieber stumm dazu auf, weiterzusprechen. „Ständig streiten sie sich wegen Kleinigkeiten. Du hast das hier falsch weggeräumt, du hast mal wieder nicht zugehört, du machst auch nichts richtig, und so weiter… ich glaube, es hat damit angefangen, dass sie sich einen Abend vorgenommen hatten, essen zu gehen, das haben sie lange nicht mehr gemacht gehabt, aber irgendwie kam es nicht dazu.“ Er seufzte mit einem genervten Unterton. „Vater meint natürlich, es sei die Schuld von meiner Mutter… dass sie gar nicht erst da war, obwohl sie sich für nach der Arbeit verabredet hatten. Sie sehen sich ja sonst selten wegen ihren Arbeitszeiten. Allerdings meint Mutter, sie hätte eine halbe Stunde auf Papa gewartet, und er war nicht gekommen. Sie haben sich beide bei mir beschwert. Eigentlich tun sie das immer. Sie merken noch nicht einmal, wie das auf mich wirkt, dass mich das fertig macht.“ Für einen Moment wusste Lukas nicht, was er sagen sollte. Das waren mehr Worte gewesen, als er wirklich erwartet hätte. „Lass mich raten, du würdest dich von keinem von beiden trennen wollen?“, fragte er nach. Alex nickte. „Ja. Ich hab sie wirklich beide gern, auch wenn sie mir gerade auf den Sack gehen mit diesen unnötigen Streitereien… die sind so unnötig. Sie haben doch schon so lange glücklich zusammen gelebt, was ist nur plötzlich passiert mit ihnen?“ „Ich… weiß es nicht. Tut mir leid, Alex…“, murmelte Lukas. Er fühlte sich gerade schrecklich fehl am Platz, weil er ihm unbedingt hatte helfen wollen, sich aber nun selbst total unbeholfen fühlte. „Musst du doch auch gar nicht“, erwiderte Alex und auf seinem Gesicht erschien ein winziges Lächeln, „Es sind ja nicht deine Eltern.“ „Ja. Aber es sind deine Eltern und ich würde dir gerne helfen. Jedoch bin ich mir sicher, so wie ich deine Eltern kennen gelernt habe, kriegen sie sich bestimmt wieder ein. Ganz sicher.“ „Na ja, ich weiß nicht…“, sagte Alex jedoch. Abermals seufzte er und starrte Richtung Decke, als könnte er dort eine Lösung für das Problem stehen sehen. „Wie lange geht das denn schon?“ „Einige Wochen, glaube ich.“ Überrascht zog Lukas die Augenbrauen hoch. „So lange schon? Warum habe ich es dir dann erst heute angesehen?“ „Keine Ahnung“, sagte Alex und zuckte mit den Schultern, „Vielleicht lag es daran, dass das Wochenende wirklich scheiße war. Meine Mutter hat heute Nacht nicht hier geschlafen, sie war bei einer Freundin, wie sie mir am Telefon erzählt hatte. Sie müssen sich wieder heftig gestritten haben, während ich gestern Nachmittag mit Karolina unterwegs gewesen bin…“ Lukas wusste wirklich nicht, was er sagen sollte. Er kannte so eine Situation nicht. Seine Eltern verstanden sich, er verstand sich mit seiner Schwester – im Allgemeinen gab es in ihrer Familie gar keine Probleme. Er wünschte, er hätte jetzt ein bisschen Erfahrung damit, denn dann hätte er Alex jetzt helfen können. Also hoffte er nur, dass es gut für Alex war, sich das von der Seele zu reden. Wahrscheinlich war es das, denn eben jener atmete gerade aus, als wäre er wirklich erleichtert. Lukas hoffte es für ihn. Wieder breitete sich Stille aus, wie es schon einmal heute im Schulflur passiert war, doch dieses Mal war es einfach nur ruhig und angenehm. „Ist ein guter Mensch an deiner Seite, dann sucht dein Leid schnell das Weite.“, flüsterte Lukas. Jetzt grinste Alex wirklich. Der Blonde sah es, und konnte nicht anders als mit zu lächeln. „Woher hast du das denn jetzt?“, fragte Alex ihn. „Ich hab’s mir eben ausgedacht.“, sagte er schlicht. „Dann musst du ja ein guter Mensch sein.“ „Ach, wirklich?“ „Ja. Ich fühle mich irgendwie viel besser als vorher.“, gab er zu. Nun war es an Lukas zu grinsen. „Genau das war mein Ziel, weißt du.“ Kurz war es wieder ruhig in dem Zimmer. Dann: „Danke.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)