Das Mollproblem von abgemeldet (Dreiklang) ================================================================================ Prolog: Winter -------------- Der Winter war erbarmungslos wie eh und je und verschlang Bettler und arme Arbeiter - das namenlose Treibgut dieser riesigen Stadt - wie ein gefräßiges Monster mit seinen Klauen und Reißzähnen aus Eis und Dunkelheit. Der Wind war schneidend und mit jeder Böe wurde mehr und mehr Schnee vom Boden aufgewirbelt, als würde es nicht schon reichen, dass es seit Tagen unaufhörlich schneite als gäbe es kein morgen mehr. Wie glücklich konnte sich denn die Frau schätzen, welche, eingehüllt in einen dicken Pelzmantel und zwischen die Schultern gezogenem Kopf, hastig die Treppe zum Eingang der Londoner Oper hinaufstieg, während der Wind ihre Haare zerzauste. Bald würde sie die Kälte hinter sich lassen können. Oben angekommen hielt sie Inne und wandte sich mit zusammengekniffenen Augen wieder der Stadt zu, welcher im Moment alle am liebsten den Rücken zukehren würden um in wärmere Gefilde zu reisen. An einen Ort, wo kein wildes Schneetreiben und keine bittere Kälte und drohende Hungersnot in den Arbeiterbezirken herrschten. Es schien, als würde es sie viel kosten sich von dem sich ihr bietenden Anblick loszureißen, denn nur zögernd wandte die Frau sich ab, um langsam auf die schwere dunkle Holztür zuzugehen, welche die frostigen Temperaturen und den Schnee daran hinderte sich auch dieses Gemäuer einzuverleiben. Das Geräusch der sich schließenden Tür hallte laut in der um die Uhrzeit menschenleeren Eingangshalle. Das Licht war diffus und durch die bereits beinahe untergegangene Sonne, schien alles nur aus matten Grautönen zu bestehen. Sie strich sich ihre Haare zurück und klopfte sich den Schnee vom Mantel, ehe sie noch eine Spur langsamer als zuvor begann sich in die Richtung der prunkvollen Haupttreppe zu begeben, welche den hohen Raum in zwei Hälften teilte, nur um sich dann selbst zu teilen und in die entgegen gesetzte Richtung zu verlaufen. Die Wangen der Frau standen sprichwörtlich in Flammen, rot wegen der Kälte und prickelten unangenehm. Ihre Schritte waren überraschend laut zu hören, jedoch schien es hier tatsächlich niemanden zu geben den sie stören könnte, denn auf ihrem ganzen Weg ins Innere der Oper begegnete die Frau niemandem. Sie schien kein Ziel zu haben, denn ihre Schritte wirkten, als würde sie in einem Traum wandeln, versunken in Erinnerungen, jedoch das Gesicht bar jeglicher Emotion. Lediglich der ein oder andere gesenkte Blick gab zu verstehen, dass sie tatsächlich wahrnahm was sie sah. Nach einiger Zeit kristallisierte sich jedoch tatsächlich eine Richtung heraus, denn die Kreise, Halbkreise und Ovale die sie zu gehen schien, zentrierten sich immer mehr um die Treppen, die sie immer weiter und weiter hinauf führten. Ein Mal hörte sie tatsächlich die Stimmen mehrer Personen welche sich in ihre Richtung begaben und auch wenn sie keinen Grund hatte sich vor ihnen zu verstecken - immerhin durfte sie ja hier sein - , stellte sie sich hastig hinter die schweren Samtvorhänge an einem der hohen Fenster zum Innenhof des Gebäudes um eine Begegnung zu verhindern. Sie wollte keine Fragen hören, sie wollte keine verwunderten Blicke sehen aber vor allem wollte sie niemanden von damals sehen, der sie noch heftiger in ihre Erinnerungen zurückstoßen würde, indem sie ihn oder sie mit irgendeiner Szene oder einem Ereignis in Verbindung brachte. Vielleicht heftiger als sie im Moment ertragen konnte. Mit angehaltenem Atem stand sie da und wartete, bis die Männer und Frauen sich so weit entfernt hatten, als das sie sich gefahrlos aus ihrem Versteck hervorwagen konnte. Mit einem kurzen Blick über ihre Schulter ging sie in die Richtung aus welcher sie gekommen waren und betrat dann einen Raum nach dem anderen, mit welchem sie Erinnerungen verband. Hin und wieder musste sie schmunzeln, als sie zum Beispiel eine Tür öffnete hinter welcher eine Wendeltreppe nach oben zum Dach der Oper führte, wie sie wusste. Bald steuerte sie unbewusst langsam aber sicher auf den dritten Stock des Gebäudes zu, als wäre dort das ultimative Ende ihrer Erinnerungen, als würde dort etwas auf sie warten. Etwas, an das sie sich nicht erinnert wollte, aber musste. Um zu vergessen. Um abschließen zu können. Um mit sich ins Reine zu kommen.. Schließlich kam sie zu einem der abgelegensten Orte der Oper. Es war eine Tür, die zu einem Raum führte, welcher zwischen dem Requisitenlager und dem Kostümlager für beschädigte Verkleidungen lag. Unter halb gesenkten Lidern blickte sie auf die schwach glänzende Klinke und legte dann ihre Hand auf diese. Das auf Hochglanz polierte Metall fühlte sich kalt unter ihren Händen an und erst jetzt fiel ihr auf, dass ihre Handflächen schwitzten. Nach einigem zögern, drückte die Frau die Klinke hinunter und geräuschlos, als wären die Scharniere gerade erst geölt worden, glitt die Tür zu dem dahinter liegenden Raum auf. Es war wohl schon lange niemand hier gewesen, denn die Luft im Raum war stickig und man konnte die Staubkörner, aufgewirbelt durch ihr Erscheinen, im schwachen Licht der untergehenden Sonne sehen. Eine dicke Staubschicht bedeckte alle sich im Raum befindlichen Gegenstände. Langsam ließ sie ihren Blick durch den Raum gleiten während sie ihn langsamen Schrittes weiter betrat. Als ihr Blick dann an etwas bestimmten hängen blieb, begannen Erinnerungen auf sie einzuströmen, heftiger denn je. Kapitel 1: Oktober 1887 ----------------------- Tiefrot. So tief. So rot. Es stand ihr fabelhaft. Natürlich stand es ihr viel besser als allen anderen in diesen Gemäuern – das war eine von vielen subjektiven Tatsachen, die sie vor Zeiten festgestellt hatte. Ganz klar: Das war einzig allein ihre Farbe. Alle anderen Frauen ihres Alters wirkten doch regelrecht lächerlich darin. Ewa konnte noch nicht einmal in Worte fassen, wieso das so war, aber so etwas musste man ohnehin erst mal sehen, um es zu verstehen, denn auch ihre Schönheit war nicht so einfach in Worte zu fassen. Aber Moment Mal: Welche Farbe stand ihr auch nicht? Letztlich sah sie doch in allen Farbtönen und Stoffen wundervoll aus, wie eine Königin aus dem 16. Jahrhundert, wie eine Göttin, wie die schöne Aphrodite. So majestätisch, bewundernswert, verführerisch, kurzum: einfach perfekt. Sie konnte gar nicht genug von dieser Ausstrahlung haben, die sie zu besitzen glaubte! Mit einem kleinen aufgesetzten Schmunzeln, welches offenbar stets von einem Hauch Süffisanz begleitet wurde, begrüßte sie ihr makelloses Spiegelbild, ließ ihre Mundwinkel jedoch langsam wieder sinken, während sie mit ihren Fingerspitzen ihre gewellten Haarsträhnen zurecht strich und mit einem Finger dann vorsichtig eine ihrer feinen schwungvollen Augenbrauen nachfuhr als gehörte dies zu einer Art alltäglichem Ritual. Ihre hellblauen Augen funkelten zufrieden als sie über ihr üppiges Dekolleté, ihre Wespentaille und herrlichen Hüften glitten, welche in tiefroten Stoff gepackt, geschnürt und gehüllt waren, während hinter ihr einige Frauen ihren alltäglichen Klatsch und Tratsch abhielten oder einfach nur schweigend dafür sorgten, dass sie ihre Probenkleidung ab- und Alltagskleidung wieder anlegten. Eine von diesen Tratschtanten war die junge Ballerina Bernice, welche gerade zu kichern begann, als sie die Reaktionen der anderen auf eine ihrer immer wieder auf interessant gemachten Andeutungen erhielt. Doch statt den darauffolgenden Bitten ihrer Kolleginnen nachzukommen, aus ihren mehrdeutigen Andeutungen stichfeste Aussagen zu machen, winkte sie lediglich mit einem Grinsen ab und verließ den Mittelpunkt der kleinen Runde, die sich allmählich um sie herum gebildet hatte. Die Mädchen schienen jedoch nicht lange enttäuscht über Bernice‘ Geheimniskrämerei, denn kaum war das Thema durch ein anderes ersetzt worden, kicherten sie vergnügt über irgendeinen anderen Nonsens weiter. Den letzten Knopf ihres Oberteils zuknöpfend kam Bernice schließlich schräg hinter der blonden Ukrainerin zum Stehen. Ihr Grinsen wurde bei ihrem Anblick etwas breiter. „Du bekommst wohl nie genug, hm?“ Nach einem leichten Abklopfen legte Ewa in aller Ruhe die Puderquaste aus ihrer Hand, ehe sie durch den Spiegel einen Blick mit Bernice wechselte. Süffisanz und Amüsement bildeten sich dabei allmählich im Gesicht der Ukrainerin aus, ehe sie sich mit einer von sich selbst überzeugten Ausstrahlung zu der Jüngeren umwandte und ihr vielsagend in die Augen sah. „Von den schönsten Dingen im Leben bekommt man nie genug, so ist es doch. Nicht wahr?“ „…“ Wieder konnte man das Lachen einer ihrer Kameradinnen hören, welches jedoch nichts mit der Konversation der Ukrainerin und der schweigenden Brünetten zu tun hatte. Bernice lächelte Ewa lediglich gekünstelt an und zeigte sich unbeeindruckt, während Letztere innerlich glatt mit den Augen rollen könnte. Wenn Ewa etwas nicht leiden konnte, dann war es, wenn man versuchte, sie mit dummen Andeutungen zu nerven. Bei Bernice reichte meist schon so eine kleine neckische Bemerkung, aus der man als Außenstehender vielleicht auch gar nichts Spöttisches herauszuhören glaubte. Man musste die junge Ballerina eben schon gut kennen, um zu wissen, was und wann ihre Kommentare für Intentionen im Schlepptau haben konnten, ganz zu schweigen davon, dass man aber auch schon Ewa heißen musste, um hinter jedem frechen Kommentar gleich einen persönlichen Angriff zu sehen, der seine Wurzeln ja nur in purem Neid haben konnte, weil sie doch so unglaublich vollkommen war. Da sollte einer sagen, schöne Menschen hätten es leicht! Doch sie war keineswegs niedergeschlagen. Schlagfertigkeit war ein Stichwort, welches ihr zweiter Vorname hätte sein können, denn das war sie allemal. Schlagfertig und mit einem unerschütterlichen Glauben an sich selbst ausgestattet, der sie wohl mit jedem Problem fertig werden ließ, sei es noch so klein, noch so groß. Bernice war in ihren Augen dagegen weder das eine noch das andere. Sie war ein nichts. Dieses klapprige brünette Mädchen mit der eindeutig krummen Nase und dem hässlichen Lachen. Zu dumm, dass offenbar nur Ewa selbst Augen im Kopf hatte; außer ihr wollten derartige Dinge nämlich von kaum jemand anderem entdeckt werden. Mit einem abschätzenden Blick beobachtete die Blondine mit dem fremden Akzent, wie Bernice nach ihrem Mantel griff. „Hat es dir die Sprache verschlagen?“, hakte Ewa mit täuschender Unbekümmertheit nach und begutachtete dabei verhalten Bernice‘ Kleidung. „Sollte es etwa?“ Die Brünette strich sich den Mantel auf ihren Schultern zurecht, während sie immer noch Ewa den Rücken zugewandt hatte, die ihre Lippen zu schürzen begann. „Das wird es noch keine Sorge…“, murmelte die Blondine mit erstmals hörbarer Reizung in der gesenkten Stimme, was Bernice wohl immer noch nicht zu beeindrucken schien. „Wir sollten hier nicht so herumtrödeln. Ich möchte noch bevor es draußen dunkel geworden ist, zuhause sein.“ „Was du nicht sagst…“, merkte Ewa mit Streitlust an und griff selbst nach ihrem eigenen Mantel, den sie sich wie eine Diva über ihre Schultern zog. Was erlaubte sich diese dumme Pute überhaupt, so mit ihr umzugehen? Hatte sie denn gar keinen Respekt? Vom aufgeregten Klatsch und Tratsch war längst nichts mehr zu hören, lediglich das Rascheln einiger Stoffe und das klackernde Schuhwerk der Damen auf dem Boden. Die Atmosphäre wirkte mit einem Male nicht mehr so unbefangen. „Ich glaube, wir alle brauchen wohl dringend etwas frische Luft…“, merkte Melissa trocken, dennoch deutlich an, die bereits an der Tür stand und gut um die Zicken zwischen Ewa und jedem x-beliebigen Mädchen aus ihrer Gruppe wusste. Auch, wenn sie im Alltag eher hintergründig agierte, schien sie genau diejenige zu sein, die eigentlich am meisten Ahnung und Überblick von den Dingen hatte, die sich alle an der Oper abspielten, ohne, dass man es gleich dem Klatsch und Tratsch zuordnen könnte. Sie schien nie wirklich anwesend und doch war sie irgendwie überall da. Ewa brauchte nicht mehr viel, bis sie lauter werden würde, doch da ihre Laune am heutigen Tage eher der guten Natur entsprach, behielt sie es sich vor, sich auf ein Streitgespräch mit Bernice einzulassen. Das hatte sie aber doch wirklich nicht nötig! Mit ignorant geschlossenen Augen drehte Ewa sich um, bedachte dabei, ihren Rücken durchgestreckt zu halten und vor allen Dingen ihre Miene Bände sprechen zu lassen: Ich bin ein Mensch erster Klasse, du nicht. Ewa schenkte Bernice keinen Blick mehr als sie sich dabei ihren pompösen Hut mit dem kostbaren Schmuck aufsetzte und mit leicht angehobenem Kinn an Melissa vorbei aus der Garderobe schritt. Schon nachdem die ersten Schritte getan waren, hatte sich ihr Gemüt aber offenbar auch schon wieder etwas beruhigt, denn als wieder die ersten Gespräche ihrer Kameradinnen dicht hinter ihr losgingen, konnte sie nicht lange schweigsam und eingeschnappt bleiben. Klatsch und Tratsch waren ansteckend und ja, auch sie nahm alles andere als ungern daran teil. „Ich bin schon gespannt, wie die nächste Aufführung wird!“ „Du bist vielleicht lustig. Bis dahin müssen wir uns noch Monatelang gedulden.“ „Ganz abgesehen davon, dass die Proben noch nicht einmal richtig begonnen haben!“ „Ganz zu schweigen von dem Vorsingen…“ „Vorsingen? Es ist doch bereits klar, dass Elena die Hauptrolle singen wird.“ „Wenn sich ihre angebliche Stimmschonung nicht als etwas Ernsthaftes entpuppt, dann ja.“ „Findet ihr nicht auch, dass sie sich in letzter Zeit irgendwie… merkwürdig verhält?“ „Ja! Am Sonnabend vor zwei Wochen zum Beispiel als sie aus ihrer Garderobe kam!“ „Wie, was ist denn passiert?“ „Ich war ihr an jenem Abend zufällig im Gang begegnet und als sie mich gesehen hat, ist sie schnell umgekehrt und hat wieder ihre Garderobe betreten. Sie hat mich nicht einmal begrüßt oder angelächelt. Sie schien mir wie ausgewechselt.“ „Hah! Es ist doch wohl glasklar, was nicht mit ihr stimmt!“, unterbrach Ewa mit ihrer kraftvollen Stimme die flinken Wortwechsel der jungen Mädchen und schüttelte augenrollend den Kopf als sie alle um die Ecke des Gangs bogen, auf dem Weg zum Innenhof. Absolut schweigend warteten sie darauf, dass die Blondine weitersprach. Nicht ohne Grund führte sie sich gerne auf, wie der einzig wahre Star in diesem Gebäude, dem es still zuzuhören galt und das hing nicht einfach nur mit ihrer Schönheit zusammen. Nach Elena konnte sie ja nur die beste Sopranistin sein, die diese Oper zu bieten hatte, anders wäre sie wohl auch kaum bei den letzten Aufführungen die unschlagbare Zweitbesetzung gewesen. Aber es ließ sich auch nicht abstreiten: Ihre Sopranstimme war dazu in der Lage jedem eine Gänsehaut zu verpassen. Diese Kraft und dieser Stolz, die darin verborgen lagen, waren einzigartig und mächtig. So mächtig, dass sie es ihren Zuhörern unmöglich machte, nicht mehr des Zuhörens gewillt zu sein, sobald man sie im prunkvollen Opernsaal hören durfte. „Es kann doch wohl nur der Fall sein, dass unsere liebe Mrs. Elena Durham wohl keinen geraden Ton mehr singen kann und ich bezweifle stark, dass sie es je wieder wird tun können. Für eine bloße Phase der Stimmschonung hat sie sich schon viel zu lange nicht mehr hören lassen. Und wir wissen ganz genau, wie gesellig unser Sternchen sonst immer war. Selbst wenn sie krank war, hatte sie keinen Grund darin gesehen, zuhause zu bleiben. Die Oper war ein Ort, dem sie sich selten mehrere Tage lang entziehen konnte. Machen wir uns also nichts vor.“ Die Mädchen begannen zu tuscheln und Ewa ließ einige Sekunden verstreichen, ehe sie selbstsicher fortfuhr: „Genau deswegen ist es ganz klar, dass ich die Hauptrolle in König der purpurnen Stadt singen und tanzen werde. Die Rolle der Giselle ist wie auf mich zugeschnitten.“ Katie hörte der kurvigen Blondine aufmerksam zu. Dachte sie wirklich, dass sie die neue Sopranistin werden würde? Im Grunde genommen würde es sie ja nicht ein mal wundern - Ewa war gut und Elena war tatsächlich schon länger etwas seltsam… aber ehe die Britin sich weiter den Kopf zerbrechen konnte, schweifte das Gespräch vom Thema ab, um etwas zu behandeln, was sie mehr interessierte, als die Stimme von Elena Durham oder Ewa Nevakhovich-Rakhmelevich. Um Himmels Willen, was für ein Nachname - Katie würde sich nie an ihn gewöhnen können. Wieder war es Bernice die ihre Stimme erhob - konnte sie denn keine zwei Minuten still sein? “Aber wenn wir schon beim Gesprächsthema Krankheiten sind…”, begann diese und warf einen Blick über ihre Schulter zu ihren Kolleginnen. “… fragt ihr euch denn nicht, warum der Sohn des Opernleiters in letzter Zeit so viel Zeit bei uns verbringt?”, schloss sie ihre Frage ab und hob bedeutungsschwer die Augenbrauen. Katie konnte sie nicht leiden. Wirklich nicht. Sie wollte immer im Zentrum der Aufmerksamkeit sein - eine Eigenschaft welche sie mit Ewa teilte - jedoch war sie darin nicht so geschickt wie die Blondine, weshalb es noch eine Spur aufdringlicher zu sein schien, als die Aufmerksamkeit erregende Art der Ukrainerin. Überraschender Weise war es dann jedoch Katie, die der Ballerina antwortete. Irgendjemand musste sie ja zum Schweigen bringen. “Nun, ich würde ja vermuten, dass er sich langsam darauf vorbereiten will, dass er irgendwann die Geschäfte übernehmen wird, oder etwa nicht?”, erwiderte Katie und strich sich eine ihrer langen braunen Strähnen hinters Ohr. So kurvig und vollbusig Ewa war, so schmal und zierlich war Katie. Sie war jedoch ebenfalls eine der lernenden Sopranistinnen an der Oper, auch wenn ihre Stimme vielleicht etwas zu dünn war um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Aber Katies Stimme hatte etwas, das einen verfolgte und regelrecht unverwechselbar war. Etwas, das fast genauso viel zählte wie die Fähigkeit einen Raum mit ihr zu erfüllen, weshalb auch sie eine potentielle Nachfolgerin Elenas wäre. Diesmal war es dann nicht Bernice, welche das Wort ergriff, sondern Louise. “Hm… also wenn ich ehrlich bin…”, begann die junge Frau und nestelte irgendwie nachdenklich an der Gürtelschnalle ihres langen Mantels herum, “… ist er doch etwas zu häufig hier, als dass er sich nur orientieren wollen würde.”, gab sie zu bedenken und machte einen recht unglücklichen Gesichtsausdruck. Es war ein offenes Geheimnis, dass der Opernleiter krank war. Sein gesundheitlicher Zustand war mehr als bedenklich und hinter vorgehaltener Hand wurde schon darüber getuschelt, ob er denn die Jahreswende noch erleben würde, denn er hatte sich seit Monaten immer seltener blicken lassen. Katie nickte leicht, während sie die Rothaarige dabei beobachtete, wie sie geschickt mit einigen Haarnadeln ihre zu einem Zopf geflochtenen roten Haare geschickt hochsteckte. Das war wieder typisch für sie - sie brauchte wegen ihrer Haarfülle immer am längsten um sie in Ordnung zu bringen. “Insofern…”, nuschelte die 17-Jährige mit einer der Nadeln zwischen ihren Lippen. Sie griff nach ihr und steckte sie sich ins Haar. “… fürchte ich, dass es wohl…”, jedoch kam sie nicht dazu ihren Satz zu beenden, oder es schenkte ihr einfach niemand Aufmerksamkeit, denn die Gruppe war gerade aus dem Gebäude hinaus in den Innenhof der Oper getreten, wo ein unerwarteter Gast auf sie wartete. Katies Augen begannen verdächtig zu funkeln. Leon betrat gerade den Innenhof durch den Eingang, durch welchen sie diesen gerade verlassen wollten. Das allein an sich hätte kein großes Aufsehen erregt, denn der junge Mann war seit Monaten schon oft mehrmals die Woche hier, jedoch gab sein etwas betreten wirkender Gesichtsausdruck Grund zu erneuter Tuschelei unter den jungen Tänzerinnen und Sängerinnen. Katies Blick war gebannt auf den blonden Mann gerichtet und sie ignorierte Louise, welche ihn offenbar noch nicht gesehen hatte und sich im ersten Moment zu wundern schien, warum sie denn nicht weiter gingen. Katie registrierte gerade noch das kleine “Oh…”, welches von der Rothaarigen kam, als diese sich ihren Platz neben ihr erkämpft hatte, denn kurz darauf erhob der Sohn des Opernleiters seine Hände, um die vielen Frauen und auch einige Männer zum Schweigen zu bringen. Alle Gespräche erstarben. Gespannt blickten sie nun auf den Mann, welcher scheinbar abwartend - zögernd? - den Blick durch die Menge schweifen ließ. “Mein Vater ist tot.”, begann er erstaunlich gefasst, “Und mit sofortiger Wirkung übernehme ich die Leitung an der Oper.”, fuhr er fort und Katie bewunderte die scheinbare Gelassenheit, welche der 23-Jährige ausstrahlte. Nur einen Moment lang wunderte sie sich darüber, dass er sich so kurz gefasst hatte. Vermutlich hatte er diese traurige Nachricht noch an so viele Personen zu überbringen, dass er auf ‚unnötiges‘ Drumherum getrost verzichten konnte - es war vermutlich ohnehin nicht einfach für ihn. Unter den Künstlerinnen und Bühnenarbeitern wurde es wieder laut - jeder schien seine Bestürzung über das Ableben von Leons Vater bekunden zu wollen und Katie sah aus dem Augenwinkel, wie Louise betreten den Kopf senkte. Sie wunderte sich nicht über ihr Verhalten, denn auch sie hätte ihren Kopf wohl in Demut und Trauer gesenkt, wenn sie nicht so damit beschäftigt wäre, Leon zu betrachten wie ein faszinierendes Gemälde. Beinahe schalt sie sich in Gedanken selbst für ihren Mangel an Pietät und als sie sich begann zu wundern, warum er denn immer noch so erwartungsvoll zu ihnen blickte, neigte sie ihren Kopf leicht um nicht mit ihrem scheinbaren Mangel an Mitgefühl aufzufallen. Als das Getuschel wieder verstummt war, holte der blonde Mann noch einmal Luft und fuhr fort. “Ich wünschte, das wären die einzigen schlechten Neuigkeiten, die ich überbringen muss, aber weiters muss ich verkünden, dass unsere Sopranistin, Elena Durham, mit sofortiger Wirkung zurücktritt, da ihre Erkrankung es ihr unmöglich macht weiter zu singen. Scheinbar ist der Schaden an ihren Stimmbändern zu stark, als dass sie uns weiter …” Jetzt hörte Katie ihm ausnahmsweise nicht weiter zu, denn die Neuigkeit um Elena hatte sie tatsächlich überrascht. Die Brünette blickte zur Seite und tauschte mit Louise einen kurzen Blick, ehe diese sich ebenfalls zur Seite wandte, um ein paar Worte mit einer ihrer Freundinnen zu wechseln. Dies waren in der Tat große Neuigkeiten, denn auch wenn schon seit Wochen zu merken gewesen war, dass Elena sich aus aller Heiterkeit und gesellschaftlichen Treffen heraushielt, so war die Tatsache, dass ihre angeblich vorübergehende Schonung der Stimme von Dauer sein würde, alles andere als zu erwarten gewesen. Die Sopranistin war hart ihm Nehmen gewesen und deshalb hatte eigentlich niemand vermutet, dass sich dieser Zustand länger als ein paar Wochen hinziehen würde. Anscheinend hatten sie falsch gedacht. Katie blickte erst wieder zu dem Blonden, als sie aus der Menge eine Frage hörte, die sie wohl alle sehr interessierte. “Wer wird jetzt ihre Nachfolge übernehmen?”, konnte man die charakteristische Stimme Ewas sagen hören und zustimmendes Gemurmel machte klar, wie brisant das Thema eigentlich war. Leon blickte in die Richtung, aus welcher die Stimme gekommen war und beschwichtigte die mittlerweile recht besorgte, wenn nicht sogar aufgebrachte Menge, so gut er konnte. Trotz allem dauerte es rund eine Minute bis wieder Stille herrschte. Gebannt blickten sie nun alle auf den jungen Opernleiter. “Eine berechtigte Frage. Nun, das ist leider noch nicht klar. Es gibt eine engere Auswahl an Sängerinnen, die in Frage kämen, allerdings ist es noch zu früh, um Voraussagen zu machen. Ich bitte Sie deswegen alle um die nötige Geduld.” Kapitel 2: Oktober 1887 ----------------------- Zwei Wochen später Vielerorts war Lachen zu hören. Die Menschen standen elegant gekleidet in kleineren und größeren Grüppchen beieinander und unterhielten sich über den neuesten Klatsch und Tratsch, aber teilweise auch über ernstere Themen, was man an den vor Leidenschaft geröteten Gesichtern einiger Diskutierender sehen konnte - selbst wenn die Themen an sich vielleicht nicht so Aufsehen erregend waren, als das man sich ernsthaft in Rage reden könnte, so tat der Alkohol sein übriges, auch wenn man den Gästen lassen musste, dass sie sich mit empfohlener Zurückhaltung den edlen Getränken widmeten, welche serviert wurden. Der kleine Ballsaal der Oper war gefüllt mit Mitarbeitern der Oper, aber auch mit deren Angehörigen, Freunden und auch einigen eigens zu dem Anlass angereisten Gönnern, die sich von den momentan vorherrschenden Zuständen, als auch vom neuen Opernleiter selbst ein Bild machen wollten. Katie strich sich die Haare hinters Ohr und lachte leise über eine Bemerkung, die Louise über einen älteren Mann gemacht hatte. Diese reagierte mit einem breiten Grinsen, mit welchem sie eine Reihe makellos weißer und ebenmäßiger Zähne entblößte. „Oh ich weiß gar nicht, warum du so lachen musst, wirklich. An meiner Bemerkung war gerade nichts Amüsierendes…”, sagte sie und machte eine scheinbar unschuldige Mine, doch wieder konnte sie zumindest ein Zucken ihrer Mundwinkel nicht unterdrücken. Katie nippte leicht schmunzelnd an ihrem Champagnerglas und ließ ihren Blick durch den Raum wandern. Wieder ein Mal blieb er an Mr. Kennedy hängen. Dieser unterhielt sich gerade mit mehreren älteren Männern und sie konnte selbst aus der Entfernung sein angenehmes Lachen hören und bewunderte die scheinbar lässige und nicht erzwungene Eleganz, die der blonde Mann ausstrahlte. Er schien einen guten Eindruck auf die Herrschaften zu machen, denn Katie sah die kurzen zufriedenen Blicke, welche sie miteinander austauschten. Noch hatte sie keine Gelegenheit gefunden, mehr als ein oder zwei Wörter mit ihm zu wechseln, denn er war in den letzten zwei Wochen permanent beschäftigt gewesen. Jetzt, wo sein Vater nicht mehr lebte, lag die gesamte Verantwortung auf seinen Schultern und Katie fragte sich, ob der Opernleiter momentan denn mehr als vier oder fünf Stunden täglich schlief. Genauen Beobachtern - also ihr - würden dann die leichten Schatten unter seinen Augen und die etwas fahle Haut auffallen. Eindeutige Zeichen dafür, dass er sich weder richtig ernährte, noch genug Schlaf bekam und ihre Sorge wuchs, dass er wohl bis zur totalen Erschöpfung arbeiten würde. “… hörst du mir zu?”, konnte sie auf einmal die verwunderte Stimme der rothaarigen Sängerin hören und blinzelte verwirrt. Louise legte ihren Kopf leicht schief und Katie betrachtete versonnen ihre üppigen roten Locken. Beneidenswert. “Entschuldige, ich war in Gedanken.”, erwiderte sie und lächelte entschuldigend. Louise machte eine wegwerfende Handbewegung und zuckte leicht mit den Schultern. “Schon in Ordnung. Wie mir scheint hat ohnehin die Person, über die ich gerade gesprochen habe, dein Interesse erweckt.”, antwortete die 17-Jährige und hob leicht die Augenbrauen. Katie schüttelte leicht den Kopf, als wolle sie damit sagen, dass Louise nicht mehr zu helfen sei. “Ich hatte nur darüber nachgedacht, wie es wohl in Zukunft bei uns weiter gehen wird…”, gab sie scheinbar zu, auch wenn es nicht der Wahrheit entsprach. “Eine angebrachte Frage.”, konnte man plötzlich die Stimme von Melissa hören. Sie war eine der älteren Sängerinnen an der Oper, hielt sich aber eigentlich immer gekonnt im Hintergrund - sie schien allzu viel Trubel um ihre Person nicht zu schätzen. Dabei war dies nicht verständlich, denn sie hatte keinen Grund sich zu verstecken. Die 28-Jährige Britin war eine schöne Frau, mit schmalen, aber dennoch geschmeidigen Rundungen und einer kräftigen Stimme. Einzig ihre Brust war zu üppig und schien etwas aus dem Gesamtbild herauszustehen, was jedoch weder an der eleganten und schönen Art, noch an der Tatsache, dass sie eine fantastische Sängerin war, änderte. Sowohl Katie, als auch Louise warfen ihr einen aufmerksamen Blick zu, mit welchem sie die Frau aufzufordern schienen weiter zu sprechen. “Ich erkläre es euch später, jetzt möchte ich noch mehr Cham-” Sie kam nicht dazu den Satz zu beenden, denn alles andere als unauffällig wurde die Flügeltür zum Raum geöffnet und Ewa trat in formvollendeter Show ein. Die kurvige Blondine trug ein dunkelrotes Kleid - hatte sie eine Schwäche für diese Farbe? - welches ihre Rundungen unterstrich, wenn nicht sogar noch mehr zur Geltung brachte und ihre langen blonden Haare waren kunstvoll hochgesteckt. Katie, Melissa und Louise folgten ihr mit ihren Blicken. “Also wenn ich mich nicht irre…”, begann die Älteste und die jungen Frauen wandten ihr wieder ihre Gesichter zu. “… dann wird die Zukunft der Oper eine große, auffällige, aber qualitativ minderwertige Show.”, schloss sie ab und griff nach einem Champagnerglas, als ein Kellner mit einem Tablett an ihnen vorbeiging. Louise ließ sich ebenfalls eines reichen und meinte mit einem kurzen Seitenblick auf Katie, “Denkst du wirklich, dass sie Ewa zur Sopranistin machen?” Melissa ließ ihren Blick wieder zu Ewa schweifen, welche sich gerade von irgendeinem der vielen Männer bewundern ließ. „Die passenden Star-Allüren hat sie ja schon.”, erwiderte sie nur trocken und trank einen Schluck aus ihrem Glas. Katie hatte das Gespräch nicht verfolgt. Ihr Blick hing an Ewa, welche immer wieder einen Blick über ihre Schulter warf. Wen sie ansah, merkte die 20-Jährige sofort, denn im Blickfeld der Blondine war nur ein Mann der ihr Interesse erwecken könnte: Leon Kennedy. Louise deutete mit ihrem Gesichtsausdruck an, dass es ihr wohl weniger passen würde, wenn tatsächlich Ewa die Rolle einnehmen würde, um welche sie sich anscheinend so aufopferungsvoll bemühte. Tatsächlich entsprach ihre Geste auch ihren Gedanken, denn die 17-Jährige wusste nicht, ob sie es an der Oper aushalten würde, wenn die Ukrainerin tatsächlich ihren heiß ersehnten Posten erhalten würde, denn es war schon anstrengend genug mit ihren Eigenarten umzugehen, wenn sie die Zweitbesetzung war. Louise war davon überzeugt, dass es nur noch schlimmer werden konnte. Insofern hoffte sie, dass Mr. Kennedy sich nicht von ihr beeinflussen lassen würde, denn sie verabschiedete sich gerade von der Gruppe mit welcher sie gesprochen hatte, und setzte sich in Bewegung. Die Richtung in welche sie blickte, machte klar, dass sie mit dem Opernleiter sprechen wollte und eben dies passierte auch. Mit einem Glas Champagner in der Hand gesellte die blonde Schönheit sich zu ihm und begann ihn mit ihrem Charme zu bearbeiten. Die Rothaarige blickte von der Szene weg, als sie Melissa neben sich seufzen hörte. Auch ihr war nicht entgangen was zu passieren schien, denn etwas missgelaunt warf sie ein, “Und jetzt macht sie sich auch noch an den Opernleiter ran - das kann ja heiter werden.“ und trank abermals einen Schluck aus ihrem mittlerweile fast leeren Glas. Louise hob nur scheinbar ratlos ihre Schultern, als wollte sie damit sagen „Na ja, wir können es ohnehin nicht verhindern.“ und blickte dann zu Katie, welche immer noch gebannt zu Mr. Kennedy und seiner Gesprächspartnerin blickte. Sie versteckte recht gut, was sie sich eigentlich dachte, aber Louise kam nicht umhin sich zu denken, dass die Brünette irgendwie neidisch aussah, als wünschte sie sich ebenfalls den Mut, um den Opernleiter anzusprechen. Dieser wirkte jedoch nicht irgendwie beeindruckt von der Art der Blondine, jedenfalls zeigte sich in seinem Gesicht nicht der typische Gesichtsausdruck, mit welchem die Männer Ewa für gewöhnlich betrachteten, was aber höchstwahrscheinlich genau das Ziel der Frau war. Wieder war es Melissa, die das Wort ergriff. Ewas Verhalten schien sie sehr zu reizen - und Louise war sich sicher, dass es nichts mit etwaiger Eifersucht zu tun hatte, sondern, dass es der elf Jahre älteren viel mehr um Berufsetikette und weiblichen Stolz ging. “… irgendwie kann ich mir das nicht ansehen ohne den Kopf zu schütteln. Wenn sie sich schon an jemanden heranmacht, dann sollte sie es doch eher bei jemandem versuchen, bei dem es Gerüchten zufolge besser geht, als bei Mister Kennedy.”, seufzte sie und blickte sich währenddessen im Saal um. Sowohl Louise als auch Katie wandten ihr die Köpfe zu. “Wovon redest du?”, fragte Katie verwundert und auch Louise schien dies außerordentlich zu interessieren, denn sie hob nur abwartend die Augenbrauen. Melissa lächelte bitter. “Nun, ihr habt bestimmt von Mister Sauvignon gehört…”, begann sie und wartete kurz, bis beide zumindest leicht genickt hatten. Natürlich hatten sie von dem Mann gehört. Gesehen, hatte Louise ihn nur einmal, und das recht kurz. Da hatte er keinen sonderlich sympathischen Eindruck auf sie gemacht - unnahbar, forsch, arrogant. Dunkle Haare, dunkle Augen, sehr groß und ein intensiver Blick, der einen förmlich zu durchleuchten schien. Kein Mensch, mit dem man gerne etwas zu tun hatte - was die Solisten der Oper nicht kümmern durfte, denn er war der Gesangslehrer und kümmerte sich insbesondere um eben diese. “Jedenfalls,”, fuhr sie fort, “… hört man so einiges über den Mann. Auch wenn ich eher weniger gerne auf Gerüchte höre, so bekommt man häufiger als erwartet zu hören, dass er… solchen Annäherungsversuchen schöner Frauen gegenüber alles andere als abgeneigt sein soll.”, schloss sie ab und die zwei jungen Frauen blickten automatisch zu Ewa, welche sich immer noch mit Mister Kennedy unterhielt. Dieser schien keinerlei Probleme mit ihrer Anwesenheit zu haben, er wirkte auf den ersten Blick sogar recht gut gelaunt. Zufälligerweise blickte er eben in diesem Moment zu ihnen und schenkte ihnen ein kleines Lächeln und nickte der kleinen Frauengruppe kurz zu. Aus den Augenwinkeln sah Melissa, wie Katie etwas rot um die Nase wurde. “Ich weiß auch nicht…”, begann die Rothaarige und presste unentschlossen die Lippen auf einander, “… was soll man schon von Gerüchten halten? Meint ihr wirklich, dass er so ein… Weiberheld ist? Ich kann mir das ja nur schwer vorstellen… Nicht unbedingt ein Mann, an dem ich Interesse haben könnte.”, überlegte sie laut und schüttelte leicht den Kopf. Katie ließ sich ein Champagnerglas von einem Kellner reichen. “Nun, nur weil er dir nicht sympathisch ist und gefällt, muss das ja noch lange nichts bedeuten.”, gab sie zu bedenken. “Ich kann mir schon vorstellen, dass er Erfolg hat bei Frauen…” Melissa nickte, jedoch war Louise nicht ganz überzeugt. “Na ja, so lange er mich in Ruhe lässt, könnte mir nichts unwichtiger sein, als sein Erfolg bei Frauen. Er ist sowieso zu alt.”, schloss die Jüngste der drei ab und damit war das Thema für den Abend beendet. „Und? Fühlen Sie sich mittlerweile schon wie der Herr dieses Hauses?“ Ein breites Schmunzeln schmückte mit einem Male das Gesicht des neuen Opernleiters als ein kulturinteressierter Gast, genauer gesagt der Vicomte de Chateaubriand, ihm die Frage des Abends stellte. Für einen Augenblick könnte man nun meinen, der junge Mann mit der großen Verantwortung reagierte verlegen, denn sein Blick sank fürs Erste gen Boden, während sich in seinem Kopf einige Gedanken sammelten und der letzte Schluck Champagner in seinem Glas vor sich hin prickelte. Doch Leon war ein Mann, der weder Schüchternheit noch Zögern kannte. Er dachte für einige Sekunden lediglich an seinen verstorbenen Vater. „Wissen Sie…“ Er blickte auf. „Ja. Vollkommen.“, antwortete er klar und deutlich mit einem leichten Schulterheben und seinem Siegerlächeln, dabei wieder das Augenpaar seines Gegenübers mit seinem eigenen kreuzend. Das brachte den Franzosen auf einmal zum Lachen. Einen Augenblick später konnte Leon nicht anders als es ihm gleich zu tun. Klassische Klavierklänge durchdrangen den festlich geschmückten Saal, der schon fast 100 Jahre zählte, während vereinzelte Menschengrüppchen in schicker Garderobe sich auch am Rande der Tanzfläche aufhielten, um unterhaltsame Pläuschchen zu halten und sich das ein oder andere Glas Champagner zu gönnen oder einfach nur der angenehmen Melodie einiger Instrumente zu lauschen und die kostbarsten Gewänder von den billigsten in diesem Raum zu unterscheiden. Gewiss waren das nur einige wenige von überaus vielen Tätigkeiten, mit denen sich die hier Anwesenden die Zeit vertrieben, so musste man erwähnen, dass das Fest mittlerweile schon zu fortgeschrittener später Stunde seinen Lauf nahm, die ersten Leute schon längst auf dem Weg nach Hause waren oder die ganz ungeduldigen sich an einen stillen Ort in der Oper zurückzogen, um dort Dinge zu tun, die man in der Öffentlichkeit lieber nicht zur Schau stellte. „Ihr Vater muss wirklich stolz auf Sie gewesen sein... Ein Jammer, dass ich ihn nie hatte persönlich kennen lernen dürfen.“ „Ja… das war er. Schon immer… Aber lassen Sie uns nicht über meinen Vater sprechen. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber er hatte es noch nie gemocht, wenn ich hinter seinem Rücken über ihn gesprochen habe.“ Prinzipiell wäre ja von nun an jedes Wort über seinen Vater eines, welches hinter seinem Rücken ausgesprochen wäre. Ob man diese Aussage aber nun als Indiz für schwarzen Humor auffasste oder nicht, das musste man für sich selbst entscheiden. Leon jedenfalls teilte nicht wirklich das Interesse, mit jemandem über den ehemaligen Opernleiter zu sprechen. Es war ein Thema, welches viele Personen beschäftigte, ein Thema in aller Munde sozusagen und das, obwohl der Mann schon vor zwei Wochen verschieden war. Es war eine Zeitspanne, in der er persönlich seine Trauer schon längst als überwunden betrachtet hatte. Bereits als festgestanden hatte, dass er stürbe, hatte Leon Abschied genommen und seinem Erzeuger versprochen, was er - das einzige Kind der Familie Kennedy - seinem im Sterben liegenden Vater nur alles hatte versprechen können. Darunter die stille Zusicherung stark zu bleiben und seinem Familiennamen alle Ehre zu machen, dafür zu sorgen, dass die Oper weiterhin im prachtvollen Glanze erstrahlte und ihre Besucher mit neuen Stücken und Inszenierungen begeistert würden. Die Zeit stille Tränen zu vergießen sollte vorbei sein. Leon wollte einfach nicht mehr daran erinnert werden. Ehe der Vicomte de Chateaubriand richtig auf seine Aussage reagieren konnte, gesellten sich alles andere als unauffällig zwei jüngere Herren zu ihnen, entschuldigten direkt ihre Unhöflichkeit beim Engländer, nachdem sie den Vicomte angeheitert auf Französisch angesprochen und Leon dabei für einen Moment vollkommen außer Acht gelassen hatten. Weniger über diesen barschen Einfall der beiden Männer empört als über die beneidenswerte Trinkfestigkeit jener, leerte der Brite mit einem leichten Schmunzeln sein Glas als die drei ausländischen Herren ein Gesprächsthema zu behandeln begannen, welches immerhin nichts mit Tod, Trauer und Verantwortung mehr am Hut hatte. „Diese Franzosen…“, ging es Leon grinsend durch den Kopf als sie über einige weibliche Gäste sprachen und was sie denn für Vorzüge zu bieten hätten. Der Brite hatte nicht wenig zu diesem Thema zu sagen, doch wurde schnell deutlich, dass die drei Herren auf andere Dinge Wert legten als der Opernleiter. Schnell war die Laune wieder gestiegen und mit ihr schon bald das Bedürfnis nach einer guten Zigarre. Genau hier stieg der Brite aus. Mit einem Schmunzeln entschuldigte sich Leon höflich, wünschte den Männern noch einen angenehmen Abend und ließ die drei Franzosen ihrem Bedürfnis nachkommen, während er sich lieber dafür entschied, sich noch ein Glas Champagner zu genehmigen. Ob er auch irgendwann damit anfinge Zigarre oder Pfeife zu rauchen? Eine Vorstellung, die ihm fast ein Stirnrunzeln bereitete. Niemals! Mit aufgeschlossenem Blick durch den Saal hielt er nach… nein, nicht nach Ewa, die gerade mit irgendeinem Kerl tanzte, sondern einem der Kellner Ausschau. Seine Augen funkelten förmlich auf als er schließlich einen erblickte und mit selbstsicheren Gang schritt er auf diesen zu, um sich ein gefülltes Glas von dessen Tablett zu nehmen. Dankend lächelte er ihm zu, nahm einen wohltuenden Schluck und machte im Anschluss eine Entdeckung, die ihm mindestens genauso gut schmeckte wie der teure Alkohol. Gleichend einem süßen Schauer über- und durchzog es seinen Körper als er sie betrachtete und just in jenem Moment fragte er sich, wieso er heute nicht zumindest einmal auf den Gedanken gekommen war, diesem Mädchen hier begegnen zu können. Eine positive Überraschung, die seine sich wieder langsam meldende Erschöpfung in den Hintergrund rücken ließ. Schon öfters war er in den Genuss gekommen, sie zu erblicken, ihre Stimme zu hören und sie lachen zu sehen, doch jedes Mal, wenn er sich die Zeit nehmen wollte, um sie anzusprechen, musste irgendetwas oder irgendjemand dazwischen funken: Louise Ellis, das rothaarige Chormädchen und talentierte Tänzerin der Oper. Natürlich kannte er ihren Namen, schließlich machte er gerne Nägel mit Köpfen. Wenn er schon ein Auge auf jemanden geworfen hatte, dann konnte er nicht anders als dafür zu sorgen, mehr Informationen über diese Person in die Finger bekommen. Es war ein Informationsdurst aus Neugier und Interesse entsprungen. Dabei war es vollkommen gleich, ob die Person ihm positiv oder negativ auffiel. In welche Kategorie von Menschen Miss Ellis gehörte, war glasklar. Sie sah zweifelsfrei wundervoll aus und ohne besonderen Anlass musste er anfangen zu schmunzeln. Sie stand alleine am Rande einer Gruppe und blickte unbestimmt durch die Gegend. Das war die Gelegenheit. Ehe der Kellner weiterziehen konnte, griff Leon nach einem zweiten Glas und schritt ohne zu zögern direkt auf sie zu. „Guten Abend, Miss Ellis.“ Sogleich bekam er ihr überrascht wirkendes Antlitz zu Gesicht, welches nun wirklich Anlass genug war, um das dezente Lächeln in seinem Gesicht bestehen zu lassen. „Mister Kennedy… guten Abend.“ „Als ich Sie so sah, dachte ich mir, ich befreie Sie von Ihrem Alleinsein.“, gab er direkt, wie es seine Art war, zu bekennen und reichte ihr eines der beiden Gläser. „Bitte, Sie trinken doch Champagner, oder?“ Leon war sich seines Standes bei Frauen bewusst und besaß ein gesundes Selbstvertrauen, welches ihn nicht erst seit kurzem die Pfade zu charmanten Umgangsweisen eröffnet hatte. Er genoss die positive Wirkung, die er auf andere hatte durchaus, doch fast noch mehr genoss er es, selbst derjenige zu sein, der positiv angetan von einer charmanten Persönlichkeit war. Am liebsten von einer Persönlichkeit, die sich nicht einmal über ihren eigenen Charme bewusst war. Mit einem hinreißenden Schmunzeln senkte sie für einen Moment ihren Blick und nickte. „Das ist sehr freundlich… und ja, vielen Dank.“ Zart berührten ihre Fingerspitzen seine Hand als sie das Glas entgegennahm und zum ersten Mal fiel dem jungen Mann auf, wie stechend blau ihre Augen waren. „Und Sie gönnen sich eine Pause, von den vielen bis dato unbekannten Gesichtern? Obwohl…“, überlegte sie laut, „…wir uns ja bisher auch noch nicht gesprochen haben.“ „Bedauerlicherweise.“, fügte er mit einem angedeuteten Nicken hinzu und trank, wie auch sie, einen kleinen Schluck. Ihr Lächeln ließ ihn weiter in Selbstsicherheit schwimmen, wozu auch stellvertretend der Alkohol hätte imstande sein können. „Mir liegt viel daran, die Menschen näher kennen zu lernen, die leistungstragender Bestandteil meiner Oper sind. Vor allem natürlich Menschen, die mich... persönlich zu entzücken wissen.“ Diese Aussage schien sie unvorbereitet zu treffen und wenn Leons Augen ihm keinen Streich spielten, glaubte er sich eine leichte Röte auf ihr Gesicht legen zu sehen. Er konnte nicht anders als schon wieder zu lächeln. „Das ist durchaus eine sehr löbliche Einstellung, soweit ich das beurteilen kann...“, sah sie ihn immer noch mit diesem lebendigen und von Überraschung geprägten Blick an, ehe sie sich leicht auf die Unterlippe biss, welches sie jedoch nicht davon abzuhalten schaffte, etwas breiter zu lächeln. Einen Moment lang, sahen sie sich nur an. Etwas Unbeschwertes lag in ihren Augen, doch der Augenblick zerbröselte als Miss Ellis‘ Blick plötzlich ernster wurde. Als ahnte der junge Mann, welche Worte sie gleich von sich gäbe, verblassten die Spuren der guten Laune in seinem Gesicht und wichen ernsteren und erschöpfteren Zügen. „Ich vermute, Sie können es schon gar nicht mehr hören, aber… mein herzlichstes Beileid.“ Ausweichend unterbrach er den Augenkontakt, nicht etwa wie ein zutiefst getroffenes Häufchen Elend, sondern viel mehr wie ein Mann, der stur daran glauben wollte, dass es eine Schwäche war, sich von einer schwachen Seite, wie der trauernden, zu zeigen. Er wollte sie sich ja noch nicht einmal selbst zeigen. „Das haben Sie gut erkannt… Aber danke.“ Erst nach einigen Sekunden verlieh er seinem Gesicht wieder einen offenen Ausdruck, indem er ein kleines Lächeln darin Platz nehmen ließ und ohne weiter auf dieses Thema eingehen zu wollten, wechselte er es kurzerhand. „Darf ich fragen, wieso man Sie hier hat alleine stehen lassen?“ „Nun, anfangs war ich ja noch mit Katie und Melissa hier, aber…“, wieder lächelnd hob sie ihre schmalen Schultern, „…die haben dann andere Personen getroffen und mich alleine gelassen. Aber mir scheint, als sei ich gut aufgehoben…“ Ihre Worte erleichterten und schmeichelten ihm zugleich. Zum einen, weil sie seine kleinen Bedenken, er hätte beinahe barsch auf ihre Beileidsbekundungen reagiert, damit auflöste, zum anderen, weil ihre Aussage so unverblümt und unverdorben über ihre Lippen kam. Der rote Schimmer auf ihren Wangen setzte dem Ganzen noch das i-Tüpfelchen auf. Aber er musste sie nicht erst ansehen, um zu merken, dass sie nicht der Typ von Mädchen war, welcher Tag für Tag kecke Sprüche von sich gab und sich daran erprobte, netten Herren schöne Augen zu machen. Miss Ellis schien ihm ein anständiges Mädchen zu sein. Anständig genug, um gar als gute Partie durchzugehen. So anständig, wie der erste Eindruck ihn hatte glauben lassen. Mit einem Schmunzeln betrachtete er das Gesicht der Blauäugigen mit der auffallend roten Haarpracht. „Auch das haben Sie gut erkannt, wenn ich ganz kühn anmerken darf.“, erklang es diesmal gesonnter, ehe er seine Kehle mit einem weiteren Schluck des edlen Getränks erfrischte und ihr mädchenhaftes Lachen vernahm. Man sah sich nach kurzem Schweigen wieder an. „Kommen eigentlich große Personalverä-“, begann sie zu sprechen als sie weiter entfernt in Leons Richtung irgendwas zu entdecken schien, das dem Sichtfeld des jungen Mannes jedoch entzogen war. „…Mir scheint, als wolle jemand Sie dringend sprechen, Mister Kennedy…“, deutete sie dezent auf einen Herrn, der tatsächlich versuchte Leons Aufmerksamkeit zu erregen, indem er ihn zu sich herwinkte. Ohne zu zögern sah er nun selbst in jene Richtung und als er den Mann auch entdeckte, stellte er sich in seinem Kopf wohl die Frage des Abends schlechthin: Wann durfte er sich endlich einmal entspannen und das Fest genießen, ohne immer wieder von irgendwelchen Beileidsbekundungen fremder Unternehmer oder geschäftlichen Ideen zu hören? „Mhh… und ich wünschte, Sie hätten mich nicht darauf hingewiesen, Miss.“, gab er nachdenklich, aber nicht verärgert klingend zu verstehen und spielte dem Mann aus der Entfernung gute Miene vor, hob sein Champagnerglas zum Gruß und mit angedeutetem Nicken in die Höhe. Ihr bedauerndes Schulterzucken entging ihm und ehe er sich Miss Ellis wieder direkt zuwandte, bedeutete er dem Unternehmer noch, dass er gleich auf ihn zukäme. „Was ich nämlich gar nicht schätze, ist es, wenn meine Verschnaufpausen deutlich weniger als 20 Minuten andauern, vor allem, wenn sie so angenehm sind, wie diese hier.“, ließ er noch einmal etwas von seinem Charme sprühen, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen und schenkte ihr eines seiner smarten Schmunzeln. „Leider werde ich Sie jetzt trotzdem alleine lassen müssen. Gäben Sie mir die Chance, Sie weitaus ungestörter und näher kennen lernen zu dürfen, Miss Ellis? Ich würde mich sehr freuen. Das Chez Jean böte sich hervorragend dafür an.“ Nägel mit Köpfen. Ihr erfreutes Lächeln verwandelte sich bei seiner Frage in ein überraschtes O. „A-Also… natürlich, sehr gerne…“, begann sie stockend zu antworten, als schon wieder jemand ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. „Oh und da sehe ich meinen Vater – er ist anscheinend gekommen, um mich zu holen…“ Ihr liebliches Schmunzeln ließ Leons wieder deutlicher werden. „Für den Moment trennen sich unsere Wege also. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“, machte sie einen leichten Knicks und sah ihm in die Augen. „Den wünsche ich ebenso und grüßen Sie Ihren Vater von mir. Ach, und vergessen Sie nicht: Ich hole Sie übermorgen Abend - um Sieben - ab.“ Er hob die Hand verhalten zum Abschiedswink und sah sie durch die Mengen huschen. Als sie schließlich aus seinem Blickfeld verschwunden und er alleine war, waren es Eindruck und Lächeln, welche noch blieben und ihm Gesellschaft leisteten. Eindruck. Zufrieden in Gedanken nickte er über diesen Erfolg, in Sicherheit wogend gute Karten zu haben. Ja, so langsam aber sicher wollten die Dinge ihren Lauf nehmen... Bald leitete er die Oper als hätte er es schon immer getan und auch auf zwischenmenschlicher Ebene würde es nicht anders aussehen. Leon wusste, was er in seinem jungen Leben noch brauchte, wusste, was genau das Richtige für ihn war und dass er unter keinen Umständen der Welt aufgäbe, es mit allen Mitteln nicht einfach nur für sich zu gewinnen, sondern es auch dauerhaft an sich zu binden. Nur, wer das konnte, blieb erfolgreich. Nur, wer dazu fähig war, blieb im Spiel. Kapitel 3: November 1887 ------------------------ Ende November Melissa schlang das breite blaue Tuch enger um ihre Schultern. Auch wenn der Winter noch nicht endgültig Einzug in die Stadt gefunden hatte, war es in den abgelegenen Gängen der Oper bitterkalt - dabei hatten sie die Wärme doch mehr als nötig. Wie sonst könnten die drei im Gang stehenden und offensichtlich auf etwas wartenden Frauen sich auf die ihnen bevorstehende Aufgabe konzentrieren? Wie sonst könnten sie sich darauf konzentrieren, dass sie gleich singen und damit später mehr oder weniger maßgeblich an der Entwicklung der Oper mitarbeiten würden? Die brünette 28-Jährige seufzte leise und blickte sich im Gang um, warf den ein oder anderen Blick auf die zwei Konkurrentinnen, welche ebenfalls hier warteten. Ja, Konkurrentinnen, denn nichts anderes waren sie im Moment. Ewa, Melissa, Louise und Katie, welche im Moment jedoch nicht bei ihnen, sondern in einem der angrenzenden Räume war. Elena, in was für einen Schlamassel hast du uns hier taumeln lassen?, schoss ihr durch den Kopf und die Sängerin beschloss ihre Freundin bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit darauf anzusprechen. Mit keinem Wort hatte die ehemalige Solistin erwähnt, dass sie vor hatte in den Ruhestand zu gehen und dementsprechend unerwartet, hatte sie das alles getroffen. Wer hätte schon damit gerechnet, dass die so unheimlich erfolgreiche Elena Durham ihre Karriere im Alter von 27 Jahren beenden würde? Niemand. Melissas Blick schweifte von der Wand ihr gegenüber zu Louise, welche ein Stück weit entfernt an dieser lehnte. Die 17-Jährige war blass - blasser als sonst, und das wollte schon etwas heißen - und ihr Blick war gen Boden gerichtet. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, als wollte sie etwas sagen und ihre kleinen Hände waren hinter ihrem Rücken ineinander verschränkt. Jetzt war sie still, jedoch hatten sie sich vorhin unterhalten und sie hatte Zweifel geäußert, ob sie denn überhaupt den Hauch einer Chance hatte, die frei gewordene Position an der Oper einzunehmen. Melissa teilte ihre Skepsis eher weniger. Obwohl die Rothaarige nur ein Chormädchen war, war ihre Stimme gut ausgebildet und ihr italienisch beinahe perfekt, was vor allem daran lag, dass ihre Eltern reich waren und sie seit ihrer frühen Kindheit sowohl Gesangs- als auch Italienischunterricht erhalten hatte und weiß der Geier was sonst noch für musikalische Bildung. Dementsprechend war ihre Stimme um einiges besser als die eines durchschnittlichen Chormädchens und Melissa hegte Zweifel daran, dass die junge Frau wirklich so chancenlos war, wie sie dachte. “Wie lange dauert das denn noch?! Ich erfriere hier gleich!” Mit diesen Worten wurde Melissa aus ihren Gedankengängen gerissen und sowohl sie, als auch Louise blickten zu Ewa, welche verärgert die Hände vor der Brust verschränkt hatte. Sie machte einen hinreißenden Schmollmund und ihre Augenbrauen waren für einen Moment so zusammengezogen, dass sich zwischen ihnen eine Zornesfalte bildete. Energisch schritt sie im Gang auf und ab. “Katie ist erst vor 10 Minuten hineingegangen…”, erwiderte Louise und verfolgte die Schritte der Blondine aufmerksam. “Lächerlich!”, stieß diese dann hervor und machte eine abfällige Geste mit ihrer Hand. “Als gäbe es auch nur den geringsten Zweifel daran, dass ich die neue Solistin werden würde. Ich will dort jetzt hinein und ihnen unmissverständlich klar machen, dass ich die einzig richtige Wahl bin.”, sagte sie, als wäre ihr nicht bewusst, dass die beiden im Gang stehenden Frauen ebenfalls genau aus diesem Grund hier warteten. Aber die Ukrainerin hatte sich noch nie Gedanken darum gemacht, was andere Frauen von ihr hielten, immerhin war sie der festen Meinung, sie seien ja doch alle nur neidisch auf ihr Talent und ihr Aussehen - was teilweise auch stimmte. Melissa runzelte missgelaunt die Stirn und deutete Louise, nichts weiter zu sagen, denn die Sängerin hatte empört den Mund geöffnet und zu einer gereizten Antwort angesetzt, die gewiss zu einem Streit zwischen den zweien geführt hätte und darauf konnte Melissa getrost verzichten. Die 17-Jährige entspannte sich sichtlich und lehnte sich wieder an der Wand an, von welcher sie sich, bereit zu einer verbalen Auseinandersetzung, abgestoßen hatte um einen energischen Schritt auf die Blondine zuzugehen. Wieder herrschte Schweigen zwischen den drei Frauen und Melissa konnte ihre Gedankengänge fortsetzen. Wieder sah sie Ewa an, welche mit hinter dem Rücken verschränkten Händen und entschlossenem Blick vor einem Gemälde stand und in Gedanken versunken zu sein schien. Würde man sie wirklich zur Solistin küren? Melissa hielt das nicht ein Mal für unwahrscheinlich. Natürlich gab es so einiges, was dagegen sprach. Ewa war launisch, zänkisch und nur selten zufrieden, außer sie wurde permanent bewundert und von allen Seiten angehimmelt. Eine größere Diva gab es an dieser Oper nicht. Dennoch war es unumstößlich, dass sie eine sagenhafte Stimme hatte, die den Opernleiter möglicherweise über ihre charakterlichen Mängel hinwegsehen lassen würde. Wenn dies der Fall wäre, dann sah die 28-Jährige düstere Zeiten auf die Oper zukommen, denn wer wusste, was sie alles von ihnen allen abverlangen würde, nur um auf der Bühne zu stehen und ihren Job zu machen. Ob sie denn selbst eine Chance hatte? Innerlich schüttelte die Brünette leicht den Kopf. Es war eher unwahrscheinlich, dass man sie nehmen würde und sie hatte kein Problem damit, es sich einzugestehen. Sie war zu alt, ganz einfach. Aber das war nicht der eigentliche Grund: Sie wusste auch nicht so recht, ob sie es denn wollte. Deswegen überließ sie die Rolle lieber einer ihrer Kolleginnen und wenn es nach ihr gehen würde, dann wäre es jedoch nicht Ewa. Just in diesem Moment hörten sie, wie die Tür, durch welche Katie vorhin verschwunden war, geöffnet wurde und eben diese trat hervor und schloss sie hinter sich. “Wie war es?”, fragte Louise sie sofort und ging einige Schritte auf sie zu. Katie zuckte mit den Schultern. “Schwer zu sagen…”, begann sie und wiegte den Kopf leicht hin und her, “Ich weiß nicht, was ich von meiner Leistung halten soll… ich hätte es besser machen können… aber dieser Mister Sauvignon…”, fuhr sie fort und allein die Tatsache, dass sie seinen Namen nannte, schien zu reichen, dass ihr ein unangenehmer Schauer über den Rücken lief. “… ein sehr unangenehmer Geselle. Es reicht, dass er einen ansieht und es wirft dich aus der Bahn. Und er war permanent so unfreundlich - er hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er mich eigentlich nicht in der Rolle sehen möchte.”, schloss sie ab und seufzte schwer. Melissa und Louise tauschten einen kurzen Blick aus und Louise holte wieder Luft um etwas zu sagen, jedoch kam Ewa ihr zuvor. Melissa hätte mit den Augen rollen können. “Ach Katie… du weißt einfach nicht, wie man mit Männern umgeht.”, begann sie und schüttelte theatralisch den Kopf, ehe sie die junge Frau mit einem Blick ansah, der ihr das Gefühl gab, ihr sei nicht mehr zu helfen. “… aber es hat nun mal nicht jede Frau das Glück mit so einer umwerfenden Wirkung auf Männer ausgestattet zu sein wie ich.”, fuhr die blonde Frau fort und warf einen Blick an die Decke, ehe sie seufzte, als wäre ihre Schönheit eher ein Fluch als ein Segen. Melissa und Louise tauschten mit ihren Blicken stille Botschaften der Art “Was haben wir getan, um so etwas zu verdienen?” und sagten mal besser nichts. Katie sah jedoch ehrlich auf den Schlips getreten aus und trat automatisch einen Schritt zurück von der Ukrainerin, welche nur nach einer Gelegenheit zu suchen schien, um ihre Schönheit und Fähigkeiten weiter anzupreisen, als wäre sie eine Göttin. Wieder wurde die Tür von einem Pagen geöffnet und aus dem Inneren des Raumes war ein deutliches, etwas barsch klingendes “Ewa Nevakhovich-Rakhmelevich” zu hören. Louise kannte die Stimme nicht und sah noch aus dem Augenwinkel, wie Katie die Worte “Mister Sauvignon” flüsterte und mit dem Kopf in Richtung Tür deutete. So klingt also der Gesangslehrer der Solisten, schoss Louise durch den Kopf, während sie Ewa dabei beobachtete, wie sie zur Tür stolzierte und diese dann hinter ihr geschlossen wurde, nachdem sie vor dem Eintreten noch ein mal alles zurechtgerückt und zurechtgezupft hatte, was sie zurechtrücken und zurechtzupfen konnte. Wieder herrschte Stille, welche jedoch nach einigen kurzen Momenten von der Rothaarigen unterbrochen wurde. “Klingt ja sehr freundlich…”, sagte sie trocken und Katie schenkte ihr ein nervöses Lächeln. Sie ahnte, mehr als sie wusste, dass Louise mit ihrer trockenen Art versuchte, ihre Nervosität zu überspielen, denn nervös war sie wirklich. “Passt zu ihm.”, erwiderte Katie mit ihrer ruhigen Stimme und zog eine kleine Grimasse. “Man kommt hinein und fühlt sich als würde man in ein tiefes schwarzes Loch fallen, weil er einen aus seinen dunklen Augen anstarrt, sodass man gar nicht wegsehen kann…”, führte sie ihre Erzählungen fort und die 17-Jährige nahm sich vor, sich nicht so von dem Mann einschüchtern zu lassen. Auch wenn Katie gerne aus einer Mücke einen Elefanten machte, so musste doch etwas an ihren Erzählungen dran sein, denn komplett haltlos würde die Sängerin so etwas nicht sagen. “… und er macht einem mit jedem Wort klar, dass er dich für inkompetent und vollkommen ungeeignet hält. Er lässt dir nicht einmal die Chance, dich zu beweisen, ehe er sich seine Meinung bildet!”, erzählte sie weiter und schien tatsächlich zutiefst empört über das unsensible, wenn nicht schon unhöfliche Verhalten des Mannes. Louise hörte ihr mit leicht gerunzelter Stirn zu, während sich ein recht negatives Bild von dem Lehrer in ihrem Kopf bildete. Er schien ziemlich anders zu sein als Mister Kennedy. Sie waren zusammen essen gewesen und er hatte ihr den ganzen Abend über nicht das Gefühl gegeben, ihr so unheimlich überlegen zu sein, nur weil er sechs Jahre älter war als sie und eine so verantwortungsvolle Aufgabe hatte, indem er die Oper leitete. Er war fair. Er war klug. Und außerdem sehr charmant. Irgendwie hatte Louise eine Schwäche für ihn - sie würde jedoch den Teufel tun und es zugeben. Klatsch und Tratsch gab es an der Oper auch so schon zu Genüge. “Und um ehrlich zu sein…”, begann die Braunhaarige abermals und verschränkte die Arme vor der flachen Brust, “…wüsste ich nicht, ob ich den Posten annehmen würde, selbst wenn man mich darum bitten würde. Allein der Gedanke, mit diesem Kerl beinahe täglich arbeiten zu müssen, reicht, um mir die Lust auf jegliche Arien zu nehmen.”, schloss sie ab und schüttelte den Kopf. Melissa nickte nur. Sie schien zu verstehen, dass Katie so fühlte. Louise hatte jedoch kein Verständnis dafür. Wenn man etwas wirklich wollte, dann durfte man sich nicht von solchen Kleinigkeiten, wie einem unfreundlichen Lehrer, davon abbringen lassen, es zu erreichen. Katie sprach noch weiter über ihn, jedoch stellte Louise keine weiteren Fragen, sondern bereitete sich geistig darauf vor, in den Raum zu gehen, aus welchem man gedämpfte Klavierklänge und Ewas Stimme hören konnte. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Niemals. Sie hatte nicht so hart an sich und ihrer Stimme gearbeitet, nur um sich von einem griesgrämigen Mann einen Strich durch die Rechnung machen zu lassen. Das war der Moment auf den sie gewartet hatte und sie würde sich diese Chance, diese einmalige Möglichkeit, nicht nehmen lassen, nur weil es einem Gesangslehrer nicht passte. Wieder verging eine Weile, in welcher Melissa sich mit Katie unterhielt. Louise schwieg und warf den beiden nur hin und wieder einen kurzen Blick zu. Irgendwie wirkten sie nicht sonderlich… ehrgeizig, was die Stelle der Solistin anging. Das verstand die 17-Jährige nicht, welche förmlich darauf brannte auf der Bühne zu stehen und zu singen, und es schien ihr auch klüger, sich jetzt nicht auf eine etwaige Diskussion mit ihnen einzulassen. Minuten später wurde die Tür wieder geöffnet und Ewa trat zu ihnen heraus. Schweigend betrachteten sie sich. Ewa hatte für einen winzigen Moment ihre Großspurigkeit eingebüßt und Louise schien es, als sei sie nicht ganz zufrieden damit, wie es in dem Raum hinter ihr gelaufen war. “…. und?”, hörte sie schließlich Melissas kühle Stimme fragen und die Ukrainerin zuckte nur leicht mit den Mundwinkeln ehe sie antwortete. “Was für eine Frage!”, begann sie laut und sie schien wieder ganz die alte zu sein. Sie lachte, als hätte sie ihnen mit ihrer scheinbaren Unsicherheit einen Streich gespielt, jedoch sah man Melissa an, dass sie ihr diese angebliche Gelassenheit nicht abkaufte. “Ihr beide…”, fuhr sie mit einer nachlässigen und durch und durch arroganten Geste in Richtung Louise und Melissa hinzu, “…müsst da gar nicht mehr hineingehen. Es ist doch ohnehin schon entschieden, wen sie nehmen werden. Und-” “Das ist nicht deine Entscheidung!”, warf Louise ungewohnt heftig ein und sah die Blondine gereizt an. Wie zum Teufel konnte ein einziger Mensch so überzeugt von sich selbst sein? Louise kochte vor Wut. “….. wie bitte?”, fragte diese und blieb vor Louise stehen. Die beiden jungen Frauen sahen einander mit wachsender Abneigung an. “Du hast gehört, was ich gesagt habe.”, antwortete Louise mit unterdrückter Heftigkeit, nachdem sie noch einmal tief Luft geholt und sich beruhigt hatte. Sie wirkte nicht weiter verärgert, sondern höchstens eine Spur irritiert. Ihr untypischer Gefühlsausbruch schien ihr unangenehm zu sein. “Tu nicht so als sei alles schon entschieden. Wie sagt man so schön? Das Spiel ist zu Ende, wenn es zu Ende ist und nicht mittendrin.”, schloss sie ab und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Ewas Unheil verkündender Blick schien sie nicht im Geringsten einzuschüchtern. Die Ukrainerin holte schon tief Luft und setzte zu einer höchstwahrscheinlich sehr lauten Antwort an, als die Tür durch welche sie gekommen war, abermals geöffnet wurde und ein lautes “Louise Ellis.” sie daran hinderte ihrem Ärger freien Lauf zu lassen. Nach einem kurzen Blick zu Katie und Melissa, ging Louise an der Blondine vorbei, atmete noch einmal tief durch und betrat den Raum. Im Frühling hatte man aus diesem Raum gewiss einen umwerfenden Ausblick auf den Innenhof, denn die Fenster waren groß und zahlreich. Die Einrichtung zeugte von erlesenem Geschmack und unaufdringlicher Eleganz, was die 17-Jährige irgendwie an ihr eigenes Zuhause erinnerte. Sofort fühlte sie sich eine Spur wohler und die Nervosität wurde geringer. Der Klavierspieler, welcher momentan still an seinem Flügel saß, nickte ihr leicht zur Begrüßung zu. Mit einem höflichen Lächeln trat die edel - aber nicht auffällig - gekleidete Rothaarige vor die zwei Männer, welche an einem massiven dunklen Holztisch saßen. Sie könnten nicht gegensätzlicher sein. Leon Kennedy erwartete sie mit einem charmanten Schmunzeln und einer offenen, irgendwie fast schon locker wirkenden Körperhaltung. Er wirkte nicht sonderlich angespannt. Jugendlicher Charme und Lockerheit, gepaart mit unverschämt gutem Aussehen, das so mancher Dame ein mädchenhaftes Kichern entlocken konnte. Viel größer hätte der Unterschied zu seinem Sitznachbarn nicht sein können. Eric Sauvignon saß ein Stück neben dem Opernleiter und wirkte wie ein schlecht gelauntes Gespenst, ein maulfauler Finsterling, ein schwarzer Fleck auf einem weißen Tuch. Seine gesamte Haltung drückte Ablehnung aus und er blickte Louise aus seinen dunklen Augen aus an, als würde er auf einen Fehltritt warten. Tatsächlich konnte Louise Katies Abneigung gegen den Dunkelhaarigen nachvollziehen. Unangenehme Ausstrahlung. Dabei wäre er gewiss ein gutaussehender Mann, wenn er nicht ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter machen würde. Er schien groß und für sein Alter - Louise schätzte ihn auf rund 40 Jahre - recht athletisch gebaut zu sein. Dazu noch ein charakteristisches Gesicht, eine prägnante Nase und dichte schwarze Locken. Durchaus ein Anblick, den Frauen zu schätzen wissen konnten. “Miss Ellis…”, begann der Opernleiter und nickte ihr immer noch schmunzelnd zu. “… so sieht man sich wieder.” Louise’ Lächeln wurde noch eine Spur breiter. “So scheint es.”, erwiderte sie etwas nervös und strich sich eine ihrer langen Locken hinters Ohr. “… da wir uns erst jetzt wieder sehen, kann ich mich auch erst jetzt für die Blumen bedanken… sie waren wunderschön.”, fuhr sie fort und man sah ihr an, dass sie etwas verlegen war. Sie war es anscheinend nicht so wirklich gewohnt, dass ein Mann so offensichtliche wenn auch nicht aufdringliche Annäherungsversuche machte. Und die Blumen, welche Leon ihr hatte zukommen lassen, waren tatsächlich traumhaft gewesen. Louise’ Mutter war ganz hin und weg gewesen, wegen dieser charmanten Geste. Louise hatte ihr in Gedanken beigepflichtet, sich jedoch wie so oft in Schweigen gehüllt. “Nach so einem angenehmen Abend hielt ich es durchaus für alles andere als unangebracht, mich so für Ihre… erheiternde und charmante Gesellschaft erkenntlich zu zeigen.”, entgegnete der Blonde ohne die Augen von ihrem Gesicht zu nehmen. Ehe Louise noch großartig darauf antworten, geschweige denn rot anlaufen konnte, wurde das Gespräch jäh unterbrochen. “Bitte, sind Sie beide hier bei einem Rendezvous oder wollen Sie Miss Ellis jetzt endlich singen hören? Sie wissen schon, dieser unwichtige Posten der weiblichen Solistin muss besetzt werden und mir schien es, als wollte Miss Ellis ihr… Glück versuchen. Was sie zweifellos brauchen wird.”, kam der schneidende Kommentar von Eric Sauvignon, welcher seinen Kopf dann scheinbar gelangweilt zum Opernleiter wandte. Louise warf ihm einen befremdeten Blick zu. Leon hingegen, sah schlichtweg wütend aus. Für einige Sekunden herrschte Stille und die beiden Männer tauschten einen Blick aus, der nichts Gutes für die Zukunft verheißen konnte. “Wenn es mir ein Bedürfnis war, mich noch mit Miss Ellis zu unterhalten, dann habe ich das Recht dazu, immerhin leite ich diese Oper. Wenn Ihnen meine Vorgehensweise nicht passt, dann haben Sie das Recht, diesen Raum zu verlassen und mir die Entscheidung bezüglich der Solistinnenstelle alleine zu überlassen.”, erwiderte er mindestens genauso unterkühlt, wenn auch mit durchaus bemerkbarer unterdrückter Wut. Es schien, als sei das nicht die allererste verbale Auseinandersetzung der beiden Männer. Dementsprechend war die Gelassenheit des jüngeren Mannes papierdünn und ihm schien der Geduldsfaden endgültig gerissen zu sein. "Sie wissen ganz genau, dass das Ihre Kompetenzen übersteigt, Mr. Kennedy...", antwortete der Dunkelhaarige ruhig. Seine Augen waren auf Mister Kennedy gerichtet, seine Tonlage klang beinahe Liebenswürdig. Die Botschaft war alles andere als das. "Außerdem sollten Sie lieber nicht von meinen Rechten sprechen, denn sollte ich von ihnen Gebrauch machen, könnte ich Ihre Oper ganz schnell in den Ruin treiben... Nur ein kleiner kollegialer Hinweis an unseren neuen Opernleiter. Ich dachte mir, das könnte Ihnen helfen, falls Sie das nächste Mal nicht in Gefahr laufen wollen, einen Ihrer wertvollsten und unersetzbaren Mitarbeiter zu verlieren...", schloss er seinen Monolog ab und blickte ungerührt vom Opernleiter zu Louise, welche mit riesigen Augen dastand und die Szene mit wachsendem Entsetzen beobachtete. Wie redete der Mann mit Leon? Und wie zum Teufel sollte sie mit so einem Menschen zusammenarbeiten können? Das erste Mal verstand sie ansatzweise, warum Katie nicht mit ihm arbeiten wollte. Eric Sauvignon war bösartiger, als alles was sie bisher erlebt hatte. Leon erwiderte nichts, und es schien ihn viel Beherrschung zu kosten. Man musste jedoch zugeben, dass Eric ihm einfach gewissermaßen überlegen war. Dies schien dem Opernleiter nicht gefallen zu wollen. “Sind Sie bereit, Miss Ellis? Möchten Sie sich lieber noch einen Moment einsingen?”, konnte die Rothaarige Leon schließlich sagen hören und erst in dem Moment konnte sie ihren Blick vom Gesangslehrer abwenden. “Ich… ich würde mich gerne einsingen.”, sagte sie und trat an den Flügel heran, wo sie begleitet von angenehmen Klavierklängen begann ihre Stimme in Schwung zu bringen. Wie hatte sie zu Ewa gesagt? Das Spiel ist zu Ende, wenn es zu Ende ist und nicht mittendrin? Mehr denn je war ihr klar, dass dies absolut nichts mit einem Spiel zu tun hatte, sondern bitterer Ernst war und zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie der Situation tatsächlich gewachsen war. Kapitel 4: Dezember 1887 ------------------------ Ein Worst-Case-Szenario. Ein Dilemma. Eine Tragödie, nein, es war eine einzige Katastrophe! Ihre Augen funkelten gereizt als sie wie elektrisiert gezielt durch die Gänge stöckelte. Verblüfft sah man der vorbeigehenden Schönheit hinterher, wobei dem ein oder anderen sicherlich die Frage aufkam, was geschehen war. Ihre Hand war förmlich in dem gerafften Stoff ihres extravaganten Kleides verkrampft, während ihr Blick nur einen einzigen Satz in Dauerschleife zu sprechen schien: Sag irgendetwas Falsches zu mir und du bist tot! Ihre Gangart wirkte schon beinahe undamenhaft, aber das war ihr in jenem Moment vollkommen egal. Sie durfte sich alles erlauben, schließlich war sie keine andere als Ewa! So durfte sie auch brodeln vor Unverständnis, vor Neid, vor Wut und genau das tat sie auch. Alles in ihren Augen war ein Worst-Case-Szenario, wenn sie nicht selbst im Rampenlicht stand und bewundert wurde. Erst nach Elena Durham die Nummer 1 zu sein, war bisher noch gerade erträglich gewesen, doch wie es jetzt aussah, das bekäme ihr nie und nimmer gut. Ohne anzuklopfen riss sie eine Tür auf und bekam direkt Melissas und Katies Blicke zu spüren. Doch gegen Ewas hatten sie in jenem Moment keine Chance. Offensichtlich war die Ukrainerin mitten in ein Gespräch zwischen den beiden geplatzt – umso besser. So galt die Aufmerksamkeit wenigstens alleine ihr. Dramatisch schritt sie auf den Tisch zu, an dem die beiden Damen saßen und knallte ohne Rücksicht ein zerknittertes Blatt Papier auf diesen. „Es ist eine einzige Katastrophe!!“, beherrschte der ukrainische Akzent ihre kräftige Stimme, die alles andere als monoton klang. Der Kaffee in Melissas Tasse schwappte über, was ihre Augenbraue missgelaunt hochschnellen ließ, während Katie das Papier überrascht fixiert hatte, auf welchem immer noch Ewas Faust lag. „Sieht euch das an! Das ist doch… das ist einfach unglaublich!!“ Es war mehr ein Zischen als ein Sprechen, was ihr Mundwerk verließ und mit ihren Fingerspitzen berührte sie direkt ihre Schläfen und blickte starr geradeaus. Die Neuigkeiten, die sie hatte, bereiteten ihr fast Kopfschmerzen, die sie eine grimmige Miene machen ließen. Tief in ihrem Innern hoffte sie, nicht schon bald die ersten Zornesfalten in ihrem makellosen Gesicht zu bekommen. Wenn es jedoch wahr war, was auf dem Papier stand – und daran bestanden im Prinzip keine Zweifel -, dann würde sie schneller altern als ihr lieb war. „Louise…“, hörte man Katies Stimme einem Flüstern gleich als diese sich das zerknitterte Flugblatt in ihren Händen genauer besah, „Louise hat es geschafft. Sie ist das neue Gesicht der Oper…“ „Nein! Sie ist ein kleines hinterhältiges Miststück, das Ahnung von nichts hat!“, korrigierte Ewa und funkelte sie dabei aufgeregt an. Da sie einfach nicht ruhig stehen bleiben konnte, wandte sie sich um und ging viele Schritte auf und ab durch den Raum, immer wieder beginnend wild mit ihren Händen zu gestikulieren als wollte sie irgendetwas Verbales loswerden, letztendlich jedoch gleich wieder abbrechend als gäbe es eigentlich keine passenden Worte, um dem Ausdruck zu verleihen, was ihr gerade im Kopf und durch Brustkorb jagte und tobte. Am liebsten hätte sie irgendetwas gegen die Wand geworfen. Wieso nicht gleich dieses rothaarige Küken? „Ich kann es einfach nicht fassen!“ Ein leises Schlürfen war das erste, was man von Melissas Seite zu Ohren bekam, die ziemlich ungerührt da saß und Ewa gerade keines Blickes würdigte. Man konnte hören, wie sie wenig später die Tasse auf Porzellan abstellte. „Sie ist gut.“ „Wie?“ Irritiert und mit großen Augen sah die Ukrainerin die Braunhaarige stillstehend an. „Gut? Sie ist nur eines von diesen vielen Chormädchen, deren Knie zittern, wenn sie ganz alleine auf der Bühne stehen müssen!! Ich müsste der Star der Oper sein! Ich war die Zweitbesetzung Elenas! Ich sollte in ihre Fußstapfen treten!“ „Beruhige dich, Ewa…“ „Beruhigen? Da gibt es nichts zu beruhigen! Jeder hier weiß, dass ich perfekt, geschaffen bin für die Erstbesetzung!“ Heftig tippte sie sich mit dem Zeigefinger auf ihre Brust. „Sagt mir, dass ich besser bin, denn so ist es doch!“ Schnell, fast hysterisch blickte sie von Melissa zu Katie. Sie waren die einzigen Frauen in der Oper, die neben ihr wohl überhaupt noch einen Einfluss auf die Meinung der Entscheidungsinstanz für solche Angelegenheiten haben dürften und darauf kam es ihr letztendlich auch an. Die braunhaarigen Frauen wechselten einen Blick, den die Ukrainerin in ihrer Rage nicht deuten konnte. Schließlich sah die Älteste sie an: „Ja, so mag es zurzeit sein, Ewa, a-“ „Dann müsst ihr Mr. Kennedy und Mr. Sauvignon umstimmen! Das kann doch alles nicht wahr sein! Wieso… Wieso…!?“ Langsam fragte sie sich auch, wieso ihre Gegenüber nicht so empört waren, wie sie selbst. Klar, sie hatten so oder so nie eine Chance gegen die Blondine gehabt, aber sie stünden doch wohl zumindest auf Ewas Seite, wenn es um die Frage ging, wer das neue Gesicht der Oper würde! „Tut doch etwas!“ „Ewa, halte deinen Mund.“ Überrascht sahen Katie und die Angesprochene Melissa an, welche sich durchaus anmerken ließ, dass sie es nicht weiter ertrüge, würde die Ukrainerin hier noch weiter so herummeckern wie eine Irre. Die Stimme der Ältesten klang dabei ungewohnt bestimmend und kräftig. „Mr. Kennedy und Mr. Sauvignon haben eine Entscheidung getroffen und wie ich finde, eine vollkommen vernünftige. Du magst gut sein, aber Louise hat Potenzial und ist eine kleine Perfektionistin. Sie wird bis zum Ermüden an sich arbeiten, um eines Tages mindestens so gut wie Elena zu werden.“ Ewa verengte die Augen und stemmte die Hände in die Hüften. „Woher willst du das wissen?! Du selbst hast doch überhaupt keine Ahnung, standest noch nie im Mittelpunkt! Du beurteilst Dinge, von denen du keine Ahnung hast! Niemand in diesem Opernhause hat eine Ahnung! Ich bin perfekt! Und dass du dich auf ihre Seite schlägst, überrascht mich nicht im Geringsten!“ „Willst du es nicht oder kannst du es nicht verstehen?“ Mit einem überraschend eisigen Blick sah Melissa die aufgewühlte Frau nun an. Sie klang erstaunlich ruhig, auch konnte man bei einer Tonlage wie der jetzigen nie so recht sagen, ob die Brünette nicht doch noch selbst in Rage fiel oder nicht. Doch eine gewisse Ruhe und Vernunft schien sie immer unter Kontrolle zu haben. Wütend schnaufte die Blondine, ihre Augen schnellten zu Katie, weil sie nicht wusste, was sie dieser alten Kuh sonst noch an den Kopf werfen musste, damit sie eigentlich verstand, was sie da gerade von sich gegeben hatte. Louise war in ihren Augen ein Nichts! „Was hast du überhaupt dazu zu sagen?!“ Irritiert und wie vom Blitz getroffen blickte Katie zu ihr auf. Der Eindruck, dass Ewas Frage so etwas wie ein hilfloser Versuch war, nun wenigstens Katie auf ihre Seite zu ziehen, wollte sich in der kurzen Schweigephase, die gerade anbrach, nicht verflüchtigen. „Ehh… Ich weiß es nicht… Ich…“ Mit einem übertriebenen Augenrollen seufzte die stehende Frau laut auf. „Das kann doch nicht wahr sein… Die eine kennt nicht den Unterschied zwischen Gut und Schlecht. Die andere hat noch weniger Ahnung, nämlich gar keine und das Schlimmste überhaupt ist, dass tatsächlich ihr für das Vorsingen auserwählt worden seid! Wo bin ich hier gelandet?!“ Ein kurzer lauter Ton des Ärgers drang mit zusammengebissenen Zähnen aus ihrer Kehle, ehe Ewa nach dem Flyer griff und es hastig zerriss, sodass die darauf angedeutete Oper und Louise praktisch voneinander getrennt wurden. „Ihr werdet noch sehen, was ihr davon habt! Euer Neid, der mich nicht meinen rechtmäßigen Platz an der Spitze der Sängerinnen annehmen lässt, wird euch noch teuer zu stehen kommen! Das verspreche ich euch!“ Ein weiteres Mal riss sie das Papier auseinander, ließ es achtlos auf den Boden fallen und stürmte überstürzt aus dem Zimmer heraus. Was zurück blieb, waren zwei Frauen, die sich einander schweigend, aber doch so vielsagend ansahen und das Abbild einer in zwei Hälften gerissenen Louise am Boden. Ihre Wangen glühten als sie die vielen Treppen hinab tippelte und ihre Augen glänzten. Wieso nur? Wieso bekam sie von keiner Seite Unterstützung? Wie sollte sie es an dieser Oper noch weiter aushalten, wenn nicht als neue Nummer Eins? Sie musste handeln, irgendetwas tun. Der Wind blies ihr stürmisch um die Ohren als sie die große Tür zum Innenhof aufriss und einige Schritte sie in diesen führten, auch wenn sie nicht so Recht wusste, was sie hier eigentlich sollte. „Tse… Potenzial…”, sprach sie ihren Gedanken verächtlich, aber irgendwie auch verzweifelt aus, „Was bringt das einem Opernhaus schon großartig, wenn man denn schon jemanden hat, der es perfekt kann und sich nicht mehr weiterentwickeln muss!“ Ja, was brachte das der Oper? Hier konnte es eindeutig nicht mehr um das Interesse dieses Hauses gehen, sonst wäre die Entscheidung ganz klar nicht zugunsten Louise‘ ausgefallen. In einem ständigen Wechsel von Frust und Wut ballte sie ihre Hände zu Fäusten, um sie kurz darauf gleich wieder zu lockern. Die Ukrainerin würde nie zugeben, wenn sie mal wieder versuchte, ihre Teufelshörner gegen einen Heiligenschein auszutauschen, aber in diesem Fall war sie zu fest davon überzeugt im Recht zu sein, dass sie sich diesen Tausch sogar nicht einmal selbst im Innern eingestehen konnte. Blind im Hinblick darauf, welches Potenzial Louise denn tatsächlich besaß, ließ die Schönheit ihren Kopf leicht in den Nacken legen, um ratlos hoch zu einem der vielen Fenster zu blicken. Was hatte Louise, was sie nicht hatte? Es musste ihrer Auffassung nach etwas geben und das hatte ganz sicher nichts mit ihrer Gesangsqualität zu tun. „Was ist es, Louise… Was hast du getan…?“ Als energische Klavierklänge ihr zu Ohren kamen, wanderte ihr Augenpaar nach rechts, fixierte schließlich aufmerksam eines der Fenster der oberen Stockwerke. Es stand als einziges weit offen und in genau diesem Moment schienen Frust und Wut von ihr abzufallen. Wie aus Zauberhand. Als hätte man ihr soeben jegliche Unruhe genommen, um ihr wieder eine klare Sicht auf alle Dinge zu verschaffen. Sie wusste zu gut, zu wem sie Fenster und Klavierklänge zuzuordnen hatte, so wie jeder andere hier auch. Man sah sie so gut wie nie, diese Person, doch man hörte sie weitaus häufiger. Genau das musste ein Zeichen sein. Kapitel 5: Januar 1888 ---------------------- Das Chez Jean war eines der am besten besuchten Speiselokale Londons. Wer hier speisen wollte, musste tief ins Portemonnaie greifen können, etwas, das Leon an diesem Abend wieder würde tun müssen und zwar für zwei Personen. Er freute sich ungemein darauf, Louise wiederzusehen. Ihre Gesellschaft war angenehm, ihr Auftreten so entzückend. Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen als er an sie dachte und noch deutlicher wurde es als die Kutsche an dem Anwesen der Familie Ellis hielt. Schwungvoll stieg er aus dem Gefährt, schloss die Tür, während sein Blick auf das vornehme Haus gerichtet war, ehe er auf dieses zuzustolzieren begann. Mit einer eleganten Handbewegung öffnete er das kleine Tor, welches er, wenn es nach seinem Befinden ginge, glatt hätte überspringen können. Mittlerweile hatte der Opernleiter sich in seine neue Arbeitsumgebung eingelebt und sich an viele seiner Tätigkeiten gewöhnt. Sein Aufgabengebiet erschien ihm bereits um einiges übersichtlicher und die nervenaufreibendsten Angelegenheiten waren endlich überstanden. Wahrscheinlich würde sich das jedoch bald wieder ändern, wenn die Oper mit einer Premiere anlockte, bei der sich auch gleich deren neuer Star würde beweisen müssen. Aber daran vermochte der junge Mann noch nicht tiefergehend zu denken, schon gar nicht an einem Abend wie diesem. Mit einer geraden Körperhaltung und gespannter Erwartungen, läutete er an der Tür, deren Aufmachung freundlich und einladend wirkte. Nicht nur sie zeugte mit ihren aufwendigen Verzierungen und hochwertiger Verarbeitung von Wohlhaben und apartem Geschmack. Balustraden schmückten die Fassade und erinnerten ihn an sein eigenes Heim. Prüfend fuhr er sich mit seiner Hand durch sein helles Haar. Als sich die Tür schließlich öffnete, hob er seinen Blick und sah der jungen Hausdame direkt ins Gesicht. „Guten Abend.“ Sein Lächeln wurde sofort, wenn auch mit höflicher Zurückhaltung, erwidert. In seinen Augen hatte die junge Frau ihm gegenüber etwas Scheues an sich, sie traute sich ja noch nicht einmal, ihm direkt ins Gesicht zu sehen. Aber ein schüchternes Lächeln schien immer ihre Miene zu besetzen, soweit er das beurteilen konnte. Es war jetzt das fünfte Mal, dass er Louise von Zuhause abholte. „Guten Abend, Mr. Kennedy… Miss Ellis ist gleich soweit. Bitte, kommen Sie doch einen Moment herein.“ Sie machte einen Schritt zur Seite und öffnete die Tür noch ein weiteres Stück. „Danke sehr.“ Warmherzig lächelnd betrat er das Gebäude, dachte sogar noch daran, vorher seine Schuhe ordentlich an der Fußmatte abzutreten. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ Unmissverständlich schüttelte er seinen Kopf. „Aber danke, das ist sehr reizend von Ihnen.“ Nachdem er ihr schüchternes Lächeln sehen konnte, schweifte sein lebendiger Blick von ihr ab und überflog guter Stimmung die schicke Einrichtung des Hauses. Wenige Sekunden später, also noch bevor Leon sich nach Louise‘ Eltern erkundigen konnte, hörte man, wie sich eine Tür öffnete und geschlossen wurde. Der junge Mann sah sich über die Schulter, damit seine Augen aufmerksam nach oben zu der breiten Treppe schnellen konnten, wo Louise in schicker Garderobe gerade ihre Hand ans Geländer legte. Mit einem ihrer strahlendsten Lächeln schaute sie zu ihm hinunter. Eine Reaktion, die ihn förmlich ansteckte und ihn nicht anders handeln ließ als von Ohr zu Ohr zu grinsen. „Guten Abend.“ „Guten Abend… Du siehst hinreißend aus…“, gestand er ihr als sie auf Augenhöhe war und ihm die Hand reichte, die er nonverbal forderte. Es war ehrlich gemeint, auch wenn sie nicht unbedingt das erste Mädchen war, von der er so etwas behaupten konnte. Offensichtlich geschmeichelt senkte sie mit einem lieblichen Lächeln für einen Augenblick ihre Augenlider, ehe sie beide einen dezenten Handkuss wie aus dem Bilderbuche und einige Worte später das Gebäude verließen. Leon hatte großen Gefallen daran, sie zum Essen auszuführen, ihre Hand zu halten und sie zu führen, so als könnte nur er sie auf dem richtigen Weg halten. Es fühlte sich gut an, der Gentleman an ihrer Seite zu sein, ihr die Gartentür zu öffnen und ihr beim Einstieg in die Kutsche zu helfen. Louise war unkompliziert und vielschichtig zugleich. Zu tiefgründig durfte eine Frau auch nicht sein, denn dem jungen Mann fehlte es an Interesse und Neugier für derlei Belange. Er brauchte eine Frau, die er einfach lieben und versorgen konnte, genauso wie sie ihn lieben und umsorgen konnte. In seinen Augen waren es die einfachen Dinge im Leben, die man am meisten schätzen konnte und die eindeutige Gefühle und Reaktionen herbeiführen konnten und Louise schien ihm genau in dieses Bild hineinzupassen. Er spürte es einfach. Nachdem sich nun auch Leon in die Kutsche gesetzt hatte, fuhr das Gefährt langsam los. Mit einem aufmerksamen Blick wandte er sich ihr zu. „Du wirkst müde.“ Ihr Mund schwang sich zu einem charmanten Lächeln und ihre Augen kreuzten die seinen. „Kein Grund zur Sorge. Ich bin nur von der heutigen Probe erschöpft. Das ist alles.“ „Wie läuft es eigentlich?“ „…gut.“ Als hätte draußen etwas ihre Aufmerksamkeit erregt, blickte sie von seinem Gesicht weg und nun aus dem Fenster. „…“ Schweigend betrachtete Leon sie weiterhin und er musste sich nicht lange wundern, bis er wusste, dass es draußen absolut nichts Spannendes geben konnte. Ihm schien es deutlich, dass sie nicht über die Proben reden wollte, was auch immer die Gründe dafür sein mochten. Er sprach um ehrlich zu sein auch nicht gerne über seine Arbeit, wenn sie wieder mal stressige Eigenschaften annahm. Leon ließ es bei Gedanken sein und hackte nicht nach. Lange währte das Schweigen jedoch nicht. „Wie läuft es eigentlich?“, hörte er sie sagen und selbst in ihrer Stimme konnte er ihr Schmunzeln heraushören. „…?“ „Ja, du hast mir doch erzählt, dass du eine Menge Unterlagen durchzuarbeiten hast? Dein Vater war doch Chaot. Deine Worte.“ Sofort steckte sie ihn mit ihrem Lächeln an. „Ja, das war er. Aber sein Chaos hat mich noch nie in die Knie gezwungen.“ „Sondern in nächtelange Arbeit?“ Ein dezentes Lachen ließ sich seinerseits nicht lange vermeiden. „Ich wusste gar nicht, dass du auch frech sein kannst…“ „Was hast du denn erwartet?“, hörte er nun auch sie etwas lachen und die Unbeschwertheit war nahezu greifbar. „Dass du mich für meinen Intellekt und meine Arbeitsmoral lobst?“ „Wer sagt, dass ich das nicht auch tun kann?“ „Beides auf einmal geht nicht, Louise.“, machte er ihr in verschmitztem Ton klar und erheiterte sich an ihrer erfrischend leichten Art. „Sagt dir das dein Intellekt?“ „Die Lebenserfahrung.“ Schließlich gab sie ihm die beste Antwort, die eine Frau ihm nur geben konnte: Sie lachte ein Lachen, das ihn alles um sich herum vergessen ließ. Etwa zwei Stunden später fanden die zwei jungen Engländer sich wieder in der Kutsche. Es war ein Abend guten Essens und erquickender Gespräche gewesen. Die Zeit war vergangen als wäre der Sand vom Teufel durch die Sanduhr gejagt worden, viel zu schnell und dennoch prägnant genug, um in schöner Erinnerung zu bleiben. „Oh, ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so viel gegessen habe.“, beklagte Louise sich mit einem amüsierten Gesichtsausdruck, nachdem Leon die Tür der Kutsche hinter sich geschlossen hatte. Der junge Mann grinste sie an. „Vor eineinhalb Wochen?“ „Ja, das könnte hinkommen.“, lachte sie vergnügt und dachte offenbar auch an die letzten Male zurück als sie es sich bei Kerzenschein und traumhaften Ambiente hatten gut gehen lassen. Leon war froh, dass sie nicht zu den Mädchen gehörte, die sich im Restaurant nur mit Wasser und Salat begnügten, weil sie sich so Sorgen um ihre Figur machten. Louise schien einfach das zu essen, was ihr schmeckte und das ohne jegliche Bedenken. Schließlich fuhr die Kutsche langsam los. Draußen schienen die Sterne, es war frisch und selbst in dem überdachten Gefährt war man nicht vor der Kühle geschützt. Ein sichtbares Schaudern Louise‘ wollte dem blonden Mann nicht entgehen und wortlos wandte er sich der offenbar frierenden Person mehr zu. Es wirkte als wollte er etwas Bestimmtes von ihr, jedenfalls sah Louise ihn fragend an. „Dir ist kalt.“, stellte er lediglich fest und schien sie mit seinem Blick stillschweigend zu etwas auffordern zu wollen. Sie sagte daraufhin nichts – wozu sollte sie diese Tatsache auch abstreiten wollen? – und rutschte nach kurzem Zögern zu dem Briten. Mit aller Selbstverständlichkeit legte er daraufhin seinen Arm um sie. Wirklich nervös sollte ihn dieser Körperkontakt nicht machen, schließlich war es nicht das erste Mal, dass er eine Frau zumindest so im Arm hatte und dennoch war es schon ein seltsam… aufregendes Gefühl diesem Mädchen so nahe zu sein und es auf diese Weise vor der Kälte zu schützen. Es fühlte sich gut an. Doch trotz dieses angenehmen Stillschweigens und Sinnierens über diverse Dinge, gab es noch etwas, das er momentan unbedingt wissen wollte. Er hatte es Louise angesehen. Im Restaurant. Irgendetwas beschäftigte sie gedanklich und das in Verbindung mit ihrer Müdigkeit brachte Leon auf eher sorgenvolle Gedanken. „Willst du mir nicht jetzt vielleicht sagen, was dich so nachdenklich stimmt?“ „…“ Er ließ sie noch nicht mal zur Antwort ansetzen, da er irgendwie ahnte, dass sie wieder behaupten würde, alles wäre in Ordnung. Mit ruhiger und verständnisvoller Stimme fuhr er fort: „Komm, ich bin doch nicht blind. Ich kann eins und eins zusammenzählen. Es sind die Proben, ich weiß es.“ Nun entwich ihr ein leises Seufzen. Wie sie sich leicht auf die Unterlippe biss, konnte er nicht sehen, doch ihre leise Stimme vernahm er dafür allzu deutlich. „…es ist nicht gerade einfach mit Mister Sauvignon…“ Dacht ich’s mir… „Ja, er ist sehr… eigen.“, umschrieb er ihn mit Bedacht, obwohl er eigentlich auch gleich damit herausrücken könnte, dass dieser Mann ihm selbst nicht der angenehmste war. Dennoch wollte er nicht schlecht über ihn sprechen. Sauvignon hatte ihm schließlich nichts angetan, er tat nur seine Arbeit und das auch sehr gewissenhaft und mit einer Leidenschaft, wie man sie sich für Sauvignons Posten nun mal wünschen konnte. „Eigen? Nette Umschreibung.“ Nun musste Leon leicht seufzen. „Er ist der Beste in seinem Fach. Außerdem: Sind nicht alle Genies irgendwie… verschroben?“ Sicher waren die Proben nicht einfach mit dem Mann. Aber Leon wusste, dass eine Zusammenarbeit mit der Zeit nur besser werden konnte, so wie auch er selbst sich nun mit dem Mann und dessen Eigenheiten zu arrangieren wusste. Die Erfahrung hatte ihm in seinem jungen Leben gezeigt, dass man allen Dingen auf der Welt seine Zeit geben musste und wenn man geduldig wartete, ausdauernd dran blieb, dann wurde man reich belohnt. „…ja, da magst du Recht haben.“, verließ es ihre Lippen, auch, wenn sie ihm damit noch immer nicht den Eindruck vermittelte, dass die Sache erledigt für sie war. „Du gewöhnst dich schon noch an ihn. Irgendwo ist jeder Mensch umgänglich.“ „Nun, aufgeben werde ich schon mal gar nicht und das schränkt meine Handlungsmöglichkeiten auch schon auf eine einzige ein, nämlich: weiter machen.“ Diese klare Antwort brachte ihn zum Lächeln. Nicht erst jetzt kam ihm wieder der Gedanke, dass Louise eine kleine Kämpfernatur war – das musste man an dieser Stelle einfach erwähnen –, sie hatte bei ihren bisherigen Treffen schon oft dieses gewisse Etwas herausblitzen lassen, das ihm diesen Eindruck beschert hatte. Sie war ein hübsches Mädchen mit einer liebevollen Art, freundlich zu ihren Mitmenschen und hilfsbereit. Keinesfalls schien sie ihm ängstlich in neuen Situationen zu sein – allenfalls vorsichtig und wachsam. Doch was man wohl nicht auf den ersten Blick vermuten würde, wäre, dass sie eigentlich auch stark war. Nicht körperlich, sondern charakterlich. Geistig. Mit ihrem Willen würde sie vieles erreichen können. So wie ihre Vorgängerin. Etwas, das ihn auch als Opernleiter positiv in die Zukunft blicken ließ. Schweigsame Minuten verstrichen, während die angezogene Kutsche sich Louise‘ Zuhause näherte und die Sterne am Himmel immer noch so unverändert weit entfernt schienen, wie zu Beginn der Reise. Leons Kopf war frei von schlechten Gedanken und Anstrengungen. Eine harte Zeit war es, die er hinter sich liegen hatte. Der Tod seines Vaters, die Übernahme der Opernleitung, neue Verantwortung, dutzende Menschen, die unzufrieden waren und den jungen Mann regelrecht mit ihren Klagen überfallen hatten. So viele neue Ereignisse und Probleme, mit denen er erst hatte zurechtkommen müssen. Er hatte sich wie ins kalte Wasser gestoßen gefühlt, doch am Ende hatte der Mann es geschafft. Dass der Tod seines Vaters ihm dabei noch nicht einmal so sehr zu schaffen gemacht hatte, wie alles andere, war eine Feststellung, die er interessant, jedoch nicht beunruhigend fand. Leon hatte seinen Vater geliebt und das würde er auch weiterhin. Bis in alle Ewigkeit. Erst nach einigen Augenblicken fiel ihm auf, wie er Louise‘ Oberarm streichelte. Ein wenig gedankenverloren, doch dann ganz bewusst. Sein Gefühl sagte ihm, was zu tun war und er ergab sich diesen kleinen Befehlen in seinem Innern gerne. Sachte zog er sie noch ein wenig weiter zu sich – sie sollte sich wohl bei ihm fühlen und keine Befangenheit verspüren müssen, nur weil sie sich auch körperlich näher kamen. Sie legte ihren Kopf mit der Schläfe leicht an seinen und in jenem Moment musste der sonst so selbstsichere Mann sich eingestehen, dass er es mit dezenter Anspannung zu tun bekam. Er wusste ganz genau, wieso. Ihre Hand war kalt als er sie sanft in seine nahm und sie schließlich langsam an seine warmen Lippen führte, um sie zu küssen. Schon begann ihr Blick seinen zu suchen und somit befand sich ihr Gesicht seinem gegenüber. Ganz direkt konnte er ihr in ihre schönen klaren Augen sehen. Auch wenn es dunkel war, so konnte er sie klar vor sich sehen. Es war, wie wenn man seine Augen schloss, aber nicht nur Schwarz, sondern mit genügend Vorstellungskraft durchaus farbige Bilder sehen konnte. Sein Gegenüber sah ihn schweigend an. Louise schien ihm so vertraut und so als kannte er sie schon seit Kindheitstagen. Das spürte er mit tiefverwurzelter Überzeugung und mit einem mindestens so tiefen Verlangen machte er auf einmal jegliche Distanz allmählich zunichte, um das Mädchen zu küssen, das Gefühle in ihm auslöste, die er sonst nur für Traumgespinste gehalten hatte. Doch sie war der Beweis, dass es wirklich möglich war: Ein so liebliches Geschöpf konnte jeden Mann, wie Leon einfach nur verzaubern. Jeden. Ihre Lippen auf seinen ließen ihn träumen und er wollte nicht mehr aufwachen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)