Lektionen fürs Leben von Zyra (Wenn Kaiba vor dem Nichts steht ...) ================================================================================ Kapitel 1: Zwischen Gefühlen und Gedanken ----------------------------------------- Zwischen Gefühlen und Gedanken Zum ersten Mal seit Langem wurde Seto Kaiba wieder von Gefühlen beherrscht. Er hasste diesen Zustand. So sollte es nicht sein. Ganz besonders nicht zu diesem Zeitpunkt. Gerade jetzt musste er einen kühlen Kopf bewahren. Er musste klar und rational denken. Aber da war keine Klarheit, geschweige denn Rationalität. Da war Wut. Und Unverständnis. Sowie ein seltsames Gefühl der Leere. Ein wenig Trauer. In erster Linie jedoch fühlte er sich gedemütigt. Und das in einem Maß, wie er es bisher noch nie zuvor erlebt hatte. Zum ersten Mal seit Jahren wusste er nicht, was er tun sollte. Er wusste nicht einmal wie er reagieren könnte. Er hatte keinen Plan zur Lösung des Problems zur Hand. Unfähig zu denken stand er auf einer der größten Einkaufsstraßen Dominos. Seine, dank der späten Stunde verlassene Umgebung realisierte er nicht. In ihm tobte ein einziges Gefühlschaos. Er war hilflos und es gab niemanden, der ihm hätte helfen können. Es hatte ihn vollkommen unvorbereitet getroffen. Roland hatte ihn am späten Abend vom Flughafen abgeholt. Mit einer Nachricht von Mokuba. Der ihn enteignet hatte, während seines Amerikaaufenthalts. Er war enteignet und enterbt worden. Es klang fremd und irgendwie … sinnfrei. Sowie ein Paradoxon. Aber er war enteignetworden. Von Mokuba. Seinem kleinen, liebenswerten Bruder. Der anscheinend inzwischen weder klein noch liebenswert mehr war. Der anscheinend inzwischen nicht mehr klein oder liebenswert war. Wie er mit der Enteignung eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte. Seto Kaiba saß von einem Moment zum anderen auf der Straße. Dem Moment, in dem Roland mit Mokubas Botschaft geendet und ihn mitten in der Innenstadt Dominos abgesetzt hatte. Mit nichts. Er hatte nichts mehr. Mokuba hatte ihm alles genommen, abgesehen von einer lächerlichen, mickrigen Abfindung in der Höhe von 5.000$. Kaiba atmete tief durch. Erst langsam begann er die Situation richtig zu realisieren. Es klang immer noch unwirklich. Wie ein schlechter Witz. Wie etwas … das einfach nicht Realität sein konnte. Aber das war es … anscheinend. Er schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Er versuchte sich zu sammeln. Aber stattdessen stieg mehr und mehr Beklemmung in ihm auf. Es war, als würde er vor einem Abgrund stehen und jede Bewegung könnte den Ausschlag geben, ob er sich rettete oder fiel. Nein, dachte er, ich befinde mich schon längst im freien Fall. Auch wenn es sich vielleicht nicht so anfühlte. Er fiel. … Vielleicht sollte er etwas tun, um die Tiefe des Abgrundes zu mindern. Oder seine Fallgeschwindigkeit abzubremsen. Aber er musste etwas tun, egal was. Als Kaiba die Augen wieder öffnete, sah er die dunklen Regenwolken am Nachthimmel. Er sollte sich wohl beeilen, sich irgendwo unterzustellen. Sonst würde er bald nicht nur sprichwörtlich im Regen stehen. Darauf legte er wirklich keinen Wert. Zudem wäre es sicherlich nicht förderlich. Sein Plan – wenn er wieder klar denken konnte, würde er einen entwickeln – sah wahrscheinlich nicht vor, durchnässt zu sein. Kaiba schulterte seine Reisetasche und nahm seine Laptoptasche. Aufgrund einer spontanen Eingebung folgte er den Hinweisschildern zu einer U-Bahnstation. Während er die verlassenen Treppen hinunter ging und das Gewicht des Gepäcks seiner Amerikareise spürte, fiel ihm auf, dass dies zwar wenig war, aber zumindest mehr als nichts. Und es ist mit Sicherheit mehr, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf, als Mokuba mir lassen wollte. Der Gedanke – ein winziger Triumpf – rüttelte etwas in ihm wach. Seinen Kampfgeist. Nun war er zumindest so wach, dass er in der Bahnstation die Kameras und deren Folgen für ihn bemerkte. Wenn es keine Aufnahmen von ihm gab, hatte sein Bruder eine Möglichkeit weniger, ihn zu verfolgen – zu verfolgen, was er tat. Dass Mokuba das wollte, da war er sich plötzlich sehr sicher. Also bog er in einen nichtüberwachten Seitengang ein und folgte den Toilettenschildern. Er brauchte Ruhe. Er musste denken. Er musste sich besinnen. Auf das Minimale, das ihm geblieben war, und dessen Möglichkeiten. Er musste einen Plan entwickeln. Das tun, worin er gut war: analysieren. Er war Seto Kaiba. Und Seto Kaiba fand immer einen Weg. Er bekam immer, was er wollte. Schon einmal hatte er mit kaum mehr also Nichts begonnen. Und er hatte sein Ziel erreicht. Dieses Mal jedoch war sein Bruder sein Gegenspieler. Der Mensch, von dem Kaiba meinte, dass er ihn am besten kannte. Aber er selbst hatte auch geglaubt, Mokuba zu kennen. Ein Irrtum. Und wenn er sich in seinem Bruder getäuscht hatte, so würde er zumindest dafür sorgen, dass es dem nicht anders erging. Aller mindestens. Kaiba hatte die Worte seines persönlichen Assistenten – ehemaligen persönlichen Assistenten – noch im Ohr. Er richtete ihm aus, Master Kaiba wäre sich absolut sicher, sich gegen Anfechtungsverfahren und Übernahmeversuche seinerseits bestens abgesichert zu haben. Der wird noch sein blaues Wunder erleben, grollte Kaiba in Gedanken. Wut stieg in ihm auf. Eine bekannte Wut. Er hatte sie heute schon einmal gespürt. Als er die Klappe des Kofferraums aufgerissen und sein Gepäck herausgezerrt hatte. Dabei hatte er seinen Bruder sowie Roland aufs Übelste beschimpft – gerechtfertigter Weise. Inzwischen schien das in weiter Ferne zu liegen, obwohl wahrscheinlich keine drei Stunden vergangen waren. An seine Worte erinnerte er sich nur noch schemenhaft. ... Sie würden schon noch sehen, was sie davon hatten. So schnell würde man ihn nicht los. Sie sollten sich bloß nicht einbilden, dass es das gewesen war. Sie hätten noch nicht gewonnen. Er würde zurückkommen und dann würde er lieber nicht in ihrer Haut stecken. … Und andere Nettigkeiten. Als Kaiba die letzte Kabine der muffeligen Herrentoilette betrat und seine Tasche auf den Boden fallen ließ, erinnerte er sich plötzlich an den Gesichtsausdruck seines ehemaligen Assistenten. Der Gesichtsausdruck, der ihm jetzt mit zeitlichen und emotionalen Abstand sagte, dass Mokuba sich wirklich gut abgesichert hatte und er, Kaiba, keine Chance hätte, etwas an der Sachlage zu ändern. Er lächelte bitter. Er kannte Rolands Kompetenzen. Wenn der das dachte, war es sicherlich nicht völlig von der Hand zu weisen. Aber niemand kannte Seto Kaiba so gut, wie er sich selbst. Mochte ja sein, dass es in nächster Zeit wirklich keine Chance gab, selbst für ein Genie wie ihn nicht, aber er war mit Sicherheit noch nicht weg vom Fenster. Seto Kaiba gab niemals auf. Er fand immer eine Lösung. – Warum sollte es dieses Mal anders sein? Nur, weil der Gegner sein Bruder war? – Nein, ganz bestimmt nicht. Er würde siegen, auch wenn das bestimmt nicht leicht werden würde. Er siegte immer. Kapitel 2: Pläne schmieden -------------------------- Pläne schmieden Erst einmal brauchte Kaiba einen Plan. Es galt zu sichten, welche Gerätschaften ihm geblieben waren, und zu erkennen, welches Potenzial in ihnen steckte. Daraus konnte er auf seine Möglichkeiten schließen. Zumal er bezweifelte, dass es viele waren. Um die Firma zurückzubekommen, sah er nur drei Optionen. Allesamt waren im Moment nicht praktikabel. Option 1: Freiwillige Rückgabe seines Eigentums. Aber da sein Bruder momentan nicht einmal mit ihm redete und auch sonstigen halbwegs persönlichen Kontakt ablehnte, würde das mit Sicherheit nicht funktionieren. Option 2: Die Anfechtung der Enteignung und Enterbung. Die Erfolgschancen dafür schienen gleich Null zu sein. Zumindest wenn er aus Rolands Gesichtsausdruck die richtigen Schlüsse zog. Wovon er stark ausging. Option 3: Eine erneute Übernahme der Kaiba Corp. durch seine Person. Im Moment war das unvorstellbar. Er hatte nicht genügend Kapital. Weder um Aktien aufzukaufen, noch sich mit Hilfe von Bestechungsgeldern irgendwelche Stimmrechte von Funktionäre zu sichern. Aber langfristig würde das sein Ziel sein. Außer er stolperte zufälligerweise über einen Fehler in Absicherungsmaßnahmen seines Bruders. Oder Mokuba überkam die Einsicht, dass er mit der Enteignung einen Fehler gemacht hatte. Beides war mehr als nur unwahrscheinlich. Also musste er seine Energie darauf richten, wieder an Geld zu kommen. Welche finanziellen Mittel standen ihm zur Verfügung? Einmal abgesehen von der lächerlichen Abfindung in Höhe von 5.000$. Automatisch zog er sein Portemonnaie aus einer Innentasche seines Mantels. In Bar hatte er weitere 750$ dabei. Akribisch begann er seine Kredit- und EC-Karten durchzugehen. Missmutig stellte er fest, dass sein Bruder diesen Konten sicherlich alle gefunden und seine Karten hatte sperren lassen. Dreck. Vielleicht sollte er sich lieber die Frage stellen, welche Vermögensanlagen Mokuba möglicherweise nicht entdeckt hatte. Konten fielen ihm keine ein. Alle Geldanlagen zur persönlichen Absicherung waren auf Angriffe von außen ausgelegt gewesen. Zumal zumindest Mokuba oder Roland davon in Bilde gesetzt worden waren. Sachwerte, überlegte er weiter. Immobilien. Autos. Flugzeuge. Wasserfahrzeuge. Alles war automatisch in Mokubas Besitz übergegangen. Es blieben nur die Dinge, die er bei sich trug. Kaiba war sich zwar sehr sicher, dass sich darunter nur Sachen von verhältnismäßig „geringem“ Wert befanden. Sie würden ihm vielleicht helfen, sich kurzzeitig – je nachdem, wie weit er seinen Lebensstandard senkte – über Wasser zu halten, aber die Summe, die er benötigte, um die Kaiba Corp. zu übernehmen, würde beim Verkauf unter keinen Umständen herausspringen. Trotzdem klappte er den Toilettendeckel runter – ein Wunder, dass es hier überhaupt einen gab, so heruntergekommen wie alles war – und stellte seine Laptoptasche darauf ab, um sich einen genauen Überblick über das zu verschaffen, was ihm geblieben war. In seiner Reisetasche hatte er Kleidung für sechs Tage. Die Hälfte davon war benutzt. Dazu kamen noch ein paar Sportschuhe, seine Sonnenbrille und sein Kulturbeutel mit unteranderem teuren Rasierwasser. Mehr war dort nicht drin, das wusste er. In der Laptoptasche war auch sein Deck. Aber soweit, dass er Teile seiner Karten verkaufte, war er noch lange nicht. Und soweit würde es auch nicht kommen … wenn es nach ihm ging. Neben dem Notebook befanden sich in der Tasche auch die Ladekabel für sämtliche technischen Geräte, die er bei sich hatte. Zudem einige andere Anschlusskabel und -adapter, ein weiteres Handy sowie eine unbekannte SIM-Karte, ein Diktiergerät und verschiedene Speichermedien. Technisch war er tatsächlich gut ausgerüstet. Wenn er erst einmal das Handy samt SIM-Karte gewechselt und das Telefon auf einen alten Satelliten programmiert hatte, würde er nichts mehr bei sich haben, dass zu orten war. Die Technik wollte er nur ungern zu Geld machen. Es waren zwar einige extrem hochwertige und teure Geräte darunter, aber die Ausrüstung benötigte er, um arbeitsfähig zu bleiben. Und das musste er schließlich, wenn er zu viel Geld kommen wollte. Abgesehen von der Technik waren in der Tasche noch die Unterlagen von seiner Geschäftsreise. Das war ein Projekt, von dem weder sein persönlicher Assistent noch sonst irgendwer wusste. Ein wenig Hoffnung regte sich in ihm. Allerdings verwarf er den Gedanken sofort. Es waren noch keine richtigen Verträge ausgehandelt und selbst das Startkapital für das Projekt konnte er so schnell nicht aufbringen. Außerdem würde Mokuba sehr schnell Auskünfte darüber verlangen. Die vollständigen Informationen hatte zwar nur er selbst, also war er davor gefeit, dass der andere das Projekt übernahm, aber zustande bringen, konnte er selbst es deswegen noch lange nicht. Verdammt, gibt es denn nichts, worüber Mokuba jetzt nicht die Kontrolle hat. Kaum hatte Kaiba den Gedanken beendet, kamen ihm zwei Ideen. Erstens musste er sich schnellstmöglich dem größten Einflussbereich der Kaiba Corporation entziehen. Mit anderen Worten: Er musste ins Ausland. Und zwar am besten so, dass er Mokuba so lange wie irgend möglich, über seinen Aufenthaltsort im Unklaren ließ. Zweitens gab es etwas, dessen sein Bruder ihn nicht berauben konnte. Gefälligkeiten, die man ihm schuldete. Zudem hatte er immer noch Kontakte. Wieder ins Geschäft einzusteigen, würde ihm also verhältnismäßig leicht fallen. Obwohl er davon ausging, dass Mokuba alle Hebel in Gang setzte, um seinen guten Ruf durch den Dreck zu ziehen. Dagegen konnte er im Moment jedoch nichts unternehmen, auch wenn ihn das wurmte. Kaiba lächelte zufrieden. Da hatte er ihn nun – seinen Plan. Von einem Moment auf den anderen war alles ganz logisch und offensichtlich gewesen. Zwar käme er damit noch nicht an Geld, aber seine unbemerkte Ausreise und ein vorübergehendes Dach über dem Kopf waren damit abgedeckt. Abseits des größten Einflusses seines Bruders würde ihm auch für den Kapitalmangel etwas einfallen. Vor wenigen Tagen hatte er nur die Tatsache begrüßt, dass Duke Devlin seine Geschäftspartner immer mit einem eigenen Privatjet abholen ließ. Inzwischen kam es ihm auch zugute, dass der Pilotin ihm gegenüber einigen Missgeschicke passiert waren und sie ihm im Gegenzug dafür, dass er sie nicht bei Devlin angeschwärzt hatte, eine Gefälligkeit versprochen hatte. Morgen Früh um acht, so hatte er mitbekommen, sollte sie den Flieger wieder nach New York überführen. Er wusste, wie er unbemerkt auf das Flughafengelände und zu dem Hangar kommen konnte. Nicht ganz einfach, aber machbar. Es war der perfekte Weg, um unbemerkt nach Amerika zu gelangen. Die Zeit bis dorthin würde er damit verbringen, alles vorzubereiten. Dazu gehörte auch der Teil des Plans, der seinen Bruder täuschen sollte. Kaiba überspielte die wenigen neuen Daten, die er bisher noch nicht auf sein „Ersatzhandy“ übertragen hatte. Erst wenn er in Amerika angekommen war, würde er die neue, ihm nicht zuzuordnende SIM-Karte einsetzen. Nach der Datenübertragung lud er auf dem „alten“ Handy einen Virus, der alle Daten zerstören, und Geräte, die angeschlossen wurden, um Daten auszulesen, ebenfalls infizieren würde. Dann legte er das Handy auf den Spülkasten und holte einen kleinen Notizblock und einen Kugelschreiber heraus. Darauf begann er Stichworte zu schreiben, wie er versuchen könnte, die Enteignung anzufechten. Namen von Anwälten, die dafür geeignet sein könnte. Lächerliche, aber nicht ganz unmögliche Ansätze, Geld zu beschaffen. Und so weiter und so fort … Bevor er ging, würde er den Zettel zerreißen und in die Toilette schmeißen. Natürlich würde nicht alles weggespült werden. So wenig Druck wie die Spülung hatte, war das unmöglich. Sein „altes“ Handy würde er liegen lassen. Und damit erkaufte er sich ein bisschen Zeit, um in der sechs Uhr Rush-Hour zu verschwinden – unterzutauchen. Wenn die Leute seines Bruders letztendlich in der Toilette auftauchten, fänden sie nur die falsche Spur. Kaiba lächelte boshaft. So einfach ist es nicht, mich zu besiegen, dachte er. Die restliche Nacht verbrachte er damit, seine Taschen mit einem Taschenmesser von den KC-Stickereien zu befreien und sich zu überlegen, welche Kleidung er wo anziehen wollte. Das waren zwar nur Details, aber auch die konnten bedeutend sein und an ihnen sollte es nicht scheitern. Am Morgen machte er sich etwas frisch, wobei er sich mehrmals maßlos über die „Einrichtung“ ärgerte. An die muffige Luft hatte er sich relativ schnell gewöhnt, auch wenn sich die unwürdige Umgebung nicht vollständig ignorieren ließ. Zur Rush-Hour, als die Gänge gefüllt waren mit Menschenmassen, trat er mit seinem Gepäck ins Getümmel hinaus. In einem dunklen Trenchcoat und mit etwas zerzausten Haaren. Jetzt galt es – so schnell wie möglich – eine Person ausfindig zu machen, die ihn nicht kannte, und bei der er Dollar in Yen tauschen konnte, um ein Ticket in Richtung Flughafen lösen zu können. Er hatte da schon eine Personengruppe im Auge. Männlich. Mittleres Alter. Durchschnittliches Einkommen. Das Gewicht der Taschen ruhte auf seinen Schultern und er ahnte, dass er, trotz halbwegs regelmäßigem Training, am Ende des Tages richtiggehend geschafft sein würde. Immerhin stand ihm einige Lauferei bevor. Kurz stieg die Wut wieder in ihm auf. Aber er verdrängt das Gefühl. Zu dem britischen Geschäftsmann, den er als Tarnung mimen wollte, passte es nicht. Na warte, Mokuba, dachte Kaiba, als ein ordentlicher Schuss Adrenalin durch seine Adern schoss, ich bin noch lange nicht am Ende. Kapitel 3: Zur Feier des Tages ------------------------------ Zur Feier des Tages „Wo ist er jetzt?“, verlangte Mokuba Kaiba zu wissen, kaum das Roland den Raum betreten hatte. „In einer öffentlichen Toilette. In der U-Bahnstation Hitojama“ Mokuba runzelte die Stirn. Es war drei Uhr nachts. Ab zwei fuhr die Untergrundbahn nicht mehr. Auch keine Nachtlinien. Dann waren die Stationen abgesperrt. „Um diese Uhrzeit?“, fragte er also. „Er muss den Kontrolleuren durchs Netz geschlüpft sein, Kaiba-sama.“ War das geplant gewesen? Er verneinte die Frage sofort. Sein Bruder hatte absolut keine Ahnung von den öffentlichen Verkehrsmitteln. Ein hämisches Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. Der Gedanke, dass der andere – aufgrund seiner eigenen Dummheit – die Nacht in einer stinkenden Toilette verbringen musste, war einfach köstlich. Obwohl er dadurch ein Dach über den Kopf hatte, dass ihn vor dem Regen schützte. Eine Nacht auf der Straße hätte er dem Älteren durchaus gegönnt. Aber vielleicht kam er morgen zu dem Vergnügen. Mokuba wollte, dass sein Bruder litt. Für die Zeit, die er selbst gelitten hatte. Die Zeit, in der er sich nicht mehr für ihn interessiert hatte. Er hatte ihre Verabredungen am laufenden Band platzen gelassen und auch sonst keine Zeit für ihn gehabt. Er würde sich nicht mehr von seinem Bruder verletzten lassen. Jetzt drehte er den Spieß um. Nun war er der mächtige Firmenboss und Seto der Ignorierte. Mal sehen, wie der damit klar kommen würde. „Es ist spät, Roland“, sagte Mokuba, während er sich aus dem Chefsessel erhob. „Wir machen Schluss. Für heute haben wir genug getan.“ „Sehr wohl, Sir“, erwiderte sein persönlicher Assistent. „Ich wünsche eine geruhsame Nacht.“ „Ihnen auch, Roland!“ *** Fünf Stunden später betrat Mokuba wieder die Kaiba Corporation. Sein Eigentum. Er lächelte. Was für ein gutes Gefühl. „Wo ist er jetzt?“, verlangte er wie schon in der Nacht als erstes von Roland zu wissen. „Guten Morgen, Kaiba-sama“, wurde er begrüßt, bevor er seine Antwort erhielt. „Keine Ortsänderung.“ Der junge Kaiba warf einen Blick auf die Uhr. Zehn nach Acht. Vielleicht schlief sein Bruder noch. Oder er überlegte fieberhaft, wo er stattdessen hinkonnte. Aber da konnte er lange nachdenken. Schließlich hatte er keine Freunde. „Gut“, meinte er schließlich. „Dann will ich jetzt alle Unterlagen zu seinen letzten Projekten.“ „Das wird etwas Zeit in Anspruch nehmen, Sir. Ich werde sofort jemanden anweisen, die Akten zu holen.“ „In Ordnung. Was wissen Sie über den Anlass seiner letzten Geschäftsreise?“, fragte er. Er selbst hatte diesen viertägigen Auslandsaufenthalt dazu genutzt, seinen Bruder zu enteignen. Das war ein ganz schöner Gewaltakt gewesen. Es war knapp gewesen, alles in so kurzer Zeit zu organisieren. Besonders, weil ihm kein winzig kleiner Fehler unterlaufen durfte. Schließlich musste alles rechtskräftig und nicht anfechtbar sein. Aber er hatte es geschafft. Er hatte seinen Bruder besiegt. Das von allen so gelobte Genie. „Nicht viel, Sir. Er hat mich nur darüber informiert, dass er ein Projekt mit Duke Devlin aushandeln wollte. Worum es ging, hat er nicht gesagt.“ „Wo ist sein Reisegepäck? Darin werden wir die Informationen finden.“ Kaum hatte Mokuba den Satz beendet, sah er, dass Roland für einen Moment erstarrte. Das konnte nichts Gutes bedeuten. „Wo ist sein Reisegepäck?“, fragte er erneut. Nur dieses Mal deutlich schärfer. „Ihr Bruder hat es, Sir.“ Roland bewahrte trotz des Tonfalls seines Chefs Ruhe. Wahrscheinlich ist er von Seto ganz anderes gewöhnt, sinnierte Mokuba. „Er hat seine Taschen aus dem Kofferraum gerissen, bevor ich überhaupt reagieren konnte. Ich habe es allerdings auch nicht als besonders wichtig erachtet.“ „Gott!“, fluchte Mokuba. Das durfte doch nicht wahr sein. So war es nicht geplant gewesen. „Nicht als wichtig erachtet“, echote er wütend. „Sie haben es nicht als wichtig erachten, meinem Bruder die Technik abzunehmen. Die Technik, die besser ist, als die eines überdurchschnittlichen Hackers. Und sowas in den Händen meines Bruders. Das ist Stoff für einen Alptraum!“ „Es tut mir leid, Sir. Daran habe ich nicht gedacht“, antwortete sein persönlicher Assistent. Aber Mokuba hatte nicht das Gefühl, dass Roland es sonderlich bereute. Vielleicht entsprach der andere Teil seiner Antwort sogar der Wahrheit. Vielleicht hatte er wirklich nur an die Klamotten gedacht, die er Seto ließ. „Denken Sie daran, wem sie jetzt Ihre Loyalität schulden!“, fauchte Mokuba ihn an. „Und holen Sie sofort bei Duke Information über das Projekt ein. Ich kann es mir nicht leisten, dass mein Bruder wieder zu Geld kommt.“ „Jawohl, Kaiba-sama. Ich werde alles umgehend in die Wege leiten!“ Mit diesen Worten war Roland verschwunden und ließ Mokuba mit seinen Bedenken zurück. Es war zwar unwahrscheinlich, dass Seto die Möglichkeit hatte, über dieses Projekt wieder an Geld zu kommen, aber Mokuba würde das Risiko nicht eingehen, indem er es ungeprüft ließ. Endlich hatte er, was er wollte. Und er würde es sich nicht wieder nehmen lassen. Dieses Mal würde er besser sein. Besser, als sein Bruder. *** „Na, wo ist unser Genie?“, rief Joey Wheeler aus, als er am Mittag das Chefbüro der Kaiba Corp. stürmte. „Derjenige, der Seto Kaiba enteignet hat. Ihm einen saftigen Tritt in seinen Arsch verpasst hat.“ „Hallo, Joey. Hallo, Leute“, sagte Mokuba Kaiba fröhlich, als er seine Freunde erblickte. „Hallo, Mokuba“, erklang es mehrstimmig. „Wie sieht’s aus?“ „Ganz gut soweit“, antwortete er und wies auf die Sitzgruppe, die in einer Ecke des Büros stand. „Setzt euch doch. Ich lass zur Feier des Tages Champus kommen.“ „Cool!“, rief Joey begeistert aus. Tristan pflichtete ihm bei: „Das ist echt ne feine Geste!“ Yugi und Tea lächelten, beschränkten sich aber auf ein einfaches „Danke!“ und Bakura fügte hinzu: „Das ist echt nett von dir, Mokuba.“ „Keine große Sache, Leute“, meinte Mokuba und kratzte sich beinahe verlegen am Kopf. „Ich danke euch für eure moralische Unterstützung. Wärt ihr nicht gewesen, hätte ich gar nicht die Initiative ergriffen.“ Er wusste zwar, dass keiner von ihnen eine Enteignung im Sinn gehabt hatte, als sie ihm geraten hatten, sich das Verhalten seines Bruders nicht länger gefallen zu lassen, aber ohne ihre Ermunterungen wäre er nie auf die Idee gekommen, sich überhaupt in einem solchen Maß aufzulehnen. Es folgte ein entspanntes Zusammensein. Es wurde angestoßen, gelacht und scherzhafte Zukunftspläne geschmiedet. Mit der Zeit fiel Mokuba auf, dass insbesondere Yugi und Bakura merklich still wurden, wenn das Thema auf seinen Bruder fiel. „Was ist los, Yugi?“, fragte er schließlich. „Du guckst so besorgt.“ Yugi lächelte verlegen. „Es ist nur so, dass ich denke, dass es seine Gründe hatte, dass dein Bruder so geworden ist, wie er ist.“ Mokuba zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. „Worauf willst du hinaus?“, hakte er beinahe lauernd nach. „Seine Arbeit – die Firma – hat sicherlich auch ihre Teil dazu beigetragen, dass er sich so stark veränder hat“, fuhr Yugi ein wenig zögerlich fort. „Und?“, fragte Mokuba weiter und seine Augen verengten sich zu Schlitzen bei dem Gedanken, dass der Duell Monsters Weltmeister seinen Bruder in Schutz nahm. „Yugi, will damit nur sagen, dass du so bleiben sollst, wie du bist –trotz der Firma“, sprang Tea für ihren besten Freund ein, dem anscheinend die Worte fehlten. Mokubas Gesichtszüge entspannten sich. Er lächelte leicht. „Keine Sorge. Das habe ich nicht vor. Und was schaust du so düster, Bakura?“ Der Angesprochene sah für einen Moment verlegen zu Seite. Dann seufzte er und sagte in einer ungewöhnlichen Mischung aus Selbstbewusstsein und Sanftheit: „Ich möchte dir einen Rat geben. Denk gut über deine nächsten Schritte nach. Wenn du für dich in Anspruch nimmst, besser als dein Bruder zu sein, dann solltest du dich auch so verhalten. Ihn zu enteignen und auf die Straße zu setzen, zeugt nicht gerade davon. Ich kann deine Wut auf ihn verstehen, aber wenn du besser sein willst als er, dann solltest du nicht zu seinen oder nach schlimmeren Methoden greifen. Wie gesagt, ich kann nachvollziehen, dass du ihn abstrafen willst, aber ihn zu zerstören, sollte dabei keine Option sein. Er hat Fehler gemacht, aber das rechtfertigt nicht, ihn zugrunde zu richten. Besonders dann nicht, wenn du es wirklich besser machen willst.“ Wut kochte in Mokuba hoch, als er ihn reden hörte. Was wusste er schon? Nichts. Er hatte nicht unter Seto gelitten. Mokuba schloss die Augen. Beruhig dich, ermahnte er sich und nachdem ihm das gelungen war, wurde ihm bewusst, dass Bakura nicht Unrecht hatte. Wenn er wirklich besser sein wollte, musste er anders handeln als Seto. Menschlich besser. Er nickte Bakura zu. „Ich werde es im Hinterkopf behalten“, sagte er und fragte dann leicht neckend: „Kommt da etwa der Philosoph in dir durch?“ Bakura kratzte sich verlegen die Wange. „Na ja“, meinte er schließlich. „Das Studium verändert schon ein wenig den Blickwinkel, aus dem man die Dinge betrachtet.“ Kurzes Schweigen trat ein. Bakura Worte hatten bei allen eine Wirkung hinterlassen. Schließlich war es Joey, der energisch die Stille brach: „Ach kommt Leute, nicht so trübsinnig. Das ist unser Mokuba. Er ist tausendmal besser als Kaiba, der arrogante Sack!“ „Danke, Joey“, sagte Mokuba, aber so heiter wie zuvor fühlte er sich nicht, bis schließlich Tristan eine Hand auf seine Schulter legte und meinte: „Mach dir keinen allzu großen Kopf. Bakura mag zwar Recht haben, aber du schaffst das schon!“ Mokuba nickte und fand bei einem Blick in die Runde dieselbe Hoffnung auf den Gesichtern seiner Freunde. „Okay. Treffen wir uns heute Abend?“, fragte er schließlich und fügte hinzu. „Jetzt muss ich euch leider rausschmeißen. Es gibt noch einiges zu tun, bis die Arbeit wieder ganz geregelt läuft.“ Nachdem sie einen Termin verabredet hatten, verabschiedeten sich seine Freunde. Auch ihre Mittagspause neigte sich dem Ende. Ich schaff das schon, sagte sich Mokuba und vertiefte sich wieder in die Akten über die ehemaligen Projekte seines Bruders. Er würde die Probleme beseitigen. Er würde es schaffen. Am Ende wäre er der Sieger. Nicht Seto. Seto war Geschichte! Zumindest wenn es nach Mokuba Kaiba ging. Kapitel 4: Über den Teich ------------------------- Über den Teich Es war kurz vor halb sieben, als Kaiba den Hangar erreichte. Er hatte keine Schwierigkeiten gehabt, unerkannt Geld für ein Ticket zu tauschen. In den Zügen war es wesentlich schwerer gewesen, nicht aufzufallen. Besonders, da in jeder Zeitung mindestens ein Artikel über ihn gewesen war, je nach Sparte zierte sein Gesicht sogar das Titelblatt. Sein Adrenalin-Pegel war überdurchschnittlich hochgeblieben und es hatte immer wieder Spitzen gegeben. Seiner Ansicht nach war er mehrmals beinahe erkannt worden. Trotzdem war es ihm gelungen, ruhig zu bleiben. Sobald wie möglich hatte er sich eine liegengelassene Zeitung gegriffen und sein Gesicht dahinter verborgen. Dabei hatte er es vermieden, die Berichte über sich selbst zu lesen. Kaiba gestand es sich nicht gerne ein, aber er konnte nicht kalkulieren, wie er auf etwaige Unverschämtheiten reagiert hätte. Im Grunde waren Lügengeschichten momentan Nichtigkeiten. Er hatte vorrangig andere Probleme. Auf die Bahnfahrt war ein langer Marsch gefolgt. Er hatte Sicherheitspersonal und Kameras umgehen müssen. Seiner Einschätzung nach war es ihm gelungen. Wesentlich anstrengender war das lange Laufen gewesen. Besonders, weil ihm ständig die Zeit im Nacken saß. Es war nötig, deutlich vor acht im Hangar zu sein. Schließlich musste er einen Moment abpassen, in dem er ungestört mit der Pilotin sprechen und unbemerkt ins Flugzeug kommen konnte. Deshalb blieb er erst einmal im Verborgenen und beobachtete die Techniker und Kontrolleure. Es war bereits fünf vor acht als diese endlich den Hangar verließen. Kurz hielten sie noch Rücksprache mit der Pilotin und verschwanden danach mit ihren Fahrzeugen in Richtung Flughafengebäude. Na endlich, dachte Kaiba erleichtert. Für einen Moment hatte er schon mit dem Gedanken gespielt, das relativ große Risiko zu akzeptieren, dass einer von ihnen ihn erkannte. „Nehmen Sie mich mit in die USA?“, fragte er und trat aus seinem Versteck. Die junge Frau erschrak und wirbelte herum. „Mister Kaiba“, stellte sie kurz darauf überrascht fest. Ihr Gesichtsausdruck sagte ihm, dass sie bereits von seiner Enteignung erfahren hatte. „Warum?“ „Ich will nach New York und Sie schulden mir einen Gefallen“, erklärte er knapp. „Sie wollen illegal in Amerika einreisen?“, fragte sie und hob eine Augenbraue. „Ich habe ein gültiges Visum.“ Genau genommen hatte er ein für zehn weitere Jahre, gültiges Arbeitsvisum. Eine Sonderabsprache. Das Ganze war nicht ganz billig gewesen. Aber als erfolgreicher Geschäftsmann, der die amerikanische Wirtschaft ankurbelte, war er gerne gesehen … gewesen. „Für Sie ist es irrelevant, ob sie den Jet nun leer oder mit mir an Bord überführen“, fügte er hinzu, als er ihre Skepsis bemerkte. „Es wird niemand bemerken. Also hat es keine Konsequenzen.“ „Abgesehen von möglichen Schwierigkeiten mit meinem Chef“, äußerte sie ihre Bedenken und stemmte die Hände in die Hüfte. Kaiba wollte erneut auf die Gefälligkeit verweisen, die sie ihm schuldete, aber ihre Gesichtszüge entspannten sich. Ein leichtes Lächeln legte sich um ihre Mundwinkel. Er erkannte darin etwas wie Mitgefühl. „Na los, steigen Sie schon ein.“ Er nickte nur. Er hatte, was er wollte. Und es war zu wichtig, um es mit Widerworten, wegen eines Befehls, aufs Spiel zu setzen. Als er sich im Flugzeug in einen ledernen Sitz sinken ließ, registrierte er, dass es für die nächste Zeit das letzte Mal war. Er schaute sich um und bemerkte den Luxus des Jets. Auch etwas, dass er so bald nicht wieder genießen konnte. Kaiba runzelte die Stirn. Genau genommen wusste er es nicht. Wiederwillig musste er sich eingestehen, dass er überhaupt keine Kenntnisse über den derzeitigen Lebensstandard der Frau hatte, bei der er sich einquartieren wollte. Obere Mittelschicht, mutmaßte er, aber er würde keinen Cent darauf verwetten, besonders nicht bei seiner derzeitigen finanziellen Lage. Wenn sie jedoch halbwegs mit Geld umgehen konnte, lag er mit seiner Vermutung wahrscheinlich richtig. Ob sie es konnte … er hatte keine Ahnung. Der Gedanke gefiel ihm nicht. Er wusste gern, was ihn erwartete. Aber wahrscheinlich sollte er froh sein, dass er überhaupt eine Bekanntschaft hatte, bei der er unterkommen konnte. Trotzdem war er es nicht, obwohl er die Alternative kannte. Akzeptier endlich, dass du in der kommende Zeit deinen Lebensstandard senken musst, Seto, rief er sich selbst auf. Er wusste ganz genau, dass es nicht zu umgehen sein würde. Dennoch war er immer noch nicht im Stande, seine jetzige Situation richtig zu realisieren. Es klang fremd und fern. „Möchten Sie etwas essen?“ Die Frage der Pilotin riss ihn in die Realität zurück. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie schon längst gestartet waren. Ganz offensichtlich waren sie schon auf ihrer Flughöhe, so dass sie den Autopiloten hatte einschalten können. „Ja“, antwortete Kaiba, als ihm bewusst wurde, dass er seit gestern Mittag nichts mehr zu sich genommen hatte. Zudem konnte er sich nicht sicher sein, wann er das nächste Mal etwas bekommen würde. Wenig später saß ihm die junge Frau gegenüber und sie frühstückten gemeinsam ausgiebig. Während die Pilotin ein Brötchen mit Nussnugatcreme aß, fiel Kaiba der Ring an ihrem rechten Ringfinger auf. Den hat sie auf den letzten beiden Flügen noch nicht getragen, stellte er fest. Vielleicht war das ein Verlobungsring und sie wollte bei ihren Fluggästen als Single gelten. Blieb nur die Frag nach dem Warum. „Was haben Sie jetzt vor?“, fragte sie ihn neugierig. Plötzlich war die Antwort glasklar. Duke Devlin, dieses Schlitzohr. Kaiba war schon im Begriff abweisend zu antworten, als ihm die Konsequenzen seiner Feststellung bewusst wurden. Er musste zu seinem Vorteil handeln und da sie – vorausgesetzt er irrte sich nicht – intensiv mit Devlin Rücksprache hielt, mehr noch einen nicht unbedeutenden Einfluss auf ihn hatte, sollte er bei ihr einen positiven Eindruck hinterlassen. „In gewisser Weise werde ich fürs erste untertauchen.“ Kaiba wählte seine Worte sorgfältig. Zu viel wollte er auf keinen Fall verraten. „Wenn mein Bruder nicht weiß, wo ich bin, habe ich mehr Handlungsfreiheit und die werde ich brauchen, um an Geld zu kommen. Also ist es in Ihrem Interesse, mich nicht zu verraten.“ „Warum ist es das?“, fragte sie mit gerunzelter Stirn nach. „Weil Sie am Zustandekommen des Projektes interessiert sind. Ich bin der Einzige, der die vollständigen Unterlagen hat. Demnach kann ein Vertrag nicht ohne mich abgeschlossen werden. Und da ich momentan nicht das dazu Kapital habe, ist es in Ihrem Sinne, dass ich es mir beschaffen kann.“ „Dann haben Sie das Projekt noch nicht abgeschrieben?“ „Richtig.“ „Das zu hören wird meinen Boss freuen. Wann, denken Sie, werden Sie das Geld zusammenhaben?“, fragte sie geschäftig weiter. Ab diesem Moment war endgültig klar, dass sie mehr war, als eine einfache Pilotin. „Das kann ich noch nicht sagen. Ich werde mich dann mit Ihnen in Verbindung setzen“, erklärte Kaiba. Logischerweise sagte er ihr nicht, dass er im Moment noch überhaupt keine Ahnung hatte, wie er an Geld kommen wollte. Dieser Umstand gefiel ihm ganz und gar nicht. Er machte ihn handlungsunfähig. „An mich?“ „An Sie“, bestätigte er. „Das erscheint mir am Unauffälligsten. Und da Sie eine sehr ausgeprägte Beziehung zu ihrem Chef – oder sollte ich Verlobten sagen – haben, kann ich mir sicher sein, dass er schnell davon erfährt.“ Sein Gegenüber riss die Augen auf. „Woher wissen Sie …?“, brachte sie nach einem Moment erstaunt hervor und schielte reflexartig auf ihre rechte Hand. Kurz verbargen die langen blonden Haare ihr Gesicht, aber dieser Moment reichte nicht aus, um ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bekommen. Überrascht schaute sie ihn an. „Ich habe den Ring bemerkt. Auf den offiziellen Flügen haben Sie ihn nicht getragen. Außerdem wusste Devlin erstaunlich gut Bescheid. Ihr Verhalten während der Flüge hatte im Nachhinein betrachtet etwas Forschendes. Sie haben Informationen über mich, insbesondere mein Geschäftsverhalten, gesammelt und an Devlin weitergegeben“, erläuterte Kaiba. Teile seiner Erklärung waren ihm erst bei Sprechen aufgefallen. Er musste ihr lassen, dass sie äußerst subtil vorgegangen war. Ohne sein Wissen über die Verlobung wäre er nicht darauf gekommen. „Sie haben Recht. Duke hielt es für eine gute Idee und ich muss gestehen, dass Schauspielern hat seinen Reiz“, informierte sie ihn lächelnd. Ihre Haltung entspannte sich merklich. Sie zog eine Visitenkarte aus ihrem Portemonnaie und schrieb ihre Namen sowie ihre Handynummer auf die Rückseite. Sara Eugene, las Kaiba, nachdem sie ihm die Karte gegeben hatte. Auf der anderen Seite standen Devlins Kontaktdaten. Er hatte sie bereits und würde sie nicht benutzen. Mokuba sah dieses Projekt sicherlich als die potenzielle Einnahmequelle, die es war. Daher war es anzunehmen, dass er Devlin überwachen würde und eine direkte Kontaktaufnahme sicherlich mitbekäme. Etwas, dass es zu vermeiden galt. Kaiba ließ die Karte mit einem Nicken in seinem Portemonnaie verschwinden. „Sie werden eine SMS von mir bekommen, in der ich Ihnen einen Treffpunkt mitteile.“ „Und woran werde ich erkennen, dass sie von Ihnen ist?“, fragte Miss Eugene nach. „Solange Sie Ihren Verlobten nicht betrügen, sollte sie unverkennbar sein“, antwortete Kaiba. Das war zwar ansonsten nicht sein Stil, aber die Not machte bekanntlich erfinderisch. Die junge Frau strich sie grinsend eine ihre blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Da bin ich aber gespannt“, kicherte sie. Kurz darauf wurde sie wieder ernst. „Soll ich Ihnen ein paar Sandwiches und Kaffe einpacken?“ „Danke, das ist sehr großzügig“, zwang Kaiba sich zu sagen. Das Angebot schlug er sicherlich nicht aus. Wer wusste schon, wozu er es noch einmal gebrauchen konnte. „Duke liegt viel an diesem Projekt. Im Gegensatz zu dem Gewinn, den er damit machen wird, sind eine mit gutem Kaffee gefüllte Thermoskanne und eine Brotdose voller Sandwiches nicht der Rede wert“, verkündete sie gutgelaunt. Wie Recht sie hat, dachte Kaiba, aber für ihn konnten momentan auch diese Kleinigkeiten von Bedeutung sein. „So, bitte sehr“, verkündete Miss Eugene, als sie etwas später eine Thermoskanne und eine Brotdose vor ihm auf den Tisch stellte. „Ich hätte gern einen Tipp von Ihnen.“ „Einen Tipp“, echote Kaiba misstrauisch. „Wofür?“ „Nichts für ungut, aber ich denke, es ist anzunehmen, dass ich in der nächsten Zeit Ihren Bruder fliegen werde und deshalb hätte ich gerne einen Tipp, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll“, erklärte sie ihm ihr Anliegen. „Verstehe“, murmelte Kaiba. Einen Tipp, überlegte er, sodass Mokuba niemals auf die Idee kommt, sie könnte mich mitgenommen oder näher mit Duke zu tun haben. Keine einfache Sache, aber sie schien sich ja auf Subtiles zu verstehen. „Logischer Weise ist es wichtig, dass er keine Hinweise darauf erhält, dass sie mich mitgenommen haben. Je länger er nichts über meinen konkreten Aufenthaltsort weiß, desto variabler sind meine Chancen, an Geld zu kommen. Außerdem ist es sicherlich nicht in Ihrem Sinne, dass er auf die Idee kommt, Devlin würde mit mir kooperieren. Er hat Mittel und Wege, den Vertragsabschluss unnötig heraus zu zögern. Ebenso sollte Sie vermeiden, dass mein Bruder von Ihrer Verlobung mit Devlin erfährt. Solange er davon nichts ahnt, kann er Ihre Beziehung nicht gegen Sie verwenden. Um sicher zu gehen, dass Devlin unter Zugschwang nicht auf Details zurückgreift, die Sie ihm verraten haben, sollten Sie Ihre gesammelten Informationen erst nach den Besprechungen an ihn weitergeben. Solange es zu keinen festen Vereinbarungen kommt, ist der Zeitpunkt nur peripher relevant. Sollten etwaige Verhandlungen nicht zu seinen Gunsten laufen, wäre es ganz normal, dass er auf Sie als mögliche Informationsquelle zurückgreifen würde.“ Miss Eugene hob eine Augenbraue. Sie lächelte verschmitzt. „Sie sind wirklich ein brillanter, logischer Denker und Analytiker. Das klingt alles ganz einleuchtet. Aber wie erreiche ich das am besten?“ Das war in der Tat ein Teil seiner Stärken. Sie hatten ihn aus Mokubas größten Einflussbereich gebracht. Vorsichtig, ermahnte Kaiba sich, noch bin ich nicht unerkannt durch die Flughafenkontrollen gekommen. Das Gefühl, das dieser Gedanke verbreitete, gefiel ihm nicht. Unsicherheit. Deshalb konzentrierte er sich auf die Frage seines Gegenübers. Wie täuschte man Mokuba am besten? „Wichtig ist, dass Sie Sie selbst sind“, entgegnete er nach einem Moment des Nachdenkens. „Versuchen Sie nicht ihm etwas vorzuspielen. Er hat ein feines Gespür für Lügen. Also sagen Sie, wenn möglich, immer die Wahrheit. Antworten Sie lieber ungenau oder mit Gegenfragen. Fremden nicht allzu viel von sich preiszugeben, ist nichts Unnormales. Solange er Sie nicht auf mich anspricht, bringen Sie das Thema nicht auf. Wenn er Sie im Allgemeinen nach mir fragt, bleiben Sie auf geschäftlich relevanter Ebene, zum Beispiel Charaktereigenschaften. Das ist professionell. Darauf sollten Sie generell achten. Treiben Sie lieber nicht Ihre Spielchen mit ihm, um mehr über ihn herauszufinden. Im Zweifelsfall wird er sich deswegen später an Sie erinnern. Und es ist besser, wenn er Sie nur als eine von vielen Angestellten seiner Geschäftspartner sieht.“ Die junge Frau nickte nachdenklich. „Ich denke, dass lässt sich umsetzen. Dankeschön!“ Sie begann, die Reste des Frühstücks abzuräumen. Abgesehen von einer Kanne Kaffee und ein paar Snacks für ihn für die restliche Flugzeit brachte sie alles in die kleine Bordküche, danach fragte Sie: „Kann ich ansonsten nach etwas für sie tun? Über Teilen von Amerika liegt eine Schlechtwetterfront. Deshalb möchte ich für den Notfall lieber im Cockpit sitzen.“ „Selbstverständlich“, antwortete Kaiba. Ein Flugzeug, das außer Kontrolle geriet, war sicherlich nicht in seinem Interesse. „Wissen Sie, wie das Wetter in New York ist?“ „Es ist Schnee vorausgesagt. Sobald ich genaueres über das Wetter zur Ankunftszeit weiß, informiere ich Sie“, erklärte sie und verschwand kurz darauf wieder ins Cockpit. Schnee, dachte Kaiba, das könnte von Vorteil sein. Es wäre eine gute Begründung dafür, verhüllt zu sein. Noch dienlicher wäre Schneetreiben. Dadurch wäre es unwahrscheinlich, dass jemand sah, aus welchem Flugzeug er kam und er konnte einfach als einer von vielen in einen Bus einsteigen, der ihn vom Rollfeld zum Flughafengebäude bringen würde. Auf jeden Fall würde es in New York frostig kalt sein. Wahrscheinlich war die Temperatur noch weiter gesunken. Er musste sich warm anziehen. Vor allen Dingen war unauffällige, für seine Verhältnisse legere Kleidung angebracht. Zum ersten Mal kam Kaiba die Angewohnheit zu Gute, dass er auf Geschäftsreisen auch immer Trainingskleidung mitnahm, obwohl er meistens nicht zum Sporttreiben kam. Allerdings ging er in New York „regelmäßig“ in eine Schule für asiatische Kampfsportarten und –künste. Kaiba schlüpfte aus seinem Hemd und zog stattdessen ein schlichtes dunkles T-Shirt an. Die feine Anzughose tauschte er gegen eine einfache schwarze Baumwollhose. Dazu wählte er einen beigen Pullover. Außerdem legte er sich seine Trainingsjacke sowie seine Sonnenbrille heraus. Er würde den Trenchcoat tragen müssen, obwohl sein Mantel wärmer gewesen wäre. Aber dieser war einfach zu auffällig, also würde der Trenchcoat reichen müssen. Die Trainingsjacke würde zusätzlich gegen die Kälte schützen und davon abgesehen war sie das einzige Kleidungsstückmit Kapuze, das er bei sich hatte. Nachdem er seine Sachen, inklusive der Thermoskanne und der Brotdose, in seinen Taschen verstaut hatte, zog er die dunklen Regenschutzhüllen über sie. Ein weiterer Punkt, in dem der Schnee ihm entgegen kommen würde. Dadurch wäre er anhand seines Gepäcks nicht mehr zu identifizieren. Da nun alle Vorbereitungen getroffen waren, ließ Kaiba sich in seinen Sessel sinken und versuchte sich zu entspannen. Der Flug dauerte noch lange und er hatte die gesamte letzte Nacht nicht geschlafen. Zumal es zu seiner voraussichtlichen Ankunftszeit in New York erst früher Morgen sein würde. Er brauchte Kraft, um die Tag zu überstehen. Kapitel 5: Auf und davon ------------------------ Auf und davon „Was soll das heißen: Er ist weg?“, fragte Mokuba Kaiba aufgebracht. Seine Freunde waren kaum im Fahrstuhl verschwunden, da war Roland auf ihn zugetreten. Im ersten Moment hatte der junge Kaiba gedacht, es stimmte etwas mit den Unterlagen nicht. Den Gedanken hatte er schnell wieder verworfen, so besorgt, wie die Miene seines persönlichen Assistenten gewesen war. Als der auch noch um ein Gespräch unter vier Augen gebeten hatte, schwante ihm Böses. Dieses Eröffnung jedoch … „Mein Bruder kann nicht gegangen sein. Ihr habt doch die Station überwacht. Vor Ort und durch die Kameras. Wie soll er also unbemerkt verschwunden sein?“, ereiferte sich Mokuba. Roland richtete sich auf und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Wir wissen es nicht, Sir. Er muss durch unser Netz geschlüpft sein. Niemandem ist etwas aufgefallen. Erst als sich das Signal bis zum Mittag nicht bewegt hatte, hat jemand Verdacht geschöpft. Ein Sicherheitsbeamter wurde in die Toilette geschickt und hat festgestellt, dass Ihr Bruder verschwunden ist. Genaueres wissen wir noch nicht. Momentan läuft die Überprüfung.“ Mokuba kochte vor Wut. Solch ein Fehler hätte nicht passieren dürfen! Wozu hatte er einen Teil seiner Sicherheitsbeamten auf seinen Bruder angesetzt, wenn die es vermasselten. Er wusste nicht, wo Seto war. Genau das hatte er zu vermeiden versucht. „Irgendwelche Anhaltspunkte wohin er gegangen sein könnte?“, fragte der CEO sichtlich um Fassung bemüht. Das ist nicht Rolands Fehler, rief er sich ins Gedächtnis, du hast keinen Grund, ihn anzuschreien. „Nein, Kaiba-sama. Aber bisher sind die Spuren noch nicht ausgewertet.“ „Haben Sie eine Idee, wohin er unterwegs sein könnte?“, fragte Mokuba und zwang sich logisch zu denken. „Ich habe keine Ahnung, Sir“, gestand Roland augenscheinlich widerwillig ein. Mokuba musterte ihn. Sein persönlicher Assistent schien es tatsächlich zu bedauern, nicht zu wissen, welches Ziel sein ehemaliger Chef verfolgte. Die Frage ist nur, um meinet– oder seinetwillen, sinnierte Mokuba, brach den Gedanken aber ab. Er hatte jetzt andere Probleme, als an der Loyalität Rolands zu zweifeln. Bisher machte der seine Arbeit wie unter Setos Führung. Er hatte keinen Grund zur Klage. „Okay. Veranlassen Sie sofort, dass jemand überprüft, ob er ausgereist ist oder ob ein Flugticket auf seinen Namen bestellt wurde. Ich bezweifele zwar, dass er das Land verlässt, da er in Japan die meisten Kontakte hat, aber gehen wir lieber kein Risiko ein“, befahl Mokuba. Roland nickte und wendete sich zum Gehen. „Und Roland“, hielt Mokuba ihn zurück, „sorgen Sie dafür, dass niemand an dieses verfluchte Handy geht! Es ist wahrscheinlich virenverseucht ohne Ende.“ „Jawohl, Sir!“ Sobald Mokuba alleine im Raum war, ließ er sich seufzend in den Chefsessel sinken. „Dreck!“, murmelte er und spornte sich nach einem Moment der Resignation an. „Okay, denke nach. Was weißt du?“ Mokuba holte einen Block und einen Kugelschreiber aus dem Schreibtisch, um seinen Gedanken festzuhalten. Folgendes wusste er: - Seto war verschwunden und das in einem Zeitraum von fünf Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags, wobei die frühen Stunden wahrscheinlicher waren. Das Risiko, dass jemand nach ihm sah, wurde mit vergehender Zeit höher. - Seto hatte sein Handy zurückgelassen. Daraus war zu schließen, dass er ein zweites dabei gehabt hatte. Die Kontaktdaten hätte er niemals aufgegeben. Wobei es theoretisch auch möglich war, dass er die Daten auf seinen Laptop überspielt hatte und sich bald ein Ersatzgerät kaufen würde. Mokuba machte sich eine Randnotiz: Nach Mitteln suchen, Setos Laptop zu orten. Eventuellen Kauf von weiterem Handy + SIM-Karte prüfen – intern sowie extern. Noch einmal dachte er darüber nach. Was war wahrscheinlicher? Ein Zweithandy oder der Plan ein neues zu erwerben? Nach einiger Überlegung kam er zu dem Schluss, dass Seto vermutlich ein zweites besaß. Es passte zu der Kontrollsucht seines Bruders, seine Daten doppelt bei sich zu haben. Außerdem hätte er beim Neukauf ein wesentlich schlechtes Handy nehmen müssen. Mokuba wusste, dass das „alte“ Gerät mehrere tausend Dollar gekostet hatte. Für etwas Vergleichbares hatte der Andere im Moment nicht das Geld – und würde es nie wieder haben, wenn es nach Mokuba ging. Er hätte das Risiko auf sich genommen, entdeckt zu werden und hätte einfach nur die SIM-Karte entsorgt, entschied der CEO mit seiner Argumentation zufrieden. Er beauftragte seine Sekretärin, die gewünschten Informationen zu besorgen und grübelte dann über die Ziele Setos. Er braucht Geld und eine Unterkunft, beurteilte Mokuba die Lage seines Bruders. Nur wohin konnte der gehen bzw. an wen konnte er sich wenden, um Geld zu bekommen? Ihm fiel niemand ein. Sicherlich gab es einige Geschäftspartner, die Seto um Geld oder eine Zusammenarbeit bitten konnte, aber selbst jemandem mit wenig Verstand musste klar sein, dass er es sich dadurch mit Mokuba verscherzen würde, was gleichbedeutet damit war, sich gegen eine Zusammenarbeit mit der KC zu entscheiden. So beschränkt war niemand, dass er die wirtschaftliche Isolation riskierte, nur um sich des Genies Seto Kaiba zu bedienen. Vielleicht gab es einige Geschäftsführer, die sich seinem Einfluss in einem gewissen Maß widersetzten könnten, aber die konnte er an einer Hand abzählen. Außerdem sah Mokuba die Wahrscheinlichkeit, dass diese seinem Bruder helfen würden, als sehr gering an. So nützlich, dass sich der Ärger mit mir lohnt, kann Seto ihnen gar nicht sein, dachte Mokuba. Denen ist es egal, wer die Firma leitet, mit der sie gute Geschäfte machen. Dennoch würde er jeden einzelnen von ihnen nach einmal daran erinnern, mit wem sie es sich verscherzten, wenn sie sich mit Seto einließen. Besonders bei Pegasus konnte es nicht schaden. Der war allgemeinhin dafür bekannt, unberechenbar zu sein. Worüber machte er sich eigentlich so große Sorgen? Seto war mittellos. Der würde so schnell nicht wieder an viel Geld kommen. Mokuba wusste nicht, wie sein Bruder es hätte bewerkstelligen können. Dennoch durfte er die Gefahr, die von dem Älteren ausging, keinesfalls unterschätzen. Der war schon immer für einige Überraschungen gut gewesen. Der CEO musste auf alles vorbereitet sein. Eine Stunde später betrat Roland abermals das Büro. Er hielt zwei kleine, durchsichtige Tütchen in der Hand. „Dies sind die ersten Ergebnisse der Untersuchungen. Fäden, beige und schwarz“, erklärte er, während er die Tüten Mokuba überreichte. „Sie sind genauer noch nicht zugeordnet.“ „Das werden die KC-Logos von seinen Taschen sein“, mutmaßte Mokuba. Ein logischer Schritt Setos, der Mokuba aber nicht sehr viel weiter brachte. „Damit wissen wir zumindest, wonach wir nicht suchen müssen“, versuchte er es, positiv zu sehen. „Sonst noch etwas?“ „In einer Toilette wurden Reste eines Notizzettels gefunden. Er wird im Moment rekonstruiert. Es scheint sich um einen Zettel ihres Bruders zu handeln, den er versucht hat wegzuspülen. Außerdem habe ich die Informationen, um die Sie gebeten hatten. Die Ortung des Laptops Ihres Bruders ist nicht möglich. Im Gerät befinden sich spezielle Bauteile, die dies verhindern. Des Weiteren ist in unseren Abrechnungen kein weiterer Handy- oder SIM- Kartenkauf Ihres Bruders dokumentiert. Sollte er sich in den nächsten Tagen noch eins kaufen, wird es für uns schwer sein, es nachzuvollziehen.“ Mokuba nickte nachdenklich. „Das hatte ich schon vermutet“, murmelte er und fragte nach einem Augenblick: „Dieser Zettel, der gefunden wurde … wie wahrscheinlich sind die Informationen echt?“ Roland überlegte kurz. „Er mutet an wie einer der Zettel, die Ihr Bruder regelmäßig als Erinnerung oder für kurze Vorüberlegungen benutzte. Sicherlich besteht die Möglichkeit, dass es sich dabei um eine Art Störfeuer handelt. Mir wurde jedoch versichert, dass die Spülung unter normalen Umständen alle Teile weggespült hätte. Zudem sieht die Vernichtung seiner Vorüberlegungen Ihrem Bruder durchaus ähnlich.“ Diese Schlussfolgerung kann er beabsichtig haben, sinnierte Mokuba. Ebenso war es möglich, dass Seto damit gerechnet hatte, dass die Schnipsel in der Kanalisation verschwanden. Ihm war sicherlich klar, dass er überwacht werden würde. Bei einer eventuellen Überprüfung würde er solche Informationen nicht bei sich haben wollen. Ehe Mokuba einen Entschluss gefasst hatte, zeigte ein Piepen des Computers, dass eine neue E-Mail eingegangen war. „Das wird die Rekonstruktion sein“, sagte Roland. Das Öffnen des Dokuments bestätigte seine Vermutung. Mokuba überflog Fragmente. Es waren wirklich nur bruchstückhafte Informationen. Zu wenig, als dass Seto es so geplant haben könnte. Wie hätte der kontrollieren können, welche Teile in der Toilette zurückblieben. Die niedergeschriebenen Überlegungen waren durchaus umsetzbar. Unwahrscheinlich, jedoch nicht unmöglich. Erfolgversprechendere Optionen hatte Seto nicht. „Roland, setzen Sie jemanden auf die hier aufgelisteten Personen an. Lassen Sie jede noch so kleine Information überprüfen! Außerdem vereinbaren Sie so bald wie möglich Termine mit Duke Devlin und Maximilian Pegasus. Ich fliege nach Amerika. San Francisco via New York.“ Damit wären die wahrscheinlichsten Möglichkeiten seines Bruders abgedeckt. Mokuba würde auf Nummer sicher gehen. Selbst wenn beides kaum Erfolg versprach. Einen weiteren Fehltritt konnte er sich kaum erlauben. Kapitel 6: Ankunft in Amerika ----------------------------- Ankunft in Amerika Tief atmete Kaiba die eisige Luft ein, als er das Flughafengebäude verließ und nach kurzer Orientierung direkt auf die zahlreichen Taxen zusteuerte. Das habe ich hinter mir, dachte er erleichtert. Kurz nach der Landung hatte er einen 500 Meter Sprint hinlegen müssen, um den Bus zu erreichen, der gerade vorfuhr, um die Passagiere einer Maschine aus China ins Flughafengebäude zu bringen. Das Unangenehmste daran war gewesen, nach dem Rennen sofort wieder ruhig zu atmen, um nicht aufzufallen. Seine Lungen hatten aufgrund des Sauerstoffmangels regelrecht gebrannt. Zumindest war seine rote Gesichtsfärbung nicht aufgefallen. Die Kälte trieb auch den anderen Passagieren die Röte auf die Wangen. Im Flughafen selbst hatte er der normalen Einreisekontrolle entgehen müssen. Nachträglich betrachtet war es keine große Anstrengung gewesen. Er hatte nur einen Sicherheitsbeamten nach dem Aufenthaltsort des Flughafensicherheitschefs fragen müssen. Nach einer stirnrunzelnden Musterung und einem freundlichen Wortwechsel – der für Kaiba das schwierigste an der Situation gewesen war – hatte man ihm zum Chef gebracht. Der Name des Chefs aus dem Munde einer hochwertig gekleideten Person schien auszureichen, um zu eben diesem gebracht zu werden. Natürlich hatte man ihn und sein Gepäck kontrolliert, aber nachdem er sein Taschenmesser abgegeben hatte, war er zum Sicherheitschef vorgelassen worden. Obwohl dieser mit Kaiba schon oft zu tun gehabt hatte, war ein Moment vergangen, ehe er erkannt worden war. Nach den üblichen Einreiseformalitäten und der Versicherung seine Daten vertraulich zu behandeln, wurde Kaiba sein Taschenmesser zurückgegeben und ein Sicherheitsbeamter schleuste ihn an den normalen Kontrollen vorbei. Es hätte kaum besser laufen können, prognostizierte Kaiba, während er durch den Schnee auf ein freies Taxi zu stiefelte. Am ganzen Flughafen wusste nur eine Person über seine Einreise Bescheid und sollten von Mokubas Seite nicht recht hohe Bestechungsgelder fließen, würde der so schnell keine Einsicht in Kaibas Einreiseunterlagen bekommen. Das war durchaus zufriedenstellend. Kaiba zog sich die Kapuze noch tiefer ins Gesicht. Es war lausig kalt und seine Kleidung war einfach zu dünn. Er hatte Mühe, das Zähneklappern zu unterdrücken. Er wünschte sich, seinen Mantel anziehen zu können, aber dann hätte man ihn wahrscheinlich als Seto Kaiba erkannt. Sein jetziges Aussehen schien Tarnung genug zu sein. Dabei hatte er neben der Kleidung nur seine Haare etwas zerzaust und seine selbsttönende Sonnenbrille aufgesetzt. In der Dunkelheit und in den geschlossenen Räumen des Flughafens blieben die Gläser klar, so dass die Sonnenbrille wie eine ganz normale Brille wirkte. „Ecke 5th Avenue und East 79th Street, bitte”, forderte Kaiba den Taxifahrer für seine Verhältnisse freundlich auf, nachdem seine Taschen im Kofferraum verstaut worden waren. „Alles klar“, antwortete der stämmige Mann und ordnete sich in den Verkehr ein. „Soll ich die Heizung noch etwas aufdrehen? Sie sehen so aus, als würden sie gewaltig frieren.“ „Danke, das wäre sehr nett“, zwang Kaiba sich zu sagen. Innerlich verdrehte er die Augen bei dem Gedanken, die nächste Zeit Smalltalk führen zu müssen. Aber was tat man nicht alles dafür, unerkannt zu bleiben. „Mit dem plötzlichen Wetterumschwung habe ich echt nicht gerechnet, als ich gepackt habe.“ „Ist wirklich ein seltsames Wetter diesen Winter. Erst früher Schnee und dann ne lange Zeit wieder gar nicht. Als New Yorker ist man es anders gewohnt.“ *** „Hallo Schatz“, meldete sich Kaiba, ehe seine Gesprächspartnerin mehr als ein „Hallo“ hervorgebracht hatte. „Oh, hi. Ich hab mich schon gefragt, wann du dich meldest“, erklang eine helle Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. Kaiba glaubte, etwas wie Erleichterung und Freude in ihrem Ton zu erkenn. Sie weiß es also, wurde ihm sofort klar. „Wie geht es dir?“, fragte sie und er hörte deutlich die Besorgnis. „Ganz gut soweit. Der Flug war anstrengend, aber jetzt bin ich ja wieder da. Kommst du zu unserem üblichen Treffpunkt?“, fragte er. „Üblich“ war deutlich übertrieben. Genaugenommen hatte sie sich nur ein einziges Mal in New York getroffen – spät abends zum Joggen. Aber dadurch konnten sie sich nicht verpassen. Es war logisch, welchen Ort er meinte. „Klar, gerne. Gib mir ne halbe Stunde, dann bin ich da. Ich freu mich! Bis gleich!“, mit diesen Worten hatte sie aufgelegt. Kaiba steckte sein Handy weg, verließ die 5th Avenue und ging in den Central Park. Eine halbe Stunde brauchte sie. Also wäre er in einer guten Stunde im Warmen. Bis zu ihrem Treffpunkt benötigte er zu Fuß ungefähr 15 Minuten. Mit anderen Worten: Er würde weitere 15 Minuten in der Kälte warten müssen. Ich hab noch den Kaffee, erinnerte sich Kaiba. Damit konnte er sich etwas aufwärmen, auch wenn er bezweifelte, dass es viel brächte. Er fror erbärmlich. So hilfreich das starke Schneetreiben am Anfang gewesen war, so lästig war es inzwischen. Am liebsten wäre er jetzt gejoggt, um sich warmzuhalten, aber er erinnerte sich nur allzu gut an den Sprint am frühen Morgen. Schnelllaufen mit seinem Gepäck war wahrlich kein Vergnügen. Davon einmal abgesehen hätte er damit nur unnötig Aufmerksamkeit erregt. Freitagsmorgens um zehn Uhr herrschte im Central Park zwar verhältnismäßig wenig Betrieb, aber es waren immer noch genug Menschen unterwegs, um unter Garantie aufzufallen. Den Blick gesenkt suchte er sich seinen Weg durch den gigantischen Park. An seinem Ziel angekommen, stellte er seine Taschen auf einer Parkbank ab und holte die Thermoskanne heraus. Mit einem Becher des dampfenden Kaffees in der Hand schritt er vor der Bank auf und ab, um sich warmzuhalten. Während Kaiba trank, rief er sich die wichtigsten Informationen über Lana Pegasus ins Gedächtnis. Vielleicht konnten sie ihm nützlich sein. Die junge, quirlige Frau war die Tochter von Maximilian Pegasus, Inhaber von Industrial Illusions. Mit ungefähr 14 Jahren hatte sie sich so mit ihrem Vater überworfen, dass der sie in ein Internat geschickt hatte, wodurch sich ihr Verhältnis selbstredend nicht verbessert hatte. Vor fünf Jahren hatte Kaiba eine kurzzeitige Affäre mit ihr begonnen. Eigentlich hatte er vorgehabt, sich durch eine vorgetäuschte Entführung an Pegasus für die Geschehnisse im Königreich der Duellanten zu revanchieren. Schnell hatte er jedoch erkannt, dass es einen wesentlich simpleren und sicheren Weg gab, den Geschäftspartner zu treffen. Indem er Lana finanziell half, ihren Traum zu verwirklichen, welcher Pegasus ein absoluter Dorn im Auge war, hatte er seine Rache bekommen. Aus dieser Zweckgemeinschaft hatte sich die seltsamste Beziehung entwickelt, die er je zu irgendwem gehabt hatte. Gedankenverloren schüttelte Kaiba den Kopf. Ob über dieses zwischenmenschliche Etwas oder über die Summe, die er damals für ihre Ausbildung und ihre Wohnung aufgewendet hatte, konnte er nicht sagen. Zu dem Zeitpunkt waren es Peanuts für ihn gewesen, jetzt … Kaiba stutzte. Für einen Augenblick setzte sein Herz aus. In Sekundenschnelle rechnete er nach. Lana war knapp zwei Jahre jünger als er. Er war 23, sie also 21. Er atmete auf und ärgerte sich im nächsten Moment über sich selbst. Warum ließ er sich so schnell aus der Ruhe bringen? Es bestand kein Grund zur Sorge und im Grunde wusste er das. Lana war volljährig. Damals hatte er zwar den Kaufvertrag unterschrieben, aber inzwischen gehörte die Wohnung ihr. Das Apartment war ganz bestimmt nicht in Mokubas Besitz übergegangen. Kaiba seufzte leise. Das Ganze schien mehr an seinen Nerven zu zerren, als er dachte. Ansonsten war es nicht zu erklären, dass er wegen einer Selbstverständlichkeit in Panik geriet. Beruhig dich, rief er sich zur Ordnung. Du hast alles unter Kontrolle. Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, er glaubte sich selbst nicht. Aber ehe er sich weiter mit der Thematik beschäftigen konnte, sah er eine Gestalt im dunklen Mantel auf sich zu kommen. Kaiba erkannte sie sofort, obwohl sie noch ein Stückchen gewachsen war und die braunen Haare nur noch schulterlang trug. Er trank den letzten Schluck Kaffee und machte sich daran, seine Sachen wieder zu verstauen. „Hi“, erklang es wenig später hinter ihm. Ihr Ton war fragend und besorgt. Kaiba ahnte, dass sie aufgrund des Telefonats nicht sicher war, ob er überwacht wurde. „Hallo Lana“, begrüßte er sie kurz. „Ich werde nicht beschattet oder dergleichen. Ich stand nur direkt an der 5th Avenue und wollte vermeiden, dass jemand der mich vielleicht erkannt hat deinen Namen erfährt. Da ich mir nicht sicher sein kann, was mein Bruder plant, um mich ausfindig zu machen, wollte ich auf Nummer sicher gehen.“ „Verstehe“, antwortete sie und keine fünf Sekunden später hing sie um seinen Hals und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich freue mich, dich zu sehen. Bist du sicher, dass es dir gut geht? Du siehst reichlich durchgefroren aus.“ „Geht schon“, murmelte er und drückte sie von sich. Wäre es jemand anders gewesen und wäre er weniger von ihr abhängig gewesen, hätte er sicherlich anders reagiert, aber unter diesen Umständen riss er sich gezwungenermaßen zusammen. Lana seufzte. „Männer und ihr Stolz“, bemerkte sie theatralisch. Die Besorgnis wich jedoch nicht aus ihrem Blick. „Ich bin mit dem Auto und hab die Standheizung angemacht. Kommst du?“ Kaiba nickte. Heizung und Auto klang gut. Dadurch würde er schneller ins Warme kommen. Schweigend nahm er seine Taschen und folgte ihr. Ein paar Minuten zu Fuß entfernt hatte sie ihren Wagen geparkt. Eine Mercedes E-Klasse, stellte er verwundert fest. Die hatte er sicherlich nicht bezahlt. „Von meinem Vater zum 21. Geburtstag“, erklärte sie grinsend. „Ich glaube, er hatte Angst, dass ich weiterhin Motorrad fahren könnte.“ „Ihr redet wieder miteinander?“, fragte Kaiba nur, um nicht auf die Sache mit dem Motorrad zu sprechen kommen zu müssen. Er hatte das Gefühl, dass er dazu gar nichts Genaueres wissen wollte. Das einzig interessante daran war, dass sie vielleicht noch ein Motorrad hatte, dass er in der nächsten Zeit benutzen konnte. … Wenn das Wetter wieder besser war. „Hin und wieder“, antwortete sie. „Momentan kommen wir einigermaßen miteinander klar.“ „Hm.“ Kaum dass Kaiba im Wagen saß, hatte er auch schon zusätzlich zur Standheizung die Sitzheizung ganz aufgedreht. Lana belächelte ihn ein wenig spöttisch. „Aber dir ist nicht kalt, ja?!“ „Das hab ich nie behauptet“, brummte er und musste es sich verkneifen, sie aufzufordern, ihre Tür sofort zu schließen. Sie kicherte so schon. Einen Moment lang fragte er sich, ob er anders reagiert hätte, wenn er nicht von ihr abhängig gewesen wäre. Vielleicht geringfügig. Lana hatte die unangenehme Angewohnheit, selten auf ihn zu hören. „Irgendein Zeitpunkt, zu dem ich wieder verschwunden sein sollte?“, fragte er, während sie den Motor startete und den Rückwärtsgang einlegte. Eigentlich hatte er diese Frage noch nicht stellen wollen, aber er brauchte Gewissheit, damit er weiterplanen konnte. Die Unsicherheit war ein nagendes, widerliches Gefühl. Lana runzelte die Stirn, dann lächelte sie leicht. „Nein. Bleib so lange, wie du willst.“ Kapitel 7: Neues Zuhause ------------------------ Neues Zuhause „Nett“, sagte Kaiba spöttisch, nachdem er Lanas Wohnung begutachtet hatte. Seitdem er wusste, dass er bleiben konnte, fühlte er sich etwas wohler. Was beschwerst du dich eigentlich, fragte er sich keine drei Sekunden später, das ist wesentlich komfortabler, als das, womit man rechnen muss, wenn man enteignet und auf die Straße gesetzt wird. Genau genommen war die Wohnung größer und besser eingerichtet, als die eines Durchschnittsbürgers. Seine Vermutung der „Oberen Mittelschicht“ schien zuzutreffen. „Höre ich da einen ironischen Unterton?“, fragte Lana lauernd. „Mitnichten“, erwiderte Kaiba und bemühte sich zumindest um Neutralität. Hier würde er es aushalten können, auch wenn es nicht die Art von Behausung war, die er gewohnt war. „Hast du schon gefrühstückt?“, fragte seine Mitbewohnerin, während sie Kaffee kochte. „Nein“, sagte Kaiba und fügte spontan hinzu: „Ich hab noch ein paar Sandwiches, wenn du keine Lust hast, etwas zuzubereiten.“ „Klingt nach einem guten Angebot“, erklärte Lana grinsend, „sofern du sie nicht gemacht hast.“ Kaiba hob eine Augenbraue. „Ich kann mich nicht daran, dir jemals eins gemacht zu haben. Wie kommst du also auf die Idee, meine Sandwiches beurteilen zu können?“ „Guter Einwand. Allerdings habe ich bezweifelt, dass du vor denen, die du mir angeboten hast, jemals welche gemacht hast.“ Wortlos verließ Kaiba die Küche und holte die Brotdose aus seiner Reisetasche, die er auf einem Sofa im angrenzenden Wohnzimmer abgestellt hatte. Er hatte schon einmal Sandwiches gemacht. Aber das war lange her. Zu der Zeit hatte sein Vater noch gelebt. Eine warme Erinnerung kam in ihm hoch, aber er verdrängte sie sofort. Gerade im Moment schien es nicht sonderlich sinnvoll, gedanklich in der Vergangenheit zu hängen. Besonders, weil diese so viel besser gewesen war. „Und hast du?“, hakte Lana nach, als er in die Küche zurückkehrte. „Ja, ich habe schon einmal Sandwiches gemacht, aber nein, diese hier nicht“, gestand Kaiba widerwillig ein und das auch nur, weil Lana bereit schien, ewig weiternachzufragen. Er setzte sich an den bereits gedeckten Tisch und wartete auf den Kaffee. Kaum dass Lana ihm eingeschenkt hatte, trank er schon den ersten Schluck. „Und?“, fragte sie. „Annehmbar?“ „Ja, aber es gibt besseren.“ „Tatsächlich“, bemerkte sie ironisch, dann seufzte sie. „Wenn dein bevorzugter Kaffee nicht allzu teuer ist, holen wir uns den am besten ins Haus. Ich habe das Gefühl, dass du morgens nicht besonders genießbar bist, wenn du keinen guten Kaffee bekommst.“ Kaiba lächelte grimmig. Ganz Unrecht hatte sie nicht. Seine morgendliche Stimmung hing ein wenig vom Kaffee ab. In der nächsten Zeit würde er jedoch mit ihrem auskommen müssen. „Wenn ich mich in deinem Appartement umsehe, ist der Preis nicht das Problem“, erklärte Kaiba. „Allerdings ist es eine sehr exklusive Marke und du stehst besser nicht auf der Liste der Konsumenten, wenn mein Bruder auf die Idee kommt, diese zu überprüfen.“ „Das traust du ihm zu?“, fragte Lana ungläubig. Kaiba nickte nur und biss in ein Sandwiches. Wenn Mokuba eine längere Zeit nicht wusste, wo er sich aufhielt, würde er wahrscheinlich nach jedem Strohhalm greifen, der ihm helfen konnte. Dann wäre der Kaffee noch naheliegend. „Okay. Ich glaube, du klärst mich am besten mal über die ganze Situation auf“, verlangte die junge Frau. „Ich will wissen, womit ich es zu tun habe.“ Er hatte gewusst, dass das passieren würde. Es war ein logischer Schluss. Lana hätte bescheuert sein müssen, wenn sie nicht gefragt hätte. Dennoch behagte es ihm nicht. Es war demütigend, von dieser Schmach zu berichten. Er würde jedoch nicht darum herum kommen. „Während meiner letzten Amerikareise hat mein Bruder mich enteignet und mich bei meiner Rückkehr vor vollendete Tatsachen gestellt. Rechtlich scheint alles abgesichert zu sein. Ich habe eine Gefälligkeit genutzt, um unbemerkt aus Japan auszureisen. Ich nehme an, dass mein Bruder alle ihm zur Verfügungen stehenden Möglichkeiten ausschöpfen wird, um mich zu finden, da er zu Recht eine feindliche Übernahme der KC durch mich fürchtet. Abgesehen von dir, wissen bisher nur Duke Devlin und seine Verlobte, sowie der Sicherheitschef des JFK Airports, dass ich mich in Amerika aufhalte.“ Zumindest war die Liste so „kurz“, wenn ihn nicht jemand auf der Straße erkannt hatte. Davon ging er jedoch nicht aus. In den Kreisen, in den man ihn kannte, hatte sich die Nachricht seiner Enteignung sicherlich wie ein Lauffeuer verbreitet und man hätte ihn angesprochen. „Warum hat dein Bruder dich enteignet?“, fragte Lana. Eine gute Frage. Wichtige Frage für sie, wichtige Frage für ihn. Nur dumm, dass er die wirkliche Antwort nicht zu kennen schien. „Er ist der Meinung, ich hätte ihn in der letzten Zeit zu sehr vernachlässigt“, sagte Kaiba widerwillig. Sein Gegenüber runzelte die Stirn, war aber klug genug, nicht zu fragen, ob er das getan hatte. Er gestand es sich nicht gerne ein, aber er hatte in den letzten Monaten tatsächlich wenig Zeit für Mokuba gehabt. Allerdings sah er darin noch lange keine Begründung, ihn zu enteignen. Bisher hatte Mokuba immer einen anderen Weg gefunden, seine Aufmerksam zu bekommen. Er wusste nicht, was dieses Mal anders gewesen sein sollte. „Was ist jetzt dein Plan?“, wollte Lana wissen. Ich habe keinen Plan, dachte Kaiba missmutig, allerdings würde er das so niemals zugeben. „Ich werde mir meine Firma zurückholen. Dazu muss ich an Geld kommen, was unter den derzeitigen Bedingungen schwierig ist.“ „Wie viel Geld?“ „Fürs erste acht Millionen“, antwortete er automatisch. Das war in etwa die Summe, die er für das Projekt mit Devlin brauchte. „Tja, passe. Soviel hab ich nicht.“ Sie hätte ihn unterstützen wollen?! Damit hatte Kaiba nicht gerechnet. Es stand zu viel auf dem Spiel, als dass man sein Geld leichtfertig investieren sollte. Lana kicherte. „Du brauchst gar nicht ungläubig eine Augenbraue zu heben. Wenn mich mein Vater etwas gelehrt hat, dann einen gesunden Geschäftssinn und wie man mit Geld umgeht. Wenn ich das Kapital gehabt hätte, hätte ich mir schon noch genügend Informationen über das Geschäft eingeholt. Auch wenn das vielleicht nicht nötig gewesen wäre, denn, was du anfasst, endet normalerweise mit guten Gewinnen, Seto.“ Na prima. Nun ließ ihn auch noch seine Mimik im Stich. Er brauchte dringend einen Plan und er musste schlafen, sonst würde er bald völlig die Kontrolle verlieren. „Wo wir gerade dabei sind, alles zu besprechen, können wir ja auch gleich klären, inwiefern du dich am Haushalt beteiligst“, sagte Lana und das in einem Tonfall, der Kaiba bevorzugte Variante – nämlich überhaupt nicht – von vornherein ausschloss. „Ich höre“, sagte er und versuchte seinen Unwillen zu verbergen. Wie tief war er gesunken, dass er sich um den Haushalt kümmern musste? Das hatte in seinem ganzen Leben noch nie getan. „Du beteiligst dich am Einkauf und an der Wäsche und räumst hin und wieder den Geschirrspüler aus“, zählte Lana auf und es klang nicht danach, dass es in irgendeiner Form verhandelbar war. „Du willst, dass ich die Wäsche mache?“, echote Kaiba und fand keine passende Beschreibung für seinen Tonfall. Ungläubig. Entsetzt. Empört. Irgendeine konfuse Mischung daraus. „Nein, ich will, dass du die Wäsche zum Trocknen aufhängst. So verrückt, dass ich das Schicksal meiner Klamotten in die Hände eines unmotivierten Mannes lege, bin ich nicht.“ Lana blickte Kaiba abwartend an. Mit ihr zu verhandeln war unangenehm. Zu einer Verhandlung kam es nicht im eigentlichen Sinne. Zumindest dann nicht, wenn sie die Oberhand hatte. Sie war stur und wenn man ihren Vorschlag nicht annehmen wollte, musste man ihr entweder etwas anbieten, dass ihr ebenso gefiel oder man kam gar nicht mit ihr überein. Beides stand im Moment nicht zur Option. Er hatte keine Grundlage, auf der er argumentieren konnte. Eine Gefälligkeit war nichts worauf er sich berufen konnte. Wenn es drauf ankam, hätte er das Nachsehen. Lana wusste das. Sie war alles andere als dumm. Er würde wohl keine andere Wahl haben, als darauf einzugehen. Unwillkürlich schloss Kaiba die Augen. Gibt es denn keine andere Möglichkeit?, fragte er sich in einer seltsamen Mischung aus Verärgerung und Resignation. In was für einen Mist war er da nur manövriert worden? Sein Kopf war leergefegt. Ihm fiel nichts ein. „Einverstanden“, sagte er schließlich, „unter der Bedingung, dass ich dein Wort habe, dass sich diese Pflichten während meines Aufenthalts nicht verändern.“ Zumindest konnte er noch versuchen, den Schaden zu begrenzen. Wenn er es recht bedachte, war er seit der Enteignung nur noch in der Reaktion. Ständig musste er auf die Gegebenheiten reagieren, kontrollieren tat er schon länger nichts mehr. Eine wirklich unkomfortable Situation. Lana hob eine Augenbrahe, runzelte die Stirn und lächelte. „Abgemacht!“, stimmte sie zu und reichte ihm die Hand. „Willst du das schriftlich haben?“ Kaiba meinte zwar in ihrer Stimme einen leicht ironischen Unterton auszumachen, aber darauf nahm er keine Rücksicht: „Allerdings.“ Wenn Lana irritiert war, ließ sie es sich nicht ansehen. „Okay. Dann setz ich nach dem Frühstück etwas Entsprechendes auf.“ Kaiba widersprach nicht. Normalerweise kümmerte er sich um Vertragstexte. Aber im Moment schien er nicht in der Lage zu sein, mit durchdachten, kniffeligen Formulierungen noch Profit aus der Sache zu schlagen. Er war alles andere als produktiv. Das restliche Frühstück verlief still. Während Lana abräumte, ließ Kaiba sich neben seiner Reisetasche auf dem Sofa nieder. Kurz spielte er mit dem Gedanken, seinen Laptop auszupacken. Allerdings fiel ihm im Moment keine nützliche Verwendung für das Gerät ein. Noch immer hatte er keinen Plan oder zumindest eine vage Idee. Also holte er seinen Notizblock und einen Stift heraus. Das würde reichen, um grobe Ideen zu skizzieren. Wenig später lagen Block und Stift neben der Reisetasche auf dem Boden und Seto Kaiba dösend ausgestreckt auf dem Sofa. Die physische und psychische Belastung der letzten Tage forderte ihren Tribut. *** Ein warmer Finger, der über seine Wange strich, holte ihn aus seinen Dämmerschlaf. Für einen angenehmen Moment wusste er weder wo er war noch was passiert war. Die Erinnerung traf ihn wie ein Schlag und plötzlich war er wieder hellwach. „Was ist?“, brummte er unfreundlich, während er die Augen öffnete. Sie beugte sich über ihn und lächelte zufrieden. Als er sich auf den Rücken drehte, um seinen verspannten Körper besser unauffällig strecken zu können, ließ sie sich auf seiner Hüfte nieder. Fragend hob er eine Augenbraue. Was führt sie im Schilde?, fragte er sich skeptisch. „Was du machst, machst du gründlich, hm?“, meinte Lana neckend. „Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass das auch fürs Verdrängen gilt.“ „Worauf willst du hinaus?“, fragte er lauernd. Er hatte keine Ahnung, worum es ging, aber es klang eindeutig nach einer Beleidigung. „Stichwort Mietvertrag“, sagte sie und wedelte mit ein paar Blättern vor seiner Nase herum. Kurz dachte er, dass sie einen Vertrag über seinen Aufenthalt in ihrer Wohnung aufgesetzt hatte, jedoch erkannte er das Dokument bei näherem hinsehen als ihren Mietvertrag. „Klingelt da was?“ Kaiba hob abermals eine Augenbraue. Was hatte ihr Mietvertrag mit der jetzigen Situation zu tun? Er sah keinen Zusammenhang, konnte aber das ungute Gefühl nicht abschütteln, etwas zu übersehen. „Anscheinend nicht!“, stellte Lana grinsend fest. Sie schien es außerordentlich zu genießen, mehr zu wissen als er. „Dann werd ich dir wohl auf die Sprünge helfen müssen. Du hast dich damals sehr über die Unnachgiebigkeit des Vermittlers geärgert, der den Vertrag partout nicht so aufsetzen wollte, wie du es gern gehabt hättest.“ Kaiba hatte Probleme den Impuls zu unterdrücken, sich mit der Hand an den Kopf zu schlagen. Wie hatte er das nur übersehen können?! Das änderte seine Situation gegenüber Lana vollkommen. Verdammt. Jetzt hatte er den Fehler schon gemacht. „Die Umkehrung der Vertragslage in Teilen“, brachte er schließlich hervor und hatte Mühe seinen Ärger unter Kontrolle zu halten. „Allerdings. Und du hast dich damals noch darüber lustig gemacht und gesagt, diese Inkompetenz würdest so schnell wie möglich aus deinem Gedächtnis streichen“, kicherte Lana vergnügt. Zum ersten Mal verfluchte Kaiba sein Geschick darin, Geschehnisse zu verdrängen. Wenn er das vorher gewusst hätte, müsste er sich jetzt vielleicht nicht im Haushalt beteiligen. Allerdings konnte er es in dieser Situation versuchen, noch mal mit ihr zu diskutieren. Im Grunde sollte er sich nicht ärgern. Die Vertragslage war durchweg positiv. Schließlich konnte sie ihn nicht rauswerfen oder Miete verlangen. Ebenso wenig wie er das gekonnt hatte, als ihm die Wohnung noch gehört hatte. Umkehrung der Vertragslage in Teilen, dachte er spöttisch und unterdrückte den Impuls, den Kopf zu schütteln. Nun kam es ihm tatsächlich zu Gute, dass der Makler der Wohnung auf seine seltsame Methode bestanden hatte. Der Kauf der Wohnung hatte damals für Probleme gesorgt. Schließlich musste Kaiba der Eigentümer des Appartements sein, da Lana noch nicht volljährig war und Pegasus sie ihr auch nicht wegnehmen können sollte. Lana wollte allerdings eine Sicherheit haben, dass Kaiba sie nicht aus der Wohnung warf bis sie sie besitzen durfte. Deshalb hatte er ihr ein Wohnrecht eingeräumt. Damit die Abwicklung nach Lana 21. Geburtstags reibungslos verlief, hatte Kaiba sich verschiedenen Klauseln überlegt, der Makler hatte allerdings auf diese Umkehrung bestanden. Nun war Lana die Eigentümerin und Kaiba derjenige mit dem Wohnrecht. Warum hat sie mich daran erinnert?, fragte sich Kaiba. Sie war absolut im Vorteil gewesen. Warum hatte sie diesen aufgegeben? „Das war strategisch unklug von dir“, sagte er, aber Lana beugte sich nur schelmisch lächelnd zu ihm herunter. „Kann schon sein“, murmelte sie gegen seine Lippen und ihre Hände fuhren unter seine Shirts, „aber ich mag es nicht, wenn du zahm bist. Das passt nicht zu dir!“ Ehe Kaiba antworten konnte, küsste sie ihn. Er genoss das warme Gefühl und sein Körper entspannte sich merklich. Nur zu gerne, erwiderte er den Kuss, der langsam stürmischer wurde. Das war eine willkommende Abwechslung zu den letzten Stunden. Kapitel 8: Abschalten und Ideen finden -------------------------------------- Abschalten und Ideen finden „Du döst ja schon wieder!“, sagte Lana und piekte Kaiba vorwurfsvoll in die Seite. „So wirst du deinen Jetlag nie los.“ „Das ist meine Sache“, grummelte Kaiba genervt. Er musste schlafen. Er musste Kraft sammeln. Damit er endlich wieder richtig denken konnte. Was interessierte es ihn, wie viel Uhr es war? Er hatte keinen festen Job und keine getimten Verpflichtungen. Sollte sich sein Schlafrhythmus doch Stück für Stück der Zeitzone anpassen, ihn tangierte es nicht im Mindesten, was die Menschen um ihn herum taten, solange sie ihn nicht belästigten. Noch vor wenigen Tagen hätte sich Kaiba eine solche Einstellung nicht erlaubt. Aber vor wenigen Tagen war seine Situation auch eine gänzlich andere gewesen. Bisher hatte er seinem Körper bei entscheidenden Problemlagen solange keine Ruhepause gegönnt, bis die Schwierigkeiten beseitigt waren. In diesem Fall handelte es sich mehr um eine geistige Müdigkeit. Er konnte nicht richtig denken. Vielleicht wollte er es momentan auch einfach nicht. „Na los, komm schon. Wir gehen Essen. Nicht weit von hier entfernt ist ein prima Chinese!“, erklärte Lana mit Begeisterung. „Ich hab keinen Hunger“, murmelte er dämmrig. Gelogen war es nicht. Aber vordergründig wollte er schlafen. Einmal ganz davon abgesehen, dass er nicht vorhatte, sich in der nächsten Zeit in einem Restaurant blicken zu lassen. Generell würde er die Öffentlichkeit meiden. Wer wusste schon, welche Hebel sein Bruder in Bewegung setzte? Wenn er die Wohnung nicht unbedingt verlassen musste, würde er es nicht tun. Er hatte ja nicht einmal die richtige Kleidung dazu. Lana seufzte und die Bettdecke raschelte neben ihm, als sie sich erhob. „Ich seh‘ schon: Du willst schlafen!“, sagte sie, während sie ihren Kleiderschrank öffnete. Kurz darauf hörte er Stoff übereinander streichen. „Dann lass ich dich mal in Ruhe. Ich geh Essen und erledige danach noch ein paar Besorgungen. Brauchst du etwas?“ Er brauchte eine Menge. Zum Beispiel Geld. Dennoch lautete seine Antwort schlicht „Nein.“ „Okay. Dann bis später!“, mit den Worten war sie verschwunden und es kehrte Ruhe ein. Auch wenn er das in einer Stadt wie New York für unmöglich gehalten hatte. Lana schien sich eine gute Wohnung ausgesucht zu haben. Es war still. In einem Maß, wie es Kaiba nicht mehr erlebt hatte, seitdem er zu seiner Geschäftsreise aufgebrochen war. Er schloss die Augen und es fühlte sich gut an. In diesem Moment hatte er keine Sorgen, die akut seiner Aufmerksamkeit bedurften. Er hatte ein Dach über dem Kopf und seine Grundversorgung war gesichert. Warum sollte er also nicht schlafen? Um das Geldproblem kann ich mich immer noch kümmern, wenn ich mich erst einmal ausgeschlafen habe, dachte Kaiba schläfrig, rollte sich auf die Seite und zog sich die warme Decke bis zum Kinn. *** Das Schlaf nicht das einzige war, das ihm momentan fehlte, wurde ihm bewusst, als er am späten Abend – nachdem er wiederholt mit Lana geschlafen hatte – hellwach im Bett lag und es in seinem Kopf immer noch nicht geregelt ablief. Kaum dass er einen Gedanken gefasst hatte, entglitt er ihm schon wieder. Unbewusst seufzte er frustriert. Darauf begann Lana sich an seiner Brust zu bewegen. Eine Hand strich über seinen Oberkörper, die andere schob sich knapp unter sein Schlüsselbein, um als Stütze für ihr Kinn zu dienen. Ihre braunen Augen blickten ungewöhnlich sanft zu ihm auf. „Du verlangst zu viel auf einmal von dir!“ „Was weißt du schon?!“, blaffte er. Das letzte, was er jetzt wollte, war, über seine demütigende Situation zu sprechen. „Ja, was weiß ich schon“, murmelte sie seufzend. Sie klang beinahe gekränkt, aber nach dem sich ihr Blick kurz in die Ferne gerichtet hatte, funkelten ihre Augen wieder herausfordernd. „Tja, wenn du nicht den halben Tag geschlafen hättest, wüsstest du das jetzt schon etwas besser.“ Kaiba war sich bewusst, dass sie nur darauf wartete, dass er nachfragte oder ihr zumindest die Möglichkeit lieferte, ihn mit einer unbedeutenden Unwissenheit aufzuziehen. Doch den Gefallen tat er ihr nicht. Generell wurde ihm die Möglichkeit genommen, darauf zu reagieren. Ein Telefon klingelte und Lana stieß ein tiefes Seufzen aus. Wahrscheinlich hatte sie diesem Klingelton einer bestimmten Person zu geordnet. „Das ist mein Vater und ich hab schon zwei seiner Anrufe ignoriert. Noch einen und ich muss glatt damit rechnen, dass er jemanden vorbeischickt, um nach mir zu sehen. Gib mir mal bitte mein Handy rüber.“ Als Kaiba nur unbeteiligt eine Augenbraue hob, boxte sie ihm leicht in die Seite und beugte sich über ihn, um auf dem Nachttisch nach ihrem Mobiltelefon zu fingern. „Hallo Max“, murmelte sie, kuschelte sich geräuschvoll an seine Brust und ließ sich auch nicht von seinem ablehnenden Blick abschrecken. Sie lag so nah bei ihm – wobei auf ihm, es eher traf –, dass er mühelos Pegasus Stimme verstand. „Good Evening, Lana my dear. Hast du schon geschlafen?“ „Das kommt ganz darauf an, wie du ‚geschlafen‘ definierst“, antwortete Lana zufrieden grinsend und einer ihrer Finger strich vergnügt über Kaibas linkes Schlüsselbein. Toll. Wie es aussah, musste er jetzt auch noch dazu herhalten, den Kleinkrieg mit ihrem Vater anzustacheln. Obwohl er daran normalerweise immer seinen Spaß hatte, widerstrebte es ihm nun, da der Unternehmer noch wichtig für ihn werden konnte. Wobei … Solange Pegasus nicht erfuhr, dass er, Kaiba, es war, der hier bei seiner Tochter im Bett lag. Warum sollte sie sich nicht den Spaß erlauben? „Lana“, brauste Pegasus prompt empört auf, bemühte sich dann allerdings um Ruhe. „Wer ist er?“ „Ein Freund, der unglaublich viele Qualitäten hat“, erwiderte sie verträumt und küsste Kaiba auf seine zu einem hämischen Grinsen verzogenen Lippen. „Kenn ich ihn?“, fragte Pegasus weiterhing um Fassung ringend. „Tja, wie du einmal sagtest, habe ich absolut keine Ahnung von den Ausmaßen deiner Kontakte“, sagte Lana zuckersüß. Sie hatte sicherlich Spaß daran, ihren Vater mit seinen eigenen Aussagen in die Schranken zu weisen. Zudem log sie so noch nicht einmal. „Gibt ihn mir mal!“ Aufgrund dieser Forderung brach sie in schallendes Gelächter aus. „Warum sollte ich das tun? Du drohst ihm ja doch nur.“ „Ist es etwas Ernstes, Lana my dear?“, fragte der Geschäftsmann seufzend. Lana legte nachdenklich den Kopf auf die Seite. Was gab es denn da zu überlegen? Kaiba schüttelte leicht den Kopf, um ihr zu verstehen zu geben, wie sie zu antworten hatte. Das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war Pegasus, der seine Leute beauftragte seiner Tochter und ihm hinter zu schnüffeln. „Sollte es das jemals werden, bist du der erste, der davon erfährt“, versicherte sie ihm schließlich ernst. Eine kluge Antwort, dachte Kaiba. Auf der einen Seite bediente sie damit das Vertrauensverhältnis zwischen ihnen, das minimal, aber dennoch vorhanden war, und auf der anderen Seite wies sie darauf hin, dass es im Moment nichts Ernstes und es deshalb unsinnig war, diesen Jemand herauszufinden, da er eh nur einer unter vielen war. Kaiba schätzte Pegasus durchaus so ein, dass ihm inzwischen bewusst geworden war, dass jeder Widerspruch und jede Beschattung nur dazu führen würde, dass Lana sich noch weiter gegen ihn auflehnt – was in diesem Fall bedeutet hätte, dass sie ein Kurzzeitverhältnis nach dem anderen eingegangen wäre. Und das war überhaupt nicht in Pegasus Sinn. Abermals war ein Seufzen am anderen Ende der Leitung zu vernehmen. „All right“, sagte Pegasus und ließ das Thema damit auf sich beruhen. „Ich rufe an, weil ich einen Termin für deinen Besuch vereinbaren möchte. Wie du vielleicht mitbekommen hast, wurde Seto Kaiba von seinem Bruder Mokuba enteignet und dadurch werden die nächsten Wochen und Monate wohl turbulenter werden als erwartet. Wenn du schon kommst, dann möchte ich auch Zeit für dich haben. Wenn wir jetzt etwas abmachen, dann kann ich meine Termine größtenteils anders legen.“ „Ja, ich hab davon gehört“, sagte Lana und warf Kaiba einen vorsichtigen Blick zu. „Vielleicht sollten wir solange warten bis sich die Wogen wieder etwas geglättet haben. Ich habe meinen Terminplaner gerade nicht zur Hand und im Januar und Februar liegen einige kleinere Projekte von denen ich im Moment nicht weiß, wann genau und wie umfangreich sie sind. Das müsste ich im Büro noch einmal abklären. Aber was hältst du grob von dem Zeitraum Ende Februar Anfang März? Da ist die Wahrscheinlichkeit auch wesentlich geringer, dass ein Schneetreiben die Reise verzögert.“ „Ja, der Zeitraum ist in Ordnung. Wobei mir Anfang März sogar noch lieber wäre. Meldest du dich am Montag, nachdem du deinen Terminkalender eingesehen und mit deinen Kollegen Rücksprache gehalten hast?“ „Ja, mach ich.“ „Wonderful. Good Night, my dear. Dream well!” „Gute Nacht, Max. Und arbeite nicht mehr so viel.“ „Das werde ich. Bis Montag.“ „Bis Montag“, murmelte Lana, beendete das Gespräch und schob das Handy wieder auf den Nachttisch. Sie seufzte. „Ich versuche mich im Frühjahr und Sommer ab und an mal bei ihm blicken zu lassen, damit er nicht erwartet, dass ich im Herbst zu seinem Geburtstag komme. Ich hasse die Gesellschaft, mit der er sich umgibt und es würde doch nur wieder in einer Katastrophe enden. Insofern ist es wohl in Max und meinem Sinne, wenn ich wann anders vorbeikomme.“ Kaiba war versucht zu sagen „Was interessiert mich das?!“, aber sie würde nur auf den Morgen verweisen, an dem er noch nach ihrem Verhältnis zu Pegasus gefragt hatte. Demzufolge war es keine gute Idee. Dafür hatte er eine andere. „Ich habe bis vor kurzem zu dieser Gesellschaft gehört und dennoch hast du gerade behauptet, ich hätte unglaublich vielen Qualitäten!“, zog er den Widerspruch ihrer eigenen Aussagen heran. Den Widerwille über seine neue Situation zu sprechen, drängte er in den Hintergrund. „Es ist ganz besonders eine Qualität, die dich von den anderen unterscheidet. Es ist Ehrlichkeit“, antwortete Lana matt lächelnd und strich ihm eine wirre Haarsträhne aus dem Gesicht. Kaiba hob eine Augenbraue. Das war absurd. Ihre Einstellung zu Ehrlichkeit konnte er zwar verstehen. Sie war in einer Schicht aufgewachsen, in der die „Gute Miene zum bösen Spiel“ auf der Tagesordnung stand und die Verlogenheit der Gesellschaft ihres Vaters hatte sie schnell abstoßend, vielleicht auch verletzend gefunden. Vielmehr war es absurd, dass sie ihn als ehrlich bezeichnete, wo ihre gesamte Beziehung doch darauf aufbaute, dass er sie damals belogen hatte, um sie zu benutzen. Lana legte ihm einen Finger auf die Lippen, so als kenne sie seine Gedanken schon. „Du kannst sagen, was du willst. Seto Kaiba war immer ehrlich zu mir. Nicht nett oder beschönigend, sondern immer knallhart ehrlich. Es mag gestört sein, dass mir so viel daran liegt, aber auf diese Weise ist es mir wesentlich lieber, als das, was ich in meiner Kindheit erlebt habe.“ „Du redest wirr“, sagte Kaiba und hatte keine Probleme folgendes zuzugeben. „Ich habe dich angelogen, mit dem Ziel dich zu benutzen. Wie kannst du da sagen, ich wäre ehrlich?“ Lana schüttelte belehrend Kopf und den erhobenen Zeigefinger. „Seto Kaiba ist zu mir gekommen und hat mir genau das gesagt. Belogen hat mich Seto Kanaka.“ Seto Kanaka. Es war lange her, dass er den Namen zum letzten Mal gehört hatte. Seto Kanaka gab es bereits seit vielen Jahren nicht mehr und es hatte ihn auch zu dem Zeitpunkt nicht mehr gegeben, als Kaiba Lana für seine Zwecke benutzen wollte. Abermals wollte er sie darauf hinweisen, dass sie Unsinn von sich gab, als ihn plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoss. Für einen Moment setzte sein Herz aus, dann riss er die Decke zurück und sprang aus dem Bett, um ins Wohnzimmer zu seiner Laptoptasche zu hasten. Kapitel 9: Entscheidende Sentimentalität ----------------------------------------- Entscheidende Sentimentalität Plötzlich lief alles in Kaibas Kopf wieder so ab, wie er es gewohnt war. Ein Gedanke wurde mit Geschehnissen kombiniert. Fragen wurden geklärt und die Antworten warfen wieder Fragen auf, die geklärt wurden. Und das alles in Rekordgeschwindigkeit. Als Kaiba seine Laptoptasche vom Boden auf das Sofa zerrte, hatte er das Grundgerüst seines Plans schon entwickelt. Es gab drei Etappen: Geld, Identität und noch mehr Geld. „Na komm schon!“, murmelte er angespannt und konnte nicht sagen, ob er damit die Gesamtsituation oder die lederne Deckbox meinte, die sich seinen Bewegungen widersetzte. Wahrscheinlich eher letztere. Schließlich wusste er, dass die Karte dort drin sein musste. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie herausgenommen zu haben. Den Gürtel hatte er schon aus den Laschen gerissen, sein Deck war für seine Verhältnisse nachlässig auf dem Couchtisch gelandet. Nun fingerte er an der Rückwand der Tasche herum, um das Geheimfach zu öffnen, das sich darin befand. Nachdem es ihm endlich gelungen war, zog er umständlich einen kleinen Zettel und eine Plastikkarte hervor. Seto Kanaka stand auf der EC-Karte und als er den Zettel entfaltete, erkannte er die PIN und das aktuelle Guthaben. Wusste ich es doch, triumphierte Kaiba zufrieden. So wie es aussah waren auf dem Konto zwar nur läppische 1.500$, aber insgesamt hatte er dann etwa 7.000$. Was für seine Verhältnisse immer noch ein Fliegenschiss war und für seine Zwecke keine Basis. Aber dafür hatte er eh schon eine andere Idee. Wichtig war, dass ihm ein Konto geblieben war. „Auch wenn ich den Anblick sehr genieße, zieh dir was über“, sagte Lana, die sich in einen Morgenmantel geschlungen hatte, und warf ihm seine Shorts und seinen Pullover zu. „Die Nachtabsenkung der Heizung ist an und ich habe keinen Bock, dich zu pflegen, wenn du krank wirst. Also zieh was an und werd gar nicht erst krank.“ Kaiba lag schon ein bissiger Widerspruch auf der Zunge, weil er sich von so einem Kinderkram nicht aufhalten lassen wollte. Jedoch bemerkte er, als sie sprach, wie kühl es war. In seiner Situation auch noch krank zu werden, konnte er sich nicht erlauben, deshalb schlüpfte er in seine Kleidung und gab eine andere spöttische Bemerkung ab. „Eine energiebewusste Amerikanerin. Hat noch niemand einen Ausbürgerungsantrag gestellt?!“ „Tja, das überrascht dich, was?“, schoss Lana zurück, während sie sich auf die Couch ihm gegenüber sinken ließ. „Erzähl mir mal, was ich so beängstigendes gesagt habe, sodass du fluchtartig das Bett verlassen hast?“ Kaiba verdrehte kurz die Augen und ignorierte sie. Er legte die EC-Karte auf den Tisch und holte seinen Notizblock hervor. Dieses Mal konnte er auch etwas aufschreiben. Eine Menge sogar. „Du hast eine EC-Karte auf einen falsche Namen“, sagte Lana und Kaiba erkannte aus dem Augenwinkel, dass sie sich die Karte genommen hatte. „Warum hast du die denn damals nicht benutzt? Wie viel ist denn auf dem Konto, dass du dich so freust?“ Unerwarteter Weise versetzte ihm die Betitelung „falscher Name“ einen Stich. Vielleicht hatte er – irgendwo tief in sich selbst – immer noch nicht aufgehört, Seto Kanaka zu sein. „Das ist mein Familienname“, antwortete Kaiba automatisch. „Ich wusste gar nicht mehr, dass ich sie habe. Der Kontostand ist gering.“ Inzwischen erinnerte er sich wieder sehr genau daran, wie er dazu gekommen war. Sentimentalität. Reine Sentimentalität. Kurz nachdem die Firma sein Eigentum geworden war, hatte er das Konto eröffnet. Ein Teil des Beweises dafür, dass Seto Kanaka sein Ziel erreicht hatte und der Chef einer großen Spielefirma war. Nach dem Tod seines Vaters hatte er sich das geschworen. Ein Schwur der auf einem Versprechen beruhte, dass er seinem Vater einmal gegeben hatte. Das Konto sollte dem Zweck dienen, darauf sein Erbe zu sammeln, um das seine Verwandtschaft ihn betrogen hatte. Dazu war es bisher nicht gekommen. Er hatte schnell einsehen müssen, dass sein neuer Posten genug Arbeit mit sich brachte und er dafür keine Zeit hatte. Davon einmal abgesehen hatte er das Erbe nicht benötigt. Es war wichtiger gewesen, dass die Firma gut lief, denn damit finanzierte er Mokubas und seine Zukunft. Außerdem war der Aufbau des Geschäftsimperiums sein Werk gewesen und dies hatte nicht unter anderen Aktivitäten leiden dürfen. Bald würde Kaiba es nachholen. Von jedem Teil seiner Verwandtschaft, der ihn um sein Erbe betrogen hatte, würde er sich sein Geld holen. Er konnte nicht genau abschätzen, wie viel das sein würde. Zwar wusste er, dass sein Vater ein reicher und erfolgreicher Mann gewesen war, aber wie viel das Vermögen betrug, war für ihn nie interessant gewesen. Als Kind hatte es ihm an nichts gemangelt. „Was bringt dir die Karte dann?“, fragte Lana, nachdem sie einen Moment nachgedacht hatte. „Ich habe ein Konto auf einen Namen, den Mokuba sicherlich nicht bedenkt. Er hat all meine Konten gesperrt, aber ich benötige eins. Wenn ich in den nächsten Tagen eines eröffnen wollte, müsste ich das auf den Namen ‚Seto Kaiba‘ tun. Das wird Mokuba überwachen lassen und somit wüsste er, wo ich mich aufhalte“, erklärte Kaiba. „Klingt einleuchtet“, sagte Lana, schränkte dann aber ein: „Hältst du es für sinnvoll, mit einer EC-Karte herumzulaufen, auf der ein anderer Namen steht, als in deinen Papieren?“ Ein berechtigter Einwand, dachte Kaiba, das könnte tatsächlich zu einem Problem werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass er in der nächsten Zeit in eine Polizeikontrolle geriet, war zwar extrem gering, aber darauf ankommen lassen, sollte er es vielleicht nicht. Abgesehen von den rechtlichen Schritten, die man wegen Diebstahls gegen ihn einleiten konnte, würde Mokuba so sicherlich von der Identität erfahren, unter der er vorhatte zu leben. „Wenn ich nicht gerade Geld abheben oder einzahlen will, dann lass ich die Karte eben hier“, sagte er und tat die Sache mit einem Schulterzucken ab. „Lange wird es so oder so nicht dauern, bis ich meine Papiere habe.“ Lana klappte der Mund auf. „Du willst dir Papiere fälschen lassen?“, fragte sie fassungslos. „Dann bist du besser dran, wenn sie dich mit einer angeblich gestohlenen EC-Karte erwischen.“ „Ich habe Papiere“, sagte er und fügte, bevor Lana wieder protestieren konnte, hinzu: „Absolut legal erlangt!“ Das war auch in einem Anflug von Sentimentalität geschehen. Obwohl der Auslöser ein Geschäftsparther gewesen war, der von den Vorzügen mehrerer Pässe geschwärmt hatte. Damit hatte er die Sache ins Rollen gebracht. Für Kaiba waren zwar andere Vorteile relevant gewesen, aber letztendlich hatte er eine zweite Staatsbürgerschaft auf anderen Namen haben wollen. Und das bitteschön legal. Von Illegalität hielt er nicht viel. Meistens war das Risiko einfach zu groß. Außerdem wäre es in seiner Position absolut dämlich gewesen. „Aha“, murrte Lana. „Und wie viel hast du dafür auf den Tisch gelegt?“ Langsam nervt ihn diese Fragerei. Wenn das so weiter ging, war er morgen immer noch nicht mit der Ausarbeitung seines Plans vorangekommen. „Meine Mutter war Amerikanerin“, knurrte er. „Also konnte ich die amerikanische Staatsbürgerschaft mit entsprechendem Nachweis einfach ganz legal beantragen! Und bevor du fragst: Die Papiere liegen im Safe meines New Yorker Penthouses und ja, ich werde dort einsteigen, um an sie zu gelangen. Das ist nicht diskutierbar!“ Lana seufzte. „Komm runter. Ich hab’s verstanden. Bin schon weg. Viel Spaß dabei dir die Nacht, um die Ohren zu schlagen“, sagte sie und warf eine Wolldecke von dem Sofa, auf dem sie gesessen hatte, zu ihm hinüber. „Und denk dran: Kranke Setos sind hier nicht gerne gesehen, egal, ob sie Kaiba oder Kanaka heißen“, fügte sie mit einem Grinsen hinzu. Kaiba gestattete sich ein Seufzen, als sie verschwunden war. Zurück zu meinem Plan, dachte er. Das konnte noch eine lange Nacht werden. Der erste Schritt war Geld. Dabei hatte er auf die Karte gesetzt. Allerdings war weniger auf dem Konto, als er vermutet hatte. Für den Anfang würden die 7.000$ genügen, aber lieber wäre es ihm, wenn noch 2.000-3.000$ dazukämen. Mit etwa 10.000$ sollte er für längere Zeit auskommen. Spontan fielen ihm nur Kleidung und Nahrung ein, die er von dem Geld bezahlen musste. Und Nahrung auch nur, wenn er sich in der Stadt etwas kaufte. Alles, was er bei Lana aß, würde sie übernehmen, ebenso wie die Nebenkosten. Technisch war er gut ausgerüstet. Kaufen musste er nichts, aber wenn etwas kaputt ging, könnte es teuer werden. Und für solche Eventualitäten wollte Kaiba zumindest einen kleinen Puffer haben. Noch hatte er den nicht. Allerdings fiel ihm momentan keine simple, unauffällige Möglichkeit ein, an ein wenig Geld zu kommen. Sein Erbe wollte er für die Grundversorgung nicht nutzen müssen. Kaiba machte sich eine Notiz, kleine Einnahmequellen nicht aus dem Auge zu verlieren und wendete sich danach dem zweiten Schritt – der Identität – zu. Wie er Lana gesagt hatte, lagen seine sämtlichen Papiere – Pass, Führerschein, Geburtsurkunde etc. – in seinem New Yorker Penthouse. Einerseits war es ein Glück, dass sie in Amerika waren, andererseits wäre es ihm lieber gewesen, wenn sie in einer anderen Stadt gewesen wäre. Ein Einbruch an einem Ort, in dessen Nähe er sich nicht aufhielt, wäre sicherlich besser gewesen, aber es konnte es nicht ändern. Kaiba hatte nicht vor, irgendwelche Spuren zu hinterlassen, die auf einen Einbruch hindeuteten oder darauf, dass er dort gewesen war. Aber man wusste nie so genau, was passierte. Es konnte immer etwas schief gehen und wenn es nur Kleinigkeiten waren. Das Sicherheitssystem kannte er sehr gut. Damit hatte er sich immer eingehend beschäftigt, bevor er eine Immobilie gekauft hatte. Mit seinen Informationen sollte es ihm möglich sein, sich ins System zu hacken und die Kameras in eine Schleife zu legen. Natürlich musste er sein Wissen absichern und die Dienstpläne des Sicherheitspersonals wären auch von Nutzen, aber das war alles machbar. Ebenso hatte er noch die Schlüsselkarte für das Penthouse im Portemonnaie. Seine eigene Karte würde er nicht benutzen, das wäre ein zu eindeutiger Hinweis auf seine Person, aber mit den Daten konnte er den Generalcode entschlüsseln. Mit dem eigentlichen Einbruch würde er noch etwas warten, da niemand diesen in Zusammenhang mit seinem „Verschwinden“ bringen sollte. Mit seinen Vorbereitungen konnte er allerdings in den nächsten Tagen beginnen. Wodurch er wieder an die Zeitzone gebunden war. Schliche er nachts um den Block, in dem sich das Penthouse befand, würde er nur auffallen. Also tue ich doch gut daran, meinen Jetlag schnell zu überwinden, schlussfolgerte Kaiba und warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon ein Uhr. Er beendete seine Arbeit. Viel mehr konnte er im Moment eh nicht tun. Herauszufinden, welche Teile seiner Verwandtschaft, ihm wie viel Geld schuldeten, war nicht einfach. Aber der Abschnitt seines Plans hatte noch Zeit. Im Moment musste er sich auf andere Dinge konzentrieren. Im Grunde wusste er auch schon, wie er an die Informationen kommen konnte. Das Gefühl, das er bei dem Gedanken hatte, behagte ihm nicht. Allerdings wusste er nach diesem Tag, dass er immer wieder sentimentale Phasen gehabt hatte. Warum sollten sie mit dieser Erkenntnis aufhören aufzutreten? Die nächste kam bestimmt. Irgendwann … in absehbarer Zeit. Dann würde er sicherlich von selbst über seinen Schatten springen. Kapitel 10: Erste Lektionen --------------------------- Erste Lektionen Was tue ich hier nur? Diese Frage stellte sich Kaiba an diesem Vormittag nicht zum ersten Mal. Er musste noch nicht ganz wach gewesen sein, als er zustimme, Lana mit zum Einkaufen zu nehmen. Auf den ersten Blick hatte er nur die Vorteile gesehen. Sie kannte sich in New York aus. Welche U-Bahn fuhr wann wohin? Wo konnte man relativ günstig einkaufen? In welcher Lokalität wurde er mit hoher Wahrscheinlichkeit beim Essen gehen nicht erkannt? Das waren lauter nützliche Dinge, von denen er sich eine große Zeitersparnis erhofft hatte. Aber im Grunde hätte ihm sofort klar sein müssen, worauf er sich einließ. Eine Kombination, die so selbstverständlich war, dass man sie kaum noch als solche bezeichnen konnte, hätte gereicht. Lana war eine Frau. Also wurde aus „Einkaufen mit Lana“ ganz schnell „Einkaufen mit Frau“. Und kein Mann, der noch bei Sinnen war, würde sich jemals freiwillig darauf einlassen. Demzufolge konnte er nicht wach gewesen sein, als er diese Entscheidung getroffen hatte. Als es darum gegangen war, Kleidung für ihn zu kaufen, war die Situation gerade noch zu ertragen gewesen. Lanas Geschmack war in Ordnung. Nicht das, was er normalerweise bevorzugte, aber mit ihrer Argumentation, er müsse seinen Stil verändern, traf sie genau Kaibas eigenen Gedanken. Was blieb ihm schon anderes übrig, wenn er unerkannt bleiben wollte? In seinem momentanen Outfit erkannte er selbst sich kaum wieder. Jeans im Used Look, schwarze Mütze und Schal, weiße Jacke mit braunen, blauen und grauen horizontalen und vertikalen Streifen, Kapuze mit Felleinsatz. Das war unter normalen Umständen nun wirklich nicht sein Stil. Dazu trug er wieder die Brille und Lana hatte seine Haare, wie sie es nannte, verwuschelt. Diese Kleidung hatte Lana ihm in weiser Voraussicht schon gestern mitgebracht. In seinen Sachen hätte er wieder erbärmlich gefroren. Wie gesagt, es war nicht sein Stil und somit war es gewöhnungsbedürftig, aber schlecht sah es nicht aus. So gesehen war es gar keine so miese Idee gewesen, Lana mitzunehmen. So gesehen, dachte Kaiba missmutig und lehnte sich an die Wand neben der Umkleidekabine. Seine Tüten standen zu seinen Füßen. Die Anzahl ließ nicht auf die Menge schließen, die er gekauft hatte. Lana war strikte Verfechterin des „Tüte-in-Tüte“-Prinzips. Es war praktisch. So praktisch, dass Kaiba sich fragte, warum es augenscheinlich Leute gab, die – im Gegensatz zu ihm – viel und gerne einkaufen gingen, und sich dessen nicht bedienten. Vielleicht irgendwelche Freaks, die befürchten ihre neuen Sachen könnten zerknittern, dachte Kaiba spöttisch. Im nächsten Moment fragte er sich zum wiederholten Male, wie es nur so weit kommen konnte, dass ihm dermaßen langweilig war, dass er über die Einkaufsgewohnheiten anderer Leute philosophierte. Ehe er sich weitere Gedanken machen konnte, trag Lana aus der Kabine. Sie trug ein Kleid, das so knapp war, dass es in Kaibas Augen nicht einmal mehr diese Bezeichnung verdiente. Das Schildchen, das an der Seite baumelte, zeigte, dass jemand anderes ganz offensichtlich anderer Meinung war. Aber er würde für solch einen Fetzen auch keine 945$ verlangen. … Wobei, wenn es Idioten gab, die so viel dafür bezahlten … warum nicht? „Was hältst du davon?“, fragte Lana. Kaibas erste Reaktion war ein verwundertes Augenbrauenheben. Sie wollte ernsthaft seine Meinung hören?! Was mach ich nun?, fragte er sich selbst. Im Grunde war er in einer Situation, in der er nur verlieren konnte. Wenn er ihr ehrlich antwortete, würde sie ihn entweder als unwissend bezeichnen oder wäre davon so begeistert, dass sie ihm ständig in den Ohren läge, als Beratung mit ihr Einkaufen zu gehen. Wenn er keine Antwort gab, bekäme sie schlechte Laune und dieser Irrsinn zöge sich noch weiter in die Länge. Alles keine netten Aussichten. Aber im Moment war ihm wirklich nicht danach, diese Situation auszusitzen. Warum habe ich mir nur nicht die U-Bahn Pläne angesehen?!, ärgerte er sich. Im Nachhinein war man immer klüger. Er hatte nicht vor, sich noch einmal in eine vergleichbare Lage bringen zu lassen. Gut, da hatte er seine Entscheidung. Sollte sie doch später nerven, wie sie wollte. Er würde sie einfach ignorieren. Jetzt musste er diesen Zirkus schnellstmöglich hinter sich bringen. „Komm darauf an, wozu du es anziehen willst“, sagte Kaiba spöttisch. „Wenn du aussehen willst, wie eine Nutte, hast du sicherlich das richtige Kleid gefunden!“ Lana verzog das Gesicht und drehte sich vor dem Spiegel. „Ja, hast recht. Ist ziemlich kurz“, murmelte sie zustimmend und verschwand wieder in die Kabine. „Welches fand’s du besser, das rote oder das blaue?“ „Wozu brauchst du es überhaupt?“, erkundigte er sich. Bisher hatte er immer das Gefühl gehabt, dass Lana jegliche Feierlichkeiten mied, bei denen es einen Dress-Code im Sinne ihres Vaters gab. „Geburtstag von einer Freundin“, erklang es ungeduldig aus der Kabine. „Welches denn nun?“ „Das blaue“, antwortete Kaiba spontan. Das hatte eine ordentliche Länge, war nicht zu formell, aber auch nicht nachlässig. Keine zu auffällige Farbe, aber auch nicht zu fad. Davon einmal abgesehen, musste er sich eingestehen, dass Lana wirklich gut darin aussah. „Du hast Recht“, erklärte Lana wenig später, während sie sich abermals vor dem Spiegel drehte. „Das nehme ich. Und dann lass uns Essen gehen. Ich hab nen Mordshunger!“ Auf die Ansage hatte Kaiba nur gewartet. Langsam wurde er auch hungrig. Sein Körper war es zwar gewöhnt, dass er manchmal nur unregelmäßig aß, aber er bemühte sich, dies zu vermeiden. Der eigentliche Grund, warum er es nicht erwarten konnte, in einem Restaurant zu sitzen, war, dass Lana ihn dort nicht einfach wieder in ein Geschäft zerren konnte. Seine Proteste waren spärlich ausgefallen. Zum einen hatte er unter keinen Umständen auffallen wollen und zum anderen hatte er noch keinen Wohnungsschlüssel, weil Lana ihn auf die Schnelle nicht gefunden hatte. Außerdem war die Frage der unauffälligen Lokalitäten eine Frage von Insiderwissen. So sehr es ihm missfiel, er war dabei auf Lana angewiesen. Jedes Restaurant, das er kannte, konnte ihm zum Vorteil gereichen. Und um eine Liste würde er sicherlich nicht bitten. Das Lokal, das Lana sich für diesen Mittag ausgesucht hatte, war ein kleiner Italiener. Ein recht verwinkelter Raum mit vielen Nischen. Man saß für sich allein und konnte auch nicht so leicht beobachtet oder belauscht werden. Eine gute Wahl. Zumal das Essen gut und nicht übermäßig teuer war. Während Kaiba seine Penne mit Lachs und Weißweinsahnesauce aß, war er zum ersten Mal, nachdem er die Wohnung verlassen hatte, wirklich ruhig … bis Lana anfing zu sprechen. „Oh, jetzt weiß ich, was wir vergessen haben“, rief sie freudig aus. Kaiba jedoch verdreht nur die Augen und wünschte sich weit weg. Dabei hatte er gehofft, sie nur an irgendwelchen Geschäften vorbeilotsen zu müssen, in deren Schaufenstern sie etwas entdeckte, das ihr gefiel. Beim einen klaren Ziel gestaltete sich die Sache schon schwieriger. Vielleicht sollte er einfach den Wohnungsschlüssel verlangen, die nächste U-Bahn Station suchen und erst einmal sorgfältig den Netzplan studieren. „Du brauchst noch Sportklamotten“, erklärte Lana, als er nicht reagierte. „Mit den paar Sachen, die du hast, kommst du sicher nicht hin.“ Wenn du verlernt hast, wie man eine Waschmaschine bedient, sicherlich nicht, war er versucht sarkastisch zu äußern, ließ es jedoch. „Warum?“, fragte er stattdessen desinteressiert. „Ich werd nur gelegentlich Laufen gehen.“ Lana legte fragend den Kopf schief. „Ich dachte, du hättest hier in New York einen guten Lehrer für dein asiatisches Kampfgedöns gefunden?!“ Das hatte er, aber den würde er sich jetzt nicht mehr leisten können. „Wenn es dir so viel wert ist, mich ein paar Stunden mehr aus der Wohnung zu haben“, spöttelte er. „Ach ja, sorry“, murmelte sie nur. Kaiba nahm es ihr nicht übel. Er selbst vergaß manchmal kurzzeitig, dass er nur noch auf ein sehr begrenztes Budgets zugreifen konnte. Geld war eine solche Selbstverständlichkeit gewesen, dass er es bei privaten Fragen nie hatte in Betracht ziehen müssen. Jetzt brauchte er jeden Dollar. Und er hatte noch immer keine Idee, wie er auf die knappen 10.000$ kommen sollte. „Kann sein, dass das jetzt etwas naiv klingt, aber vielleicht lässt er ja mit sich reden, zum Beispiel, dass du jetzt nur einen Teil bezahlst, und wenn du wieder Geld hast den Rest. Man müsste dumm sein, wenn man glaubt, dass du nicht wieder zu Geld kommst“, warf Lana ein. „Man müsste dumm sein, um sich gegen die Kaiba Corp. zu stellen, wenn man nicht selbst ein Familiengeschäftsimperium im Rücken hat. Außerdem werde ich sicherlich nicht um einen Preisnachlass betteln“, erwiderte Kaiba scharf. Davon mal abgesehen war das Risiko viel zu groß. Wenn er scheiterte, wollte er nicht auch noch auf einem Berg von Schulden sitzen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass seine Pläne misslangen, war nicht gerade gering. Er wusste das, auch wenn er es nicht wahr haben wollte. Er war genial. Aber auf der anderen Seite standen Mokuba und die KC. Er war zu realistisch, um nicht zu wissen, dass die Tatsachen gegen ihn sprachen. Zu Geld kommen würde er zweifelsohne. Da konnte er sich aufgrund seines Erbes sehr sicher sein. Das Recht konnte ihn niemand nehmen. Nur ob er die Firma wieder übernehmen konnte, das war fraglich. Jedenfalls würde er nicht das Risiko eingehen, sich so hoch zu verschulden. Das wäre in seiner Situation dumm. Obwohl er zugeben musste, dass der Sport ihm gelegen kommen würde. Er musste ihn Form bleiben. Stärke war in seiner Lage unerlässlich. Aber so wie die Dinge im Moment lagen, hatte er nicht die Mittel für den Sport. Vielleicht sollte er sich einen anderen Lehrer suchen. Aber zumeist war Geld auch ein Barometer für Qualität. Also würde er es sicherlich bleiben lassen. Zumal er seine Energie sinnvoller verwenden konnte, als mit der Suche nach einem akzeptablen Lehrer für asiatischen Kampfsport und Kampfkunst. Plötzlich kam ihm ein anderer Gedanke. Es war länger her, dass er bei einem seiner New York Aufenthalte dort trainiert hatte. Normalerweise hatte er immer für mehrere Stunden im Voraus bezahlt. Mit Sicherheit war die letzte Zahlung noch nicht aufgebraucht. Die Frage war nur, wofür er das Geld nutzen sollte. Entweder er nahm die Unterrichtsstunden oder er ließ sich die Restsumme auszahlen. Kaiba seufzte innerlich. So verlockend es auch klang, es würde eh nur ein paar Stunden sein. Und im Moment war ihm das Geld an anderer Stelle wesentlich nützlicher. Also würde er tatsächlich in den sauren Apfel beißen und nach seinem Geld fragen müssen. Zumindest war es insofern kein Betteln, da das Geld letztendlich ihm gehörte. Als er endlich vor dem Haus stand, in dem der Lehrer lebte und arbeitete, war es bereits sieben Uhr abends. Er wusste, dass zu dieser Zeit kein Unterricht mehr standfand. Schließlich war es Samstag. Im Stockwerk der Trainingshalle brannte jedoch noch Licht und auch ansonsten hätte er sich nicht davon abhalten lassen, den Lehrer um diese Zeit noch zu stören. Nicht, nachdem es ihm so viel Zeit gekostet hatte, hierher zu kommen. Er musste sich dringend einen Stadtplan zulegen, auf dem sowohl das U-Bahn Netz als auch die Straßen eingezeichnet waren. Kaiba schlug den Weg zum Hintereingang ein. Obwohl dieser Eingang für Akio Unomi wohl eher der Haupteingang war. Zwar waren dessen Räumlichkeiten auch von der anderen Seite betretbar, aber das war anscheinend nicht gewünscht. Jedenfalls gab es – aus welchen Gründen auch immer – einen separaten Eingang. Etwas, das Kaiba nur recht war. So musste er durch keine Empfangshalle, in der ein Rezeptionist oder Nachtwächter saß. So konnte er einfach die Klingel und die Gegensprechanlange betätigen. Letzteres musste er nicht einmal, kurz nach dem er geklingelt hatte, summte der Türöffner. Seltsam, dachte Kaiba, während er eintrat, denn normalerweise wurde immer nach dem Namen und Anliegen gefragt. „Guten Abend, Kaiba-san!“, sagte Akio Unomi, während er die letzten Stufen der Treppe hinunterstieg. Er trug Trainingskleidung, sein Atem ging ein wenig schneller als gewöhnlich und es glänzten Schweißperlen auf seiner Stirn. Als er Kaiba ansah, lag für einen Moment Irritation in seinen Augen. Die Begrüßung klärte Kaiba zumindest darüber auf, warum er nicht nach seinem Namen gefragt worden war. Unomi hatte gewusst, dass er es war. Die Frage war nur woher, denn in seinem Aufzug erkannt, hatte er ihn augenscheinlich erst später. „Guten Abend, Unomi-sensei“, erwiderte er. „Haben Sie einen Moment Zeit?“ „Ja, natürlich“, sagte der Lehrer und führte ihn in sein kleines Arbeitszimmer. „Also, was kann ich für Sie tun?“, fragte er schließlich, als sie sich beide gesetzt hatten. „Ich möchte die Restsumme meiner Anzahlung zurück“, erklärte Kaiba und schluckte seinen Stolz herunter. Darin hatte er ja inzwischen schon Erfahrung gesammelt. „Ich verstehe“, sagte Unomi und begann in seinen Unterlagen zu suchen. „Ich habe von der … Sache mit Ihrem Bruder gehört.“ Kaiba antwortete nichts. Er hätte auch nicht gewusst, was. Mehr als sein Geld wollte er nicht. Und in diesem Bereich schien der andere keine Einwände zu haben, denn einen Moment später überreichte er den Scheck. Kaiba warf einen Blick darauf und war überrascht. Er hatte nicht gedacht, dass es noch so viel war. Aber gut, damit hatte er die 10.000 voll. Damit sollte er hinkommen. Jetzt konnte er sich anderen Dingen zuwenden. „Vielen Dank, Unomi-sensei“, zwang er sich zu sagen und war schon im Begriff zu gehen. „Warten Sie einen Moment, Kaiba-san“, hielt der andere ihn zurück. „Ich möchte Ihnen ein Angebot unterbreiten.“ Verwundert hob Kaiba eine Augenbraue. Ein Angebot. Worüber? „Ich bin auf der Suche nach einem neuen Trainingspartner, seit mein bisheriger weggezogen ist“, sagte Unomi. „Was hat das mit mir zu tun?“, fragte Kaiba misstrauisch. „Ich hatte an Sie gedacht“, erklärte der andere. „Sie haben Talent. Sie sind gut, auch wenn sie noch einiges lernen müssen. Deshalb mein Angebot. Sie trainieren mit mir einmal die Woche und dafür gebe ich Ihnen pro Woche eine Unterrichtsstunde, bis Sie ein beinahe vollwertiger Trainingspartner sind. Das wäre eine ‚Win Win‘-Situation.“ Das klingt verlockend, musste sich Kaiba eingestehen. Aber dennoch musste es einen Hacken geben. Denn im Grunde war das Angebot zu seinem Vorteil. Wenn auch nur gering. „Sie sollten nicht immer ans Geschäft denken“, sagte Unomi und strich sich lächelnd eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. „Es ist nicht gut, Tücken zu sehen, wo keine sind. Außerdem können Sie am Ende jeder Woche das Angebot aufkündigen, wenn Sie unzufrieden sind.“ „Einverstanden“, sagte Kaiba kurzentschlossen. Er legte sich ja nur für zwei Stunden fest. Im Notfall würde er da schon durchkommen. „Haben Sie jetzt noch etwas Zeit?“, fragte der Lehrer. „Trainingskleidung kann Ihnen leihen.“ Kaiba nickte. Ein bisschen körperliche Betätigung würde ihm gut tun. Eine dreiviertel Stunde später lag er wiederholt auf dem Hallenboden. Er rang nach Atem. Bei seinem Training hatte er die Ausmaße des Könnens seines Lehrers immer nur erahnen können. Ganz eindeutig hatte er sich verschätzt und ihn unterschätzt. „Lassen wir es für heute gut sein. Ich hatte schon etwas alleine trainiert, als Sie kamen“, sagte Unomi und ließ sich im Schneidersitz neben ihm auf dem Boden nieder. Er atmete auch schneller als normalerweise. „Sie sollten meine Ratschläge beherzigen. Sie denken zu viel ans Geschäft. Das lenkt Sie ab und sorgt für Unkonzentriertheit.“ Kapitel 11: Nützliche Konkurrenz -------------------------------- Nützliche Konkurrenz Unwillkürlich stöhnte Kaiba auf, als er am Sonntagmorgen versuchte aufzustehen. Verdammter Muskelkater, fluchte er. Dass Lana sich mal wieder erdreistete, ihn als Kopfkissen zu benutzen, machte die Sache auch nicht besser. Genervt schob er sie beiseite, was mit einem Murren quittiert wurde, und stand auf – den Protest seiner Muskeln ignorierend. Ich hätte gestern doch noch ein heißes Bad nehmen sollen, dachte Kaiba missmutig, während er ins Bad – in Richtung Dusche – lief. Solch ein Training war sein Körper nicht mehr gewohnt. Er trat in den warmen Wasserstrahl, merkte, wie sich seine Muskeln etwas entspannten und sehnte den Moment herbei, an dem der Gewöhnungsprozess seines Körpers abgeschlossen war. Dann würde er zumindest nicht mehr in einem solchen Maß Muskelkater haben. Es war gerade einmal halb acht, als er das Haus verließ. Bevor er in sein Penthouse einbrechen konnte, brauchte er Informationen. Über das Sicherheitssystem und das Sicherheitspersonal. Ersteres konnte er aus der Wohnung mit seinem Laptop erledigen, letzteres würde er vor Ort tun müssen. Nachdem Kaiba damals das Penthouse gekauft hatte, waren ihm auch die hausinternen Sicherheitsmaßnahmen gezeigt worden – weil er darauf bestanden hatte. So hatte unter anderem auch den Aufenthaltsraum des Personals besichtig, in dem eine große Tafel mit den Schichtplänen hing. Beim Blick aus dem Fenster war ihm auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein kleines Café aufgefallen, von dem man, wie er es einschätze, hervorragend das Zimmer einsehen konnte. Das war ein Grund gewesen, warum er sich dafür entschieden hatte, Sicherheitstechnisch noch ein wenig nachzurüsten. Heute wollte Kaiba herausfinden, ob er Recht hatte. Und wenn er es hatte, würde er es gnadenlos ausnutzen. Er hat eine kleine Knopfvideokamera in der Tasche. Sie hatte eine gute Auflösung und Kaiba hoffte, dass sie die Dienstpläne in brauchbarer Qualität erfassen konnte. Während die Kamera aufzeichnete, würde er beobachten, wann wer kam und welche zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen den einzelnen Mitarbeitern herrschten. Deshalb war er so früh dran. Um ziemlich genau acht Uhr betrat er das kleine Café. Für die Uhrzeit und den Wochentag war es relativ voll. Anscheinend gehörte es zu den Lokalitäten, in denen man gut frühstücken konnte. Kaiba wählte einen Fensterplatz in der Ecke. So saß er mit dem Rücken zur Wand – sodass ihm niemand über die Schulter schauen konnte – und hatte einen optimalen Blick in den Aufenthaltsraum. Zuerst allerdings studierte er die Karte. Wenn die hielt, was sie versprach, konnte Kaiba durchaus nachvollziehen, warum das Lokal so gut besucht war. „Was darf es sein?“, wurde er von einem Kellner in seinem Alter aus seinen Gedanken gerissen. „Erst einmal nur einen Kaffee. Ohne Zucker. Ohne Milch“, sagte Kaiba bemüht freundlich. Er wollte auf keinen Fall in besonderer Erinnerung bleiben. „Sehr wohl.“ Nach einem letzten kurzen Blick in die Karte, bei dem er endgültig die Entscheidung traf ein Schinken-Käse-Omelette zu nehmen, richtete er seinen Blick – scheinbar desinteressiert – aus dem Fenster. Zufrieden stellte er fest, dass der Aufenthaltsraum noch leer war. Seine Augen wanderten über seinen Tisch. Er brauchte irgendeinen Ort, wo er die Videokamera befestigen konnte und an dem sie nicht auffallen würde. Die Fensterbank war relativ niedrig, zumindest im Gegensatz zum Tisch. Wenn er das Gerät an der Tischplatte anbrachte, müsste es die gewünschten Bilder liefern, außer Teile des Fensterrahmens waren gerade im Weg. Die Wahrscheinlichkeit dafür war jedoch gering. Dazu musste er schon einen sehr ungünstigen Platz an der Tischkante wählen. Nachdem Kaiba die Kamera platziert hatte, holte er seinen Notizblock und Kugelschreiber hervor. Am Abend zuvor hatte er sich in das Mitarbeiterverzeichnis des Sicherheitsdienstes gehackt, das praktischerweise auch Fotos beinhaltete. Die Gesichter derjenigen, die für ihn interessant waren, hatte er sich eingeprägt. Von weitem konnte er zwar nur eingeschränkt erkennen, welche Beziehungen zwischen den Angestellten herrscheten, aber er hatte einen recht guten Blick für Sympathien und Differenzen. „Ihr Kaffee“, sagte der Kellner, während er die Tasse vor ihm abstellte. „Dankeschön!“, zwang Kaiba über seine Lippen. Herzlich wirkte es zwar nicht, aber bei wem tat es das schon? Inzwischen war er nur noch einer unter vielen. Also benahm er sich besser auch so. Alles andere wäre zu auffällig. Die nächste halbe Stunde brachte er damit zu, den Aufenthaltsraum zu beobachten und sich alles zu notieren, was ihm wichtig erschien. Er hatte länger überlegt, ob er seine Aufzeichnungen verschlüsseln sollte. Letztendlich hatte er sich für einen einfachen Code entschieden. Es war unwahrscheinlich, dass jemand seine Mitschriften lesen würde, aber für den Fall, dass es doch geschah, sollte nicht sofort erkennbar sein, was er tat. So hatte Kaiba den Zahlen von null bis neun jeweils drei Buchstaben des Alphabets zugeordnet, für die Initialen des Personals die japanische Stellung – Nachname, Vorname – gewählt, Abkürzungen eingeführt – zum Beispiel i. B. v. für „in Begleitung von“ – und Symbole bestimmt, mit denen er die zwischenmenschlichen Beziehungen abbilden konnte. Um kurz nach halb neun trat eine junge Frau an seinen Tisch. Von ihrer Kleidung passte sie überhaupt nicht ins Viertel. Der kleine Camcorder, mit dem sie herumspielte schon etwas eher. „Entschuldigen Sie, Sir“, sagte sie freundlich lächelnd. „Stört es Sie, wenn ich mich zu Ihnen an den Tisch setze? Es ist alles besetzt.“ Kaiba warf einen Blick über die Schulter und stellte verwundert fest, dass sie Recht hatte. Er hatte gar nicht bemerkt, dass das Café inzwischen voll war. „Meinetwegen“, meinte er knapp und neutral. Eigentlich passte es nicht in seinen Plan, aber er sah keinen guten Grund, Nein zu sagen. Seine Notizen konnte sie nicht lesen. Also was sollte schon groß schief gehen? „Dankeschön!“, erwiderte sie und lächelte ihn dankbar an. Sie ließ sich auf die Bank gegenüber sinken und legte ihre Tasche, sowie Mantel, Mütze, Schal und Handschuhe neben sich. Abermals fragte Kaiba sich, wie sie denn in dieses Viertel passte. „Hallo Nerea“, begrüßte der Kellner sie wenig später. „Guten Morgen, Charlie!“ „Willst du wieder deinen Mitarbeiterrabatt nutzen?“, fragte er augenzwinkernd und beantwortete damit Kaibas Frage. Sie arbeitet also hier, dachte Kaiba und so passte sie ins Bild. „Ja, klar. Nirgendwo anders in der Stadt bekomme ich so günstig, so gutes Frühstück“, erklärte sie grinsend. „Wohl wahr“, bestätigte Charlie vergnügt. „Weißt du schon, was du möchtest?“ „Nee. Ich guck noch mal in die Karte“, sagte sie und schnappte sich eben diese aus dem Ständer. „Ich hätte gern noch einen Kaffee“, schaltete sich Kaiba ein, bevor der Kellner wieder verschwinden konnte. „Und ein Käse-Schinken-Omelette.“ „Gern!“ „Oh, das kling gut, aber für mich einen Cappuccino“, entschied sich Nerea schnell und stellte die Karte weg. Nachdem der Kellner verschwunden war, begann sie an ihrem Camcorder Einstellungen vorzunehmen. Verwundert nahm Kaiba aus dem Augenwinkel wahr, dass das rote Aufnahmelämpchen aufleuchtete und sie das Gerät weglegte – so, dass Aufnahmen vom Haus gegenüber gemacht wurden. „Sie machen aber eine seltsame Steuererklärung“, meinte sie nach einem langen Blick auf seine Notizen. Kaiba hob fragend eine Augenbraue. Eigentlich wollte er sie anfahren, dass sie sich um ihren eigenen Kram kümmern sollte und er nicht an Smalltalk interessiert wäre. Aber das erschien ihm in diesem Moment nicht angebracht. Zumal er noch nicht hatte erkennen können, ob der Camcorder auch Ton aufzeichnete. Seine Stimme auf dem Gerät einer Frau, die er verärgert hatte, schien in seiner jetzigen Situation nicht sonderlich sinnvoll. „IVA“, sagte Nerea schmunzelnd und deutete mit einem Finger auf die erste Zeile seiner Notizen. „Das ist die Abkürzung für 'impuesto sobre el valor añadido'. Spanisch für Mehrwertsteuer. Aber Ihrem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass Sie das nicht gemeint haben.“ IVA stand für 8:10 Uhr, aber das wusste sie zum Glück nicht. Erst jetzt fiel Kaiba auf, dass sie durchaus aussah wie eine Spanierin – etwas dunklerer Teint und lange, dunkle Haare. Die Sprache beherrschte sie jedenfalls fließend. Aber das musste nichts heißen. Theoretisch konnte sie auch aus Südamerika stammen oder sie war zweisprachig aufgewachsen. Ihr Englisch war genauso gut wie das Spanisch. Kaiba warf noch einmal einen unauffälligen Blick auf ihre Videokamera. Nun entdeckte er das aufleuchtende „Stumm“ – Zeichen. Damit konnte er sehr sicher ausschließen, dass sie das Gerät ausversehen eingeschaltet hatte. „Nein, das steht für ‚Isotopenverdünnungsanalyse‘“, sagte er schließlich. Inhaltlich war es Nonsens, aber es war das erste Wort, das ihm einfiel, für das IVA eine Abkürzung war. Sein Gegenüber brach daraufhin in schallendes Gelächter aus. „Schon okay. Sie brauchen sich keine Wörter auszudenken, um Ihrem Geheimschrift-Liebesbrief einen anderen Sinn zu geben“, sagte sie schmunzelnd und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. Kaiba runzelte die Stirn. Geheimschrift – definitiv. Liebesbrief – extrem weit von der Wahrheit entfernt. Aber ihm sollte es nur recht sein. Das war besser, als wenn sie seine Absichten erkannt hätte. „Chemie ist nicht so Ihrs, hm?“, konnte er sich dennoch nicht verkneifen zu sagen. „Diese Analyse gibt es wirklich?“, fragte Nerea verblüfft. Er nickte nur. „Tja, da hab ich in der Schule wohl mal gepennt.“ Kaiba bezweifelte, dass die Isotopenverdünnungsanalyse in irgendeinem Land auf dem Lehrplan stand. Vielleicht in einem Leistungsfach. Oder sie wurde mal am Rande erwähnt. Er selbst hatte in seiner ganzen Schullaufbahn jedenfalls nie etwas davon gehört. Als Charlie ihre bestellten Speisen brachte, nutzte Kaiba den Moment, um den Block und den Stift verschwinden zu lassen. Nachfragen, was andere Abkürzungen bedeuteten, wollte er vermeiden. Vielleicht wäre ihm spontan zu dem ein oder anderen sogar etwas eingefallen, aber das hätte sicherlich nichts mit Chemie zu tun. Er würde sich auf seine Videoaufzeichnungen verlassen müssen. „Und Sie interessieren sich für Chemie?“, fragte Nerea, nachdem sie sich bei Charlie bedankt hatte. „Ein wenig“, antwortete er vage und machte sich über sein Omelette her. Sie sprachen nicht mehr viel. Kaiba antwortete immer kurz und knapp und irgendwann musste sie sich an die Arbeit machen. „Kann ich meine Wertsache hier liegen lassen?“, fragte sie ihn. „Wir haben leider ein kleines Diebstahlproblem in unserer Umkleide.“ „Ich bin nicht ewig hier“, stellte er fest. Allerdings war ihm nach ihrer Frage endgültig klar, dass sie den Aufenthaltsraum gegenüber absichtlich aufnahm. „Schon klar“, sagte sie schmunzelnd, „aber haben Sie solange ein Auge auf meine Sachen?“ „Kein Problem. Es macht ja keine Umstände“, sagte er und zuckte mit den Schultern. Er hatte die Videokamera sowieso gerne genauer unter die Lupe nehmen wollen. Vielleicht waren ja noch Aufnahmen von anderen Tagen darauf. „Danke!“ Sobald Nerea mit ihren Gästen beschäftigt war, griff Kaiba nach dem Camcorder. Er schaltete die Aufnahme aus und verschaffte sich einen Überblick über das darauf gespeicherte Material. Wenn er das richtig sah, hatte sie Daten von Donnerstag bis heute. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, ihre Speicherkarte einzustecken, verwarf den ihn jedoch sofort. Selbst mit ihren Aufnahmen fehlten ihm noch drei Tage. Er musste noch mehrmals herkommen und sie hätte ihn sofort in Verdacht. Für Mittwoch könnte er es allerdings tatsächlichen in Betracht ziehen. „Was tun Sie da?“ Gerade als Kaiba den Camcorder ausgeschaltet hatte, trat Nerea auf ihn zu. Er lächelte leicht und die Lüge kam problemlos über seine Lippen. „Ich hab ein rotes Lämpchen leuchten gesehen. Sie haben ihn vorhin wohl ausversehen eingeschaltet. Es wär ja ärgerlich, wenn Sie später etwas aufnehmen wollen und der Akku schmiert Ihnen ab, deshalb wollte ich ihn ausschalten. Ich hab einen Moment gebraucht, bis ich den Aus-Knopf gefunden habe. Ich bin nicht so technikversiert.“ „Oh. … Danke, … das war sehr nett“, brachte sie stockend über ihre Lippen. Sie lächelte. Es wirkte auf den ersten Blick ehrlich, aber Kaiba durchschaute ihre Maske sofort. Er wusste, worauf er achten musste. „Nicht der Rede wert“, antwortete er abwinkend. „Ich möchte dann zahlen.“ „Ja, natürlich. Einen Moment, bitte.“ Während Nerea die Rechnung holte, steckte Kaiba seinen Videoknopf wieder ein und trank seine letzten Schlucke Kaffee. Warum auch immer sie Interesse am Geschehen im Aufenthaltsraum hatte, sie konnte ihm noch sehr nützlich sein. Kapitel 12: Von Zorn beherrscht ------------------------------- Von Zorn beherrscht Als Kaiba die Wohnung betrat, kreuzte sein Weg den von Lana, die gerade ins Bad wollte. Die braunen Haare standen ihr zerzaust leicht vom Kopf ab. Ihre Augen waren noch nicht ganz geöffnet und blickten ihn verschlafen an. „Wo kommst du denn her?“, gähnte sie. Die Hand, die sie sich vor den Mund gehalten hatte, wanderte höher und rieb ihr den Schlaf aus den Augen – zumindest soweit das ging. „Ich war Frühstücken“, sagte Kaiba nur und wollte sich an ihr vorbeischieben. Sie runzelte die Stirn und hielt ihn am Arm fest. „Warum zum Teufel warst du außer Haus essen?“, fragte sie skeptisch und ihr Blick huschte musternd über sein Gesicht. Na prima. Jetzt hatte er ihre Neugier geweckt. „Recherche“, brummte er und wandte sich ab, um seine Winterklamotten abzulegen. „Hast du wenigstens frische Brötchen mitgebracht?“, fragte Lana weiter. Das Gespräch entwickelte sich nicht in die Richtung, die Kaiba angenommen hatte. Aber das würde schon noch kommen. „Siehst du hier irgendwo welche?“, stellte er genervt eine Gegenfrage. „Holst du dann bitte noch welche“, sagte sie freundlich, aber Kaiba erkannte den Befehl. Er wollte sie schon anfahren, als er sich an ihre Haushaltsvereinbarung erinnerte. Er sollte sich auch am Einkaufen beteiligen und darunter fiel Brötchen holen. Sie würde sicherlich darauf verweisen, wenn ihr seine Antwort nicht passte. Also wählte Kaiba etwas, das für seine Verhältnisse diplomatisch zu nennen war. „Ich bin nicht dein Diener“, knurrte er ungehalten. „Das hätte dir früher einfallen müssen.“ Während er Mütze und Schal zu seiner Jacke hänge, seufzte Lana. „Wäre auch zu schön gewesen“, meinte sie gespielt theatralisch und grinste dann. „Aber darauf können wir uns einigen, wenn du mir abends sagst, ob und wann du wegwillst.“ Kaiba nickte nur flüchtig. Er konnte seine Zeit weitaus sinnvoller nutzen. Aber ganz nach seinen Vorstellungen liefe es mit Lana nie. Er musste also zwischen Not oder Übel wählen. Und in diesem Fall war es wesentlich einfacher, kurz bei einem Bäcker vorbeizuschauen, als stundenlang mit einer miesgelaunten, nervigen Lana zusammen zu sein. Widerwillig breitete er seine Ausrüstung und Unterlagen auf dem Küchentisch aus, auch wenn es so schnell zur nächsten Konfrontation mit Lana käme. Allerdings wollte er länger arbeiten und dabei war der niedrige Couchtisch pures Gift für seinen Rücken. Da waren Lanas Fragen wesentlich erträglicher. Wieder ein Kompromiss, stellte Kaiba mit Verdruss fest. Zu seiner Überraschung blieb Lana eine Weile still. Sie fragte nicht, was er plante, sondern schaute ihm nur schweigend zu, wie er seine Auswertung machte. Diese brachte nur teilweise zufriedenstellende Ergebnisse. Für den Zeitraum hatte er zwar alle Informationen, die zu bekommen waren, jedoch war ihm das im Grunde nicht genug. Über die zwischenmenschlichen Beziehungen wusste er so gut wie gar nichts und für den restlichen Tag konnte er sich nur auf die Dienstpläne verlassen. Das war Dreck. Jeder hatte seine Gewohnheiten und die konnten Kaiba schnell zum Verhängnis werden. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn er Zugriff auf die Überwachungskameras gehabt hätte. Das konnte er allerdings ziemlich vergessen. Bei den Sicherheitsmaßnahmen handelte es sich um ein geschlossenes System. Er müsste ins Gebäude, um Geräte anzubringen, damit er von außen Zugriff auf die Bilder hatte. Das Risiko, erkannt zu werden, stieg mit jedem Mal, das er das Gebäude betreten musste, rasant. Also wollte er es auf einmal beschränken. Diese verfluchte Zwickmühle, brauste er innerlich auf und konnte nur mit Mühe den Impuls unterdrücken, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. Warum lief in der letzten Zeit nichts so, wie er es wollte? „Ich kenne den Gesichtsausdruck“, meldete sich jetzt Lana zu Wort, „und ich mag ihn nicht.“ „Das ist mir so was von egal“, knurrte er gereizt. In diesem Moment erschienen die Rückenschmerzen sehr verlockend. „Es läuft nicht so mit, wie du es dir wünscht“, stellte Lana seufzend fest. Sie blickte ihn ernst an. „Du magst zwar kein schlechtes Gefühl dabei haben, in dein Penthouse einzubrechen. Ich jedoch habe es und wenn du nicht mit mir über dein Vorgehen sprichst, springe ich in spätestens drei Tagen quer durch die Wohnung, weil ich mir zu viele Gedanken darüber machen. Also rate ich dir, mit mir zu reden. Vielleicht eröffnet es dir sogar neue Möglichkeiten. Auf jeden Fall sorgt es dafür, dass du nicht am Rad drehst, weil ich es tue. Denk darüber nach.“ Kaiba warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Sie sollte sich bloß nicht in seine Angelegenheiten einmischen. Lana beachtete seine nonverbale Warnung nicht. Dafür hatte sie ein unglaubliches Talent. Sie aß einfach ruhig ihr Müsli auf, räumte ihr Geschirr weg und verließ die Küche, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Frei nach dem Motto: Ich habe alles gesagt, jetzt liegt es an dir. Genau diese Einstellung fachte Kaibas Wut noch weiter an. Was bildete sie sich ein, ihn so unter Druck setzen zu können? Die Sache ging sie überhaupt nichts an. Im Grunde sollte es sie nicht einmal interessieren. Seine Laune hatte sich um keinen Deut gebessert, als er am frühen Nachmittag auf dem Weg zum Training war. Da er mit Akio Unomi zwei Treffen pro Woche abgemacht hatte, musste er diese Woche zwei Tage hintereinander kommen. Sein Körper bedankte sich jetzt schon, aber Vereinbarung war Vereinbarung. „Verdammter Dreck“, zischte Kaiba nach einer Dreiviertelstunde Training, in der es ihm partout nicht gelingen wollte, sich auf den Sport zu konzentrieren. „So wird das nichts“, sagte Unomi missbilligend nach einer kurzen Musterung. „Du bist vollkommen von Zorn beherrscht. Ich werde dir wohl etwas beibringen müssen, von dem ich dachte, dass du es schon könntest.“ „Ich kann mich nicht erinnern, dem Du zugestimmt zu haben“, knurrte Kaiba ungehalten. „Wenn du dich aber benimmst wie ein kleines, bockiges Kind“, sagte Unomi nur und lächelte bitter. „Und jetzt leg dich auf den Rücken.“ „Wie bitte?“, fragte Kaiba lauernd. Er glaubte nicht richtig zu hören. Was erlaubte der sich eigentlich? Das war außerordentlich unhöflich. „Leg dich auf den Rücken“, wiederholte Unomi und ehe Kaiba widersprechen konnte, lag er schon auf dem Boden. Sein Lehrer saß auf ihm und drückte seine Schultern fest in die Matten. „Versuch dich aus meinem Griff zu befreien.“ Die Aufforderung hatte Kaiba nicht gebraucht. Kaum dass er das Gewicht des anderen auf sich spürte, hatte er schon begonnen, sich zu wehren. Unomi war nur in der wesentlich besseren Position. Er hatte grundsätzlich mehr Kraft und zusätzlich konnte er auch noch sein Gewicht nutzen. Kaiba stemmte sich wütend gegen seinen Lehrer. Er hatte keinen Bock auf diesen Unsinn. Was sollte ihm das bringen, abgesehen von einer Kraftdemonstration? Warum hatte er sich überhaupt auf diesen Deal eingelassen? Momentan hatte er wirklich besseres zu tun. Der Sport war Nebensache. Doch egal, wie viel Kraft er aufwendete und sich im Griff Unomis wand, er kam nicht frei. „Gibst du auf?“, fragte der Lehrer irgendwann. „Ganz bestimmt nicht“, erwiderte er, weil es zu keinem Zeitpunkt seines Lebens eine Option gewesen war. Er würde sich von diesem Kerl nicht besiegen lassen. Das kam überhaupt nicht in Frage. Er mobilisierte noch einmal all seine Kräfte und schaffte es tatsächlich kurz seine Schultern vom Boden zu heben, aber beinahe sofort drückte Unomi sie wieder nach unten. „Was soll diese Demütigung?“, presste Kaiba hervor, bevor er es verhindern konnte. Das hatte der andere nun wirklich nicht erfahren sollen. „Das soll keine Demütigung sein“, erklärte Unomi und wie um das zu verdeutlichen, rollte er sie beide herum, so dass sie ihre Positionen tauschten. Einen Moment war Kaiba so überrascht, dass er den anderen nur anstarrte, aber er fasste sich schnell wieder und festigte den Druck auf dessen Schultern. Die Position gefiel ihm doch gleich viel besser. Sein Lehrer bäumte sich kurz gegen seinen Griff auf. Danach nahm die Spannung seiner Schultern immer weiter ab und er blieb ruhig liegen. Wollte er das Kräftemessen jetzt beenden? „Wieso dieser Nonsens?“, fragte Kaiba ungehalten. Langsam hatte er wirklich genug von diesem Quatsch. Diese Stunde sollte bloß bald zu enden sein, damit er auf Nimmerwiedersehen verschwinden konnte. „Das alles hat Sinn“, entgegnete Unomi ruhig. „Deine Wut macht dich nur blind.“ Noch während der Lehrer sprach, spürte Kaiba eine Hand, die über seine Oberschenkel streichelte. „Fassen Sie mich nicht an!“, verlangte Kaiba kalt. Er wusste, dass Unomi homosexuell war. Dieser hielt seine Neigungen geheim, da sie im Sport verpönt waren. Deshalb hatte Kaiba bei der Personenüberprüfung auch nur durch Zufall davon erfahren. Der Ruf war tadellos und seine damaligen Probestunden verliefen hervorragend, also hatte Kaiba sich nicht daran gestört. Was interessierte es ihn, solange der andere seinen Job gut machte. Und das hatte Unomi immer – bis jetzt. Die Hand wandert immer weiter seinen Schenkel hoch. Kaiba funkelte den Lehrer böse an, aber der lächelte nur. „Dir ist nicht bewusst, wie sehr diese Situation dein Leben wiederspiegelt, hm?“, meinte er. „Das wäre mir bewusst!“, erwiderte er frostig. Inzwischen strichen die Finger über seinen Po. „Lassen Sie das!“ „Das tut sie aber!“, beharrte Unomi und zwickte ihn in den Hintern. Ehe Kaiba aufbrausen konnte, fand er sich abermals unter dem anderen wieder. „Besonders in dieser Position.“ „Runter von mir“, verlangte Kaiba, um Ruhe bemüht. Jetzt fühlte er sich richtig unbehaglich. „Sofort!“ Sehr zu Kaibas Überraschung erhob sich Unomi tatsächlich. Er lächelte leicht. „Du siehst aus, als könntest du eine Erfrischung gebrauchen.“ Kaiba nickte zur Bestätigung. Der Mist war ganz schön anstrengend gewesen. Keuchend setzte er sich auf und fragte sich, wie er nun weiter vorgehen sollte. Er hatte keine geringe Lust, einfach zu gehen. Aber das wäre absolut kindisch und unangemessen. Vielleicht sollte er einfach abwarten, was die restliche Stunde noch brachte. „Medium, richtig?“, fragte Unomi zu Kaibas Überraschung. Es wunderte ihn, dass der Lehrer sich daran erinnern konnte, welche Art Wasser er sich zum Sport immer mitgebracht hatte. „Ja“, bestätigte er und nahm das Glas Wasser entgegen. Gierig stürzte er das Wasser hinunter, während Unomi sich neben ihm niederließ und nur langsam trank. „Harten Vormittag gehabt?“, fragte er und es klang tatsächlich interessiert. „So in der Art“, antwortete Kaiba vage. Er verspürte keine Lust, darüber zu reden. „Hast du dich jetzt wieder abreagiert?“ „Es ging nur darum?“, fragte er und wusste nicht, was er davon halten sollte. Ein wenig verärgert war er schon, aber er hatte nicht richtig den Elan dazu. Er war total ausgepowert. „Nein, wenn es nur darum gegangen wäre, hätte ich dich einfache Tae Bo Übungen machen lassen“, antwortete Unomi ruhig. „Also hast du nicht begriffen, was ich dir sagen wollte.“ „Nein. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, jemals eine solche Übung gemacht zu haben“, gestand er zähneknirschend ein. „Das wundert mich nicht“, erwiderte der Lehrer lächelnd. „Erstens ist das eine Übung Marke Eigenbau und zweitens bist du normalerweise ein brillanter Analytiker. Du erkennst selbst komplexe Angriffsmuster und lernst erstaunlich schnell, darauf zu reagieren. Gestern und heute benimmst du dich allerdings eher wie ein zorniges Kind, dem man den Lutscher geklaut hat und in seiner Wut und Trauer alles und jedem um sich herum verletzen will.“ Kaiba biss die Zähne zusammen aufgrund des Vergleichs. Er widersprach jedoch nicht. Es wäre zwecklos. Er musste sich eingestehen, dass es wirklich nicht verwunderlich war, dass Unomi diesen Eindruck gewonnen hatte. „Leg dich noch mal hin, dann erklär ich es dir anschaulich“, forderte der Lehrer und lachte auf. „Du brauchst gar nicht so genervt zu gucken. Ich verstehe, dass du erschöpft bist. Viel mehr als liegen musst du nicht. Allerdings wäre ich dir sehr dankbar, wenn du deinen Kopf wieder benutzen würdest.“ Kaiba tat wie geheißen, obwohl er sich dabei nicht sonderlich wohl fühlte. Sein Verstand sagte ihm jedoch, dass er gehorchen sollte. Bisher war Unomi immer ein guter Lehrer gewesen und mit seiner bisherigen Erklärung hatte er auch dieses Mal nicht Unrecht gehabt. „Welche Position würdest du als die bessere bezeichnen?“, fragte Unomi, als er ihn wieder mit seinem Körper auf den Boden drückte. „Ihre“, antworte Kaiba prompt. „Sie haben die Kontrolle.“ „Das stimmt. Aber deine Position hat zwei andere Vorteile. Du hast mehr Bewegungsfreiheit. Wenn ich mich irgendwie bewegen will, laufe ich sofort Gefahr, die Kontrolle zu verlieren. Zweitens verbrauchst du weniger Kraft. Du kannst die Zeit für dich arbeiten lassen. Ich will die Kontrolle behalten, also muss ich ständig aufpassen und Druck ausüben.“ „Genau das haben Sie gemacht“, erinnerte Kaiba sich. Unomi hatte sich unter ihm entspannt und gewartet. „Ja. Ich hab gewartet. Das hat dich verwundert. Du hast nicht damit gerecht, ebenso wenig damit, dass ich einfach nur dein Bein berühren würde. Warten und ablenken. Das funktioniert im Sport wie im Leben oftmals wesentlich besser, als der Frontalangriff. Verstehst du, was ich dir sagen möchte?“ „Sie beziehen sich auf meinen Bruder“, dämmerte es Kaiba plötzlich. Nun erkannte er deutlich Parallelen. „Ja, allerdings. Mit der Enteignung hat dein Bruder dich sozusagen zu Boden gestreckt. Er rechnet jetzt mit deiner heftigen Gegenwehr, genauso wie ich es getan habe, als ich dich überraschend in diese Position gebracht habe. Er wartet nur darauf, dass du irgendetwas tust. Er muss viel Energie in seinen Überwachungsapparat stecken. Er muss immer auf der Hut sein. Das ist kein angenehmes Gefühl. Es macht einen mürbe. Irgendwann wird er sich ein wenig in Sicherheit wiegen und dadurch wirst du noch etwas mehr Bewegungsfreiheit bekommen.“ Er hob seine Hände langsam von Kaibas Schultern. „Und irgendwann ist er vielleicht so unvorsichtig, dass du dich befreien kannst.“ „Ich habe aber auch die Ablenkungsmöglichkeit“, wandte Kaiba ein und setzte sich auf, als Unomi aufgestanden war. Hiernach war ihm endgültig klar, dass er den Sport weitermachen würde. Es war eine gute Erinnerung an Methode der Kriegsführung. Und von Unomi konnte er hin und wieder einen Denkanstoß erwarten, selbst wenn der das nicht unbedingt beabsichtigte. „Die hast du sicherlich“, stimmte der Lehrer zu. „Du hast allerdings auch noch eine dritte Wahl. Die Annährung oder Distanz. Wie du bemerkt haben solltest, haben wir uns vorhin im Kreis bewegt. Wir haben nur die Position gewechselt, die beide nicht gerade angenehm sind. Das solltest du niemals vergessen!“ Kapitel 13: Das falsche Angebot ------------------------------- Das falsche Angebot „Sie haben leicht reden“, sagte Kaiba mürrisch. Jede Art von Zurechtweisung hasste er. Die Erklärungen waren wirklich interessant gewesen, aber er würde sich sicherlich nicht sagen lassen, was er zu tun hatte. Das bestimmte er immer noch selbst. „Das habe ich wahrscheinlich wirklich“, stimmte Unomi ihm ohne zögern zu. „Dein gesunder Menschenverstand sollte dir allerdings sagen, dass ich recht habe. Wenn du es deinem Bruder gleich tust, wirst du keine Ruhe finden.“ „Was wissen sie schon?!“, erwiderte Kaiba verärgert. „Sie habe keine Ahnung, was er mir angetan hat – in welche Situation er mich gebracht hat!“ „Meine Güte, du redest, als ob du ganz unten angekommen wärst“, gab der Lehrer zurück. „Vielleicht bin ich das ja. Wissen Sie es?“, entgegnete er zähneknirschend. Natürlich war er das nicht, aber er wusste, dass im Grunde nicht viel gefehlt hatte. Ohne den Kontakt zu Lana sähe die Sache ganz anders aus. Es ärgerte ihn ungemein, dass der andere nicht erkannte, was für Folgen die Enteignung für ihn hätte haben können. Davon einmal abgesehen hatte es ihn so schon schlimm getroffen. Man musste nicht ganz unten landen, um schlecht dran zu sein. „Ach, du hast also kein Dach über den Kopf und solche Geldsorgen, dass du alles für ein bisschen Bares tun würdest, bist so verzweifelt, dass du trinkst und Drogen nimmst?“, fragte Unomi und hob eine Augenbraue. In Sekundenschnelle hatte er Kaiba wieder zu Boden gedrückt. Sein Gesicht schwebte keine zehn Zentimeter über Kaibas. „Tut mir leid, das wusste ich nicht. Dann habe ich dir wohl das falsche Angebot gemacht. Wie wäre es stattdessen mit diesem hier: Ich zahle dir 500$, zusätzlich biete ich dir bis morgen Früh Obdach und Essen und dafür machst du die Beine breit. Hm, ist das ein besseres Angebot?“ Entsetzt riss Kaiba die Augen auf. Er konnte den Impuls nicht unterdrücken, als Unomi ihm mit einem Finger über die Wange streichelte. Erst als der Lehrer sich lachend von ihm herunterrollte, erkannte er das Funkeln in dessen Augen, als amüsiertes. „Das ist nicht witzig“, knurrte Kaiba, ärgerte sich jedoch genauso sehr über sich selbst, wie über Unomi. Zu allem Überfluss begann jetzt auch noch sein Magen zu knurren. Unomi rang um Fassung. Er unterdrückte das Lachen, seine Mundwinkel zuckten allerdings immer noch. Er räusperte sich grinsend. „Entschuldige, wenn ich dich verärgert habe. Ich wollte dir eigentlich nur zeigen, wie absurd sich das anhört. Ich habe auch mit einem anderen Gesichtsausdruck gerechnet“, gluckste er und wischte sich Lachtränen aus den Augenwinkeln. Kaiba zwang sich, tief durchzuatmen. Er fand den Witz zwar immer noch nicht lustig, aber in einem musste er dem Lehrer recht geben: Dieses Angebot klang tatsächlich absurd. Das Niederschmetternde an der ganzen Situation war, dass Teile der Ausgangssituation realistisch betrachtet gar nicht so fern lagen. Obdachlosigkeit und akute Geldnöte hätten ihn, wenn es nach Mokuba gegangen wäre, schnell einholen können. „Es war geschmacklos. Es tut mir leid“, entschuldigte Unomi sich ein weiteres Mal. Nun wirkte er wesentlich ernster. „Vielleicht habe ich zu weit gedacht. Eine solche Objektivität ist, nachdem was dir passiert wird, sicherlich zu viel verlangt.“ Einen Moment war Kaiba kurz darauf aufzubrausend, aber er bewahrte Haltung und ging nicht darauf ein. Im zweiten Moment erkannte er, dass es ein Eingeständnis des Lehrers war und er nicht ganz unrecht hatte. Er selbst war unglaublich wütend. Und man sprach nicht umsonst von „blinder Wut“. Kaiba beschloss es dabei zu belassen. In dieser Trainingsstunde hatten sie sich beide Fehltritte geleistet. „Ich gehe Duschen“, erklärte er in seinem üblichen Tonfall. Danach sollte er zu sehen, dass er nach Hause kam. Sein Magen knurrte schon wieder. Unomi lächelte. Er schien verstanden zu haben, dass Kaiba seine Entschuldigung angenommen hatte. „Ich mache mir jetzt etwas zu Essen. Willst du mitessen?“, bot er an. Wahrscheinlich hat er mein Magenknurren gehört, dachte Kaiba. An diesem Tag lief anscheinend nichts mit. Andererseits … wenn er zustimmte, musste er sich nicht selbst etwas machen – was so oder so die Auswahl extrem einschränkte – und er bekam schneller etwas. Warum also nicht? „Warum auch nicht“, stimmte er schließlich zu, bevor ihm sein Stolz dazwischen funken konnte. Er wusste, dass er selbst nur eine Kleinigkeit in der Küche zustande bringen würde. „Schön. Du kannst die Küche eigentlich nicht verfehlen, wenn du die Treppe hochkommst“, erklärte Unomi lächelnd. Kaiba nickte nur und ging in die Umkleide. Als Kaiba die Küche betrat, war Unomi schon fleißig am Werkeln. Es sah ganz nach Sushi aus und der andere schien auch etwas davon zu verstehen. „Trinkst du Sake mit?“, fragte Unomi prompt. „Nicht auf leeren Magen“, antwortete Kaiba. Er nahm sich eine Wasserflasche von der Anrichte und schenke sich in das Glas ein, das er von unten mitgebracht hatte. „Du hast heute noch nichts gegessen?“, fragte Unomi und warf ihm einen zweifelnden Blick über die Schulter zu. „Heute Morgen schon. Aber das ist inzwischen knapp sieben Stunden her.“ „Hm“, gab Unomi nur von sich und wendete seine Aufmerksamkeit wieder dem Sushi zu. Kaiba setzte sich an den Küchentisch und füllte seinen Wasserbedarf. „Wo wohnst du jetzt?“, fragte der Lehrer nach einem Moment der Stille. „Warum wollen Sie das wissen?“, stellte Kaiba misstrauisch eine Gegenfrage. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, so wenigen Leuten wie möglich seine neue Adresse zu geben. „Nachdem ich gerade so brillant ins Fettnäpfchen getreten bin, dachte ich mir, dass ich jegliche Missverständnisse, die deine neue Situation betreffen, besser umgehe. Außerdem finde ich, dass wir uns nach dieser glorreichen Trainingsstunde ruhig duzen und mit Vornamen ansprechen können.“ „Ich wohne bei einer Bekannten. Akute Geldnöte habe ich nicht“, sagte Kaiba und hoffte, dass damit das Thema vom Tisch war. Trainingsstunden, die entspannter waren, schienen es ihm wert zu sein, diese Informationsbrocken zu geben. Was er von dem Angebot des Duzens halten sollte, wusste er nicht genau. Die Logik verstand er nicht ganz, aber ein solches Angebot eines Lehrers schlug man nicht einfach aus. „Verstehe – was aber nicht heißt, dass ich dich nicht an das falsche Angebot erinnern werde, wenn du mir zu sehr am Fluchen bist“, erklärte Unomi grinsend. Das hatte Kaiba gar nicht anders erwartete. Vielleicht war es auch gut so. Sich zu beklagen, brachte ihn in seiner Situation keinen Schritt weiter. Einmal ganz davon abgesehen, dass er kein Mitleid wollte. „Kochst du regelmäßig?“, fragte Kaiba, um das Thema zu wechseln. Es war das erste, was ihm einfiel. Und nur weil er Smalltalk hasste, bedeutete das nicht, dass er nicht dazu in der Lage war. „Ja, es macht mir inzwischen richtig Spaß.“ „Inzwischen?“, hakte Kaiba nach, um das Gespräch am Laufen zu halten. Heute war seiner Meinung nach schon viel zu viel über ihn selbst gesprochen worden. „Ja, mein Interesse daran ist aus einem Streit entstanden. Ich habe ich meiner Wettkampfklasse einen ewigen Konkurrenten. Früher habe ich ständig versucht, ihn in allem zu übertreffen und er ist ein verdammt guter Koch. Also habe ich selbst zu kochen begonnen. Inzwischen hat sich unser Verhältnis beruhigt. Wir nehmen beide kaum noch an Turnieren teil und normalerweise begegnen wir uns nicht“, erklärte der Lehrer und fügte leiser hinzu: „Und das ist wahrscheinlich auch gut so.“ Anscheinend hatte Kaiba da genau ein Thema erwischt, über das der andere nicht gerne sprach. Wahrscheinlich hatte er sich dabei nicht gerade mit Ruhm bekleckert, sowie es bei Streitigkeiten, in die man sich zu sehr hineinsteigerte, häufig der Fall war. „Und du kochst sicherlich nicht, oder?“, fragte Unomi und bestätigte mit diesem halben Themawechsel Kaibas Vermutung. Über irgendwelche Wettkämpfe zu sprechen, war wohl gerade nicht angeraten. „Nicht mehr“, sagte Kaiba, ohne richtig darüber nachzudenken. „Nicht mehr?“, echote Unomi erstaunt. Diese Antwort schien ihn zu überraschen. Wenn Kaiba ehrlich war, überraschte sie ihn auch. Im Grunde hatte er nie richtig gekocht … außer … Nicht schon wieder, dachte er genervt, als ihm bewusst wurde, dass ihn anscheinend abermals ein leichter Sentimentalitätsschub überkam. Diese Erkenntnis hinderte ihn allerdings nicht daran, zu erzählen. „Als ich ein Kind war, hatte ich einen …“ Er suchte nach einem besseren Wort für „Babysitter“. „Betreuer, der mit mir recht viel gekocht hat. Er hat mir beigebracht, allerlei Kleinigkeiten zuzubereiten. Ich glaube, er hat sich davon erhofft, dass ich nachts nicht ständig zu ihm kam, wenn ich Hunger hatte.“ Kaiba konnte seinen Redefluss gerade noch stoppen, bevor er verriet, dass er trotzdem immer wieder zu ihm gekommen war, weil er gerne Gesellschaft haben wollte. Davon einmal abgesehen, war es so viel schneller gegangen und es hatte mit Sicherheit auch besser geschmeckt. Unomi lächelte nur. Er schien sich seinen Teil zu denken, war aber taktvoll genug, nicht weiter nachzuhaken. „Sag mal, Seto“, begann er wenig später, als er den Tisch deckte und der Angesprochene war sich sicher, dass jetzt wieder ein Themenwechsel folgen würde. „Seit wann weißt du eigentlich, dass ich schwul bin?“ Kaiba hob eine Augenbraue. Er war versucht zu fragen, woher der andere wusste, dass er wusste, dass der schwul war. Aber im Grunde lag die Antwort auf der Hand. Er hatte sich wahrscheinlich mit seiner ablehnenden Reaktion während der Trainingsstunde verraten. „Noch bevor ich dich kannte“, erklärte Kaiba schlicht. Die Offenheit und Rücksichtnahme des anderen sorgen für ein angenehmes Gesprächsklima, obwohl er nie gedacht hätte, dass er darauf Wert legen würde. „Du hast irgendeine neugierige und Tratsch-süchtige Nachbarin.“ „Mhm. Danke für den Hinweis. Ich kann mir vorstellen, wer das ist“, meinte er, setzte sich aber unbekümmert lächelnd Kaiba gegenüber an den Tisch. Dieser betrachtete das zweite Sake-Schälchen. „Es hörte sich so an, als ob du noch davon wolltest, nachdem du etwas im Magen hast.“ „Ich denke darüber nach“, antwortete Kaiba, obwohl er tatsächlich mit dem Gedanken gespielt hatte. Unomi schien gut aufzupassen. Denn das Wasser, das er ihm angeboten hatte, war von derselben Marke, die er bei vergangenen Trainingsstunden bevorzugt getrunken hatte. „Irre ich mich, oder stehst du auf mich?“, fragte Kaiba einem plötzlichen Gedanken folgend, später während des Essens. „Lass es mich so formulieren“, sagte Unomi ruhig. Die unvermittelte Frage schien ihn zu überraschen, nicht aber zu kränken. Lächelnd stützte er seinen Kopf auf der Hand ab. „Ich mag dich und du hast eine gewisse Anziehung auf mich.“ „Ich bin nicht schwul!“, erwiderte Kaiba energisch. Er hatte ein etwas mulmiges Gefühl, weil der andere es so offen eingestand. „Ich weiß und ich mach mir auch keine Hoffnungen“, antworte Unomi ungerührt. „Ich sag’s dir nur, weil ich klare Verhältnisse schaffen möchte und ich mir aufgrund deines Verhaltens sehr sicher bin, dass du nichts gegen Homosexualität hast.“ Damit waren alle Fragen von Kaiba geklärt. Genau genommen war die Sache damit geklärt. Selbst komplizierte Dinge schienen bei Akio Unomi angenehm unkompliziert. Kapitel 14: Problemlösung ------------------------- Problemlösung Den größten Teil des restlichen Nachmittages verbrachte Kaiba dösend auf dem Sofa. Nach dem Training war er erschöpft. Er hatte zwar versucht, ein wenig zu arbeiten, aber schnell musste er einsehen, dass er nicht wusste, was. Seitdem ging er immer wieder die Fakten der Problemlage durch, wobei seine Gedanken inzwischen mehr dahin plätscherten. Nachdenklich drehte er sich auf die Seite, schob einen Arm unter seinen Kopf und ließ seinen Kugelschreiber von Finger zu Finger wandern. Fakt war, dass er überhaupt keine Ahnung hatte, was diese Nerea vorhatte. Feststand nur, dass sie ebenso wie er, den Aufenthaltsraum der Sicherheitskräfte aufnahm. Was genau sie damit bezweckte, darüber konnte er nur spekulieren, genauso wie über die Frage, ob sie ihn bewusst auf seine Notizen angesprochen hatte, weil sie etwas vermutete oder ob es nur reine Neugier gewesen war. Theoretisch konnte sie auch einfach nur ein Thema für Smalltalk gesucht haben. Seufzend rieb sich Kaiba über die Augen. Er fand einfach keinen Ansatz, wie er weiter vorgehen sollte. Auch ohne jemanden, der ähnliches plante wie er, wäre die Angelegenheit schwer genug gewesen. Am Rande realisierte er, dass Lana mit einem Stativ und einer großen Kameratasche in der Hand die Wohnung betrat. „Hallo, Seto“, begrüßte sie ihn munter und begann an den Lichtschaltern herumzudrehen, um den bisher fast dunklen Raum in ein schummeriges Licht zu tauchen. Kaiba gab nur ein unwilliges Brummen von sich, von dem er nicht mal hätte sagen können, ob es eine Reaktion auf ihre Begrüßung oder das kurze, grelle Aufleuchten der Deckenlampen war. Danach achtete er nicht mehr auf sie, sondern hing weiter seinen Gedanken nach. Vielleicht hätte er es tun sollten, den wenig später leuchtete mehr mal das Blitzlicht ihres Fotoapparates auf. Vor Verwunderung ließ er den Kugelschreiber fallen, richtete sich ein Stückchen auf und blickte sie verärgert an. „Was soll das?“, fragte er mürrisch. „Spontane Idee“, erwiderte Lana nur gutgelaunt und nahm das Objektiv von ihrer Kamera, um beide Teile wieder ordnungsgemäß in der Tasche zu verstauen. „Wenn du diese Fotos auch nur für einen Cent an irgendein Käseblatt verkaufst, verklag ich dich auf Summen, die mich meine Geldsorgen vergessen lassen“, antwortete er drohend. Lana ließ sich dadurch allerdings nicht einschüchtert. Sie lächelte zuckersüß, als sie zurückschoss: „Keine Sorge, Darling. Die sind nur fürs private Vergnügen und sollte sich das jemals ändern, werde ich dich natürlich um Erlaubnis fragen und die zwei Cent, die ich mindestens dafür bekommen werde, pflichtgemäß mit dir teilen.“ „Das will ich doch stark hoffen“, knurrte Kaiba ungehalten. „Außerdem solltest du wissen, dass ich jemand bin, der den künstlerischen Wert des Mediums Fotografie schätzt, und keiner dieser Paparazzi, die nur ihre sensationellen Fotos in schlechter Qualität auf der Titelseite eines Klatschblattes sehen wollen“, meinte sie und fügte, als er nur mit einem verächtlichen Schnauben reagierte, beinahe schnippisch hinzu: „Und jetzt entschuldige mich, ich muss für morgen noch etwas vorbereiten!“ Damit stapfte sie in die Richtung ihres Arbeitszimmers davon und Kaiba hatte weiteres Material gefunden, um sie – wenn nötig – zu ärgern. „Moment mal“, rief er ihr kalt hinterher, bevor er richtig wusste, was er vorhatte. „Und warum?“, entgegnete sie verärgert. „Weil du sonst deine einzige Chance verpasst, um nicht spätestens in drei Tagen quer durch die Wohnung zu springen“, antwortete er selbstsicher, obwohl ihm die Idee erst vor einem Moment gekommen war. Er sah, wie Lana überrascht die Stirn runzelte, danach aber zustimmte. „Ich stell nur schnell meine Sachen weg“, erklärte sie und verschwand in ihr kleines Büro. Kurz zweifelte Kaiba daran, dass diese Entscheidung richtig gewesen war, aber als er an das Gespräch mit Akio Unomi zurückdachte, sah er darin seine beste Möglichkeit. Er hatte keine Wahl, er musste in seiner Lage zu Mitteln greifen, die er normalerweise nicht eine Sekunde in Betracht gezogen hätte. Vielleicht konnte ihn Lanas Blickwinkel auf die Problematik weiterhelfen. Also erklärte er ihr das Nötigste, wenn auch mit spürbaren Widerwillen. Einen Moment lang saß sie schweigsam in ihrem Lieblingssessel und sah ihn nachdenklich an. „Klar, das kann dir schnell gefährlich werden. Selbst wenn eure Pläne nicht miteinander kollidieren, ist eine Überprüfung des Gebäudes, die wahrscheinlich durch ihre Aktion ausgelöst wird, das letzte, was du gebrauchen kannst“, murmelte sie und lächelte wenig später breit. Fragend hob Kaiba eine Augenbraue. Ihr schien tatsächlich etwas dazu eingefallen zu sein. „Mach dich an sie ran“, forderte sie, als wäre das die Lösung all seiner Probleme. „Wie bitte?“ Kaiba sah sie ungläubig an. Was sollte ihm das bringen? „Also entweder denkst du zu männlicher oder nicht männlich genug“, erwiderte Lana seufzend. „Männer sind doch normalerweise spitze darin, Frauen auszunutzen.“ Kaiba hob abermals eine Augenbraue. Er würde eher sagen, Menschen sind normalerweise spitze darin, andere auszunutzen. Diese geschlechterspezifischen Aufteilungen hielt er im Regelfall für Nonsens. „Zumindest habe ich diese Erfahrung gemacht. Du brauchst also gar nicht so ungläubig zu gucken“, erklärte sie überzeugt. Kaiba unterließ es, sie darauf hinzuweisen, dass er die Erfahrung gemacht hatte, dass Frauen und Männer gleichermaßen versuchten, ihn für ihre Zwecke zu verwenden. „Und Frauen haben nie versucht, dich auszunutzen?“, fragte er stattdessen und bezog das Gespräch weiterhin auf ihre Erfahrungen, sodass sie nicht einfach behaupten könnte, er würde lügen. „Nicht auf der Ebene von der wir gerade sprechen. Ich bin nämlich nicht bisexuell“, erklärte sie und schaute ihn mit einem verständnislosen Blick an, so als ob er einfach begreifen musste, worauf sie hinaus wollte. „Schön, einmal darüber gesprochen zu haben“, murmelte Kaiba sarkastisch. Er hatte keine Ahnung, was sie ihm mit diesem Gefasel sagen wollte. Für sie schien das alles jedoch einen Sinn zu ergeben. Lana verdrehte die Augen, aber ansonsten ging sie darüber hinweg. Anscheinend kannte sie ihn gut genug, um zu wissen, wie sinnlos eine Diskussion über Sarkasmus war. „Jetzt denk doch mal darüber nach“, sagte sie eindringlich und schien zum eigentlichen Thema zurückzukehren. „Wenn du morgen ins Café gehst und mit ihr flirtest, dann sieht es so aus, als ob du ihretwegen wiedergekommen wärst. Damit hast du die perfekte Möglichkeit, um unauffällig deine Aufnahmen zu machen und mehr über sie herauszufinden. Und das willst du schließlich. So kannst du ermitteln, was sie vorhat und deine Pläne darauf abstimmen. Theoretisch könnte sogar eine Zusammenarbeit in Frage kommen. Vielleicht hat sie ja die Möglichkeit, unauffällig ins Gebäude hineinzukommen und dir die Kameraübertragung zu sichern. Und je nach dem, wie es läuft, wählst du deinen Abgang aus dem Café. Ob sich nun ein Streit anbietet oder etwas anderes. Auf diese Weise kannst du dir sicher sein, eine Begründung für dein Wegbleiben zu haben. Gefühle für andere sind etwas, dass jeder versteht und wobei sich die Leute nicht viel denken werden.“ Kaiba runzelte die Stirn. Der Gedanke war gar nicht so debil. Wenn er sein Kommen auf die Frau bezog, dann könnte er sein Fehlen auch mit ihr begründen. Diese Möglichkeit hatte er immer. Egal, wie sehr sie auf ihn einging. Und Lana hatte durchaus Recht, es bot einiges an Potential, ihr näher zu kommen. Den Gedanken einer Zusammenarbeit wollte er schon verwerfen, als ihm Unomis Worte wieder in den Sinn kamen. Von Teamarbeit hielt er nicht viel, aber er musste sich eingestehen, dass er in seiner Situation, alle Möglichkeiten bedenken sollte. Deswegen beschloss er eine Zusammenarbeit im Hinterkopf zu behalten. Vorsichtig müsste er auf alle Fälle sein, aber erst einmal würde er abwarten, wie sich die Sache entwickelte. „Wenn mir diese Idee gekommen wäre, hättest du mich sicherlich beschimpft“, erklärte Kaiba auf Lanas erwartungsvollen Blick. So sagte er nichts Konkretes zu seiner Meinung zu ihrer Idee und teilte zudem aus. „Wahrscheinlich hast du Recht“, bestätigte sie breit grinsend. Den Seitenhieb ignorierte sie. „Was ist sie für ein Typ?“ Abermals hob Kaiba eine Augenbraue. Er wusste nicht, was sie mit dieser Frage bezwecken wollte und abgesehen davon hatte er nur kurze Zeit mit ihr zu tun gehabt. Wie sollte er die Frage also beantworten können? „Okay, das kannst du wahrscheinlich noch nicht wissen“, sah nun auch Lana ein. „Aber was weißt du über sie?“ „Wieso ist das für dich wichtig?“, stellte er die Gegenfrage, um ihr deutlich zu machen, dass er immer noch bestimmte, wie weit sie sich einmischte. „Für mich ist wichtig, dass du ohne Ärger aus der Sache rauskommst. Und das so schnell wie möglich“, erwiderte sie und es war ihr anzumerken, wie ernst es ihr war. „Du willst bei dieser Nerea Erfolg haben. Und Frauen sind nicht so einfach gestrickt, wie viele Männer denken. Also werde ich dir Tipps geben.“ Kaiba war kurz davor, spöttisch abzulehnen. Was wusste sie schließlich schon, von seiner Kenntnis von Frauen? Jedoch sprach im Grunde nichts dagegen, sich eine zweite – weibliche – Meinung einzuholen. Beherzigen musste er schließlich rein gar nichts, von dem, was sie sagte. „Sie scheint sehr aufgeschlossen zu sein, da sie mich selbstbewusst fragte, ob sie sich zu mir setzen dürfte. Dabei war sie höflich und freundlich. Wenn ich es richtig einschätze, hat sie Erfahrung im Kellnern oder sie lernt schnell. Jedenfalls kann sie es. Selbst als ich ihren Camcorder ausschaltete, blieb sie professionell. In der Situation hab ich ihr allerdings angemerkt, dass es ihr nicht gefiel. Im Punkto Verstellen und Lügen hat sie unsere Liga noch nicht erreicht, aber unerfahrenere Leute bemerken es sicherlich nicht so schnell, wenn sie schwindelt. Auf mich machte sie einen intelligenten Eindruck. Ihr Englisch ist gut – teilweise umgangssprachlich, aber immer noch niveauvoll. Außerdem scheint sie Spanisch zu können. Ihre Aussprache war einwandfrei, es klang nicht nach Schulspanisch und ich bezweifele, dass man dort den kompletten Ausdruck für Mehrwertsteuer lernt. Auch ihr Aussehen deutet daraufhin, dass ihre Familie ursprünglich aus dem spanisch-sprachigen Raum kommt.“ Mehr fiel ihm spontan nicht ein. Das waren die Dinge, die ihm aufgefallen waren. Für den kurzen Zeitraum war das ganz anständig. „Okay. Und wie war sie angezogen? Eher lässig oder figurbetont? Irgendwelche grellen Farben?“, fragte Lana weiter. Diese Fragen waren tatsächlich typisch Frau. So genau hätte er darauf nicht geachtet. Er hatte bemerkt, dass sie günstige und schon ein bisschen abgetragene Kleidung trug, aber ansonsten war es nicht relevant für ihn gewesen. „Weder noch. Es war eher ein Mittelding. Sie sah ordentlich aus und die Kleider erfüllten ihre Funktion. Sie trug Jeans, ein langärmliges schwarzes Shirt, eine weiße Sweatjacke, eine Winterjacke in Grau- und Blautönen und Handschuhe, Schal und Mütze waren auch dunkelblau.“ „Frisur und Make-Up?“ Wieder so eine Frage. Das war eigentlich nichts, worauf Kaiba normalerweise achtete. Gut, dass er sie erst heute Morgen getroffen hatte. Deshalb hatte er sie noch einigermaßen in Erinnerung. „Sie wirkte gepflegt, aber sie trug keine aufwendige Frisur oder auffälliges Make-Up. Ihre Augen waren dezent geschminkt, aber ansonsten ist mir nichts aufgefallen.“ „Also eine durchschnittliche junge Frau. Wenn überhaupt eher zu ‚lässig‘ neigend, aber nach einem Eindruck kann man das schlecht sagen“, murmelte Lana vor sich hin. Sie schien angestrengt nachzudenken. „Ich denke, du solltest relativ direkt sein. Schließlich war sie es im gewissen Sinne auch, als sie dich nach deinen Notizen gefragt hat. Notfalls kannst du immer noch etwas zurückrudern. Als Kellnerin hat sie auch eine recht gute Menschenkenntnis, also solltest du mit Lügen vorsichtig sein. Umgeh lieber Themen oder gesteh ein, dass du nicht darüber sprechen möchtest. Sei höflich, freundlich und charmant, aber alles in Maßen. Damit solltest du am Anfang nicht viel falsch machen.“ Lana warf ihm einen warnenden Blick zu. Im ersten Moment dachte Kaiba, dass sie ihn mahnen wollte, bloß auf sie zu hören, aber dann erinnerte er sich an den Tag, an dem er ihr erzählt hatte, wer er wirklich war. „Lächel mich ja nie wieder so charmant an, das treibt einen ja um den Verstand“, hatte sie geflucht und ihn ebenso warnend angesehen. Kaiba grinste innerlich. Sie schien wohl zu befürchten, dass er, nun wo er wieder höflich, freundlich und charmant zu einer Frau sein musste, auch wieder versuchen würde, sie so zu manipulieren. Im Grunde war das gar keine so dumme Idee, nur würde er sie mit derselben Methode jetzt nur ärgern können. … Wieso eigentlich nicht? Er setzte sein charmantestes Lächeln auf und sah sie mit seinem besten „Schlafzimmerblick“ an. „Aber Darling“, flötete er provokant, „du weißt du, wozu ich in der Lage bin.“ Lanas Wangen nahmen sofort eine leichtrote Färbung an und für einen Moment verklärten sich ihre Augen. Dann fasste sie sich wieder und schlug mit einem Sofakissen nach ihm „Manchmal bist du so ein Arsch“, fluchte sie, aber Kaiba lachte nur. „Na zum Glück, kenn ich den perfekten Weg, dich zum Schweigen zu bringen!“ Kurz darauf lagen ihre Lippen auf seinen und erstickten sein Gelächter mit einem Kuss. Kapitel 15: Herstellungsmonopol ------------------------------- Herstellungsmonopol „Was soll das, Pegasus?“, knurrte Mokuba Kaiba ungehalten in den Hörer. „So sind die Regeln, mein lieber Mokuba-boy“, erwiderte der Geschäftsmann ungerührt. „Wie ich dir bereits sagte, selbst wenn ich es wollte, könnte ich dir die Lizenz nicht einfach ausstellen. Darüber muss ich mit dem Aufsichtsrat sprechen. Und du kannst von Glück sagen, dass ich dir aufgrund der Leistungen deiner Firma unter der Führung deines Bruders einige Vorschusslorbeeren gewähre. Zumal ich nicht einmal verpflichtet gewesen wäre, mich bei dir zu erkundigen. Schließlich ist es deine Angelegenheit, dich um entsprechende Lizenzen zu kümmern.“ „Schon gut“, sagte Mokuba und musste an sich halten. „Setzt du nur so schnell wie möglich das nächste Treffen des Aufsichtsrats an. Ich melde mich morgen noch einmal bei dir, um die Lizenzbedingungen auszuhandeln.“ „Aber natürlich Mokuba-boy“, meinte Pegasus munter. „Good Evening. Oder sollte ich lieber sagen noch einen schönen arbeitsreichen, Nachmittag.“ „Bis morgen!“, verabschiedete sich der junge CEO. „Bye“, flötete Pegasus. „I’m looking forward to hearing from you tomorrow.“ Mokuba knallte den Hörer zurück auf die Station. Dreck. Dreck. Dreck. Das konnte er nun wirklich nicht gebrauchen. Er hatte so schon genug zu tun. Sollte Pegasus tatsächlich Recht haben, hatte er ein verdammtes Problem. „Roland“, sagte er, nachdem er wieder nach dem Telefon gegriffen und die Nummer seines Assistenten gewählt hatte. „Sie müssen umgehend überprüfen, wie die Lizenz zur Herstellung und zum Vertrieb von Produkten lautet, die Duel Monsters beinhalten.“ „Wie bitte, Sir?“, fragte Roland verwundert. „Worauf denn?“ „Pegasus hat gerade angerufen. Er behauptet, die Lizenz sei auf Seto ausgestellt und nicht übertragbar“, erklärte Mokuba und hoffte immer noch, dass es nur einer von Pegasus makaberen Scherzen war. „Oh“, gab sein persönlicher Assistent im ersten Moment nur von sich. Er schien sofort zu begreifen, was das für die Firma bedeutete. „Jawohl, Kaiba-sama. Ich werde es umgehend überprüfen.“ Keine fünf Minuten später hatte Mokuba wieder seinen persönlichen Assistenten am Apparat: „Es tut mir leid, Sir. Aber Mister Pegasus sagt die Wahrheit. Nur unter der Geschäftsführung von Seto Kaiba war es der Kaiba Corporation gestattet, Duel Monsters Produkte herzustellen und zu vertreiben.“ „Verdammt, verdammt, verdammt“, murmelte Mokuba und rieb sich nachdenklich die Nasenwurzel. „Bitte sagen Sie mir, dass die Erlaubnis meines Bruders nach dem Verlust der KC nichtig geworden ist.“ „Es tut mir leid, Kaiba-sama. Ihr Bruder darf auch weiterhin Produkte auf Duel Monsters Basis produzieren“, erklärte Roland. „Verdammt“, fluchte der junge CEO erneut, aber es klang kraftlos. Er hatte eingesehen, dass es ihm nichts brachte zu wüten. Nun musste er seine Energien auf wichtigeres konzentrieren. „Kommen Sie in mein Büro, Roland“, verlangte er. „Wir müssen die Verhandlungen mit Pegasus planen. Das hat jetzt Priorität.“ Der jüngere Kaiba gestand es sich nicht gerne ein, aber er würde die Erfahrung seines Assistenten brauchen, wenn er mit Pegasus fertig werden wollte. Es wusste nicht viel über dessen Verhandlungsstil, abgesehen davon, dass er normalerweise bekam, was er wollte. Sich darauf vorzubereiten, würde noch ein ganzes Stück Arbeit werden. Da wartete wohl ein langer Abend auf ihn. Was für ein toller Start in die Woche, dachte Mokuba sarkastisch. *** Na, geht doch, freute er sich am nächsten Tag mittags. Das hab ich zufriedenstellend geschafft. Die Lizenz, die er ausgehandelt hatte, war zwar nur ein eingeschränktes Herstellungsmonopol – schließlich hatte Seto seine Lizenz noch –, aber mehr hatte er auch gar nicht erwartet. Wenn der Aufsichtsrat von Industrial Illusions zu gestimmt hatte, konnte er seine Produkte weiterhin auf den Markt bringen. Mit Konkurrenz musste er nicht rechnen – auch wenn sie nicht unmöglich war – und mit etwas Glück konnte er das neuste Computerspiel wie geplant an der Tokioer Spielmesse vorstellen. Da war er nach den heutigen Verhandlungen jedoch recht positiv gestimmt. Er hatte deutlich gemerkt, dass es ebenso in Pegasus Interesse war, dass sich die Spiele der KC weiterhin so gut verkauften. Immerhin verdiente der daran mit. Wo ich auch schon beim einzigen Knackpunkt der Verhandlungen bin, aber da war nichts zu machen, dachte Mokuba resigniert. Er hatte es nicht geschafft, seine Preisvorstellungen durchzusetzen. Die Anteile, die Pegasus am Gewinn haben würde, waren deutlich größer, als unter Setos Konditionen, aber wie gesagt, mehr war nicht drin gewesen. Dann wende ich mich doch jetzt der Lösung des nächsten großen Problems zu: Der Suche nach meinem nervigen großen Bruder, entschied Mokuba und der Verhandlungserfolg hatte ihn zuversichtlich gestimmt. Gerade als er nach dem Hörer greifen wollte, um den aktuellen Stand der Suche anzufordern, klingelte das Telefon. Das Display zeigte die Handynummer von Yugi. „Hallo Yugi, was gibt’s?“, meldete er sich gut gelaunt. „Ähm, hier ist Joey“, erklang es lebhaft aus dem Hörer. „Ich benutze nur Yugis Handy. Du weißt schon, hab mal wieder kein Guthaben mehr.“ „Mhm“, bestätigte der junge CEO, denn das Problem kann er zu genüge. Joey hatte ständig kein Geld auf dem Handy. „Jedenfalls wollte ich fragen, ob du heute zusammen mit uns Mittag isst. So wie in den guten alten Zeiten“, plapperte Joey munter drauf los. Mokuba warf einen Blick auf die Uhr. 13 Uhr. Das würde in Ordnung gehen. „Ja, klar“, stimmte er zu. „Treffpunkt wie immer?“ „Jap!“, bejahte Joey und es war ihm deutlich anzuhören, dass er sich über die Zusage freute. „Prima. Gebt mir zehn Minuten, dann bin ich da“, erklärte Mokuba und schaltete dabei schon mal den Computer auf Standby. „Alles klar, bis gleich.“ Damit hatte Joey aufgelegt. Mokuba schnappte sich seinen Mantel und verschwand aus dem Büro. „Sie können jetzt Mittagpause machen“, erklärte er der Sekretärin. „Ich bin in einer Stunde wieder da. Dann will ich die Ergebnisse der bisherigen Suche nach meinem Bruder auf dem Tisch haben.“ „Jawohl, Sir. Ich werde mich gleich darum kümmern.“ Sie nickten sich zum Abschied zu und er machte sich auf den Weg zu seinen Freunden. Als er in dem kleinen Restaurant ankam, in dem sie gerne zu aßen, hatten sie schon bestellt. „Wir haben dir eine Pizza mitbestellt“, erklärte Yugi und lächelte strahlend. „Ich hoffe, das geht in Ordnung.“ „Ja, klar. Das ist super. Ich hab auch nur eine Stunde Zeit“, meinte er und setzte sich zu Yugi, Joey und Bakura an den Tisch. „Cool, dass du es heute geschafft hast“, freute sich Joey und grinste ihn breit an. „Was war denn gestern los? Du warst ziemlich gereizt.“ „Sorry, dass ich so unfreundlich war. Das war nicht gegen dich gerichtet“, entschuldigte er sich, weil er noch ganz genau wusste, dass er etwas ungerecht gewesen war. „Aber keine zwanzig Minuten vorher hatte Pegasus angerufen und mir mitgeteilt, dass die KC ohne Seto nicht mehr die Lizenz hat, Duel Monsters in die Spiel zu integrieren.“ „Oh je“, murmelte Bakura. „Und was hast du nun gemacht?“ „Wir haben heute neu verhandelt. Die Konditionen sind zwar nicht ganz so gut wie vorher und der Betriebsrat von Industrial Illusions muss den Vertrag noch absegnen, aber ich bin ganz zuversichtlich, dass ich das neue Spiel auf der Tokioer Spielmesse präsentieren kann“, erzählte Mokuba von seinem erfolgreichen Vormittag. Es war schön, sich mitzuteilen. „Das ist ja prima“, strahlte Yugi ihn an. Mokuba lächelte und war stolz auf sich. „Ich hab immer gesagt, der Junge hat es drauf“, rief Joey aus und schlug ihm kumpelhaft auf den Rücken. Mit dem Schlag hatte der überhaupt nicht gerechnet und verschluckte sich prompt an dem Schluck Wasser, den er gerade genommen hatte. „Ähm … sorry.“ „Alles okay“, hustete Mokuba und zwang ein Grinsen auf seine Lippen. „Wie läuft es eigentlich mit der Suche nach deinem Bruder?“, fragte Bakura und versetzte Mokubas guter Laune einen kleinen Dämpfer. Eigentlich wollte er jetzt nicht über Seto sprechen. „Läuft immer noch. Ich habe gerade die bisherigen Ergebnisse angefordert“, erklärte er und zuckte mit den Schultern. „Lange kann es eigentlich nicht mehr dauern, bis wir ihn finden.“ „Ich hoffe, du findest ihn bald“, meinte Yugi besorgt. „Nicht, dass ihm noch etwas passiert.“ „Was soll dem denn schon groß passieren?!“, fragte Joey unbekümmert. „Er hat genügend Geld, um in der nächsten Zeit gut über die Runden. Ich meine, Kaiba mag zwar vieles sein, aber ganz bestimmt nicht dumm. Der wird schon irgendwie einen Job finden.“ „Ja schon“, sagte Bakura nachdenklich. „Aber er tickt nicht wie andere Menschen. Er wird wahrscheinlich anders handeln, als wir es tun würden. Es würde mich nicht wundern, wenn er in Schwierigkeiten gerät.“ „Und wenn schon. Er muss sich eben an die Probleme von ‚Nichtreichen‘ gewöhnen“, murmelte Mokuba gleichgültig. „Der kommt schon irgendwie klar. Mir ist nur wichtig, dass er mir keinen Ärger macht.“ Daraufhin sagte Yugi und Bakura nichts mehr. Joey stimmte fröhlich zu. Es schien ihm sichtlich Spaß zu machen, Kaiba mal „am Boden“ zu sehen. Kapitel 16: Morgens halb zehn in Amerika ---------------------------------------- Morgens halb zehn in Amerika Genau wie am Sonntag betrat Kaiba gegen acht Uhr das kleine Café. „Pünktlich“ bis hierher zu gelangen war an diesem Tag allerdings wesentlich schwieriger gewesen. Lana sei Dank. Schon auf dem Weg ins Bad waren sie sozusagen „kollidiert“. Kaiba seufzte. Sie mussten dringend einen Plan für den morgendlichen Ablauf entwerfen. Noch einmal fünf Minuten sinnlos zu diskutieren, wer als erstes ins Bad ging, nur um sich danach immer noch nicht wirklich einig zu sein, darauf hatte er absolut keine Lust. Beim Frühstückmachen waren sie erneut aneinander geraten, was so oder so schon eine Leistung war, da Kaiba nur ein-zwei Tassen Kaffee gewollt hatte. Nach dem Chaos war es unumgänglich gewesen zu hetzen. Es musste der nächste Kompromiss her, so ungern Kaiba das auch zu gab. Diese morgendliche Unruhe gehörte ganz eindeutig in die Kategorie „Einmal und nie wieder“. Glücklicherweise schien Lana das genauso zu sehen. Zumindest ließ ihr abgehetzter, wütender Gesichtsausdruck dies vermuten. „Einen Kaffee, bitte“, bestellte er bei Charlie wie am Morgen zuvor. Er saß am selben Tisch und hatte auch schon seinen Videokameraknopf platziert. Heute würde er keine Mitschrift machen. Er wollte sich auf Nerea konzentrieren, so wie es der Plan vorsah. Zumal ihm seine Aufnahmen das Material lieferten, dass er benötigte. In der Viertelstunde, die er warten musste, schürfte er genüsslich seine erste Tasse Kaffee und studierte die Essenskarte. Das Omelette war gut gewesen, aber es gab auch verschiedene Sandwiches, Toasts, Pancakes, Waffeln, Salate … „Hab ich mir doch gedacht, dass ich Sie hier heute wiederantreffe“, sprach er Nerea an, als sie schließlich den Gang hinunter kam. Er hatte den Kopf auf einer Hand abgestützt und lächelte freundlich, was nach seinem miserablen Morgen gar nicht so einfach war. „Hallo“, begrüßte sie ihn und warf ein strahlendes Grinsen zurück. Sie deutete auf die Sitzbank ihm gegenüber und fragte: „Darf ich?“ „Gern“, antwortete er erfreut. „Danke!“ Sie ließ sich auf die Bank plumpsen und schälte sich aus ihren Winterklamotten. Wie am Tag zuvor legte sie ihren Camcorder auf den Tisch. Dieses Mal jedoch in einer Schutztasche, die verbarg, ob das Gerät eingeschaltet war. Daran hegte Kaiba jedoch keinen Zweifel. „Die Pancakes mit Ahornsirup sind echt lecker“, empfahl Nerea ihm, als sie ihn in der Karte blättern sah. „Seitdem ich das letzte Mal irgendetwas mit Ahornsirup gegessen habe, hat sich mein Geschmack so sehr verändert, dass ich arg bezweifele, dass er mir noch schmeckt“, erklärte Kaiba wahrheitsgemäß. Automatisch legte sich ein Lächeln um seine Mundwinkel. „Aber trotzdem danke für den Tipp.“ „Wann haben Sie denn das letzte Mal welchen gegessen?“, fragte sie neugierig. Kaiba gab einen ratlosen Laut von sich. „Keine Ahnung. Als ich zehn war … vielleicht“, meinte er vage. Er konnte sich tatsächlich nicht mehr genau daran erinnern. Jedenfalls war das zu einem Zeitpunkt gewesen, zu dem sein Vater noch gelebt hatte. „Oh. Das ist wirklich lange her“, stimmte Nerea zu und schien nun erst glauben zu können, dass sich sein Geschmack tatsächlich so sehr veränder haben könnte. „Was halten sie denn davon? Dann können Sie alles Mögliche probieren.“ Sie hatte sich über den Tisch gebeugt und deutete auf die Nummer 24. Kaiba folgte ihrem Finger und erkannte in dem Gericht eine Zusammenstellung von Pancakes mit verschiedenen Aufstrichen und Belagen … für zwei Personen. „Nur, wenn wir teilen“, meinte er schließlich. Er ging zwar davon aus, dass das ihre Absicht war, aber lieber ging er auf Nummer sicher. „Ich esse zwar gern und probiere auch so manches aus, aber so viel verputze ich morgens niemals.“ Nerea lachte leise. Sein lockerer, umgangssprachlicher Plauderton gefiel ihr anscheinend tatsächlich. Ganz so wie er es beabsichtigt hatte. Gelogen hatte er auch nicht. Er aß unumstritten gern, auch wenn Essen in so mancher Arbeitslage schon mal zur Nebensache wurde. Als Geschäftsmann, der viel herumkam, hatte er stets die verschiedenen Esskulturen ausprobiert. Eine Angewohnheit, die er seinem Babysitter zu verdanken hatte … wie auch seine letzten Pancakes mit Ahornsirup. „Einverstanden“, erklärte Nerea und rief nach Charlie. „Wir nehmen die 24. Irgendwie muss ich ihn ja dazu bringen, Ahornsirup zu essen und seine Meinung darüber zu überdenken“, erklärte sie augenzwinkernd. Charlie grinste. „Sir, ich rate Ihnen, sagen Sie, dass Ihnen das Zeug schmeckt, egal ob es stimmt. Der Ahornsirup-Junkie hier wird Sie ansonsten damit verfolgen, bis er Sie umgestimmt hat.“ „Danke. Das werde ich mir merken“, sagte Kaiba und grinste zurück. Nerea nahm den Scherz gelassen. „Also, falls Sie das noch nicht mit bekommen haben: Ich bin Nerea“, meinte sie, nachdem sie ihre restliche Bestellung – ein weiterer Kaffee und ein Cappuccino – aufgegeben hatten. „Seto“, stellte er sich vor und tat so, als würde er über ihre Art der Vorstellung lächeln. „Freut mich sehr.“ „Das klingt asiatisch“, erwiderte Nerea und die Neugier war ihr deutlich anzusehen. „Mein Vater war Japaner“, gab Kaiba zu. Er hatte lange überlegt, ob er sich nicht eine alternative Familiengeschichte mit falschen Namen ausdenken sollte, hatte sich aber dagegen entschieden. In der Wahrheit konnte er sich nicht verzetteln. Dinge, die zu viel von ihm Preisgeben konnten, würde er aussparen, was einer Fremden gegenüber nicht ungewöhnlich wirken würde. Auch der Name „Seto“ war für jemanden mit japanischer Abstammung nichts Unnormales. Zumal niemand damit rechnete, dass er seinen echten Namen benutzte, wo die Zeitungen doch titelten, er wäre untergetaucht. „Also hat sich Ihr Vater bei der Namenswahl durchgesetzt?“, hakte Nerea interessiert nach. „Nein, eigentlich lief das recht gleichwertig ab. Mein Vater wollte aufgrund des Nachnamens auch einen japanischen Vornamen. ‚Seto‘ hat aber meine Mutter ausgesucht. Zumindest, wenn man nach den Geschichten geht, die so erzählt wurden“, erklärte Kaiba. Angeblich war sein Name eine Erinnerung an den Ort, wo sich seine Eltern zum ersten Mal begegnet waren: Dem Seto-Inlandsee. Er wusste nicht, ob das so stimmte, aber es war eine der Geschichten, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit zum Besten gegeben worden war. „Und wie sieht es bei Ihnen aus?“, fragte er, weil Familiengespräche eigentlich immer eine gute Grundlage waren, um Nähe zu erzeugen. „Auf wessen ‚Mist‘ ist Ihr Name gewachsen?“ „Auf dem meiner Mutter“, entgegnete Nerea und lächelte breit. „Zum Glück. Ich will gar nicht erst wissen, was für Vorschläge mein Stiefvater hatte.“ „Ihren leiblichen Vater haben sie gar nicht gekannt?“, hakte er nach, weil es sich sehr danach anhörte. „Nein, hab ich nicht“, antwortete sie und es klang abweisend. Das war ganz eindeutig ein Thema, über das sie nicht sprechen wollte. Gut möglich, dass es ein Streitpunkt zwischen ihr und ihrer Mutter war. „Und was treibt Sie nach New York?“, fragte sie fröhlich und schlug ein anderes Thema an. „Familiäre Angelegenheiten“, meinte Kaiba, der mit dieser Frage schon gerechnet hatte. Allerdings konnte er nicht verhindern, dass er ein wenig verärgert und genervt klang. „Stress mit deinen Eltern?“, hakte Nerea nach. „Meine Eltern sind schon eine Weile tot“, sagte Kaiba und ein bisschen Traurigkeit legte sich mühelos mit in seine Züge. Er lächelte hintergründig. „Aber ich hab ja noch andere Familienmitglieder. Ob ich das so gut finde, hab ich allerdings noch nicht entschieden.“ Nerea lachte und Kaiba stellte zufrieden fest, dass er gar nicht so schlecht bei ihr ankam. Dafür hatte er bisher nicht einmal lügen müssen. Selbst seine letzte Aussage entsprach der Wahrheit. Im Moment konnte er zwar niemanden aus seiner Familie mehr leiden, aber in gewisser Weise war es gut, dass es seine diebische Verwandtschaft noch gab. So absurd das auch klang. In seiner jetzigen Situation kam es ihm sehr gelegen, dass sie einiges von seinem Geld hatten, das er sich nun zurückholen konnte. „Sie sind heute Morgen aber wesentlich besser gelaunt als gestern“, stellte Nerea fest, wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel und blickte ihn fragend an. „Hm, ja. Ich hab mich noch nicht so recht daran gewöhnt, in einer Wohngemeinschaft zu leben“, antwortete Kaiba und zuckte mit den Schultern. „Manchmal gibt es halt mehr und manchmal eben weniger Ärger.“ „Tja, da ist wohl etwas dran“, bestätigte sie nachdenklich. „Aber ich glaube, würde ich außerhalb von New York studieren, zöge ich in eine WG. Bestimmte Erfahrungen sind nützlich, auch wenn sie einem in dem Moment unglaublich auf die Nerven gehen.“ „Bedingt“, sagte Kaiba trocken in lebhafter Erinnerung an den heutigen Morgen, was Nerea schmunzeln ließ. „Was studieren sie denn?“ „Noch gar nichts“, erklärte sie und Kaiba bemerkte sofort die leichte Wut und den Ärger. „Wenn ich genügend Geld zusammen habe, will ich aber Informatik und Medienwissenschaft studieren.“ „Informatik?“, echote er unbewusst. Mit diesem Studienwunsch hätte er wirklich nicht gerechnet. Sie wirkte nicht wie jemand, der sich gerne und viel mit Computern beschäftigte. „Ja, ich interessiere mich unglaublich für die neuen Medien und ich programmiere gern“, antwortete sie und es schien so, als wäre sie diese Frage schon gewohnt. Glücklicherweise kam sie nicht mehr dazu, die nun naheliegende Frage zu stellen – was er studiert hatte beziehungsweise wo er arbeitete –, denn Charlie kam mit mehreren vollbeladenen Tellern auf sie zu. So kam er nicht in die Situation, lügen zu müssen. „Uhu. Das sieht aber echt gut aus“, rief Nerea aus, was Charlie ein breites Grinsen auf die Lippen zauberte. „Denken Sie dran, Ahornsirup schmeckt wunderbar!“, sagte er, nachdem er das Essen auf dem Tisch platziert hatte, und zwinkerte Kaiba zu. Der bestricht einen der kleinen Pancakes mit dem Sirup, nahm einen Happen und verkündete: „Selbstverständlich.“ Charlie lachte und wendete sich zum Gehen. „Sagen Sie einfach Bescheid, wenn sie noch etwas brauchen“, meinte er und wich dabei einem leichten Boxhieb von Nerea aus, die sich damit spielerisch für den Witz auf ihre Kosten revanchierte. „Jetzt mal ernsthaft: Wie schmeckt es Ihnen?“, fragte sie. Darüber musste Kaiba erst einmal nachdenken. Wenn er ehrlich war, dann war es halb so schlimm. Er hatte erwartet, dass es ihm schlechter schmecken würde. „Es ist in Ordnung, aber früher hat es mir besser geschmeckt“, sagte er schließlich. „Okay. Dann behalten Sie es so lecker in Erinnerung und geben mir den hier“, erklärte Nerea und ehe Kaiba reagieren konnte, hatte sie sich den angeschnittenen Pancake von seinem Teller geschnappt. Nach dem ersten Stück schloss sie genießerisch die Augen. „Das geht doch in Ordnung?“, fragte sie verspätet nach Erlaubnis. „Klar“, erwiderte Kaiba und zwang ein Lächeln auf seine Lippen. „Sie fahren auf das Zeug echt ab, hm?“ „Ehm-hm“, machte Nerea mit vollem Mund gedehnt. „Früher hat meine Mutter sie immer zu besonderen Anlässen gemacht. Seitdem ich aber selbst öfter koche, gibt es sie morgens häufiger.“ Kaiba nahm sich seinen „zweiten“ Pancake und wählte dazu eine Gemüse-Hähnchen-Mischung als Belag. Er aß in der Regel lieber herzhaft, obwohl er gegen Obst nichts einzuwenden hatte. Es wunderte ihn, dass es überhaupt Herzhaftes gab. Normalerweise waren Pancakes zum Frühstück in Amerika immer süß. Als er Nerea darauf ansprach – schließlich arbeitete sie im Café –, erklärte sie ihm, dass sie viele ausländische Gäste hatten und früher oft danach gefragt wurde, so dass die Karte letztendlich umgestellt wurde. Als sie das Frühstück beendeten, war Kaiba unglaublich satt. So viel hatte er morgens in der letzten Zeit nie gegessen. Neben den herzhaften Varianten hatte er noch Pancakes mit Erdbeeren und Sahne, mit Bananen und Schokoladensoße sowie mit einem Waldbeerenmix verzehrt. „Hui. Ich hätte nicht gedacht, dass ihr das schafft“, sagte Charlie anerkennend, als er abräumte. „Der Mann verdrückt mehr, als er und seine Figur zugeben wollen“, witzelte Nerea, schien aber tatsächlich erstaunt, dass er solche Mengen gegessen hatte. „Was sich auch ganz schnell ändert wird, wenn ich häufiger zu ausgiebig frühstücke“, erwiderte Kaiba grinsend. „Ich glaub, ich platze gleich.“ „Es freut mich, dass es so gut geschmeckt hat“, sagte Charlie und verschwand mit dem Geschirr. „Oh Mann. Es ist schon kurz vor neun. Ich muss gleich an die Arbeit“, bemerkte Nerea, sehr begeistert war sie nicht. „Bleiben Sie noch ein bisschen? Dann könnte ich meine Sache vorerst noch hier liegen lassen.“ „Ein-zwei Kaffee trinke ich noch. Also ist das kein Problem“, erwiderte Kaiba und lächelte freundlich. „Dankeschön!“, antwortete Nerea und machte sie kurz darauf an die Arbeit. In den nächsten 20 Minuten gesellte sie sich jedoch ab und an zu ihm, um ein wenig zu plaudern und damit die Zeit zu überbrücken, in der sie gerade nichts zu tun hatte. Um kurz vor halb zehn kam Charlie zu Kaiba an den Tisch. „Das kann so nicht weiter gehen“, murmelte er in Gedanken versunken, aber Ärger und Besorgnis schwangen in seiner Stimme deutlich mit. Zu Kaibas Verwunderung griff er sich Nereas Camcorder und steuerte auf eine Tür mit der Aufschrift „NUR FÜR ANGESTELLTE“ zu. Kaiba wusste nicht, was er davon halten sollte, sah darin aber eine gute Möglichkeit mehr über Nereas Vorhaben in Erfahrung zu bringen. Vielleicht wusste ihr Kollege etwas und eine Auseinandersetzung zwischen den beiden würde ihn weiterbringen. Also winkte er Nerea herbei. „Was ist los?“, fragte sie verwundert. „Charlie hat sich gerade Ihre Kamera geschnackt und ist damit in einem eurer Angestelltenräume verschwunden“, teilte er ihr mit und beobachtete sorgfältig ihre Reaktion. Sie wurde wütend und rauschte sofort ihrem Kollegen hinterher. Hinter ihr blieb die Tür einen Spaltbreit offen stehen, sodass Kaiba leise aber deutlich ihre Stimmen verstehen konnte. „Was soll das? Was tust du da?“ „Ich lösche deine Aufzeichnungen. Das geht so nicht.“ „Sag mal, spinnst du?!“, rief sie aus und Geräusche einer kleinen Rangelei drangen zu Kaiba hinüber. Ein Glück, dass in dieser Ecke des Cafés außer ihm niemand saß. „Gibt her!“ „Nerea, komm zur Vernunft. Du machst dich damit nur unglücklich!“ „Ich werd das so nicht auf mir sitzen lassen. Der Kerl hat mir 10.000 Dollar gestohlen.“ In ihren Stimmen klang Anstrengung mit. Aber langsam bekam Kaiba eine Vorstellung davon, worum es Nerea ging. Irgendjemand, der im Gebäude gegenüber wohnte, hatte sie um das Geld gebracht, mit dem sie einen Teil ihres Studiums finanzieren wollte. Kein Wunder, dass sie sauer war. „Das weiß ich. Und ich versteh auch, dass du wütend bist. Aber das ist Terry Pierce. Das wird kein gutes Ende nehmen.“ Es fehlte nicht viel und Kaiba hätte geflucht. Das Mädel wollte sich mit einem gnadenlosen Geschäftsmann anlegen. Das konnte im Grunde wirklich nicht gut gehen. Terry Pierce machte unschöne Geschäfte – was die Art anging, der Gewinn ließ sich wohl sehen – und das mit unschönen Methoden. Wenn sie bei ihm einbrechen wollte, dann würde das mit Sicherheit auffallen und daraus ein riesiges Trara entstehen. Etwas, das Kaiba momentan wirklich nicht gebrauchen konnte. Kurz entschlossen erhob er sich und ging zu dem Raum hinüber, in dem die beiden stritten. Vielleicht konnte er Charlie helfen, sie umzustimmen. Dann hätte er ein großes Problem weniger. „Mann, Nerea denk nach. Leg dich nicht mit ihm an! Der Kerl ist skrupellos“, appellierte Charlie noch mal an ihren Verstand. „Das stimmt allerdings. Eine so schöne Frau sollte sich wirklich nicht mit Terry Pierce anlegen“, sagte Kaiba ernst aber charmant. Die beiden schauten ihn überrascht an. „Was hat die Entscheidung mit meinem Aussehen zu tun?“, zischte Nerea wenig später verärgert. Er konnte jedoch erkennen, dass sie sich aufgrund des Kompliments durchaus geschmeichelt fühlte. „Es wäre schade um Ihr hübsches Gesicht, wenn Sie erwischt werden.“ Kapitel 17: Selbst ist die Zerstörung ------------------------------------- Selbst ist die Zerstörung Entsetztes Schweigen folgte auf Kaibas Einschätzung. Charlie wirkte zudem ein wenig hoffnungsvoll. Die Unterstützung schien ihm ziemlich gelegen zu kommen. „Sie setzen ja geradezu voraus, dass ich erwischt werden“, brach Nerea provokant die Stille. Seine Wortwahl war unmissverständlich gewesen. „Stimmt“, bestätigte Kaiba ungerührt. „Wenn Sie vorhaben im Gebäude gegenüber in das Appartement von Terry Pierce einzubrechen, dann werden Sie hundertprozentig erwischt.“ „Woher wollen Sie das wissen?“, fragte sie und regte stolz das Kinn. „Sie haben überhaupt keine Ahnung, was ich plane.“ „Ach, Sie haben also Kenntnis von den Dienstplänen und Gewohnheiten des Wachpersonals, Sie haben sich ins System gehackt und die Sicherheitscodes für die Türen geknackt, Sie haben das Überwachungskamerasystem angezapft und können die einzelnen Kameras jederzeit in eine Schleife legen, Sie haben eine plausible Begründung, warum sie da gewesen wären, sodass Sie von Pierce nicht verdächtig würden. Na wenn das so, entschuldigen Sie meine Mutmaßung“, spöttelte Kaiba knallhart. Bei ein paar dieser Dinge haperte es bei ihm selbst auch, aber er wollte sich nicht mit Terry Pierce anlegen. Er wollte sich nur ein paar Unterlangen holen, von denen Mokuba noch nicht einmal wusste, dass sie existierten. Selbst wenn er von seinem Bruder erwischt werden würde, müsste er nicht um sein Leben fürchten. „Nein“, gestand Nerea ein wenig geknickt ein, „aber ich kümmere mich darum. Im System war ich bereits, aber zu den Kameraoptionen und den Schlüsselcodes bin ich noch nicht ganz vorgedrungen, weil ich aus Sicherheitsgründen das System wieder verlassen musste. Einen Grund fürs Reinkommen habe ich problemlos, wenn Charlie sich nicht querstellt. Und wen interessiert es, wenn Terry Pierce mich verdächtigen sollten, solange er mir nichts beweisen kann?“ „Dich sollte es interessieren“, antwortete Kaiba prompt und blickte sie vertraulich an. Er musste sie von diesem halsbrecherischen Plan abbringen, auch wenn er da gerade einige interessante Informationen erhalten hatte. „Es ist ihm nämlich ganz egal, ob er es beweisen kann. An das Rechtssystem hält er sich so oder so nicht. Wenn er denkt den Schuldigen gefunden zu haben, dann erledigen seine Leute das einfach selbst. Und du willst mit Sicherheit nicht grün und blau geschlagen und mit zerkratzten Gesicht ins Krankenhaus eingeliefert werden oder gar tot im Straßengraben liegen.“ Bestürzt schlug Nerea die Augen nieder. „Nein, das will ich nicht!“, stimmte sie leise zu. „Aber ich will verdammt noch mal mein Geld zurück.“ „Du solltest dir überlegen, ob die 10.000$ es dir wert sind, das Gesetz mit den Füßen zu treten und dein Leben aufs Spiel zu setzen“, sagte Kaiba eindringlich. Das klang absolut vernünftig. Es war nur fraglich, ob Nerea darauf anspringen würde. Sie war verdammt sauer, was er durchaus nachvollziehen konnte. Er selbst war auch kaum zu halten gewesen, wenn jemand versucht hatte, ihm Geld zu stehlen. „Er hat Recht“, pflichtete ihm Charlie bei. „Ich weiß, dass es ärgerlich ist, diese Summe verloren zu haben, aber das Studium bringt dir keinen Spaß, wenn du ständig fürchten muss, dass dir jemand ein Messer in den Rücken rammt, weil Pierce herausgefunden, wer die 10.000 genommen hat.“ „Denk gut darüber nach“, sagte Kaiba und lächelte sie aufmunternd an. Er fand, er hatte jetzt genug an ihren Verstand, von dem sie ja durchaus eine Menge zu haben schien, appelliert und wandte sich um. Auf seinem Platz ließ er als erstes die Knopfkamera in der Tasche verschwinden und trank den Rest seiner Tasse Kaffee. Als Nerea wenig später wieder das Lokal betrat, bat er um die Rechnung. Das Vorgefallende verbarg sie professionell hinter einem Lächeln. „Kommst du morgen wieder?“, fragte sie und war damit ebenfalls beim Duzen angekommen. Sie lächelte ein wenig verlegen. „Wenn du willst“, antwortete er lächelnd und legte kurz nachdenklich den Kopf schräg. „Nein, eigentlich egal, ob du willst. Ich komme auf jeden Fall!“ Er zwinkerte ihr grinsend zu. Seine Antwort schien sie etwas fröhlicher zu stimmen. Die Rechnung beinhaltete auch ihren Cappuccino, allerdings war ihr Mitarbeiterrabatt angerechnet worden. Da das kaum mehr war, als er hätte normalerweise ausgeben müssen, beschloss er ganz Gentlemanlike, ihren Teil mit zu bezahlen. Ihren Protest werte er mit einem charmanten, gönnerhaften Lächeln ab, sodass sie sich schließlich bei ihm bedankte. „Bis morgen“, verabschiedete sich Nerea freudestrahlend. „Bis morgen!“, erwiderte Kaiba und grinste leicht. Er berührte sie aufmunternd an der Schulter. „Lass dich davon bloß nicht unterkriegen!“ „Ich versuch’s!“, versprach sie, aber er konnte nicht sagen, wie sie sich letztendlich entscheiden würde. Als Kaiba gerade die Treppe zur U-Bahn hinabsteigen wollte, klingelte sein Handy. Er blieb in der Nähe des Eingangs stehen und nahm ab. Das konnte nur Lana sein. „Was gibt’s?“, fragte er knapp und in Erinnerung an den Morgen auch nicht sonderlich begeistert. „Hi! Du musst mir einen großen Gefallen tun. Du musst dich auch den restlichen Monat nicht mehr am Haushalt beteiligen“, erklärte sie und klang ziemlich flehentlich. Das musste tatsächlich ein großer Gefallen sein, wenn sie das von sich aus anbot. „Der da wäre?“, fragte er doch ein wenig neugierig. Ablehnen konnte er immer noch. Wenn möglich würde er dieses Angebot nicht ausschlagen. „Du musst für mich einen Kuchen backen“, sagte Lana. „Ich soll was?“, entgegnete Kaiba ungläubig. Das konnte unmöglich ihr Ernst sein. „Ja, ich weiß, wie das klingt“, sagte sie, und ihr schien auch nicht wohl dabei. „Ich würde dich auch nicht darum bitten, wenn es nicht wirklich dringend wäre. Ich habe mit einem Kollegen um einen selbstgebackenen Kuchen gewettet und über das Wochenende und dein Kommen habe ich es total vergessen.“ „Kannst du ihm das nicht einfach sagen?“, erwiderte Kaiba. Er hatte weder Lust darauf, einen Kuchen zu backen, noch auf weiteren Streit mit ihr. Beides würde Zeit in Anspruch nehmen, die er dringend anderweitig gebrauchen konnte. Er war versucht, einfach hinunter in die U-Bahn-Station zu steigen und zu warten, bis die Verbindung abbrach. So gut, konnte selbst sein Handy-Netz nicht sein. Er würde das Gerät ausschalten und später einfach behaupten, der Akku wäre ihm abgeschmiert. „Du weißt doch, wie das mit Wetten ist. Ich würd es ja selbst machen, aber ich komme hier niemals früh genug weg, sodass er bis heute Nachmittag noch fertig wird. Bitte! Es muss auch nur eine Fertigbackmischung sein. Das ist wirklich nicht übermäßig kompliziert“, flehte und argumentierte Lana. „Ich beteilige mich diesen Monat nicht mehr am Haushalt und ich habe etwas gut bei dir“, sagte Kaiba schließlich. So schlimm konnte das mit der Fertigmischung wirklich nicht sein. Die Erklärungen waren sicherlich für den letzten Depp geschrieben. Allerdings war Kaiba nicht ganz überzeugt davon, dass er, was das Thema „Backen“ betraf, nicht in diese Kategorie fiel. „Einverstanden. Ich danke dir!“, sagte Lana glücklich. „Bis heute Mittag. Ich bring auch Essen mit!“ „Freu dich bloß nicht zu früh“, murmelte er, aber da hatte sie schon aufgelegt. Zu Hause angekommen schloss er als erstes die Knopfkamera an seinen Laptop an und startete die Datenübertragung. Die war sicherlich schon fertig, nachdem er sich Lanas Küchenschränken zugewandt und den ersten auf gut Glück geöffnet hatte. Gläser, Tassen, Becher. Nein, davon konnte er nichts gebrauchen. Ebenso wenig Pfannen und Kochtöpfen. Tür auf, Tür zu. Schublade auf, Schublade zu. Bis er schließlich das gefunden hatte, von dem er wusste, dass er es benötigte. Eine Zitronenkuchenbackmischung und eine Kastenform. Als er die Anleitung auf dem Karton las, stellte er zufrieden fest, dass er definitiv nicht in die Kategorie „letzter Depp“ fiel. Auf die Idee die Backmischung nicht aus der Plastikverpackung zu nehmen, wäre er nicht einmal ansatzweise gekommen. Aber es musste ja Leute geben, die es samt Verpackung weiter verarbeitet und sich danach auch noch beim Hersteller beschwert hatten. Manche Menschen sind ja so etwas von dumm, dachte er abfällig. Kaiba hielt sich strikt an die Packungsanleitung. Glücklicherweise wurde nicht vorausgesetzt, dass man die verschiedenen Ofeneinstellungen kannte und so konnte er stumpf die Zeichnungen an Herd und Verpackung vergleichen. Kurz spielte er mit dem Gedanken, die Form weder einzufetten noch mit Backpapier auszulegen, schließlich war er ja nicht der Dumme, der den Kuchen später aus der Form bekommen musste, aber da er annahm, dass Lana jegliches Gemecker ihres Kollegen mit eigener Verstärkung weiterleiten würde, hielt er das für keine so gute Idee. Da war der Zeitaufwand, das Blech mit Backpapier auszukleiden, wesentlich geringer. Genervt über die Sauerei stellte er die Backmischung fertig, wobei ihm dieses dämliche Ei am meisten Ärger bereitete. Er hatte es noch nie richtig gekonnt, das Teil so anzuschlagen, dass keine Schale in den Teil fiel. Nachdem er die Backmischung in die Form gekippt und sich sogar die Mühe gemacht hatte, den Teig halbwegs gleichmäßig zu verteilen, kam das Blech in den Ofen und er stellte noch schnell seinen Handywecker – wohlgemerkt nachdem er sich sorgfältig die Hände gewaschen hatte. Kaiba ließ alles stehen und liegen, wie es war, – schließlich hatte Lana versprochen, den restlichen Monat den Haushalt zu machen – und wandte sich wieder seinem Laptop zu. Jetzt konnte er sich endlich wieder wichtigen Dingen zu widmen. Bevor er den Kuchen rausnehmen musste, schaffte er ein Viertel seiner Auswertung. Dieses Viertel ebenso wie die drei anderen brachte keine bahnbrechenden Erkenntnisse. Nachdenklich lehnte Kaiba sich auf dem Küchenstuhl zurück. Er brauchte die Übertragung der Kameras unbedingt. Seine jetzigen Informationen waren zu dünn. Und er bezweifelte, dass er mit den restlichen Tagen der Woche eine ausreichende Fülle erlangen konnte. Wahrscheinlich könnte er monatelang den Aufenthaltsraum beobachten, ohne das Material zu bekommen, dass er benötigte. Er seufzte. Es musste doch irgendeine Möglichkeit geben, eine Kameraübertragung herzustellen. Soweit er wusste, war es ein geschlossenes System. Aber vielleicht wurde es auch noch in Nachbargebäude desselben Eigentümers benutzt und er konnte sich von dort aus in das Überwachungssystem hacken. Er schüttelte den Kopf. Theoretisch war das zwar machbar, aber es würde sicherlich aufwendig werden. Und dafür, dass er nicht einmal wusste, ob das System in mehreren Gebäuden genutzt wurde, war ihm das Risiko zu hoch. Zumal er keine Idee hatte von außerhalb herauszufinden, ob es so war. Vielleicht könnte er sich Nereas bedienen. Sie könnten einen Deal machen. Denn sie durfte auf keinen Fall versuchen, Terry Pierce zu bestehlen. Unbemerkt würde dieser Raub niemals bleiben und damit standen die Chancen hoch, dass auch Kaibas Einbruch bemerkt wurde. Ungeachtet dessen, das er nicht wusste, wie eine Absprache aussehen konnte, sinnierte Kaiba über die Vorteile, die ihm das bringen konnte. Sie schien einen sicheren Weg hinein und wieder hinaus zu kennen. Ihrer Andeutung nach sollte das über Charlie laufen, also hatte das Café wohl irgendwie damit zu tun. Eventuell ließ sich einer der Hausbewohner regelmäßig Frühstück bringen. Er müsste das natürlich abklären, aber die Wahrscheinlichkeit war groß, dass sie für ihn die Geräte anbringen konnte, die zur Datenübertragung nach draußen nötig waren. Auf Grund dessen, was er heute gehört hatte, schien sie dazu durchaus in der Lage zu sein. Allemal, wenn er sie genau instruierte. Sich in das Computersystem des Gebäudes zu hacken, erforderte schon ein gewisses Maß an Können. Damit stand fest, was Nerea ihm möglicherweise bieten konnte. Die Frage war nur, was er ihr im Gegenzug geben konnte. Er nahm an, dass einzige, was sie zufrieden stellen konnte, war Geld … und eine anderweitige Rache an Pierce. Den Gedanken, sie einfach im Glauben zu lassen, er wollte ihr bei ihrem Diebstahl helfen, hatte er sofort verwerfen müssen. Dabei hatte er genau dasselbe Problem, wie wenn sie es alleine versuchen würde. Auch wenn er sie betrog, würde sie es versuchen. Da war er sich absolut sicher. Terry Pierce durfte kein Geld abhandenkommen, weil er es sofort bemerken würde und damit eine Überprüfungslawine loslösen würde, die das Gebäude miteinbezog. Deshalb musste für Nerea von Anfang an klar sein, dass es nicht Ziel war, ihm Geld zu stehlen. Kaiba würde sie für ihre Dienste bezahlen müssen. Dummerweise hatte er momentan selbst nur gerademal 10.000$. Davon würde er ihr mit Sicherheit nichts abtreten. Er könnte Lana bitten, was er aber nach Möglichkeit vermeiden wollte. In seiner Situation Lana Geld zu schulden, klang alles andere als reizvoll – nun ja, vielleicht Brechreizvoll. Nachdenklich rieb er sich die Augen. Gab es denn keine andere Möglichkeit, abgesehen davon sich etwas zu leihen? Arbeiten kam nicht in Frage – zu sehr in der Öffentlichkeit und er hatte weder Zeit noch Lust dazu. Stehlen fiel ebenfalls aus – das würde auch nur Aufmerksamkeit auf sich ziehen. … Außer er würde … ja natürlich, im Tresor seines Penthouses war genug Geld und dank seiner letzten alleinigen New York Reise sogar mehr, als Mokuba oder Roland annahmen. Kaiba grinste zufrieden. Ja, das Geld sollte nicht das Problem sein. Vorausgesetzt er kam in das Appartement bevor Mokuba das erste Mal in New York war. Was die Rache anging, die er Nerea anbieten konnte, musste er genauere Informationen haben. Er war jedoch überzeugt davon, dass ihnen – Lana, Nerea, ihm selbst und vielleicht auch Charlie – etwas Passendes einfallen würde, das umsetzbar war, wie ein Unfall aussah und Pierce mächtig ärgern würde. Das Zitronenaroma stieg ihm in die Nase, während er seinen Plan ein wenig ausarbeitete. Grübelnd wanderte sein Blick durch die Küche und blieb schließlich an der Backmischungspackung hängen. Automatisch schweiften seine Gedanken ab. Vor langer Zeit hatte er auch so etwas haben wollen. Immer weiter verlor er sich in seinen Erinnerungen. Als er später auf seinen Laptop schaute, hob er überrascht eine Augenbraue. Wehmütig lächelnd schüttelte er den Kopf. Sein Unterbewusstsein spielte ihm in letzter Zeit wohl gerne Streiche. Er hatte den Text schon markierte und wollte ihn gerade löschen, als er inne hielt. Er roch Zitronenaroma und das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Warum eigentlich nicht? … Selbst ist die Zerstörung. Kapitel 18: Sauer macht lustig ------------------------------ Sauer macht lustig „Taroooo“, maulte Seto, schlenkerte mit den Beinen und zupfte leicht an den schwarzen Locken. „Ja, Setoooo“, erwiderte der seelenruhig, hatte aber zumindest die Güte, ihn anzugucken. „Was ist denn?“ „Ich will runter“, verlangte der Sechsjährige ernst. „Na gut, aber schön hier geblieben“, seufzte Taro und setzte Seto ab, der auch prompt versuchte ein Stück wegzuspringen. Murrend musste er jedoch einsehen, dass Taro damit gerechnet hatte, denn er erwischte ihn mühelos an der Hand. „Oh Mann“, nuschelte er und zog einen Schmollmund. Aber was hatte er auch erwartet. Nachdem er beim letzten Mal beinahe mit dem Einkaufswagen in einen Dosenstapel gerauscht war, war es abzusehen gewesen, dass Taro ihn nicht aus den Augen lassen würde. „Benimm dich, Mäuserich“, tadelte Taro leicht. „Ich will dich nicht noch einmal samt Einkaufswagen vor hunderten Dosen abfangen müssen.“ „Ja, ja“, murmelte er nur und begnügte sich damit einfach neben Taro und dem Einkaufswagen her zu hüpfen. „Was machen wir denn heute Nachmittag?“ „Ich weiß nicht. Wozu hast du denn Lust?“, fragte sein Babysitter und lächelte aufgeschlossen. „Hmmm“, machte er gedehnt und legte nachdenklich den Kopf schief. Plötzlich fiel ihm etwas ins Auge. „Oah. Das sieht lecker aus!“ An Taros Hand schaffte Seto es mit einigem Strecken gerade so den Karton aus dem Regal zu angeln. „Können wir den heute Nachmittag zusammen backen?“, fragte er und blickte bittend in die grünen Augen hinauf, während er ihm die Zitronenkuchenpackung hinhielt. „Na lass mal sehen“, meinte Taro schmunzelnd und nahm den Karton entgegen. Seto beobachtete sein Mienenspiel, dass leider ganz und gar nicht wie gewünscht ausfiel. „Nein, das ist viel zu ungesund …“ „Och bitte. Der sieht so lecker aus“, sagte Seto und setzte seinen besten Bettelblick aus. „Lass mich doch erst einmal ausreden“, erwiderte Taro schmunzelnd. „Wir könnten einen Zitronenkuchen selbst machen. Was hältst du davon?“ „Okay“, stimmte Seto strahlend zu und setzte sich so schnell in Bewegung, dass Taro einen kurzen Moment hinter ihm her taumelte. „Dann brauchen wir als erstes Zitronen, ganz viele Zitronen, damit du auch Zitronenlimonade machen kannst.“ Taro lachte. „Wenn du meinst. Ich kann dir auch zeigen, wie man sie macht.“ „Nee, brauchst du nicht. Du kannst das sowieso viel besser!“ *** „Und wie fangen wir jetzt an?“, fragte Seto erwartungsvoll, lehnte sich auf der Anrichte vor und schlenkerte aufgeregt mit den Beinen. „Als erstes“, sagte Taro und blickte ihn streng an, „gehst du runter von der Arbeitsplatte.“ Noch ehe Seto protestieren konnte, wurde er hochgehoben und auf dem Boden abgestellt. „Och menno, ich seh doch so gar nicht richtig, was du machst“, maulte er. „Wenn du da sitzt, wo ich arbeiten soll, dann siehst du auch nichts, weil ich gar nichts erst dazu komme. Am besten nehmen wir den Küchentisch, der ist niedriger“, sagte Taro und klärte damit das Sichtproblem. Seto war froh, dass er ihn nicht zurechtwies, dass man nicht auf der Fläche saß, wo mit Lebensmitteln hantiert wurde. Den Spruch konnte er inzwischen nicht mehr hören. Sein Kindermädchen sagte das ständig. „Du kannst schon mal eine Rührschüssel, die Waage, das Mehl und die Butter herausholen, wenn du möchtest“, fuhr er sanfter fort und Seto huschte begeistert, etwas zu tun zu haben, durch die Küche. Unter Schranktürengeklapper trug er alles auf dem Küchentisch zusammen. „Und jetzt?“, fragte er prompt, als er fertig war. Taro hatte währenddessen das Radio eingeschaltet und schnitt summend und sich im Takt der Musik bewegend die Zitronen in Hälften. „Was tust du da?“, fragte Seto und beobachtete ihn skeptisch. „Zitronen schneiden?“, fragte Taro gespielt unwissend und grinste ihn über die Schulter an. Er schob das Brett mit den Zitronen und das Messer weiter auf die Arbeitsplatte und holte eine kleine Porzellanschale aus dem Schrank. „Nein“, sagte Seto und zog einen Flunsch, weil er offensichtlich nicht ernst genommen wurde. „Warum bewegst du dich so komisch?“ „Ich beweg mich zur Musik. Das macht Spaß“, erklärte er lächelnd und kam tanzend zum Tisch hinüber. „Ich kann dir zeigen, wie es geht. Dann kannst du selbst entscheiden, ob es lustig ist.“ „Ist das denn schwer?“ „Da wir improvisieren eher nicht“, meinte Taro schmunzelnd, wandte sich jedoch erst mal den Backutensilien zu. „Vorher fangen wir aber schon mal mit dem Kuchen an.“ Er stellte das Porzellanschälchen auf die Waage, schaltete sie ein und maß die Butter ab. „Die kommt jetzt in die Mikrowelle. Wenn sie weich ist, können wir sie besser verarbeiten. Allerdings müssen wir beim Erwärmen vorsichtig sein, wenn sie zu heiß wird, fliegt sie in die Luft.“ „Echt? Das sieht bestimmt lustig aus“, sagte Seto staunend und war kurz davor zu fragen, ob sie das nicht mal ausprobieren konnten. „Denk nicht einmal daran, Seto“, warnte Taro, der ihm den Wunsch wohl vom Gesicht abgelesen hatte. „Das mag zwar ganz lustig aussehen, aber es verursacht eine riesige Sauerei und ich garantiere dir, wenn du irgendetwas in der Mikrowelle zum Explodieren bringst, bist du auch derjenige, der es sauber macht.“ „Hm, dann eben nicht“, murmelte er enttäuscht, aber die schlechte Laune verging ihm schnell. Nachdem Taro ihm gezeigt hatte, wie man sich zur Musik bewegte, tanzten sie durch die Küche, summten oder sangen die Lieder mit und bereiteten lachend den Kuchen zu. „Wie sieht es hier denn aus?“, erklang die empörte Stimme von Mokubas Kindermädchen, als sie den Kuchen gerade mit Zuckerguss bestrichen. „Wir haben ein ganzes Blech Zitronenkuchen gebacken!“, strahlte Seto und wollte sich seine gute Laune nicht von ihrem Auftauchen verderben lassen. Zumal sie Mokuba auf dem Arm hielt, der sofort freudig seine kleinen Arme in seine Richtung ausstreckte. „Mokuba!“ Lachend flitzte er zu ihnen hinüber und griff bereits nach seinem kleinen Bruder, als das Kindermädchen ihn begleitet von Mokubas Protestlauten höher hob. „Hey“, rief Seto aus und blickte böse zu ihr auf. „Was soll das?“ „Du bist ja ganz schmutzig. Wasch dich erst mal und sieh dir saubere Kleider an“, empörte sie sich. Doch bevor Seto protestieren konnte, erschien sein Vater im Türrahmen. „Gibt es ein Problem, Aono-san?“, fragte er und nahm ihr Mokuba ab, der sich inzwischen zu seinem Vater hinüber reckte. „Kanaka-sama“, stellte das Kindermädchen erstaunt fest. Ihr Ärger wallte aber sofort wieder auf. „Ja, allerdings. Sehen Sie sich nur die Küche an“, ereiferte sie sich. Kanaka Niji runzelte die Stirn und ließ seinen Blick durch die chaotische Küche wandern. Lächelnd sah er Seto an. „Also ich finde, es sieht so aus als hätten Taro-kun und Seto sehr viel Spaß gehabt“, meinte er und reichte Mokuba dem strahlenden Seto, der ihn glücklich auf den Arm nahm. „Aber Kanaka-sama, jetzt wird der Kleine auch noch ganz schmutzig“, seufzte das Kindermädchen verstimmt. „Ach, das macht nichts. Wenn die beiden nachher draußen spielen, werden sie so oder so dreckig“, verkündete er gutgelaunt, ging zum Tisch hinüber und streckte die Hand nach dem Topf mit Zuckerguss aus. „Hier wird nicht genascht, Kanaka-san“, sagte Taro bestimmt und nickte zu Seto hinüber. Der hatte gebannt die Hand seines Vaters beobachtet, in der Hoffnung, dass der sich etwas stibitzte. Denn wenn der das durfte, hatte er ein Argument, warum auch er es dürfen musste. „Tja, da kann man dann wohl nichts machen“, antwortete er und zog die Hand zurück, weil er seinen Sohn sehr genau kannte und Taros Tabu nicht untergraben wollte. „Ich kann auf der Terrasse zum Tee aufdecken, nachdem Seto und ich aufgeräumt haben“, schlug Taro lächelnd vor. „Das ist fabelhafte Idee. Der Kuchen sieht hervorragend aus“, stimmte Niji zu. „Am besten deckt Aono-san auf, während ihr aufräumt und den Tee aufsetzt.“ „Ich will aber nicht aufräumen“, maulte Seto, als Taro nickte und sein Vater wieder Mokuba auf den Arm nahm. „Das gehört dazu“, sagte Niji ernst und wuschelte lächelnd durch Setos Haare. „Och, Mann, Papa“, beschwerte sich Seto und versuchte seine Haare zu richten. Sein Vater lachte nur und verschwand mit großen Schritten aus der Küche. Er schien zu ahnen, dass Seto sich revanchieren wollte und strebte zumindest an, kein Mehl in die schwarzen Haare zu bekommen. „Na komm“, forderte ihn Taro auf und lächelte aufmunternd. „Zu zweit haben wir das ruck zuck geschafft.“ Als sie wenig später auf die Terrasse kamen, stellte Seto grinsend fest, dass sein Vater mit dem Rücken zu ihm saß. Er schlich sich an ihn an, zerstörte mit zwei bewussten Bewegungen dessen Frisur – schließlich trugen sie ihr Haar sehr ähnlich – und sprintete lachend in den Garten davon. „Na warte“, rief der „Geschädigte“ eher amüsiert als wütend und drückte dem grinsenden Taro Mokuba in die Hand, um mit freien Armen seinem anderen Sohn hinterherjagen zu können. *** Summend verteilte Seto den Kuchenteig auf dem eingefetteten Backblech. Er war in einer seltsamen Stimmung. So seltsam das auch klang. Auf wehmütige Art gutgelaunt. Damals hatte er es ziemlich gut gehabt. Ohne zu wissen, wie gut eigentlich. Er fragte sich, ob alles anders verlaufen wäre, wenn Taro zudem Zeitpunkt als Setos Vater starb ein Jahr älter und damit volljährig gewesen wäre. Seto wusste, dass Taro vorgehabt hatte, Mokuba und ihn zu adoptieren, sobald er konnte. Keine Ahnung, ob das Jugendamt dem zu gestimmt hätte, aber wenn … Er brach den Gedanken ab. Es war nichtig. „Was wäre wenn“ brachte ihn nicht weiter. Er hatte sich anders entschieden – als dummes, kleines, verwöhntes Kind. Er hatte das Jahr im Waisenhaus nicht warten wollen. Er hatte den Wohlstand, den Reichtum und die Firma von Gozaboru Kaiba gewollt. Er hatte sich verschätzt. Er hatte den Preis nicht erkannt, den das verlangte, was Gozaboru zu bieten hatte. Die Wartezeit war ihm zu groß, die Wahrscheinlichkeit war ihm zu gering und das, was Taro ihnen bieten konnte, war ihm möglichweise nicht genug erschienen. Dummes, kleines, verwöhntes Kind, dachte Seto und war tatsächlich ein wenig erstaunt über sich. All die Jahre hatte er sich das nie eingestehen können. Er lächelte wehmütig, als er das Backblech in den Ofen schob und den Hady-Wecker stellte. Was eine auf den Kopf gestellte Situation, eine Erinnerung und das Backen eines Zitronenkuchens alles bewirken konnte. Er wusste nicht, ob es sich in fünf Minuten wieder geändert haben würde, aber in diesem Moment konnte er sich eingestehen, dass er mit Sicherheit glücklicher gewesen wäre, wenn Taro ihn adoptiert hätte. Auch wenn er dann wahrscheinlich einiges nicht gehabt hätte, was er in den letzten Jahren besessen hatte, aber in seiner jetzigen Situation machte es keinen Unterschied mehr – nun hatte er es ebenso wenig. Allerdings war er sicher, dass er jetzt einige andere Dinge gehabt hätte, die er in dieser Situation auch nicht hatte. Tja, das ließ sich nun nicht mehr ändern. Er würde damit leben müssen, wie er sich damals entschieden hatte. „Gehst dir gut?“, erklang plötzlich Lanas Stimme. Als Seto sich umdrehte, sah er sie im Türrahmen lehnen – wie einst seinen Vater. „Lana“, stellte Kaiba distanziert fest. Er ging zum Waschbecken hinüber, um seine Hände abzuspülen. „Ich nehme an, das war eine rhetorische Frage“, fügte er spöttisch hinzu. Dass er sich quasi über sich selbst amüsierte, war ihm bestens bewusste. „Tja, da hast du wahrscheinlich recht“, sagte sie nachdenklich. „Wenn man bedenkt, dass du freiwillig einen Kuchen backst, dabei die Melodie von Pat Benatars ‚All fired up‘ summst und dazu auch noch tanzt.“ Irgendwie schienen diese Taten ihre Weltsicht wanken zu lassen. Und Seto wunderte es nicht im Mindesten. Er fragte sich, wie lange sich diese träumerische Stimmung noch halten würde. Es war seltsam damit umzugehen und er konnte sie nicht recht abschütteln. „Der sieht echt lecker aus“, meinte Lana, während sie in den Backofen spähte. „Das ist mein Kuchen“, sagte Kaiba. Er wies auf die Form, die auf dem Küchentisch stand. „Das ist deiner.“ „Du meinst, der für meinen Kollegen“, antwortete sie und strich sich eine Strähne hinters Ohr, nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte. Sie musterte ihn kurz und runzelte die Stirn. „Du willst von dem ganzen Blech nicht mal ein Stück abgeben?“ Als sie das sagte, wurde ihm erst richtig bewusst, dass er am liebsten nicht einmal einen Krümel davon abgeben wollte. Gefühlsmäßig zumindest. Das war kompletter Unsinn – rational gesehen. „Das ist Verhandlungssache“, sagte Kaiba schließlich und stellte zufrieden fest, dass sich sein Verstand langsam wieder gegen seine Gefühle durchsetzte. „Ich komm darauf zurück“, erwiderte Lana, die sich wieder wohler zu fühlen schien, weil seine Antwort zu typisch gewesen war. Sie ging zum Schrank und holte zwei Teller heraus. „Ich nehme nicht an, dass du in nächster Zeit bei Haushaltsfragen auch nur einen Finger produktiv krumm machen wirst, aber sei so gut und räum den Tisch frei, damit wir Platz zum Essen haben.“ Da abgesehen von ihrem Kuchen sowieso nur seine Sachen auf dem Tisch lagen und er auf jeden Fall vermeiden wollte, dass sie Unordnung in seine Unterlagen brachte, tat er wie geheißen. Er ordnete sich und brachte sie ins Wohnzimmer hinüber. Als er zurück kam, musterte sie interessiert seinen Laptop, so dass er ihn schnell zu klappte. Er wollte nicht, dass er das Rezept in „AfaaL“-Form sah. „Afaal“ war eine Wortschöpfung von Taro und stand für „Anleitung für absolut ahnungslose Leute“. „Ich hab vorhin mit Max telefoniert“, sagte sie während des Essens. „Und bevor du fragst, was dich das interessiert … Ich habe von ihm erfahren, dass dein Bruder in der zweiten Februarwoche in San Franzisco ist und vorher in New York.“ Das ließ Kaiba tatsächlich aufhorchen. Damit hatte er eine Deadline, bis zu der er den Einbruch gemacht haben musste. „Weißt du, wann genau?“ „Nein. Max hat nur gesagt, dass er nach seinem New York Aufenthalt zu ihm kommt“, sagte Lana. Sie lächelte entschuldigend. „Ich wollte nicht direkt nachfragen, weil ich mich sonst auch nie für seine Geschäfte interessiere und ich bezweifele, dass er weiß, wann Mokuba hier anreist.“ „Tja, dann tue ich wohl gut daran, es herauszufinden“, erwiderte Kaiba nachdenklich. „Zwei bis drei Wochen sind so oder so knapp. Da muss er nicht auch noch überraschend vor der Tür stehen.“ Kapitel 19: Vernunftsache ------------------------- Vernunftsache Seufzend fuhr Kaiba sich durch die Haare. Als er die wirren Strähnen zwischen seinen Fingern hindurch gleiten spürte, musste er den Impuls unterdrücken, sie wieder zu ordnen. Es fühlte sich ungewohnt an, aber es war nun mal sein neuer Stil. Er musste sich eingestehen, dass die zerzauste Frisur ihren Zweck erfüllte und solange sie das tat, würde er nichts daran ändern. Du musst schnell handeln, rief Kaiba sich abermals ins Gedächtnis. Er hasste es so unter Druck zu geraten. Zeitnot führte zum Hetzen und das wiederum oftmals zu Fehlern. Und Fehler konnte er gerade in dieser Situation überhaupt nicht gebrauchen. Leider blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich zu beeilen. Er hatte eine Deadline. Bis dahin würde er so sorgfältig arbeiten, wie es möglich war. Den halben Nachmittag hatte er damit zugebracht, Nerea und Charlie zu überprüfen. Dabei waren einige interessante Informationen ans Tageslicht gekommen, darunter allerdings nichts, dass ihm besonders nützlich sein oder gefährlich werden konnte. Praktisch war es ohne Zweifel, dass Charles Johnson nicht nur Nereas Kollege war, sondern auch ihr Boss. Damit gab es in dem Café niemanden, dem die beiden Erklärungen oder Rechenschaft schuldig wären. Darüber hinaus hatte Charlie mehrere Lieferverträge für Frühstück mit Bewohnern des Apartmenthauses geschlossen. Somit ergab auch Nereas Ausspruch Sinn, dass sie eine logische Erklärung hatte, das Gebäude zu betreten, wenn Charlie sich nicht querstellte. Vorteilhaft konnte es sicherlich auch sein, dass Charlies Wohnung direkt über dem Café lag. Die Wahrscheinlichkeit, dass man von dort aus einen guten Blick auf das Gebäude gegenüber hatte, war recht hoch. Das Einzige, was Kaiba an der gesamten Sachlage zu denken gab – einmal abgesehen davon, dass er überhaupt jemanden in den brisanten Plan einweihen musste – war die Tatsache, dass Nerea die 10.000$, die ihr „gestohlen“ wurden, selbst abgehoben hatte. Er wurde das ungute Gefühl nicht los, dass sie vielleicht vorgehabt hatte, ein Geschäft mit Pierce zu machen und dabei betrogen worden war. Den Punkt galt es auf jeden Fall noch zu klären. Die Verhältnisse, aus denen sie stammte, waren zwar eher ärmlich, allerdings schien das familiäre Umfeld durchaus solide zu sein. Den Eindruck erweckte zumindest ihre Persönlichkeit im Zusammenhang mit seinen gesammelten Daten. Darin, dass Nerea nicht wusste, wer ihr Vater war – das schloss er daraus, dass sie ihn nicht kannte und er auch nicht namentlich in ihrer Geburtsurkunde genannt wurde – lag sicherlich ein Spannungsfeld, aber Streitigkeiten gehörten nun mal auch in Familien dazu. Einen möglichen Zusammenhang mit seinem Vorhaben konnte er nicht erkennen. Die zweite Hälfte des Nachmittages hatte Seto damit verbracht, zu grübeln, wie viel er Nerea verraten sollte. Eigentlich wollte er nur das Nötigste erzählen, aber er befürchtete, dass sie sich nicht damit zufrieden geben würde. Ihre dann wahrscheinlichen Nachforschungen zögen sicherlich mehr Aufmerksamkeit auf sich, als wenn etwas schief ging und sie herumerzählte, dass Seto Kaiba in der Stadt war. Genervt vergrub Kaiba seine Hände in den Haaren. Wie er diese Kompromisse hasste. Funktionierte in letzter Zeit denn gar nichts einwandfrei?! Er massierte sich die Schläfen, die langsam zu pochen begannen. Im Grunde hatte er nur zwei Möglichkeiten. Ihr zu sagen, wer er war, und dass er etwas aus seinem Penthouse brauchte. Er war sich relativ sicher, dass sie das so akzeptieren würde. Das Problem an dieser Option war, dass er einer weiteren Person offenbarte, dass er in der Stadt war. Fraglich war nur, ob ihm das gefährlich werden konnte. Selbst wenn er sich mit ihr überwarf und Nerea zum Telefonhörer griff, um ihn bei Mokuba anzuschwärzen, fände sie wohl eher kein Gehör. Solche Anrufe liefen in der KC sicherlich stündlich von irgendwelchen Wichtigtuern auf. Und wie wahrscheinlich war es, dass Mokuba ihn in dieser Stadt finden würde. Sein Bruder hatte keine Ahnung von seiner Verbindung zu Lana. Sollte es hart auf hart kommen, konnte er immer noch in der Wohnung bleiben, bis Mokuba annahm, dass er weiter gezogen war. So weit zu gut, dachte Kaiba. Das klang gar nicht schlecht. Der große Knackpunkt war, dass er sich dagegen sträubte, zu sagen, wer er war. Er wollte dem Mädchen gegenüber nicht eingestehen, was ihm widerfahren war. Jedoch … wie sah seine Alternative aus? Sie war riskant. Es würde Nerea im Dunkeln tappen lassen oder anlügen müssen. Seinem Eindruck nach würde das nur dazu führen, dass sie ihm misstraute und hinter seinem Rücken agierte. Ob das nun auffällige Nachforschungen über seine Person oder verschwiegene Informationen waren, es konnte ganz schnell nach hinten losgehen. Verdammter Dreck. Bei der kurzen Zeit, die ihm zur Verfügung stand, konnte er sich dieses Risiko nicht erlauben. Er tat gut daran, nicht ihr Misstrauen zu erwecken. Es war besser, wenn sie am Anfang seinen Plan still und leise ablehnte, als dass es möglicherweise später mit einem großen Knall passierte. Zu Beginn hatte sie nichts gegen ihn in der Hand und er hätte notfalls noch Zeit, sich etwas anderes zu überlegen. Hör auf die Vernunft, sagte er sich seufzend. Die Papiere zu beschaffen, war zu wichtig, als dass er so leicht riskieren sollte, im letzten Moment zu scheitern. Ist ja nicht so, als ob mein Ego in der letzten Zeit nicht schon genug gelitten hätte, dachte er sarkastisch. An seiner Entscheidung änderte es nichts. *** „Du bist heute aber nicht sehr gesprächig“, sagte Nerea und musterte ihn kritisch. Kaiba lächelte säuerlich. Er war einfach nicht bei der Sache. Ständig schweiften seine Gedanken ab. Er haderte tatsächlich immer noch mit seiner Entscheidung. Er wollte es nicht. Seine Vorbereitungen hatte er getroffen. Von Lana hatte er sich eine schlichte, schwarze Umhängetasche für seine Technik geliehen und er hatte mit Charlie gesprochen. Der junge Mann war durchaus dankbar dafür, dass Kaiba auf andere Art und Weise versuchen wollte, seine Kellnerin von dem Einbruch bei Terry Pierce abzubringen. Dass sie so leicht nicht aufgeben würde, hatten sie beide am Morgen sofort erkannt. „Ich bin sehr nachdenklich“, gestand Kaiba schließlich ein. Er machte sich nicht die Mühe, den Impuls, sich durch die Haare zu fahren, zu unterdrücken. „Ich hadere mit einem Gedanken.“ „Hm, verstehe“, erwiderte sie langsam. „Ich kann dir nicht zufällig helfen, oder?“ Kaiba lächelte leicht und gab sich einen Ruck. „Das kannst du tatsächlich.“ „Ja?!“, sagte Nerea. Sie wirkte gleichermaßen erstaunt und erfreut. „Wie denn?“ „Es macht dir sicher nichts aus, wenn wir das oben in Charlies Wohnung besprechen?!“, erwiderte Kaiba und erhob sich, ohne eine Antwort abzuwarten. „Ich denke, es ist besser, dabei nicht in der Öffentlichkeit zu sein. Keine Sorge, ich habe es mit ihm abgeklärt.“ Nerea hob die Augenbrauen. Sie war ein wenig verwirrt, folgte ihm aber in die Privaträume des Café. „Hier entlang“, sagte sie grinsend, als Kaiba einen Moment innehielt, um sich noch einmal Charlies Wegbeschreibung vor Augen zu führen. Zielstrebige ging sie durch den Raum, öffnete die Tür, die zum Treppenhaus führte und sprang mit großen Schritten die Stufen in den ersten Stock hinauf. Mit dem geliehenen Schlüssel schloss Kaiba die Wohnung auf und verschaffte ihnen Zutritt zu den in warmen und dunklen Farben eingerichteten Räumen. „Also?“, fragte Nerea, nachdem sie es sich im Wohnzimmer in Sessel und Sofa bequem gemacht hatten. „Was gibt es so Brisantes zu besprechen?“ „Es geht um die Angelegenheit mit Terry Pierce“, sagte Kaiba. Als erstes musste er herausfinden, wie sie das Geld verloren hatte. Wenn ihm nicht gefiel, was er hörte, konnte er die Sache immer noch abblasen. Nerea seufzte. Ihr Gesichtsausdruck blieb freundlich, aber es war ganz deutlich zu erkennen, dass sie das Thema langsam nervte. „Deine Sorge ist wirklich rührend“, sagte sie schmunzelnd und fügte distanzierter hinzu: „Aber es betrifft dich nicht, also ist es ganz alleine meine Entscheidung.“ „Abgesehen davon, dass das so nicht stimmt, kann ich dir vielleicht ein Angebot machen, um dir zu helfen“, warf Kaiba ein, der mit diesem Einwand schon gerechnet hatte. Nur das Wort „rührend“ erschien im fehl am Platze. Überrascht hob Nerea die Brauen. „Wie kommt es, dass du deine Meinung so schnell geändert hast?“, fragte sie und lehnte sich im Sofa zurück. „Ich habe meine Meinung nicht geändert“, widersprach Kaiba. Bisher verlief das Gespräch wie erwartet. „Ich halte es immer noch für lebensmüde, bei Pierce einzubrechen. Aber vielleicht kann ich dir ein weniger riskantes, aber ebenso befriedigendes Angebot machen.“ Nerea runzelte die Stirn. „Käme auf einen Versuch an?“, antwortete sie nachdenklich. „Dazu müsste ich allerdings wissen, was vorgefallen ist“, verlangte Kaiba. Es lief gut mit. Und für die Frage, was er ihr möglicherweise über sich sagen sollte, kam langsam auch eine neue Idee in ihm auf. Nerea seufzte abermals. Ihr schien unbehaglich zu Mute. „Warum sollte ich dir das sagen?“ „Weil du mir vernünftig genug erscheinst, für Geld nicht dein Leben aufs Spiel zu setzen“, antwortete Kaiba selbstsicher. Provokant setzte er nach: „Oder hast du dabei etwas zu verlieren?“ Sie fuhr sich durch die Haare und biss sich auf die Unterlippe. „Na schön, warum auch nicht. Ich habe nichts Unrechtes getan.“ Sie schwieg einen Moment. „Es war eine Wette. Es klang absolut fair.“ „Davon abgesehen, dass Terry Pierce niemals fair wettet, sind die meisten Wetten um solche Summen verboten“, warf Kaiba spöttisch ein. Zu seiner Verwunderung nickte Nerea. „Stimmt, das war letztendlich auch der Harken. Es war mein Stiefvater, der gewettet hat. Er hat sich provozieren lassen und obwohl ich mich mit ihm nicht so besonders verstehe, kann ich nicht richtig böse auf ihn sein. Ich weiß, dass ich wohl auch nicht anders gehandelt hätte. Natürlich war es mein Geld, aber na ja, richtig wütend bin ich auf Pierce. Nachdem mein Stiefvater die Wette gewonnen hatte, hat Pierce damit gedroht, ihn anzuschwärzen. Für den Wetteinsatz konnte er die Audioaufnahme kaufen, die Pierce von ihrem Gespräch mit dem Handy gemacht hatte.“ „Wieso bist du dir so sicher, dass es keine Kopien der Aufnahme gibt?“, fragte Kaiba argwöhnisch. So eine Erpressung konnte bei gemachten Kopien endlos weitergehen. „Mein Stiefvater hat Pierce sofort mit Geld der Baufirma, bei der er arbeitet, bezahlt. Ich habe die Speicherkarte des Handys, die er bekommen hat, ausgelesen. Die Datei ist darauf und mein Stiefvater sagt, dass Pierce nicht oft genug auf dem Gerät herum getippt hat, um sie im internen Speicher zu speichern. Per SMS hat er die Aufnahme auch nicht verschickt, das habe ich überprüft.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und schwieg kurz. Kaiba grinste schwach. Sie hatte also gehackt, um an diese Informationen zu kommen. „Außerdem ist das Ganze jetzt gute sieben Monate her. Wenn er eine Kopie hätte, hätte er sich sicherlich schon gemeldet.“ Kaiba nickte langsam. Da hatte sie sicherlich Recht. Nachdenklich rückte er die Brille auf seiner Nase zurecht. Er war es immer noch nicht gewohnt, sie so häufig zu tragen. Die Informationen, die er bekommen hatte, waren zufriedenstellend. Er nahm nicht an, dass Nerea ihn belog. Sie war im Grunde nicht der Typ, der irgendwo einbrach. Ihr Geld wollte sie zurück, aber ihr Leben zu riskieren, sahen ihre Pläne eher nicht vor. Nach Möglichkeit wollte sie eine Alternative. „Da deine Eltern das Geld nicht hatten, bist du zur Bank gegangen und hast dein Erspartes geholt, damit sein Stiefvater seinen Job nicht verlor.“ Es war mehr eine Feststellung, aber er wollte die endgültige Bestätigung. „Ja. Es blieb mir ja gar nichts anderes übrig“, sagte sie. „Vom Einkommen meiner Mutter und meines Stiefvaters soll ich das Geld zurückbekommen, aber na ja, du kannst dir ja vorstellen, wie lange das dauern wird. Wir sind nicht so flüssig. Ich arbeite so viel wie möglich und Charlie unterstützt mich da zum Glück auch, aber um das Studium beginnen zu können, brauche ich die 10.000.“ „Ja, natürlich“, stimmte Kaiba zu. Geldnot, um ein bestimmtes Ziel zu ermöglichen, kannte er zurzeit selbst sehr gut. „Ich denke, wir könnten einen Deal machen.“ „Einen Deal“, wiederholte Nerea verwundert, jedoch interessiert. „Ja. Ich könnte dir sozusagen einen Job anbieten. Er ist nicht sehr zeitaufwändig, dafür jedoch nicht legal. Du würdest fünf- bis achttausend wieder reinkriegen. Darüber hinaus würde ich dir helfen, eine kleine Rache an Pierce zu organisieren, die nicht auf uns zurückzuführen ist.“ Nerea runzelte nachdenklich die Stirn. „Was wäre das für ein Job?“, fragte sie, wobei ihre Betonung auf dem letzten Wort lag. „Ich brauche jemanden, der mir drüber die Kameras anzapft.“ Er deutete aus dem Fenster auf das gegenüberliegende Apartmenthaus. „Es ist ein internes System und es ist besser, wenn ich das Gebäude nicht mehr als einmal betrete. Du hast gesagt, du hast einen guten Grund, dort zu sein, wenn Charlie mitspielt.“ „Ja, stimmt schon“, bestätigte Nerea, „aber bei wem willst du einsteigen? Ich werde nicht riskieren, mir mit einem noch größeren Arsch als Terry Pierce Ärger einzufangen.“ Seufzend lehnte sich Kaiba in dem Ledersessel zurück. Er hatte so gehofft, dass sie genau diese Frage nicht stellen würde. Das hätte es ihm deutlich einfacher gemacht. Aber so würde er nicht darum herumkommen, es ihr zu sagen. Lügen oder die Antwort verweigern, würde er nicht. Er gab sich einen Ruck und holte eine Eigentümerliste aus der Umhängetasche. „Du kannst ja mal raten“, sagte er grinsend und schob den Zettel über den Couchtisch. „Es ist wirklich nicht schwer.“ Automatisch griff Nerea nach dem Blattpapier. Sie zog interessiert die Augenbrauen zusammen. „Ich verstehe nicht ganz“, murmelte sie in die Liste vertieft. Kaiba legt ein Bein über das andere, nahm die Brille ab und richtete seine zerzauste Frisur. „Und du bist dir sicher, dass du dich in der Software-Branche gut auskennst?“, fragte er sarkastisch und setzte sein übliches spöttisch-arrogantes Grinsen auf. Verwirrt blickte Nerea auf, dann riss sie plötzlich die Augen auf. Wie von selbst fand ihr Finger Mokubas Namen. „Seto“, murmelte sie zu sich selbst und schlug sich leicht mit der Hand vor die Stirn. „O Mann. Wie kann man nur so blind sein.“ Der Blick, den sie ihm zuwarf, empfand Kaiba für sich selbst als durchaus positiv. „Du bist Seto Kaiba“, sagte Nerea schließlich verblüfft. Kapitel 20: Wer ich bin und was ich will - Seto ----------------------------------------------- Wer ich bin und was ich will - Seto Mit inzwischen geübtem Griff zerzauste Kaiba seine Haare wieder und schob die Brille zurück auf die Nase. „Ihr neuer Look steht Ihnen. Sogar die Brille irgendwie“, plapperte Nerea drauflos. Plötzlich war sie deutlich nervöser. „Man erkennt Sie wirklich kaum.“ „Du kannst ruhig beim Du bleiben“, sagte Kaiba ruhig und versuchte sich an einem halbwegs freundlich Ton. „Nur, weil du jetzt weißt, wer ich bin, ändern sich an unserer Beziehung nichts.“ Es wäre gelogen, zu sagen, dass Kaiba der Respekt und die Bewunderung nicht gefielen, den sie ihm entgegenbrachte. Es war gut zu wissen, dass sich an ihrer Einstellung Seto Kaiba gegenüber nichts geändert zu haben schien – trotz der Schmach, die Mokuba ihm bereitet hatte. Jedoch wäre es nicht zweckmäßig, wenn jemandem auffiel, dass sie ihn plötzlich wieder siezte. Geschweige denn, dass sie ihn auf einmal mit Mister Kaiba ansprach. Zumal ihre bisherige Beziehung zueinander höchst funktional zu sein schien. Sein Plan musste einfach gelingen und wenn er dazu das Vertrauen der jungen Frau benötigte, dann war das eben so. „Danke. Das freut mich sehr“, sagte Nerea strahlend. Sie strich sich eine Strähne ihres dunklen Haars hinters Ohr. Ein nachdenklicher Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. „Du willst also etwas aus deinem Penthouse haben.“ „Genau“, bestätigte Kaiba. Er war froh, dass sie zum eigentlich Thema zurückgekehrten. Auf der geschäftlichen Basis kannte er sich voll und ganz aus. Positiv überrascht stellte er fest, dass sie von seinem Penthouse redete und es nicht in Mokubas Besitz übertrug. „Ich will dir wirklich gerne helfen, aber ich bleibe bei meiner Bedingung“, sagte Nerea ernst. „Ich will mir nicht noch größeren Ärger machen. Und seinem eigenen Bruder sämtliches Eigentum zu rauben, zeugt nicht gerade von einem guten Charakter.“ Kaiba lächelte freudlos. Zwar gefiel es ihm, dass sie auf seiner Seite war, jedoch hatte er mit diesem Einwand überhaupt nicht gerechnet. Er war nie davon ausgegangen, dass Mokuba bei der Sache ein Thema werden könnte. Er bezweifelte, dass sein Bruder jemals so weit gehen würde. Das schien fern von all seinen Wertvorstellungen. Aber das war kein Argument, schließlich hätte er ebenso wenig erwartet, dass Mokuba war ihn enteignen würde. „Dazu, jemanden verstümmeln oder gar umbringen zu lassen, gehört noch eine deutlich größere Skrupellosigkeit, als nötig ist, um jemand seines Besitzes zu berauben“, antwortete Kaiba ausweichend und diplomatisch. „Eine Garantie kann ich dir natürlich nicht geben, aber vielleicht hörst du dir erst einmal den Plan an. Er ist nicht sonderlich kompliziert und wenn alles glatt geht, wird mein Bruder niemals etwas davon erfahren.“ „Das verstehe ich nicht“, gestand Nerea stirnrunzelnd ein. „Wie soll ein solcher Einbruch und Diebstahl unbemerkt bleiben?“ „Mein Bruder weiß nichts von den Dingen, die ich aus dem Penthouse holen will. Er kann also nicht bemerken, dass etwas fehlt. Was den Einbruch selbst betrifft: Es sollte nicht sonderlich schwer sein, zu verschleiern, dass überhaupt einer stattgefunden hat. Ich komme an den Generalcode für das Türschloss. Mit deiner Hilfe kann ich die Kameras in Schleifen legen und dem Sicherheitspersonal aus dem Weg gehen. Es sind nur minimale Details und es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn jemand sie bemerken würde.“ Nerea nickte nachdenklich. „Das kling ziemlich plausibel, mit einer Ausnahme. Was ist mit dem Protokoll für das Öffnen der Tür? Wird das irgendwo im Kontrollraum angezeigt? Außerdem kommt es zu einer Diskrepanz zwischen dem Protokoll und den Überwachungsaufnahmen.“ „Darüber habe ich auch schon nachgedacht“, sagte Kaiba. Er musste eingestehen, dass das Mädchen alles andere als dumm war. „Bei meiner Einführung in das Sicherheitssystem habe ich mitbekommen, dass im Überwachungsraum nicht angezeigt wird, ob eine Tür geöffnet wird. Sie verlassen sich da voll und ganz auf ihre Videoaufzeichnungen. Bei meiner Recherche bin ich auf keine Änderung dessen gestoßen. Mit der Diskrepanz hast du vollkommen Recht. Wenn jemand Protokoll und Kameraaufnahmen vergleicht, fällt es sicherlich auf. Aber warum sollten sie es tun? Solange sie nicht misstrauischen werden, haben sie keinen Grund Nachforschungen anzustellen.“ „Ist es denn nicht möglich den Protokolleintrag zu löschen?“, fragte Nerea nach. „So würde es zu keine Abweichung kommen.“ „Theoretisch ist es das definitiv“, antwortete Kaiba und zog sein Notizbuch aus der Umhängetasche. Das sah nach dem nächsten Zugeständnis aus. Wobei es niemals schaden konnte, auf Nummer sicher zugehen. „Wenn dir dabei wohler ist, werde ich diesbezüglich Nachforschungen anstellen. Ich will im System so wenige Spuren wie möglich hinterlassen. Ich befürchte, eine solche Manipulation würde viel schneller auffallen, aber ich werde es recherchieren.“ „Das klingt nach einem guten Kompromiss“, erklärte sich Nerea einverstanden. „Ich soll also für dich die Kameras anzapfen. Gemeinsam analysieren wir die Angewohnheiten und Routen des Personals und abschließend soll ich dich um mögliche Komplikationen herumlotsen.“ Kaiba nickte bestätigend. Sie hatte sogar den Teil erfasst, den er gar nicht explizit genannt hatte. „Du sprachst von einer Bezahlung von fünf bis achttauschend. Wovon hängt die Höhe ab?“ „Das hängt von dem Betrag ab, den ich unbemerkt aus dem Tresor mitnehmen kann“, erklärte Kaiba ein wenig widerstrebend. Er wollte sie nicht so genau in seinen ehemaligen Gewohnheiten einweihen. Aber aus ihrer Sicht war es eine vollkommen logische Frage. „Ich habe in jeder ausländischen Wohnung einen bestimmten Betrag in der Währung des Landes als Reserve liegen. Darüber ist mein Bruder informiert. Was er nicht weiß, ist, dass ich bei meinem letzten New York Besuch das ganze Geld ausgeben habe, das ich vom Konto abgehoben hatte. Ich habe wesentlich weniger gebraucht als gedacht. Den Rest habe ich im Tresor hinterlegt, sodass nun mehr da ist als normalerweise. Ich kann allerdings nicht genau sagen, wie viel es ist.“ „Und dein Bruder hat keine Möglichkeit herauszufinden, dass du weniger ausgegeben als abgehoben hast?“, hakte Nerea nach. „Ich sehe keinen Grund, warum er Nachforschungen anstellen sollte. Für einen Milliardär sind das Peanuts“, sagte Kaiba säuerlich. Wie er dieses Denken vermisste. „Und selbst, wenn er es tun würde, wäre es ziemlich unmöglich, detaillierte Kenntnisse zu gewinnen. Er weiß nicht, wie viel ich mit nach Japan genommen haben und sämtliche Quittungen befinden sich noch in meinem Besitz.“ „Das scheint tatsächlich kein großes Risiko zu sein“, stimmte Nerea langsam zu. Ihr Gesicht hellte sich auf. „Das klingt nach einem ausgezeichneten Deal. Ich bin einverstanden.“ Sie grinste. „Sieht ganz so aus, als zeige der Plan deines Bruders nicht vollständig die erwünschte Wirkungen. Du bist immer noch der Alte.“ Kaiba ließ diese Aussage unkommentiert. Er war sich da nicht so sicher. Die Enteignung und ihre Auswirkungen trafen ihn mehr, als er sich zugestand zu zeigen. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt darüber nachzudenken. „Es freut mich, dass wir übereinkommen“, sagte Kaiba und bemühte sich um ein zufriedenes Lächeln. Seine Rolle wollte er noch nicht völlig aufgeben. „Was die Angelegenheit mit Terry Pierce betrifft, möchte ich dich bitten, sie noch für ein Vierteljahr ruhen zu lassen. Um deinet- wie um meinetwillen. Es sollte genügend Gras über die Sache gewachsen sein, sodass du nicht mal auf der Liste der Verdächtigen stehst, sollte er doch Verdacht schöpfen. Du hast mein Wort darauf, dass ich dir helfen werde, so gut ich kann. In der nächsten Zeit müssen wir uns erst einmal um meinen Plan kümmern. Wir haben nur Zeit, bis mein Bruder kommt. Ich bin im Moment dabei herauszufinden, wann das soweit ist, aber bisher konnte ich nur in Erfahrung bringen, dass es irgendwann Anfang Februar sein wird.“ An seine Papiere zu kommen, hatte für Kaiba momentan oberste Priorität. Wenn Mokuba in New York gewesen war, änderte sich alles. Er könnte sich nicht mehr sicher sein, ob sein Bruder von seiner amerikanischen Staatsbürgerschaft wusste. Diese Papiere mussten her. So schnell wie möglich. Alles andere war im Moment nebensächlich. Danach konnte er weiterplanen. „Puh“, stieß Nerea aus. Richtig besorgt schien sie jedoch nicht. „Dann sollten wir uns wohl besser beeilen, aber wenn wir konzentriert arbeiten, sollte es keine Probleme geben.“ Kaiba nickte. Im Grunde hatte sie Recht. Jetzt, wo er das Problem mit den Kameras gelöst hatte, war er seinem Ziel einen deutlichen Schritt näher gekommen. Sie verbrachten einen Großteil des Vormittags mit detaillierten Planungen. Gegen halb zehn kam Charlie hinzu. Er war zwar alles andere, als begeistert, dass Nerea nun bei einem anderen Einbruch helfen sollte, aber sein Eindruck von Kaiba half mit ihn zu beruhigen. Er schien ihn für wesentlich vernünftiger und rationaler zu halten als Nerea. Sie erzählten ihm zwar nicht, wo Kaiba einsteigen wollte, aber es war wohl nicht sein vordergründiges Interesse. Die Tatsache, dass es nicht Pierce war, hatte eine deutlich erleichternde Wirkung auf ihn. Ähnlich war es für Kaiba, als Nerea nicht verriet, wer er in Wirklichkeit war. Es stimmte ihn zufrieden, dass nicht noch jemand erfuhr, dass er in der Stadt war. Als er sich auf den Weg nach Hause machte, hatten sie gute Fortschritte gemacht. Morgen konnten sie die Geräte zum Anzapfen der Kamerakanäle anbringen und mit dem Auswerten des Bildmaterials beginnen. Den Nachmittag verbrachte er mit den angekündigten Recherchen. Zu seiner Überraschung stellte sich heraus, dass es deutlich einfacher und unauffälliger war, die Protokolle zu manipulieren, als er gedacht hatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass es bemerkt werden würde, war gering. Sie konnten es so durchführen. *** „Oh, Gott“, seufzte Lana zufrieden. „Der Sex mit dir ist und bleibt einfach genial.“ Genüsslich rekelte sie sich neben ihm. Kaiba ahnte, dass sie unauffällig zu ihm hinüberrutschen wollte. „Versuch gar nicht erst mir Komplimente zu machen, damit ich mit dir kuschele“, bemerkte er trocken. „Das funktioniert sowieso nicht.“ Demonstrativ breitete er seine Decke über sich aus und platzierte einen Arm so auf ihr, dass Lana sich unmöglich unter der Decke an seine Brust schmiegen konnte. „Das war nur eine Feststellung“, meinte Lana und zog ihre Decke zu sich. „Ich hab noch nie so einen Kuschelmuffel erlebt“, beschwerte sie sich mürrisch. „Dein Problem, nicht meins“, erwiderte er abweisend und schloss entspannt die Augen. Schon bald war die Entspannung verschwunden. Genervt und ein wenig gereizt zuckte seine linke Augenbraue. Lana bohrte fortwährend einen Finger in seine Seite. „Bist du sicher?“, flötete sie provokant. In ihren Augen funkelte es belustig, während sie theatralisch hinzufügte: „Da lass ich dich schon in meinem Bett schlafen und du bist nicht mal bereit, mich in den Arm zu nehmen. So etwas Undankbares!“ Kaibas Augen verengten sich zu Schlitzen. Ein eiskalter Klumpen schien ihm mit einem Mal im Magen zu liegen. Er fühlte sich plötzlich an Akios „falsches Angebot“ erinnert. Unterkunft und Nahrung gegen Sex. „Ich bin nicht deine persönliche Hure“, presste er kalt zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Allein bei dem Gedanken, dass man ihre Beziehung so auslegen konnte, stieß es ihm übel auf. „Warum eigentlich nicht?“, fragte Lana und legte gespielt nachdenklich einen Finger an ihre Wange. „Dann könnte ich im Bett von dir verlangen, was ich wollte.“ „Das ist nicht witzig“, knurrte er. Der Gedanke traf ihn tatsächlich. Langsam wurde ihm speiübel. Er war niemandes Spielzeug. „An dieser Theorie gibt es nur einen gewaltigen Haken“, sagte sie sanft und küsste ihn weich und nachgiebig, „du eignest dich miserabel als Hure. Du bist viel zu herrisch und stur. Man müsste dich brechen und bevor du das zulässt, gehst du lieber drauf.“ Sie griff nach seinem Arm. Sie zog seine Hand ihrem Gesicht und schmiegte ihre Wange an sie. „Es ist schön, dass du hier bist, du blöder, eigenwilliger Esel“, murmelte sie. „Pass bloß auf, wen du hier beleidigst, Lana“, entgegnete er kalt. Insgeheim musste er sich eingestehen, dass sie den richtigen Ton getroffen hatte. Er schlief mit ihr, weil er ihn wollte. Er hatte dieses Apartment bezahlt und hier ein Wohnrecht. Mit den Lebensmittelkosten zahlte sie nur Geld zurück, das er früher für sie ausgelegt hatte. Mit der Hand, die Lana nicht umklammert hielt, fuhr er sich über die Augen. Diese Enteignung hatte sein Leben geradezu auf den Kopf gestellt. Unweigerlich musste er an Nereas Ausspruch denken. Sie irrte sich. Er war nicht mehr der Alte. Zwar versuchte er sich immer noch so zu geben, aber innerlich musste er sich eingestehen, dass sich in dieser knappen Woche doch irgendwas verändert hatte. Kaiba blickte in Lanas schlafendes Gesicht. Die Wärme ihrer Haut strömte in seine Finger. Seit einer Woche teilte er mit einer Frau Nacht für Nacht das Bett. Er hatte Geldsorgen. Notdürftig waren sie gelöst, aber im Vergleich zu früher hatte er nichts. Er hatte keine Bediensteten, die den Haushalt machten und die seine Befehle ausführten. Jetzt musste er jeden Dollar doppelt und dreifach umdrehen und sorgfältig darüber nachdenken, bevor er ihn ausgab. Den Konsum von Luxusgütern konnte er total vergessen. Täglich musste er sich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln herumärgern, die schmutzig, unpünktlich und mit Menschen überfüllt waren. Die Zeiten waren fürs erste vorbei, in denen er gemütliche auf den Lederpolstern seiner Limousine seine Arbeit erledigen konnte, während er dorthin chauffiert wurde, wo er hin wollte, und dabei auch noch eine Minibar zur Verfügung hatte. Er hatte freiwillig gebacken und hing ständig in der Vergangenheit. Noch dazu bereitete er eine kurze einbrecherische Laufbahn vor. Und er hatte ein wenig Zeit für ein Hobby gefunden. Wie sollte all das ihn nicht verändert haben? Kapitel 21: Wer ich bin und was ich will - Mokuba ------------------------------------------------- Wer ich bin und was ich will – Mokuba Mokuba Kaiba war zufrieden, als er am Donnerstagabend die Firma verließ. Er war stehend K.O., aber zum ersten Mal nach der Firmenübernahme hatte er das Gefühl, alles halbwegs unter Kontrolle zu haben. Für den Anfang war er damit zufrieden. Er wusste, dass nicht sofort alles perfekt laufen konnte. Er musste sich einarbeiten und die Mitarbeiter brauchten auch ihre Zeit, um sich an den neuen Chef zu gewöhnen. Mit dem, was er in der einen Woche bewirkt hatte, konnte er durchaus zufrieden sein, fand er. Er hatte Pegasus angetrieben so schnell ein Treffen des Aufsichtsrats anzusetzen, wie irgend möglich. Die Chancen rechtzeitig zur Tokioer Spielemesse eine Lizenz zu haben standen gut. Und wenn es erst mal nur eine eingeschränkte war. Solange er das Spiel wie geplant vorstellen konnte, würde er sich nicht beklagen. Ansonsten war es geschäftlich zu keinen anderen Komplikationen gekommen. Er hatte sich mit anderen Geschäftsleuten getroffen. Die Verhandlungen waren gut verlaufen. Es lief mit. Terminlich hatte er für seine Geschäftsreise nach Amerika alles abgeklärt. Zwar hatte er vor einer Woche noch vorgehabt, bereits im Januar Duke und Pegasus einen Besuch abzustatten, aber er hatte inzwischen eingesehen, dass er momentan in der Hauptstelle gebraucht wurde, um alles zu regeln. Mit Duke hatte er lange telefoniert und sich die wichtigsten Informationen geben lassen. Das persönliche Treffen hatte keine höchste Eile. Keiner von beiden hatte im Moment alle Informationen zur Durchführung des Projekts. Seto hatte seinen Teil nicht herausgegeben. Warum auch, er hatte noch keinen Vertrag abgeschlossen. Für Mokuba war entscheidend, dass es sich um einen Multimillionendeal handelte und Seto in so kurzer Zeit niemals das Geld auftreiben könnte. Die Suche nach Seto lief auf Hochtouren. Große Erfolge waren zwar bisher ausgeblieben, aber realistisch betrachtet war das nicht sonderlich überraschend. Das musste auch Mokuba sich eingestehen. Nachdem es Seto erst einmal abgetaucht war, konnte man nicht erwarten, seine Spur leicht verfolgen zu können. Mokuba wusste, dass sein Bruder alles andere als dumm war. Er würde vorsichtig sein und sich bemühen, keine Spuren zu hinterlassen. Aber über kurz oder lang würde er einen Fehler machen. Die Überwachungsabteilung verfolgte sämtliche Spuren. Müde schlurfte Mokuba die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Für morgen Früh hatte er sämtliche bisherigen Unterlagen angefordert. Mal sehen, was er daraus ableiten konnte. Vielleicht fand er Hinweise, die seine Leute übersehen hatten. Schließlich kannte niemand seinen Bruder so gut wie er. Bisher hatte er keinen kennengelernt, der so geschäftstüchtig war wie Seto. Der würde keinen Gedanken daran verschwenden, sich ein neues Leben aufzubauen. Im Gegenteil, wahrscheinlich war er schon dabei, zu grübeln, wie er an Geld kommen konnte. Es war unrealistisch, dass er jemals einsehen würde, dass seine Zeit als CEO der Kaiba Corporation vorüber war. All das beunruhigte Mokuba. In nächster Zeit würde er nichts zu befürchten haben, aber er sollte seinen Bruder möglichst schnell finden. Er musste wissen, was der plante, damit er darauf vorbereitet war. Damit er seine Pläne einfach vereiteln konnte. Dass ihm das ein leichtes sein würde, da war sich Mokuba sicher. Was sollte Seto der Macht der KC schon entgegen setzen? *** Als Mokuba am nächsten Morgen sein Büro betrat, erwartete ihn bereits Roland. Stirnrunzelnd sah er seinen persönlichen Assistenten an. „Ist irgendetwas in meiner Abwesenheit vorgefallen?“, fragte er beunruhigt. „Nein, Sir“, erwiderte Roland. „Ich bringe nur die Unterlage über die Suche nach Ihrem Bruder.“ „Ah, gut. Danke“, sagte Mokuba zufrieden. „Hast du schon einen Blick hinein geworfen?“, fragte er, während er seinen PC einschaltete. Die Meinung des Assistenten sollte er sich durchaus anhören. Niemand hatte enger mit Seto zusammen gearbeitet als Roland. „Bisher nicht“, antwortete Roland. „Ich habe nur gehört, dass die Verfolgung der Notizzettel-Spuren noch nicht von Erfolg gekrönt gewesen ist.“ „Dann gehen wir die Unterlagen gemeinsam durch“, beschloss Mokuba. „Wie sie wünschen, Kaiba-sama“, entgegnete Roland ergeben. Von den Hinweisen des Notizzettels hatte Mokuba sich mehr erhofft. Es hatte authentisch gewirkt. Vielleicht wollte er auch nur zu viel auf einmal. Viel mehr als beobachten und unauffällig Erkundigungen einholen, konnten seine Leute nicht. Die Presse hatte ein Auge auf sein Handeln. Er musste vorsichtig sein. Wenn er zu viel Druck auf die Leute ausübte, zu denen die Spuren führten, schadete er sich wohlmöglich selbst. Er brauchte eine große Sicherheit, Seto tatsächlich gefunden zu haben, bevor er aggressiv zur Tat schritt. Er hatte also ein paar Namen und Orte, konnte aber vorerst nichts anderes tun, als zu beobachten und zu hoffen, dass sein Bruder sich irgendwo blicken ließ. Oder er einen anderen Fehler machte. Mokuba seufzte und rieb sich nachdenklich die Schläfen. „Weiter beobachten und im Umfeld Erkundigungen einholen“, wies er Roland an. Der Assistent konnte sich darüber kümmern, dass es weitergegeben wurde. „Wie sieht es mit einer möglichen Ausreise aus?“ „Sehr wohl, Sir“, antwortete Roland und machte sich eine entsprechende Notiz und blätterte danach nach der gewünschten Informationen in den Unterlagen. Während er noch suchte, sagte er: „Wie sie angeordnet haben, sind alle Hausverwalter und Sicherheitsbeauftragten Ihrer Immobilien im Ausland angewiesen worden, verstärkt auf Seto Kaiba zu achten.“ Mokuba nickte, obwohl er sich davon nicht viel erhoffte. Die Wahrscheinlichkeit, das Seto eine seiner ehemaligen Immobilien aufsuchen würde, war gering. Es wäre unvorsichtig, sich so nah an Mokubas Einflussbereich aufzuhalten. Und Mokuba schätzte Seto als klug genug ein, um zu wissen, dass die Loyalität seiner Mitarbeiter darauf begründet gewesen war, dass sie auf seiner Gehaltliste gestanden hatten. „Ah, hier“, sagte Roland und zog Mokubas Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Bisher gibt es keine Hinweise auf eine Ausreise. Sämtliche bisherigen Anfragen auf eine Einreise blieben ohne Treffer.“ „Welche Länder sind das genau?“, hakte Mokuba nach. „Es ist nur die Rede von den westlichen Industrieländern und Nachbarstaaten“, erklärte Roland. „Soll ich die exakte Liste anfordern, Sir?“ Mokuba winkte ab. „Nein, es ist unwichtig, wo er nicht ist. Sie sollen mit der Suche fortfahren.“ „Selbstverständlich, Kaiba-sama!“ *** „Na das wird ein schönes Wochenende“, murmelte Mokuba vor sich hin, als er am Abend einige Unterlagen zusammenpackte, um sie an den nächsten beiden Tagen zu bearbeiten. Einerseits war ihm zum Stöhnen zu Mute – immerhin hatte er früher die Wochenenden zur freien Verfügung gehabt –, aber andererseits war im Vergleich zum letzten Wochenende deutlich weniger, das er zu Hause erledigen musste. Augen zu und durch, versuchte er sich aufzumuntern. Wenn er sich erst einmal vollständig eingearbeitet hatte, gehörte der Samstag und Sonntag wieder ihm. Bis dahin würde er sich eben zusammenreißen. „Hey Mokuba“, wurde er angesprochen, als er aus der Firma trat. Überrascht sah er Joey auf sich zu sprinten. „Hi, Joey“, erwiderte Mokuba. „Worum hast du nicht kurz durch geklingelt? Ich hätte dir aufmachen können.“ „Ah, du kennst mich doch“, meinte Joey und fuhr sich beinahe verlegen durch die Haare. „Ich vergesse ständig, mein Handyguthaben wieder aufzuladen.“ Mokuba grinste nur. Sie wussten beide, dass es im Grunde erstaunlicher war, wenn Joey mal Geld auf dem Handy hatte. „Und? Was gibt’s?“ „Ich wollt dich zu meinem Geburtstag einladen“, sagte Joey freudig und witzelte: „Wenn man kein Telefon hat, muss man eben laufen.“ Automatisch zückte Mokuba seinen Terminplaner. Abgesehen davon, dass die Bewegung schon in Fleisch und Blut übergegangen schien, war es wohl sinnvoll. So hatte er den Termin immer auf dem Schirm und kam erst gar nicht dazu, ausversehen ein anderes Treffen dorthin zu legen. Joey blickte ihn aus großen Augen und offenem Mund an. Er wirkte irgendwie entsetzt. So, als glaube er, Mokuba habe das Datum seines Geburtstags vergessen. „Ich weiß, dass du am 25. Geburtstag hast“, kicherte Mokuba breitgrinsend, „aber du feierst doch sicherlich nicht mitten in der Woche. Außerdem wär ne Uhrzeit nicht schlecht.“ „Ähm, doch“, entgegnete Joey, lächelte aber versöhnlich. „Um 18 Uhr. Ist ne kleine Runde und ich will selbst kochen.“ „Oh“, entwich Mokuba. Damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Er war davon ausgegangen, dass Joey am Wochenende nachfeiern würde. Er rief den übernächsten Dienstag in seinem Terminkalender auf. Wie er es in Erinnerung gehabt hatte, lag dort um 17 Uhr ein Meeting mit seinen Abteilungsleitern, das schon zweimal verschoben worden war. Unter seiner Leitung war es erst das zweite und dementsprechend wichtig. „Sag bloß, du kannst nicht?“, fragte Joey bestürzt. „Sorry“, meinte Mokuba ein wenig geknickt. „Um 17 Uhr ist eine Konferenz, die bestimmt eineinhalb Stunden dauern wird.“ „Ach verdammt. Und dabei bin ich schon extra so früh gekommen“, fluchte Joey. „Dieser verfluchte Job!“ „Es ist nicht dieser verfluchte Job“, widersprach Mokuba energisch. Ruhiger fügte er hinzu: „Sitzungen zu der Zeit kommen bei so gut wie jedem Bürojob mal vor.“ Er lächelte beschwichtigend. „Außerdem bemühe ich mich, so schnell wie möglich nachzukommen.“ Joey stieß einen tiefen Seufzer aus. „Okay“, stimmte er schließlich zu. „Ärgerlich ist es trotzdem!“ „Mhm“, brummte Mokuba. „Hast du Lust noch mit zu mir zukommen? Oder sollen wir dich irgendwo in der Stadt absetzen.“ Joeys Blick folgte Mokubas zu der wartenden Limousine hinüber. „Oh klar“, rief er begeistert aus. „Wir haben schon länger nicht mehr gezockt.“ Mokuba lachte auf, als Joey während sie noch auf das Auto zugingen, begann ihn über einige neue Videospiele auszufragen. So viel hatte sich an seinem Leben, nun wirklich nicht geändert, befand Mokuba. Abgesehen von der Zunahme an Arbeit und Verantwortung. Kapitel 22: Überrannt --------------------- Überrannt Am Freitag hatte Kaiba das Gefühl, ein gutes Stück vorwärts gekommen zu sein. Gleich am Mittwochmorgen hatte Nerea die Videoübertragung im Apartmenthaus angezapft. Kaiba musste ihr zugestehen, dass sie eine beachtliche Selbstkontrolle besaß, denn, obwohl sie tierisch aufgeregt und nervös gewesen war, hatte alles reibungslos funktioniert. Seitdem hockten sie ständig über den Übertragungen. Sie analysierten die Gewohnheiten und die Bewegungsmuster des Sicherheitspersonals, verschafften sich Hintergrundwissen und stolperten hin und wieder über Situationen, in denen eine Tonspur nützlich gewesen wäre. So hatte sich Kaiba kurzerhand entschlossen, ein Programm zu schreiben, das Lippenbewegungen in Text umwandeln konnte. Eins zu kaufen, wäre einfacher gewesen, aber das hätte sein minimales Budget gesprengt. Also hatte er sich in die Computer von unterschiedlichen Firmen gehackt – die Gerätschaften besaß er schließlich – und hatte sich hier und dort Anregungen und spezifische Strukturen besorgt. Auch damit war das Ganze alles andere als eine einfache Angelegenheit. Er arbeitete mehr oder weniger Tag und Nacht daran. „Oh, Mann“, murmelte Nerea leicht frustriert. „Das gibt es doch gar nicht.“ Kaiba unterdrückte den Drang, sich genervt durch das eh schon zerzauste Harr zu fahren. Seine eigene Aufgabe bot dazu Veranlassung genug. „Gibt’s ein Problem?“, fragte Kaiba, bemüht sich nicht anmerken zu lassen, dass er sich eigentlich nicht auch noch um ihren Teil der Arbeit kümmern wollte. Die Daten auszuwerten und Bewegungsprofile zu erstellen, sollte nun wirklich keine Herausforderung sein. „Michael Warren, wenn man so will“, sagte Nerea. Sie hatte den Kopf auf einen Arm gestützt und starrte genervt auf den Computermonitor. „Der Mann ist einfach unberechenbar!“ Michael Warren. Kaiba erinnerte sich an ihn. Ein relativ hohes Tier in der Hierarchie der Sicherheitsabteilung. Er hatte damals die Einweisung in das System gemacht. Ruhiger, bodenständiger Typ. Ende Vierzig. Geschieden. Zwei Kinder, lebten bei der Mutter, aber er konnte sie besuchen, wann er wollte. Keine Schulden. Keine kostspieligen Hobbys. Besitzer eines Waffenscheins. Wohnte in einer kleinen 2-Zimmer Wohnung. Ein Arbeitstier. „Erweckt einen kompetenten Eindruck“, erwiderte er, während ihm all diese Fakten durch den Kopf schossen. Seine Recherchen waren sehr gründlich gewesen. „Du sagst es“, seufzte sie. „Zu kompetent, um für unseren momentanen Geschmack angenehm zu sein.“ Kaiba beschloss, dass es vielleicht doch keine schlechte Idee war, sich mit der Sache zu beschäftigen. Nerea beklagte sich eigentlich nicht. Und abgesehen davon, konnte ihm ein wenig Ablenkung von seiner Programmierarbeit wahrscheinlich nicht schaden. „Guck dir das an“, sagte Nerea, als er zu ihr hinüber kam. „In seiner Dienstzeit Bewegungsmuster für die Kontrollgänge zu erstellen, ist ziemlich unmöglich.“ Ihre Finger folgen über die Tastatur und sie zeigte ihm Skizzen von unterschiedlichen Kontrollgängen. Keine der Routen war identisch. Es gab immer wieder kleinere Abweichungen vom Standardweg. „Er schickt die Leute mal hier hin und mal dorthin. Und das ohne jedes Muster.“ „Wenn es einfach wäre, unbemerkt in ein Apartment zu kommen, hätte ich dort keins gekauft“, erwiderte Kaiba ungerührt. Er gab ihr zwar Recht, dass es für ihr Anliegen wenig förderlich war, aber so problematisch konnte es nun auch wieder nicht sein. „Schon klar“, murmelte Nerea und rief die Dienstpläne für die nächsten Wochen auf. „Es wäre auch nicht so ärgerlich, wenn wir ihn umgehen könnten.“ „Aber das können wir doch“, erwiderte er stirnrunzelnd und wies auf den Monitor. „Er hat die letzten Tage im Januar frei oder keine Nachtschicht.“ „In der Theorie hast du recht“, bestätigte sie, „aber das ist ein Wochenende und damit der ungünstigste Zeitpunkt überhaupt. Da kommen und gehen die Leute bis spät in die Nacht. Die Kameras zu der Zeit in Schleifen zu legen, ist ziemlich gewagt. Wenn ständig ein und dieselbe Person ein und denselben Gang entlang geht oder jemand am Portier vorbeikommt, der vorher nicht auf den Überwachungsbänden zu sehen war, ist das recht auffällig.“ Nerea hatte Recht. Am Wochenende gingen die meisten Menschen aus. Das war ungünstig. In der Woche waren die Fluren nachts sehr viel wahrscheinlicher leergefegt. „Ruf mal für den ersten Februar im Zeitraum von ein bis drei Uhr die Pläne auf“, verlangte Kaiba. An einem Dienstag sollte mitten in der Nacht das Risiko überschaubar sein. „Also, abgesehen von Warren ist da niemand eingeteilt, den ich als problematisch einschätze“, murmelte Nerea vor sich hin und strich sich nachdenklich eine Strähne zurück hinters Ohr. „Um etwa zehn nach eins sollte der routinemäßige Kontrollgang beendet sein und der nächste beginnt dann um zwanzig vor drei.“ „Die Zeit reicht“, sagte Kaiba. Wenn alles glatt lief, benötigte er vielleicht eine halbe Stunde. „Selbst wenn wir auf kleine Komplikationen treffen.“ „Hm“, stimmte sie zu und schrieb sich einen kleinen Klebezettel mit den Namen derer die Dienst hatten. „Dann achte ich ganz besonders auf diese Freunde.“ „Mach das“, erwiderte er, während er um Charlies Küchentisch ging, um wieder zu seinem Laptop zu gelangen. „Lass die anderen nur nicht zu sehr außer Acht.“ Kaiba konnte es sich nicht verkneifen. Es war zu wichtig. Aus was für Gründen auch immer konnte es im Apartmenthaus zu personellen Änderungen kommen und er wollte darauf vorbereitet sein. Eigentlich hatte er sich zwar vorgenommen, ihr gegenüber nicht zu sehr den Chef heraushängen zu lassen. Nerea erweckte den Anschein zu der Sorte selbstständiger, junger Frauen zu gehören, die sich von Menschen, die nicht gerade ihre Vorgesetzten waren, ungern sagen ließen, wie sie etwas zu tun hatten. Besonders dann nicht, wenn sie sich im Grunde auf diese Sache verstanden. „Ist klar“, murrte Nerea genervt. „Bin ja nicht blöd.“ „Nimm es nicht persönlich“, sagte Kaiba und bemühte sich um ein entschuldigendes Lächeln. „Angewohnheiten legt man niemals schnell ab und außerdem bin ich derjenige, der dadurch am ehesten mit dem Kopf in der Schlinge stecken kann.“ Nerea lächelte schwach. Sie fuhr sich seufzend mit den Händen übers Gesicht und durch die Haare. Zum ersten Mal wirkte sich richtig erschöpft. „Ist schon in Ordnung“, lenkte sie ein. „Ich verstehe, dass für dich einiges davon abhängt. An deiner Stelle würde ich sicherlich auch lieber einmal zu viel als zu wenig an etwas erinnern.“ Sie rieb sich kurz die Augen. „Wie sieht unsere Wochenendplanung aus?“ „Ich denke, wir sollten uns die Arbeit aufteilen“, sagte Kaiba langsam. „Wir können die zwei Tage ebenso gut getrennt arbeiten. Dann kann sich jeder seinen Teil einteilen, wie es ihm am besten passt. Mit dem Programm werde ich aller Wahrscheinlichkeit morgen fertig sein. Ich kümmere mich dann um die Auswertung der Aufnahmen ab dem Zeitpunkt und überprüfe die Stellen, in denen wir den Ton vermisst haben.“ Nerea nickte. „Das geht in Ordnung“, stimmte sie zu. „Warte einen Moment, ich lad dir die Szenen auf einen USB-Stick.“ „Danke.“ Sie arbeiten noch bis kurz vor zwölf Uhr mittags und machten sich dann daran, ihre Sachen zusammen zu räumen, damit Charlie seinen Küchentisch zur Verfügung hatte. Das war für beiden Seiten sicherlich besser. Charlie hatte genug Platz und Kaiba und Nerea mussten nicht um ihr technisches Equipment fürchten. „Sag mal“, meinte Nerea, während sie gemeinsam auf dem Weg zur nächsten U-Bahn-Station waren. Leicht nervös strich sie ihre Haare zurück. „Hast du vielleicht Lust heute oder morgen Abend auszugehen?“ Auch das noch, dachte Kaiba, aber er hatte es ja förmlich herausgefordert mit seinem „Geflirte“. Da musste er sich nun wirklich nicht wundern, wenn sie darauf einging. Unpassend war es im Moment dennoch. Er seufzte. Der nächste Drahtseilakt. „Nimm es mir nicht übel“, sagte er und versuchte versöhnlich zu klingen, „aber ich glaube, das ist keine so gute Idee. Ich hab im Moment unglaublich viel zu tun und Orte, wo viele Menschen aufeinandertreffen, versuche ich zu meiden. Davon mal abgesehen war ich nie ein Party-Typ.“ Und, fügte er für sich hinzu, ich habe momentan keine Papiere, mit denen ich in Clubs hineinkommen könnte. Einen Ausweis vorzuzeigen, der auf den Namen Seto Kaiba ausgestellt war, erschien so mit als das Dümmste, das er tun konnte … außer vielleicht in eine Geschäftsstelle der KC hineinzuspazieren. „Hm, verstehe“, murmelte sie ein wenig enttäuscht. Sie machte ein paar nervöse, unsichere Armbewegung und fügte vorsichtig hinzu: „Und wenn wir uns mal privat in privaterem Raum treffen würden? Es ist nämlich echt cool, mal jemanden zu haben, mit dem ich auch über technische Dinge reden kann, ohne gleich auf Unverständnis und Genervtheit zu stoßen. Du weißt so unglaublich viel und ich hab so viele Ideen, über die ich mich gerne austauschen würde.“ Nerea lächelte schwach und Kaiba fiel es leichter als erwartet die Geste zu erwidern. Seltsamer Weise konnte er ihr Gefühl ein wenig nachvollziehen. Momentan war sie die einzige, die von seinem Geschäft halbwegs etwas verstand. Wenn er nur an Lanas Gesichtsausdruck dachte, den sie immer sofort aufsetzte, sobald er die Themen „Technik“ und „Informatik“ auch nur streifte, hätte er seufzen können. So viel Unverstand und Desinteresse war schon nicht mehr feierlich. „Ich denke“, setzte Kaiba an, froh einen so einfachen Ausweg zu finden, „nachdem über die … Geschichte mit meinem Bruder ein wenig Gras gewachsen ist und wir unseren Plan umgesetzt haben, könnten wir uns mal treffen. Zum Abendessen oder auf einen … Drink. Du kennst doch sicherlich ein paar kleine Restaurants und Clubs, in denen …“ Er ließ den Satz unvollendet, aber sie verstand auch so. Nerea strahlte übers ganze Gesicht. „Das wär echt super“, rief sie aus. Als sie sich schließlich in der U-Bahn-Station trennten, überrumpelte sie ihn mit einer freundschaftlichen Umarmung. „Schönes Wochenende!“, wünschte sie. „Bis Montag.“ *** „Hallo, Seto“, tönte es ihm fröhlich entgegen, als er die Küche betrat. Einen Moment fragte er sich, warum sie bereits zu Hause war – normalerweise arbeitete Lana am Freitag bis 14 oder 15 Uhr –, angesichts des Chaos, das im Raum herrschte, erschien die Frage jedoch nur peripher von Belang. „Was tust du da?“, fragte Kaiba skeptisch. Überall türmten sich Pfannen, Töpfe, Bretter, Schalen und anderen Kochutensilien. Verschiedene Lebensmittel lagen hier und dort. Irgendwo dazwischen konnte er auch noch zwei aufgeschlagene Kochbücher erkennen. Eine solche Unordnung hatte selbst er nicht zustande gebracht, als er die Kuchen gebacken hatte. „Ich versuche uns etwas zum Mittag zu kochen“, entgegnete sie geschäftig. Versuchen. Ja, das traf es ganz genau. Er bezweifelte stark, dass sie übers Versuchsstadium hinauskommen würde. Das sah alles nicht sehr genießbar aus. Spontan beschloss er seine Mahlzeit bei einem Sandwiches – selbst zubereitet – zu belassen und darauf zu hoffen, dass Akio ihn wieder zum Abendessen einlud. Im Gegensatz zu Lana konnte der nämlich kochen. Kaiba verkniff sich einen sarkastischen Kommentar. Er wollte den Nachmittag ungestört arbeiten, da war es absolut nicht dienlich, wenn sie beleidigt oder gar wütend war. Nerven würde sie dann auf alle Fälle. „Ich hab nachher noch Training und esse lieber nur eine Kleinigkeit“, redete er sich aus der Sache hinaus. Zumindest hatten sie durch ihr Kochexperiment sämtliche Zutaten für Kaibas Lieblingssandwiches im Haus. „Ah, verstehe“, sagte Lana und er konnte wirklich nicht heraushören, ob sie ihm das nun übel nahm oder nicht. „Wie kommt es, dass du heute früher da bist?“, fragte er, um das Thema zu wechseln. „Ach, ich hatte gerade etwas fertig und fand, etwas Neues anzufangen, lohnte sich nicht mehr“, entgegnete sie gutgelaunt. „Zumal ich im Moment auch nicht so viel auf dem Tisch habe.“ „Hm“, brummte er, während er auf seinem Brot ein paar Salatblätter verteilte. „Und wie sieht deine Nachmittagsplanung aus?“ Zum ersten Mal, nachdem er die Küche betreten hatte, hielt Lana in ihrem Werkeln inne. Sie musterte ihn skeptisch von der Seite. „Was genau möchtest du, Seto?“, fragte sie argwöhnisch. „Kann ich heute Nachmittag dein Arbeitszimmer für ein paar Stunden benutzen?“, fragte er diplomatisch und fühlte sich tatsächlich ein klein wenig ertappt. „Oder brauchst du es selbst?“ Nachdenklich legte sie einen Finger an die Wange. „Nee, eigentlich nicht. Ich wollte heute Nachmittag ein wenig laufen gehen und lesen. Sofern du mir nichts unordentlich machst, kannst du es benutzen.“ „Okay.“ Kurz nachdem Kaiba aufgegessen und sich ins Arbeitszimmer zurückgezogen hatte, begann Lana in der Küche zu fluchen. Er konnte das spöttische Grinsen nicht unterdrücken. Das war so absehbar gewesen. *** „Du bist heute ziemlich gut drauf“, stellte Akio gegen Ende der Trainingsstunde fest. „Läuft bei dir im Moment alles mit?“ „Ich komm ganz gut voran“, erwiderte er und hoffte, dass der Lehrer nicht weiter nachharken würde. Er hatte mit Akio nicht über sein Vorhaben gesprochen und das war auch nicht geplant. Der andere hatte schon den Mund geöffnet, um etwas zu erwidern, als Kaibas Magen knurrte. Er lachte auf. „Du bist sicher, dass du dort, wo du untergekommen bist, genug zu essen bekommst?“, stichelte er. Der Witz mit dem „falschen Angebot“ hatte sich seltsamer Weise einvernehmlich zwischen ihnen gehalten. „Meine Mitbewohnerin hat versucht zu kochen“, sagte Kaiba kühl. Besonders angenehm war es ihm zwar nicht, dass sein Lehrer wiederholt seinen Magen knurren hörte, aber zumindest konnte er sich so sicher sein, das Angebot zu bekommen, zum Abendessen zu bleiben. „Und?“ „Die Betonung liegt auf ‚versucht‘“, erklärte er und seine Mundwinkel zuckten spöttisch, wenn er an das Chaos dachte, dass sie angerichtet hatte. „Ich wollte keinen Ärger provozieren, also hab ich mir, mit der Begründung vor dem Training nur etwas Leichtes essen zu wollen, ein Sandwiches gemacht.“ Akio lachte auf. In seinen Augen funkelte es schelmisch. „Und was machst du, wenn sie dir heute Abend Reste anbietet?“ „Du weißt, wie ich gedenke, das Problem zu lösen“, gestand Kaiba selbstbewusst ein. „Ja, du kannst gerne zum Essen bleiben“, erwiderte Akio in gespielt übertrieben gönnerhaften Ton. Er kicherte noch immer. Den Moment nutzte Kaiba für seinen nächsten Angriff. Wie erwartet traf er den Lehrer unvorbereitet und konnte ihn beinahe mühelos zu Boden drücken. „Hab ich schon einmal erwähnt, dass niemand ohne Konsequenzen über mich lacht?“, fragte er aufgesetzt düster. Akios Mundwinkel zuckte amüsiert. Im nächsten Moment hatte er sich wieder voll auf den Kampf konzentriert. Sie trainierte noch eine weitere Viertelstunde, dann wurden sie vom Klingeln an der Tür unterbrochen. Akio runzelte verwundert die Stirn. „Du erwartest niemanden mehr“, schlussfolgerte Kaiba. „Nein, eigentlich nicht“, sagte er und war schon auf dem Weg durch die Halle. „Am besten wartest du hier. Ich kläre das schnell persönlich.“ Kaiba wartete angespannt, bis er eine altbekannte Stimme an seine Ohren drang. Was wollte sie denn hier? „Hi, du bist sicherlich Akio, stimmt’s?“, fragte Lana gutgelaunt. „Ähm … ja, das ist richtig“, hörte er den Lehrer überrumpelt antworten. „Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Lana“, sagte sie und ließ sich überhaupt nicht beirren. Papier raschelte. „Ah ja, … und was kann ich für dich tun?“, fragte Akio irritiert. Kaiba schob leise die Tür zur Übungshalle auf und erkannte Lana mit einer großen Einkaufstüte im Arm in der Eingangstür. Sie seufzte theatralisch. „War ja klar, dass er nichts von mir erzählt hat“, sagte sie, klang dabei allerdings keinesfalls verärgert. „Tut er nie. Selbst seinem Bruder gegenüber hat er mich nicht erwähnt. Na ja, war im Nachhinein auch besser. Sonst hätte er jetzt noch mehr Ärger an den Hacken.“ „Was tust du hier, Lana?“, fragte Kaiba kalt, aber auch das konnte ihre Laune nicht trüben. „Du kennst sie?“, fragte Akio und drehte sich zu ihm um. Dabei trat er einen Schritt zur Seite und den Moment nutzte Lana prompt, um sich an ihm vorbei in den Vorraum zu schieben. „Wir wohnen zusammen“, antwortete sie für ihn. Mit den Worten „Ah, okay“ schloss Akio die Tür hinter ihr. „Was willst du hier?“, fragte Kaiba stoisch. „Seto, ich bin nicht so blöd, wie du vielleicht glaubst“, antwortete sie. „Wenn du denkst, ich wüsste nicht, dass du dich insgeheim über meine Kochversuche lustig machst und dir hier heute Abend den Bauch vollschlagen willst, hast du dich gewaltig geschnitten. Also bin ich hier, um mitzuessen.“ Akios Mundwinkel zuckten und in seinen Augen war dasselbe Amüsement zu erkennen. „Die Küche ist nicht zu verfehlen, wenn du die Treppe da hochgehst. Zieh nur bitte die Stiefel aus, bevor du die Wohnung betrittst.“ „Dankeschön“, flötete Lana und lächelte breit. „Lass euch von mir in eurem Training nicht aufhalten.“ Kaiba war froh, dass Akio scheinbar nichts gegen ihre Anwesenheit hatte. Er selbst war zwar nicht sonderlich begeistert, dass sie hier war und einfach über ihre Köpfe hinweg entschieden hatte, aber sie in so einer Stimmung abzuwimmeln, ohne das nachher der „Haussegen“ komplett aus den Angeln hing, war nahezu unmöglich. „Ja, das ist nicht unnormal“, sagte Kaiba, als seine Augen denen seines Lehrers begegneten. „Taffes Mädchen“, bemerkte Akio grinsend. „Welch ein Glück, dass du nicht an Frauen interessiert bist“, erwiderte Kaiba spöttisch. Er konnte sich beileibe schöneres vorstellen, als dass seine Mitbewohnerin etwas mit seinem Trainer anfing. Kapitel 23: Der Irrsinn, den du betreibst ----------------------------------------- Der Irrsinn, den du betreibst Den Samstagnachmittag nutzte Mokuba, um Setos Sachen zu durchstöbern. Nicht, dass der viele private Dinge besessen hatte – abgesehen von Duel Monsters Karten und sonstigen Zubehör – und so dauerte es nicht lange bis er auf die Briefe stieß. In der untersten Schublade von Setos Nachttisch feinsäuberlich in einem kleinen Karton verstaut, sogar die Briefumschläge waren noch vollständig erhalten. Wäre es nicht Setos Eigentum gewesen, hätte Mokuba die Aufbewahrung glatt als liebevoll bezeichnen können. Insgesamt waren es bestimmt zwei Dutzend Briefe. Die ersten waren noch an ihre alte Familienanschrift adressiert, die nächsten ans Waisenhaus und schließlich ans Kaiba-Anwesen. Die Anschrift des Absenders wechselte regelmäßig, die Person blieb allerdings immer dieselbe: ein Litaro Tarimo. Mokuba benötigte einen Moment bis er mit dem Namen etwas verbinden konnte. Als er jedoch erst einmal realisiert hatte, dass es sich dabei um Setos früheren Babysitter handelte, stand ihm sofort ein Bild vor Augen und einige teilweise unscharfe Erinnerungen schossen ihm durch den Kopf. Er hatte Litaro – oder Taro wie er immer genannt wurde – immer gemocht und manchmal war er ein bisschen neidisch auf Seto gewesen, weil der Taro als Babysitter hatte und er selbst nur ein strenges Kindermädchen, das beinahe sämtliche Dinge verbot, die kleinen Kindern Spaß machten, und ihn kaum aus den Augen ließ. Daran lag es wohl auch, dass er niemals wirklich viel mit Taro zu tun gehabt hatte. Einen Augenblick starrte Mokuba nur auf die Briefe in dem Karton. Er hatte nicht gewusst, dass das Verhältnis zwischen seinem Bruder und dessen Babysitter so eng gewesen war. Wie Recht er damit hatte, merkte er erst, als er Taros Briefe las. Obwohl es sich dabei nur um die Hälfte des „Gesprächs“ handelte, konnte er den Rest beinahe lückenlos rekonstruieren. Als er den letzten Brief zur Seite legte, war er dennoch verwirrt – gefühlsmäßig. Einerseits sprach eine Liebe und Sorge aus dem Geschriebenen, die einem Litaro Tarimo augenblicklich sympathisch werden ließen. Andererseits war klar erkenntlich, dass Seto mit seinem Babysitter über Dinge gesprochen hatte, die er Mokuba gegenüber mit keinem Wort erwähnt hatte. Und das machte ihn unglaublich sauer. Wer war dieser Mensch, dass sein Bruder ihm Dinge anvertraute, die in erster Linie Mokuba etwas angegangen wären? In einem Anflug von Wut warf Mokuba die Briefe auf Setos Bett und stapfte in sein Arbeitszimmer hinüber. Er fuhr den Computer hoch und begann mit einer oberflächigen Recherche zur Person Litaro Tarimo, denn abgesehen davon, dass der jetzt Anfang 30 sein musste, wusste er nichts über ihn. Während er sich Basisdaten zusammensuchte – Anschrift, Beruf, familiärer Hintergrund usw. – dachte er über die Informationen nach, die er den Briefen hatte entnehmen können. Abgesehen davon, dass Seto anscheinend mit Taro über Ängste und Zweifel gesprochen und ab und an wohl um Rat gefragt hatte, ging ihm einfach nicht aus dem Kopf, dass Seto das Angebot der Adoption nicht hatte abwarten können. Es hätte so viel geändert. Mokuba seufzte und wählte kurz entschlossen die Privatnummer, die er nicht ganz legal herausgefunden. Es tutete etliche Male aus dem Hörer, bevor am anderen Ende der Leitung ein verschlafen-alarmiertes „Tarimo“ erklang. Mokuba brauchte seinerseits einen Moment, um den Tonfall einzuordnen. Ihm war die Zeitverschiebung zwischen Amerika und Japan völlig entfallen. In New York war es jetzt mitten in der Nacht und wahrscheinlich rechnete Taro aufgrund des Anrufs zu dieser Zeit damit, dass etwas vorgefallen war. „Ähm … es ist alles in Ordnung“, brachte er schließlich hervor. „Ich habe die Zeitverschiebung nicht bedacht. Entschuldigung.“ Ein Gähnen war zu hören. „Wer ist denn da?“, fragte der andere nun um einiges weniger gestresst, jedoch nicht deutlich wacher. „Mokuba Kaiba.“ Erst in diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er gar nicht richtig über sein Anliegen nachgedacht hatte. Setos ehemaligen Babysitter anzufahren, weil sein Bruder ihm gegenüber offener gewesen war, wäre kindisch gewesen. Kurz Taro lachte freudlos auf. „So viel zu der kleinen Hoffnung, dass es doch irgendwann der andere Kaiba ist, der sich bei mir meldet“, bemerkte er trocken. „Also hat Seto auf Ihre letzten Briefe nicht mehr geantwortet?“, sprach Mokuba eine Vermutung aus, die ihm schon beim Lesen gekommen war. Während Gozaboru noch gelebt hatte, war es ganz logisch gewesen, dass Antworten ausgeblieben waren. Mit Sicherheit waren da einige Briefe unterschlagen worden. Es wunderte ihn sowieso, dass in dem Karton der gesamte Briefwechsel war. Für die Zeit danach gab es keine Begründung, außer dass der Empfänger eben Seto gewesen war. „Nein, das hat er nicht“, antwortete Taro und es war seiner Stimme anzuhören, dass er das bedauerte. „Rufst du deswegen an?“, fragte er dann. „Weil du die Briefe gefunden hast?“ „Ja“, gestand Mokuba ein. Was sollte er es leugnen? In gewisser Weise hatte er es mit seiner Frage bereits zugegeben. „Was willst du wissen?“, fragte Taro. Wieder lachte er freudlos auf. „Ob er sich inzwischen bei mir gemeldet hat?“ „Zum Beispiel.“ Das war nicht gerade sehr freundlich, aber der andere trug ebenso dazu bei, dass der Ton kühler wurde. „Du bist paranoid.“ Das saß. Mokuba sah für einen Moment rot. „Wie bitte?“, fauchte er in den Hörer. „Du fürchtest so sehr einen möglichen erneuten Aufstieg Setos, dass du nach jedem Strohhalm greifst. Du durchwühlst sogar seine privaten Sachen. Würdest du realistisch denken, wüsstest du, dass er sich nicht bei mir gemeldet hat. Ich bin in New York. Wie sollte ich ihm schon groß helfen? Ich könnte ihm Geld schicken und eine Wohnung besorgen, aber letztendlich würde das nicht viel bringen. Ich bin sicher, er weiß, wie du denkst und was du tust. Du kennst mich und meine Verbindung zu Seto. Du hast die Briefe gefunden. Du würdest es mitbekommen, wenn ich ihm Hilfe zukommen ließe. Und genau das möchte er vermeiden. Er will nicht gefunden werden. Davon einmal abgesehen, ist er inzwischen wahrscheinlich viel zu stolz, um auch nur einen Cent von irgendwem anzunehmen.“ „Wie können Sie es wagen?“, brüllte Mokuba, obwohl die Argumentation an sich durchaus schlüssig war. „Sie haben ja keine Ahnung, was er mir angetan hat.“ „Könntest du bitte aufhören zu schreien. Ich habe gestern Abend etwas zu viel Alkohol gehabt“, entgegnete Tarimo genervt. Er brummte ein wenig gequält und es hörte sich so an, als riebe er sich den schmerzenden Kopf. „Was er dir angetan hat?“ Mokuba gefiel der leicht spöttelnde Unterton nicht. „Wahrscheinlich etwas Ähnliches, wie allen Menschen in seiner Umgebung. Er hatte keine Zeit für sie? Sie waren seiner Arbeit untergeordnet?“ Mokuba schnaubte. „Das ist ziemlich stark vereinfacht. Trotzdem, wie können Sie immer noch auf seiner Seite sein?“ „Seiner Seite?“, echote Tarimo trocken lachend. „Mach dich nicht lächerlich. Du kannst nicht jeden deiner oder Setos Seite zuordnen. Obwohl ich zugeben muss, dass diese Denkweise mich nicht überrascht. Das stinkt geradezu nach Gozaboru Kaibas Lehrplan.“ Einen Moment lang dran nur leises Atmen und das Rascheln einer Bettdecke durch den Hörer. „Aber in diesem Fall hast du vielleicht sogar Recht und ich bin auf Setos Seite. Ihm kann man zumindest nicht vorwerfen, seinen Bruder in die Obdachlosigkeit getrieben zu haben. Das war es doch, was du wolltest, nicht wahr?“ Mokuba war abermals kurz davor, den anderen anzuschreien. Und wenn’s nur den Effekt hatte, dass dessen Kopfschmerzen schlimmer wurden. Allerdings musste er sich eingestehen, dass er mit so einem Wortduell keinen Blumentopf gewinnen konnte. „Dafür dass Sie angeblich so realistisch denken, sind Sie ganz schön naiv. Nach etwa sechs Jahren ohne auch nur ein Wort zu hören, sollten Sie es besser wissen“, konterte er hart. „Hm. Angriff ist die beste Verteidigung, wie?“, erwiderte Tarimo. Er wirkte nicht sonderlich getroffen, obwohl er zu wissen schien, dass es so war. „Aber an einen Menschen zu glauben, ist nichts Verwerfliches, im Gegensatz dazu, einen zerstören zu wollen.“ „Ihr Glauben ist wirklich naiv. Sie bedeuten ihm nichts mehr. Wahrscheinlich hat er Sie sogar schon vergessen! Er ist ein gehässiger Egoist“, sagte Mokuba. Er wollte diesen ganzen moralischen Mist nicht hören. „Vielleicht hast du Recht“, bestätigte er mit einer Ruhe, die Mokuba nicht verstehen konnte. „Er ist sicherlich kein Heiliger. Ich weiß das. Aber das heißt nicht, dass ich ignorieren kann, wie er einmal war. Ein aufgeweckter Junge, der schwerer zu hüten war, als ein Sack Flöhe; der unglaublich viele Flausen im Kopf hatte; der quasi jede Minute mit seinem kleinen Bruder genoss; der nachts zu mir ins Bett gekrabbelt kam, weil er Angst vor seinen Alpträumen hatte; der –“ „Hören Sie auf damit. Das ist Vergangenheit!“, knurrte Mokuba. „Genau das ist es. Und unsere Vergangenheit ist ein Teil von uns. Auch ein Gozaboru Kaiba kann sie nicht auslöschen!“ „Jetzt hören Sie mir mal zu –“ „Nein, du hörst mir zu“, fuhr diesmal Tarimo ihm dazwischen. „Du kannst deinen Bruder nicht für einen Fehler hassen, den er als Kind getan hat. Ein großer Fehler, ja. Es war dumm zu glauben, Kaiba trotzen zu können. Aber er war ein Kind. Ein Kind verdammt noch mal.“ „Er hatte lange genug Zeit, ihn zu beheben“, sagte Mokuba und musste das Schwanken in seiner Stimme mit Wut überdecken. Wie oft hatte er Ähnliches in der letzten Zeit gedacht. „Sicherlich, aber seien wir ehrlich. Er konnte dem Drill und dem, was er vorgelebt bekam, nicht standhalten. Er hat mir darüber geschrieben, Mokuba. Und ganz ehrlich, die meisten Erwachsenen wären nicht stark genug gewesen, ihre Ansichten und ihr Wesen zu behaupten. Und du warst es in den letzten Jahren auch nicht.“ Mokuba knirschte mit den Zähnen. „Das ist zwecklos“, brachte er mühsam beherrscht hervor. „Sagen Sie mir Bescheid, wenn er sich meldet?“ „Du hast Recht, dieses Gespräch ist sinnlos“, bestätigte Tarimo zu seiner Überraschung. Zum ersten Mal bebte dessen Stimme vor Wut und vor … Schmerz? „Du hörst nicht zu. Ich. habe. diesen Jungen. geliebt. Er war wie ein kleiner Bruder für mich. Wie kannst du es also wagen, mich zu fragen, ob ich dir dabei behilflich bin, ihn zu zerstören?!“ „Ich kann Sie auch beschatten lassen“, versuchte Mokuba wie beiläufig zu sagen. Er warf einen Blick auf dem Computerbildschirm, auf dem noch immer die Informationen über den anderen aufleuchteten. „Vielleicht finde ich ein paar interessante Details, die Ihrer Frau im Scheidungskrieg nützlich sind.“ Zu seinem Erstaunen lachte Taro nur spöttisch auf. „Hörst du dir eigentlich selbst mal zu? Du nennst Seto ‚gehässig‘ und bist selbst geradezu grausam. Meinetwegen lass mich beschatten. Wirf doch dein Geld zum Fenster raus. Es wird dir nicht helfen. Wie er ich dir erklärt habe: Er wird nicht kommen.“ „Wie Sie meinen“, sagte Mokuba, ohne zu diesem Thema eine Entscheidung getroffen zu haben. „Wenn Sie ihre Meinung doch noch ändern sollten, –“ „Ich sage es dir jetzt noch einmal“, sagte Taro bemüht kontrolliert. „ICH. BETEILIGE. MICH. NICHT. AN DEM. IRRSINN. DEN DU. BETREIBST!!!“ Einen Augenblick lang war nur eine etwas beschleunigte Atmung zu hören, dann raschelte eine Bettdecke und ein verschlafendes „Taro“ erklang. War das etwa …? Bevor Mokuba noch ein Wort sagen konnte, war die Leitung tot. Er versuchte sich das eine Wort ganz genau ins Gedächtnis zu rufen. Hatte es so geklungen wie von seinem Bruder? Er konnte es nicht sagen. Es war zu undeutlich gewesen. Im Grunde konnte er nicht einmal sagen, ob es ein Mann oder eine Frau gewesen war … oder ein Kind. Mokuba rieb sich die Stirn. Er musste das wissen! Kurzerhand drückte er die Kurzwahltaste mit Rolands Nummer. „Ja, Sir?“ „Ich brauche einen New Yorker Privatdetektiv. Er soll Litaro Tarimo beschatten. Ich will wissen, ob Seto bei ihm ist.“ „Der Fernsehkoch? Für welchen Zeitraum?“, fragte sein persönlicher Assistent und Mokuba hörte das Klinken eines Kugelschreibers. „Genau der. Ich schicken Ihnen die Adresse“, erklärte er und dachte kurz über die Länge der Beschattung nach. Er musste wissen, ob diese Stimme zu Seto gehörte. Was die Zeit danach betraf, hatte Taro wahrscheinlich Recht. Es war unglaublich unwahrscheinlich, dass sein Bruder Kontakt aufnahm. Und verdammt, er war nicht paranoid. „Erst einmal für einen Tag. Ich will das Ergebnis morgen auf dem Tisch haben.“ „Sehr wohl, Kaiba-sama. Ich werde alles in die Wege leiten.“ *** Mokuba hatte das Ergebnis am nächsten Morgen auf dem Tisch. Der Befund war negativ. Kein Seto Kaiba weit und breit. Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Die Unterlagen hatte er über dem Esstisch verstreut. Der Morgen hatte ihn am besten interessiert. Der Privatdetektiv hatte Fotos vom Geschehen in der Küche machen können. Als erstes war Tarimo sich Kopf und Nackenreibend dort aufgetaucht, hatte Kaffee aufgesetzt und eine Kopfschmerztablette geschluckt. Mokuba vermutete, dass er die falsche Kombination von Alkohol getrunken hatte, denn am Telefon hatte man ihm nichts angemerkt. Bei der nächsten Person, die sichtlich verkatert in die Küche geschlurft gekommen war, hatte sein Herz einen Sprung gemacht. Im ersten Moment hatte er geglaubt, es wäre Seto. Groß, etwas längere, braune Haare, japanische Abstammung. Eine Nahaufnahme zeigte sogar blaue Augen, aber ebenso, dass es ganz eindeutig nicht sein Bruder war. Der Mann entpuppte sich – nach Recherchen des Detektivs – als Tarimos bester Freund. Nach einigen Kommen und Gehen der beiden – augenscheinlich ins Bad und Schlafzimmer; der ihm vorliegende Grundriss der Wohnung bestätigte das – gesellte sich schließlich die dritte und letzte Person dazu: Tarimos fünfjähriger Sohn. Den restlichen Tag blieb es bei diesen drei bekannten Personen. Während dem Parkspaziergang und dem Flanieren durch eine Shoppingmall war nirgendwo Seto zu sehen. Der Tagesablauf ließ auch nichts Verdächtiges vermuten. Damit hatte Mokuba zwei logische Erklärung für das gehörte „Taro“. Entweder war es der beste Freund gewesen, der betrunken nicht mehr den Weg ins Gästezimmer gefunden hatte, oder das Kind, das zu seinem Vater ins Bett gekrochen war, weil er nicht hatte schlafen können. Wer es gewesen war, interessierte ihn letztendlich wenig. Seufzend rieb sich Mokuba die Schläfen und starrte auf ein Bild, in dem Tarimo wenig überrascht direkt in die Kamera blickte – so als hätte er diese Observation geradezu erwartet. Dennoch erweckten die morgendlichen Aufnahmen Authentizität. Mokuba haderte noch einen Moment mit sich, dann beschloss er, es bei dem einen Tag Überwachung zu belassen. Er gab Tarimo zwar nur ungerne Recht, aber dessen Argumentation war nun einmal schlüssig. Seto würde sich nicht bei ihm melden. Mit einem letzten Blick auf das in die Kamera blickend Gesicht verschwanden die Unterlagen in einer Aktenmappe. Paranoid hatte er ihn genannt, kam Mokuba in den Sinn und genau den Eindruck vermittelte auch der Gesichtsausdruck. „Nicht paranoid“, brummte Mokuba, „du blöder Koch.“ Kapitel 24: Unter Freunden? --------------------------- Unter Freunden? Kaiba ließ sich Zeit beim Duschen. Dieser Abend würde in einer Katastrophe enden. Er sah es bereits kommen. Lana würde ihn in den Wahnsinn treiben. Und Akio wahrscheinlich auch. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der ihr Verhalten fortdauernd mit Humor nehmen konnte. „Ich bin dafür, dass wir das hier machen“, hörte er Lana sagen, als er die Treppe zur Wohnung hinaufstieg. „Das sieht enorm lecker aus.“ „Aber das Gericht ist für den Anfang ganz schön anspruchsvoll“, erwiderte Akio skeptisch. „Du bist ja auch kein Anfänger“, meinte Lana keck. „Außerdem habe ich dafür fast alle Zutaten dabei.“ Kaiba seufzte. Er wusste wirklich nicht, ob er sich darüber freuen sollte, dass Lana sich seinem Trainer gegenüber genauso verhielt. „Es ist aber nicht Sinn der Sache, wenn ich alles mache“, hielt der dagegen. Aus seinem nächsten Satz klang deutlich der Lehrer heraus. „Du willst schließlich etwas lernen.“ „Seto bekochst du aber auch.“ Kaiba erwartete, dass Akio ins Schlingern kommen würde. Selbst wenn nicht, war es wohl besser, wenn er eingriff. Nicht, dass die beiden sich da noch in eine handfeste Diskussion hineinsteigerten. „Du siehst das falsch, Lana“, sagte er, als er die Küche betrat. Beide drehten sich überrascht zu ihm herum. „Akio kocht für zwei Tage und bietet mir die zweite Portion an. Du hast dich selbst eingeladen.“ „Außerdem ist er doch so ausgehungert“, sagte Akio ironisch. „Irgendwer muss sich ja um die arme Seele kümmern, wenn er bei dir nicht genug zu essen bekommt. Ein Grund mehr, dass du endlich kochen lernst und deiner Hausfrauenpflicht nachkommst.“ Einen Moment lang schaute Lana ihn perplex an, dann pfiff sie anerkennend. „Ganz schön schlagfertig“, erkannte sie an, setzte jedoch prompt zum Gegenschlag an. „Dabei dachte ich immer, Leute, die körperlich austeilen können, meinen es verbal nicht nötig zu haben.“ Kaiba grinste. Er wusste, was jetzt kommen würde. Wie erwartet, fing Akio an zu lachen. In gewisser Hinsicht war es erstaunlich, wie gut er seinen Trainer inzwischen kannte. Früher war ihr Verhältnis rein professionell gewesen, aber während der letzten vier Treffen hatte er ihn erstaunlich gut kennengelernt. Diese Reaktion erstaunte Lana abermals. Sie ließ sich ein wenig von der guten Laune anstecken und tat das Thema wenig später ab. „Wie dem auch sei“, sagte sie. „So wird das nichts. Lassen wir einfach Seto entscheiden.“ O nee, dachte der und sprach seine Gedanken aus: „Warum? Damit ich am Ende Schuld bin?“ „Genau!“, bestätigte sie geradeheraus und hielt ihm im nächsten Moment ein Kochbuch unter die Nase. „Ich bin für das hier, aber Akio meint, es wäre zu kompliziert. Einen Gegenvorschlag hat er allerdings nicht gemacht.“ „Ah“, beschwerte sich der gekünstelt dramatisch. „Nimm dieses Bild aus meinem Blickfeld. Ich kann es nicht mehr sehen.“ „Jetzt übertreib es nicht. Der Typ ist doch echt süß, allein das ist ein Grund, um …“ Kaiba hörte nicht weiter hin. Fasziniert starrte er auf die Abbildung in dem Buch. Er könnte schwören, einen genauso angerichteten Teller schon einmal vor der Nase gehabt zu haben. Er blätterte weiter. Wieder kam ihm das gezeigte Essen bekannt vor. So erging es ihm mit beinahe jedem Gericht. Das gibt es doch gar nicht, dachte er und wusste im Grunde schon, wessen Gesicht er auf dem Cover entdecken würde. Dennoch war er überrascht. So sehr, dass er unweigerlich auflachen musste. Akios und Lanas Auseinandersetzung über eben jenes Foto verstummte. Sie blickten ihn verwundert an. Nun ergab ihre Diskussion zumindest Sinn. Vom Cover des Kochbuches strahlte ihm in bester „Ich verarsche das Fernsehkoch-Klischee“-Pose sein ehemaliger Babysitter entgegen. Breites, dermaßen übertriebenes Lächeln, eine Hand in die Hüfte gestemmt, mit der anderen tatkräftig einen Kochlöffel schwingend. In den dunkelgrünen Augen funkelte Belustigung, aber Kaiba meinte, ebenso eine gewisse Entnervung in ihnen zu erkennen. Wahrscheinlich erklärte die auch das Zustandekommen des Bildes, das mehr eine Parodie auf Fernsehköche war, als Werbung für einen. „Siehst du, er ist meiner Meinung“, sagte Akio schließlich. „Das Foto ist schrecklich gestellt.“ „Wie kommst du darauf, dass er deshalb gelacht hat?“, fragte Lana. „Seto, du musst doch zugeben, dass er gut aussieht.“ „Ihr wollt mich doch wohl nicht all eure Meinungsverschiedenheiten klären lassen“, erwiderte Kaiba spöttisch, konnte allerdings nicht verhindern, ein wenig genervt zu klingen. „Nein. Es wäre nur interessant, die Sache noch aus einem weiteren Blickwinkel zu sehen“, erklärte Akio. Kaiba seufzte und tat ihnen den Gefallen. Blieb zu hoffen, dass die Diskussion damit schnell vom Tisch war. „Natürlich ist das Foto gestellt. Jedes Coverfoto ist das. Ich denke, die Pose ist absichtlich so übertrieben. Ich mutmaße, dass es nur entstanden ist, weil er sich über den Fotografen lustig gemacht hat und danach nicht verhindern konnte, dass es genommen wurde.“ Lana und Akio schauten ihn fragend an. Kaiba seufzte. „Du müsstest dich doch mit Klischeegeprägten Werbefotografen auskennen, Lana. Ich glaube, hier war einer am Werk. Die typischen Bilder für junge Fernsehköche sollen eben ihre Jugend, Spaß an der Arbeit und Dynamik transportieren. Ob das  dem betroffenen Fernsehkoch gefällt oder nicht.“ Lana runzelte die Stirn. „Du meinst, er könnte mit der übertriebenen Pose zeigen wollen, wie sehr das nicht zu ihm passt?!“ „Ja.“ Genau genommen nahm Kaiba das stark an. Es klang einfach nach Taro. Wenn er nicht so knapp bei Kasse gewesen wäre, hätte er sogar darauf gewettet. „Glaubt ihr das wirklich?“, fragte Akio zweifeln. „Der ist doch genauso ein Suppenkasper wie die anderen auch.“ Irgendetwas in Kaiba schrie regelrecht danach, aufs heftigste zu protestieren. Taro war sicherlich vieles gewesen, aber kein Suppenkasper. Er unterdrückte das Gefühl und fragte sich, warum ihn diese Beleidigung so störte. Letztendlich konnte er noch nicht einmal sagen, ob Akio sich irrte. Es waren Jahre vergangen, seitdem er das letzte Mal mit Taro zu tun gehabt hatte. Wer wusste schon, wie der sich verändert hatte. Außerdem war er doch sonst niemand, der so schnell andere Leute in Schutz nahm. „Ich weiß nicht“, sagte Lana nachdenklich. „In seiner Show wirkt er jedenfalls sehr natürlich.“ „Die Diskussion ist müßig“, bemühte sich Kaiba, das Thema zu beenden, bevor Akio und Lana ihre Meinungsverschiedenheit weiter austragen konnten. „Was hast du eingekauft? Das ist sicherlich ganz hilfreich zu wissen, um Gerichte auszuwählen.“ „Oh, warte“, sagte Lana und packte ihre Einkaufstüte aus, sodass sie nichts vergessen konnte. „Tomaten, ne Gurke, Feldsalat, Schafskäse, Ananas, Putengeschnetzeltes, Sahne und ne Mango.“ „Eine Mango? Zu dieser Jahreszeit?“, fragte Akio überrascht. „Na ja, logischerweise importiert, aber irgendwie hatte ich Appetit darauf. Als Nachtisch dachte ich.“ Da klingelte etwas bei Kaiba. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen in Erinnerung an einen Mango-Nachtisch, den Taro früher regelmäßig gemacht hatte. In irgendetwas war die Frucht gebacken gewesen. Vielleicht wurde er ja im Kochbuch fündig. Mit Hilfe eines Zutaten-Registers fand er das entsprechende Rezept tatsächlich schnell. „Hast du Eier und Zucker im Haus, Akio?“, fragte Kaiba, nachdem er das Rezept überflogen hatte. „Ja, natürlich“, antwortete der, als wäre das eine Selbstverständlichkeit. Er schielte neugierig über Kaibas Schulter. Auch Lana warf einen Blick in das Kochbuch. „Das sieht wirklich lecker aus. Dann fehlt eigentlich nur noch das Hauptgericht. Aus dem Gemüse, das Lana gekauft hat, und dem Schafskäse können wir gut einen Salat machen. Ich hab auch die Zutaten für verschiedene Dressings da.“ Abermals zog Kaiba das Zutaten-Register zu Rate. Er fand tatsächlich eine übereinstimmende Seitenzahl für Putengeschnetzeltes und Ananas. „Putengeschnetzeltes in Curry-Sauce“, las er vor. Er spürte Akios Atem am Hals, als der sich weiter zu ihm hinüberbeugte, um die Zutatenliste mit einem Finger abzufahren. Einen Moment fragte er sich, ob der ihm absichtlich so nahekam, aber er verwarf den Gedanken schnell wieder. Bisher war Akio ihm nie allzu sehr auf die Pelle gerückt. Damit würde er nur seine Aussage untergraben, dass er sich keine Hoffnungen machte. „Die Zutaten stellen kein Problem dar. Kokosmilch habe ich zwar nicht, aber normale scheint ja auch zu gehen. Ist das für dich in Ordnung, Lana?“, sagte Akio schließlich. „Doch klar, kling gut.“ Sie lächelte ein wenig verschlagen. „Aber glaub ja nicht, dass wir dir eine sonderlich große Hilfe sein werden.“ „Wieso? Seto kann doch kochen“, erwiderte Akio. Lana blickte ihn erstaunt an. „Jetzt übertreib es nicht. Ich war keine zehn“, wiegelte Kaiba sofort ab. „Davon konnte ich mir kaum etwas merken.“ „Du hast früher gekocht?!“ Lana wirkte immer noch überrascht, aber inzwischen hatte sich eine gute Portion Neugier in ihre Züge gemischt. „Hm“, machte Kaiba nur, weil er nicht darüber sprechen wollte. Da hatte er allerdings seine Rechnung ohne Akio gemacht. „Mit seinem Babysitter“, warf der erklärend ein. „Du hattest einen Babysitter?!“ Kaiba nickte genervt. „Da erfahre ich doch glatt noch jede Menge neue Sachen.“ Sie grinste breit und stupste Akio, der im Kühlschrank herumsuchte, am Arm an. „Ich stell mir das richtig knuffig vor. Als Kind war er bestimmt ganz niedlich, was meinst du?“ „M-hm“, stimmte Akio nach einem kurzen Seitenblick zu. „Ihr habt ja keine Ahnung“, brummte Kaiba. Er erinnerte sich noch sehr deutlich an einen Kommentar seiner Mutter, dass er nur niedlich wäre, wenn er schliefe. Und realistisch betrachtet, war da wohl etwas dran. Er hatte ziemlich viele Flausen im Kopf gehabt. Da Akio sich partout nicht von der Idee abbringen ließ, dass Lana und Kaiba ihm zur Hand gingen, breitete letzterer schließlich den Nachtisch zu. Nachdem Akio ihm das Ei aufgeschlagen und dabei gezeigt hatte, worauf er achten musste, stellte nur die Mango ein Problem dar. Die ließ sich zwar relativ leicht schälen, das Fruchtfleisch vom Kern zu trennen war dafür umso schwieriger. Dementsprechend froh war er, als er die drei Schälchen mit Mango und der Sahne-Zucker-Ei-Mischung endlich in den Ofen befördern konnte. Akio hatte Reis aufgesetzt und sich danach dem Geschnetzelten zugewendet. So wie Kaiba es einschätzte, wäre er damit bald fertig. Lana machte den Salat und weil es dabei einiges zu schneiden gab, war sie wohl noch etwas länger dabei. Da er keine sonderlich große Lust verspürte, ihr zu helfen, begann Kaiba Akios Kochbücher zu mustern. Es war eine regelrechte Sammlung. Viele waren nationalen Küchen zuzuordnen. Darüber hinaus besaß er thematische Backbücher – Brote, Kuchen, Torten, Snacks, Muffins, Beagles und Donuts – und zwei Cocktailbücher. Zu seiner Überraschung waren zwei weitere Werke von Taro darunter. Willkürlich zog er eins mit japanischen Rezepten aus dem Regal. Dieses war gestalterisch deutlich schlichter gehalten und passte auf weniger ironische Art genauso gut zum Koch. Ob er darin, wohl ebenso viele Gerichte erkennen würde? „Du könntest mir auch helfen, anstatt da schmökernd herumzustehen“, meckerte Lana, bevor er übers Inhaltsverzeichnis hinauskam. „Wobei? Sag bloß, es überfordert dich, ein bisschen Grünzeug zu schneiden?!“, antwortete er spöttisch. Wenn es ihm gelang, sie zu provozieren, würde er nicht helfen müssen. „Nicht anspruchsvoll, aber zeitintensiv“, gab sie zurück. Angriffslustig setzte sie nach: „Du solltest dich schon mal an solche Arbeiten gewöhnen!“ Kaibas Lippen verzogen sich zu einem dünnen Strich. Sein Blick war eisig. Sie wusste ganz genau, dass das nicht stimmte. Er würde nicht gezwungen sein, sich mit irgendeinem langweiligen Bürojob seinen Lebensunterhalt zu verdienen. „Leute“, schaltete sich Akio ein und hob beschwichtigend die Hände, „es geht hier nur um Tomaten und Gurken. Kein Grund gleich persönlich und verletzend zu werden.“ Eine Weile starrten sie sich missmutig an. Dann seufzte Akio. „Mal ganz logisch, es ist ein bisschen unpraktisch, wenn die Beilage erst nach dem Hauptgericht fertig wird. Ich will es nicht unnötig warm halten müssen“, warf er ein. Abermals folgte eine kurze Stille. Lana war klug genug, den Mund zu halten, anstatt zuzustimmen. Da Kaiba ein logisch denkender Mensch war, wollte er dem nichts entgegensetzen, also legte er missmutig das Kochbuch auf dem Küchentisch ab. „Ich schneide die Gurke, dann kannst du das Dressing machen“, bestimmte er, während er zu ihr an die Arbeitsfläche trat. „Okay“, sagte sie gleichmütig, schnitt die letzte Tomate in Stücke und schob ihm dann das Schneidebrett hinüber. „Wie viel Gurke brauchen wir?“, fragte er an Akio gerichtet. „Das ist ne recht große“, überlegte der laut und legte nachdenklich einen Finger an die Wange. „Ich denke, zwei Drittel sollten genügen.“ „Gut“, meinte Kaiba und zog ein geeignetes Messer aus dem Messerblock. Er trennte ein Ende ab und schnitt zwei Drittel der Gurke der Länge nach ein – dreimal waagerecht und dreimal senkrecht –, um sie danach mit wenigen Messerstreichen in Würfel zerteilen zu können. Dank Taros Trick war er damit schneller fertig, als Lana überhaupt die Utensilien und Zutaten für das Dressing zusammen sammeln konnte. Innerlich grinsend schob er die Gurkenwürfel in die Salatschüssel, wusch sich die Hände und ließ sich mit dem Kochbuch am Küchentisch nieder. Er genoss, wie Lana und Akio mit hochgezogenen Augenbrauen verwunderte Blicke tauschten. Es verlor doch nie den Reiz, Dinge zu beherrschen, mit denen andere nicht rechneten. „Du bist sicher, dass er ganz bestimmt kein heimlicher Fan von Tarimos Show ist?“, fragte Akio Lana rhetorisch. „Warum sollte ich?“, fragte Kaiba gelangweilt. „Weil er das genauso macht“, erwiderte Akio mit einer vagen Handbewegung auf die Salatschüssel. „Um auf kluge Gedanken zu kommen, braucht man keine Fernsehshow“, erwiderte er schlicht. „Dein Babysitter?“, vermutete Akio. „Ja, er war ein ziemlich guter Koch“, erklärte Kaiba, während er sich aufgrund des Kochbuchs an die ein oder andere Kreation erinnerte. „Wie gut?“, hakte der andere lächelnd nach. „Auf einer Skala von eins bis zehn.“ „Zwölf“, sagte Kaiba spontan. Er hatte Taros Essen geliebt, wobei auch hier galt, dass seine Erinnerungen ihn wahrscheinlich wenig trogen. „Zwölf?“, echote der andere und lachte auf. „Und unsereins würde sich schon über eine acht riesig freuen.“ „Da stellt sich die Frage, warum du zu mir gekommen bist“, warf Lana augenzwinkernd ein. „Jedenfalls nicht, weil du kochen kannst“, erwiderte Kaiba kühl. „Tja, warum ziehst du dann nicht einfach zu ihm? Ach ja, ich vergaß: Du hast ihn solange links liegen gelassen, dass er jetzt sicher nichts mehr mit dir zu tun haben will“, konterte Lana bissig. Irgendetwas löste das in Kaiba aus. Etwas, dass er bisher nicht zu denken gewagt hatte. Was, wenn sie recht hatte? Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht einmal realisiert, dass ihn das treffen würde. Er starrte blicklos auf das Kochbuch in seinen Händen. Ausgerechnet war auch noch eine Seite aufgeschlagen, von der Taro ihm entgegen blickte. Kräftiger als nötig klappte er das Buch zu und schob es von sich. Er wollte diese Gedanken nicht haben. Wortlos stand er auf und ging in Richtung Badezimmer davon. Er musste wieder einen klaren Kopf bekommen. Aus dem Augenwinkel sah er Akios entsetzten Blick. Die Tür fiel klickend hinter ihm ins Schloss. Er drehte den Hahn auf, spritzte sich eine Handvoll kaltes Nass ins Gesicht. Über das Rauschen des Wassers hörte er das Gespräch geradeeben. „Was sollte das?“, fragte Akio halblaut. Das nahm seiner Stimme keineswegs die Schärfe. „O bitte“, antwortete Lana. „Das war ja wohl nicht unnormal.“ „Du hakst also ständig auf der einzigen, positiven Erinnerung seiner Vergangenheit herum?“, präzisierte der Lehrer sarkastisch. „Wie nett!“ „Jetzt übertreib es nicht.“ „Korrigier mich, wenn es dir anders geht, aber dieser Babysitter ist die einzige Person aus seiner Vergangenheit, über die er je ohne Bitternis und einigermaßen gern gesprochen hat“, wand Akio energisch ein. Einen Moment war es still. „Trotzdem“, sagte Lana schließlich, inzwischen nicht mehr so selbstsicher, „wir sind immer so ehrlich zueinander.“ „Das“, betonte der andere, „war in erster Linie gemein!“ „Aber die Wahrheit.“ Ihre Stimme war so leise, dass sie kaum an Kaibas Ohren drang. „Zum Teil wahrscheinlich.“ Akio machte eine Pause. „Wir sollten uns nicht anmaßen, dass beurteilen zu können. Wir kennen diesen Mann nicht einmal annähernd. Was wissen wir, wie seine Reaktion gefallen wäre.“ Ja, dachte Kaiba, sie haben keine Ahnung, was Taro täte. Der Gedanke war seltsam tröstlich. Er glaubte es momentan selbst nicht zu wissen. Wie würde Taro reagieren, wenn er, Kaiba, plötzlich wieder vor ihm stände? Er klatschte sich die nächste Ladung Wasser ins Gesicht. Im selben Augenblick tauchte ein Blick vor seinem inneren Auge auf. Taro, nachsichtig lächelnd und innerlich ruhig. So wie er früher häufig auf seinen Unsinn reagiert hatte. Bei größeren Schwierigkeiten war Taro weniger nachsichtig und ruhig gewesen. Dennoch hatte er immer froh gewirkt, seinen Schützling wieder zu haben. Und das nicht, weil es ihm einen Haufen Ärger ersparte. Aber, wie lag die Sache nun? Kaiba hatte sich seit Jahren nicht mehr gemeldet. Irgendwann hatte er einfach nicht mehr auf Taros Briefe geantwortet. Er war der Meinung gewesen, wichtigeres zu tun zu haben. Und viel später, als er hatte anrufen wollen, war ihm einfach nicht mehr klar gewesen, wie der andere reagieren würde. Nach all der Zeit … Abermals befeuchtete Kaiba sein Gesicht mit kühlem Wasser. Wenig später konnte er wieder klare, rationale Gedanken fassen. Sofort wurde ihm bewusst, warum ihn diese Annahme so getroffen hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)