Vollkornsprudel von DKelli ================================================================================ Kapitel 2: 2nd thoughts 'bout the photos ---------------------------------------- Ein nervtötendes Geräusch holte mich aus meinem todesähnlichen Schlaf. Mein letzter Funken Verstand sagte mir, dass ich das Handy nicht ausgeschaltet hatte, als ich irgendwann in der Früh nach Hause gekommen war. Das zahlte es mir nun heim. Knurrend tastete ich blind nach dem Morgenkiller und fand es unter einem meiner vielen Kissen. Unglaublich, dass der Anrufer noch nicht aufgelegt hatte, so lange, wie ich gesucht hatte. Blind drückte ich auf den grünen Hörer und klemmte das Handy zwischen Ohr und Kissen. „Hey…“ Die Stimme klang durch den Hörer noch fertiger als sie ohnehin schon war. Stille. „Wer’sn da?“ Mist, ich konnte mich nicht einmal mehr vernünftig artikulieren. Scheiß Kater. Am anderen Ende war ein genervtes Stöhnen zu hören. „Aller, bist du das? Till?“ Ja, die Stimme kam mir bekannt vor. „Hier’s Jakob.“ Ah, klar. War wohl selbst noch zu verkatert, um irgendetwas zu merken. „Was willst du? Mann, mein Schädel… mach’s kurz.“ Jakob atmete tief durch und schien schon ein bisschen weniger zu nuscheln. „Gestern die Party war ja mal geil.“ „… Du rufst mich deshalb an?“, knurrte ich böse. „Ruf in vierzehn Stunden noch mal an. Dann hab ich wenigstens schon nen Kaffee intus.“ Ich wollte gerade auflegen, als Jakob mich mit fünf simplen Worten davon abhielt: „Ich hab Fotos. Von gestern.“ Mein Verstand wurde wacher. „Hast du die angesehen?“ Doch statt einer Antwort hörte ich am anderen Ende nur ein Piepsen, wahrscheinlich schaltete Jakob gerade die Kamera an. Dann Sti – „Alter.“ „Was?“ Diese Spannung konnte ich nicht haben, nicht, wenn ich dringend Schlaf brauchte. „Wir können uns die auch noch morgen ansehen.“ Jakob räusperte sich. „Nee, lass’ uns die lieber nich angucken. Echt… schlimm.“ Innerlich rollte ich mit den Augen. „Jetzt mach’s nicht so spannend. Was ist denn drauf?“ Zum Glück wurde mein Kopf klarer und ich schlug die Decke beiseite. Kühle Luft strich über meine Beine und ich fröstelte. „Halt Fotos von der Party. Keine Ahnung, wer manche davon gemacht hat… Aber ich lösch’ die sowieso.“ Ich grunzte. „Nix da. Ich hab ein Recht darauf, mir die anzusehen, wenn ich drauf bin!“ Ich wusste selbst nicht, wieso ich diese ominösen Fotos so dringend sehen wollte, aber da meine Erinnerung mehr als schwach war und Jakob so geheimnistuerisch war, musste ich sie einfach sehen. Rasch stand ich auf, grüßte meine Mutter mit einem Nicken in der Küche und nahm mir ein Glas kaltes Wasser. „Gut, machen wir es so, Jakob: Mach die Kamera aus, rühr sie nicht mehr an und ich bin in“, ich sah auf die Uhr, „einer Stunde da.“ „Dann hau ich mich noch solange aufs Ohr“, nuschelte Jakob. „Bis später.“ Und legte auf. Gähnend drückte ich auf das rote Symbol des Telefons und legte es auf den Küchentisch. Während ich mich anzog und dabei durch die Wohnung, in der meine Mutter und ich lebten, stolperte, informierte ich sie, dass ich bis Abends wohl weg sein würde. „Bei Jakob, wie es scheint?“, fragte sie und sah von ihrem Kreuzworträtselheft auf, als ich mit Zahnbürste im Mund und in Hose gekleidet in die Küche kam. „Ruf an, wenn du da bist.“ „Mum…“, versuchte ich zu protestieren, doch das ging in einem Gurgeln unter. Zahnpasta lief mir das Kinn herunter. Schnell lief ich ins Bad und wusch meinen Mund aus. „Mum, ich bin 19 und habe mein Abi!“, protestierte ich in einem neuen Versuch. Doch sie schüttelte nur den Kopf. „Du bist immer noch mein Sohn, Till. Und…“ „Ist ja gut, ich meld mich.“ Es nervte, wenn sie mit dieser Masche kam. Immer diese ‚Du-bist- das-Einzige-was-ich-noch-habe’-Masche. Jedes Mal, wenn ein Vater ausgezogen ist. Nun, ein kleiner Anruf würde mich nicht umbringen. Nachdem ich endlich ein Oberteil gefunden und mir eine Aspirin eingeschmissen hatte, war ich schon mit der S-Bahn unterwegs, die an jeder Milchkanne hielt. Kurze Zeit, mal nachzudenken. … Verdammt, ich wusste wirklich nichts mehr von gestern Abend. Außer, dass viel Alkohol geflossen sein musste. Oder wir etwas eingeworfen hatten. Dreck. Gedankenverloren fuhr ich mir durch die Haare und sah hinaus. Irgendwie war ich wirklich neugierig, was er da für Fotos gesehen haben mochte. Vielleicht wo wir uns alle die Seele aus dem Leib kotzten. Oder vielleicht hatte ich mir genug Mut angetrunken gehabt, um mit Mareike zu fummeln? Ich schüttelte innerlich den Kopf. Selbst wenn, jetzt waren wir alle getrennt und es würde auch nichts mehr bedeuten. Wahrscheinlich werden Jakob und ich uns auch auseinander leben. So war das Leben halt, auch wenn es irgendwie traurig wäre. Jakob und ich hatten schon jeden Scheiß, den Teenager so erleben, zusammen durchgemacht, seit wir uns auf dem Gymnasium kennen gelernt hatten. Das erste große Trinken, alle AGs durchprobieren, die Unterstufenschüler im Fußball abziehen, die ersten Pornohefte in den geheimen Verstecken des anderen finden. Allerlei Kram eben. Aber ich konnte ja nicht in die Zukunft gucken. Was auch ganz gut so war. Zudem kam ich auch gar nicht dazu, weiter nachzudenken. Etwas in meiner hinteren Hosentasche machte Radau und vibrierte. Auf meinem Handydisplay stand Jakobs Nummer. „Was ist los, Mann? Ich bin doch gerade auf dem Weg zu dir.“ „Wo bist du gerade?“, drang es etwas rauschend aus dem Hörer. Ein kurzer Blick auf die Anzeige und ich sagte ihm, dass ich vor der Goethestraße war. „Gut, steig diese Station aus und steig in den Zug, der dann ungefähr fünf Minuten später kommt. Ich sitze ganz vorn im ersten Abteil.“ Da ich überhaupt nicht dazu kam zu fragen, was eigentlich los war, stieg ich also brav an der Goethestraße aus und in die nächste Bahn ganz vorn ein. „Was soll das? Dafür, dass du eben noch in den Seilen hingst, bist du erstaunlich fit“, bemerkte ich und nickte ihm zu, ehe ich mich ihm gegenüber ans Fenster setzte. Nach meiner ersten Einschätzung war Jakob wirklich einigermaßen frisch, aber jetzt im Licht wirkte er müde. „Ach, halt’s Maul. Mein Kopf dröhnt immer noch.“ Dafür hatte ich nur ein müdes Kopfschütteln übrig. War er selbst Schuld. Meine Augen wanderten zum Fenster und sahen sich das verschwommene Grün an. „Wir müssen noch einmal den Partykeller inspizieren und schauen, ob alles aufgeräumt worden ist und dann den Schlüssel abgeben.“ Säuerlich sah ich Jakob an. „’Wir’? Wieso muss ich mitkommen?“ „Weil du sonst vor verschlossener Türe gestanden hättest“, antwortete er salopp. Bevor wir zum Partykeller gingen, spendierte ich dem Angeschlagenen noch eine Flasche Wasser, von der ich mich auch bediente, als ich merkte, wie die Aspirin nachließ. „Mann, ist hier eine Luft.“ Die Tür war noch offen und wir trafen auf Christian, der einen Putzeimer mit einem verdreckten Lappen bei sich trug. Nach einem kurzen Rundgang waren wir uns einig, dass wir den Schlüssel oben abgeben konnten und bedankten uns bei Christian fürs Aufräumen. Auf dem Weg nach oben, wo die nette Dame wohnte, die uns den Keller vermietet hatte, fiel es mir wieder ein: „Hast du eigentlich die Fotos noch?“ Von Jakob kam nur ein zustimmendes Grunzen und die Tür vor ihm ging auf. „Hab ich dir irgendwie vor den Kopf gestoßen oder was ist los? Jetzt sag’ nicht wieder, dass es die Kopfschmerzen sind“, versuchte ich ihm ins Gewissen zu reden, als wir auf die Bahn warteten, doch er sagte nichts und trank aus der Flasche. Bei diesem Verhalten konnte ich nur die Augen verdrehen. „Sturkopf.“ Eigentlich hatte ich erwartet, dass er mir auch irgendwas an den Kopf warf, aber Jakob hielt mir nur die Flasche hin. Als ich sie gerade verdutzt nehmen wollte, kam die Bahn. Die Rückfahrt über sprachen wir nicht. Dabei wollte ich gern wissen, ob ich nicht bei mir daheim aussteigen sollte. Doch da Jakob nichts sagte, war es anscheinend in Ordnung, dass ich wie ursprünglich geplant mit zu ihm fuhr. Mein Kopf hatte sich mittlerweile beruhigt, dennoch trank ich noch einen Schluck Wasser. Aus reiner Langeweile studierte ich das Etikett. Es war passend blau und es waren ein Apfel und eine Getreideähre abgebildet. Was sollte denn das Getreide da? Es war Apfelwasser, hatte aber nicht mit Getreide am Hut. Hinten stand irgendetwas von wegen ‚Das richtige Wasser zur richtigen Ernährung – Bonaqua Apfel schmeckt hervorragend zu einem gesunden Vollkornbrot.’ Ja, nee, ist klar. Ein ungewolltes leises Lachen entfloh meiner Kehle und Jakob sah mich fragend an. „Willst du auch einmal den Vollkornsprudel?“, fragte ich und reichte ihm das Wasser. Gerade als mein Gegenüber danach greifen wollte, zog ich sie ihm weg. „Nur gegen die Kamera. Ich weiß, dass du sie dabei hast.“ Ich nickte auf seine Jackentasche. Das erste Mal heute musste Jakob lächeln. Da wusste ich, dass doch alles in Ordnung mit ihm war. Er hatte manchmal so seine Launen. „Wasser gern, Kamera: Nein.“ „Wieso nicht? Erst machst du so einen Wirbel und jetzt darf ich sie nicht ansehen oder wie?“ Doch Jakob zuckte nur lustlos mit den Achseln und schwieg. Verständnislos presste ich die Zähne aufeinander und schenkte ihm einen genervten Blick. „Keine Ahnung, was dich heute gebissen hat, aber du bist mehr als unleidlich.“ Jakob fuhr sich nur desinteressiert durchs Haar und stand auf. Wütend sah ich ihm nach. „Hey, jetzt drück’ dich nicht vor einem Gespräch!“ Dennoch stieg Jakob einfach an der kommenden Haltestelle aus, ohne ein weiteres Wort. „So ein Hurensohn“, murmelte ich säuerlich und sah wieder aus dem Fenster, als mir etwas ins Auge fiel. Da lag der Fotoapparat so still und unschuldig, dass ich ihn beinahe übersehen hätte. Die erste Frage, die sich mir stellte, war nicht etwa die, weshalb Jakob sie mir nun doch mehr oder weniger gegeben hatte, sondern ob ich die Fotos wohl nicht besser zuhause in aller Ruhe anschauen sollte. Oder jetzt. Auf dem Nachhauseweg baumelte die Kamera an dem Bändchen um mein Handgelenk, die Flasche in der anderen. Ich war zu feige gewesen, mir die Bilder schon im Zug anzuschauen. Warum? Nun, wenn sogar Jakob sich so vehement wehrte, mir die Fotos in meiner Anwesendheit zu zeigen, mussten sie schlimm sein. Und peinlich obendrein. Innerlich bereitete ich mich schon darauf vor, die Ekel erregendsten Kotzbilder meines Lebens zu sehen. Oder etwas annähernd so Perverses wie in dem Video ‘Two Girls One Cup‘. Letzten Endes war es nicht annähernd so ekelig oder pervers. Vielmehr… überraschend. Gruselig. Nicht nachvollziehbar. Das sollte wirklich ich auf den Fotos sein? Anscheinend hatten andere Leute diese Kamera in der Hand gehabt und wie wild Fotos gemacht. An die sechshundert Stück. Ich lag entspannt auf meiner Decke und fand die ersten Bilder auch noch recht lustig. Immer diese gestellten, über beide Backen grinsenden Gesichter. Die Posen mit Freunden oder dem Bierglas. Die einen angetrunken, die anderen heiter und ausgelassen. Manche Bilder von knutschenden Pärchen und Saufspielen drückte ich schnell weg, da sie sowieso relativ unscharf waren. Dann kam ein Video. Gespannt drückte ich auf ‚Play’. „Till?“ Der quietschenden Mädchenstimme nach zu urteilen war Jana angetrunken. Das Bild wackelte extrem. „Wie mache ich eine Fotoreihe? Ich find’ den Knopf nich’.“ Jemand sprach undeutlich und kam auf die Linse zu, man sah nur die Füße. Das war ich, diese Schuhe würde ich auch im Dunkeln erkennen. „Zeig mal her…“ Das Bild verschwamm. „Du machst grad ein Video! Schau mal, hier –“ Okay, eine Niete, nichts wirklich Tolles. Es folgten einige verwischte Bilder, die man eigentlich löschen könnte. Der Inhalt der Bilder wurde immer schlimmer, je später es geworden war. Einige zogen sich etwas durch die Nase, andere machten mehr als nur unschuldig in der Ecke rum. Doch es kratzte mich nicht wirklich. Ich denke, die Betroffenen auch nicht, schließlich sahen sie sich eigentlich nicht wieder. Irgendwann kamen Fotos, die mich mehr interessierten. Irgendjemand hatte sich den Fotoapparat gekrallt und hatte von Jakob und mir Fotos auf dem Gang geschossen. Wie wir lachend an der Wand lehnten. Wie wir uns im betrunkenen Kung-Fu-Stil bekämpften. Der ganze Quatsch halt. Die nächsten Fotos waren sehr gerade, als wären sie von einem Stativ gemacht worden. Vielleicht hatte die Kamera auf einem Fernseher gestanden, denn wir waren zu dritt in einem Nebenzimmer, welches altmodisch eingerichtet war. Jetzt war auch Jana mit auf den Bildern. Mit größer werdenden Augen sah ich, dass sie eine Fotoreihe geschossen hatte. Wir zerstörten Bild für Bild wie in einem alten Trickfilm das ganze Zimmer mit Messern, Kerzenleuchtern und einem Hammer. Verdammt, da hatten wir aber etwas zurückzuzahlen – wir hatten das nicht einmal gemeldet. Ich musste mit ansehen, wie die braune Matratze zerfetzt wurde, wie alles umgeworfen und kaputtgeschlagen wurde. Scheiße. Ich merkte, wie es mir langsam dämmerte. Grob konnte ich mich daran erinnern, das Zimmer auseinander genommen zu haben. Und wie es weiterging. Mein Daumen wollte nicht weiterdrücken, aber jetzt, wo ich schon angefangen hatte, musste ich das auch durchziehen. Die Fotoserie ging immer weiter. Schritt für Schritt sah ich, wie wir untätig herumstanden, Jakob Jana vor die Tür schob, ich mich in voller Grazie aufs Maul legte und mir das Kinn an der Bettkante aufschlug – unbewusst befühlte ich mein Kinn – und viele Bilder lang von Jakob ausgelacht wurde. Das würde er zurückbekommen. Ab da wurde es krank. Ich sah mich aufstehen, Jakob anmeckern, unsere Gesichter näherten sich bei der Auseinandersetzung, Jakob küsste mich, ich riss ihn am Hemd, nach und nach verloren wir Kleidungsstücke. Mir kam es vor wie eine Balgerei von Hunden, die nicht verlieren und unterliegen wollten. Als wir mehr oder weniger in Zeitlupe vom Bett gepurzelt waren, schaffte ich es nicht, mir noch mehr anzusehen. Tief durchatmen, Till. Abwesend drückte ich auf den Power-off Schalter. Für so etwas hatte ich nicht einmal das richtige Fluchwort auf Lager. 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