Anokata von Luthien-Tasartir (Biographie einer Organisation) ================================================================================ Kapitel 1: Sechzehn ------------------- Nachdenklich schaute der Sechzehnjährige auf die im strömenden Regen verschwimmende Straße. Hin und wieder blitzten die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Wagens auf, der sich seinen Weg über den glänzenden Beton bahnte. Menschen waren nicht zu sehen. Keiner verspürte bei diesem Wetter den Wunsch länger als nötig seine Behausung zu verlassen. Und wer hatte dies heute schon zwingend nötig? Zehn Jahre war der Tod seiner Mutter nun bereits her. Zehn Jahre, die er in diesem heruntergekommenen Wohnheim hatte leben müssen. Vergessen von dem angeblich ordnungsbringenden Staat. Vergessen von dem ordentlichen Bürgertum. Vergessen von jedem. Aber wer hätte sich schon an ihn erinnern sollen? Es gab niemanden in seiner Familie, der sich um ihn hätte kümmern können. Denn es gab niemanden in seiner Familie, der noch am Leben war. Außer ihm. Sein Vater war wegen Drogenhandels verhaftet worden, ein Jahr bevor seine Mutter durch einen Bankräuber ermordet worden war, weil diese ihn hatte aufhalten wollen. Als er die Nachricht erhalten hatte, brachte er sich kurze Zeit später in seiner Zelle um. Ein Seil, gedreht aus seiner Bettdecke, die er an das hochgelegene, vergitterte Fenster gebunden hatte, hatte ihm als Galgen gedient. Was aus seinem Sohn werden würde, hatte ihn nicht interessiert. Es hatte ihn nie gekümmert. Immerhin war er nicht sein leiblicher Vater. Immerhin war der Junge ein Bastard. Entstanden aus der Affäre mit einem Japaner, der für einige Tage in die Stadt gekommen war und seiner Mutter zufällig über den Weg lief. Sein Vater hatte ihn zwar nicht akzeptiert; ja, er wollte sogar, dass seine Frau abtrieb, doch hatte er nichts dagegen unternommen, als diese es ablehnte. Er verließ sie selbst dann nicht, als sie ihrem Neugeborenen den Namen ihres Liebhabers gab. “Ryo“. Man konnte ihrem Ehemann vieles nachsagen. Dass er ein skrupelloser Drogenhändler war, der nicht davor zurückschreckte, seine Klienten zu töten, konnten diese nicht zahlen. Dass er ein unverbesserlicher Alkoholiker war. Dass er seinen Sohn schlug. Dass er als Choleriker leicht aus der Fassung geriet und auch nicht vor seiner Frau halt machte, wenn seine Wut ihn übermannte. Doch trotzdem hatte er sie bedingungslos geliebt. So sehr, dass er ihre Demütigung mit dem unehelichen Kind wortlos hinnahm. So sehr, dass er ihn sogar in gewissem Maße selbst erzog. So sehr, dass er nicht ohne sie leben wollte; es nicht konnte. „Ryo?“ Die Stimme seiner Betreuerin riss den Jugendlichen aus seinen Gedanken. Er hatte ihr Klopfen nicht gehört. Erst jetzt, da sie vorsichtig mit dem Kopf in sein Zimmer schaute, nahm er Notiz von ihr. „Deine neuen Eltern sind da.“ Der Angesprochene nickte leicht. Er würde sofort kommen. Seine neuen Eltern... Zehn Jahre hatte es gedauert, bis sich überhaupt ein Mensch für ihn wieder zu interessieren begann. Zehn Jahre, in denen er völlig auf sich alleine gestellt war. Zehn Jahre, in denen er sich selbst ein Bild von der Gesellschaft gemacht hatte. Und jetzt kamen sie. Seine neuen „Eltern“. Angewidert verzog er das Gesicht, während er sich von seinem Stuhl erhob. Eigentlich sollte er sich freuen. Nicht jeder hatte das Glück, adoptiert zu werden. Noch dazu von so reichen Personen. Seine neue Familie sollten die Inhaber eines bekannten und äußerst erfolgreichen Pharmaunternehmens sein. Etwas älter, die nun – unfähig selbst ein Kind zu zeugen – einen Erben suchten. Sie würden ihm, einem Waisenjungen, ein Imperium hinterlassen. Vorausgesetzt, er würde sich gut benehmen. Und das würde er. Mit Sicherheit. Er würde sich ihnen bedingungslos fügen. Sodass man über ihn mit Recht von dem perfekten Sohn reden konnte. Nach Außen hin, würde er sich erziehen lassen; würde er die Wertvorstellungen seiner neuen Familie annehmen. Innerlich jedoch wusste er bereits, dass dies schon lange nicht mehr möglich war. Es war zu spät, sein Wesen, dass das Erlebnis von vor zehn Jahren geprägt hatte, zu ändern. Damals hatte er verstanden, was es hieß, allein zu sein. Es hatte ihm die Augen geöffnet. Nicht der Staat war es, auf den er sich stützen konnte. Nicht die Polizei, die unfähig gewesen war, seine Mutter zu retten, war es, auf die man sich verlassen konnte. Nicht die Menschen waren es, denen man sich anvertrauen konnte. Nein, jeder Mensch war allein. Einsam. Man konnte keinem vertrauen. Noch nicht. Wenn er erst die Mittel hatte, würde er dies ändern. Er würde verhindern, dass die nächsten Generationen von Menschen in dieser verrotteten Welt würden leben müssen. Er würde alles besser machen! Alles! Langsam öffnete er die Tür und trat in den Gang hinaus, in dem seine neue Familie auf ihn wartete. Lächelnd trat er auf sie zu und streckte höflich die Hand aus. „Guten Tag. Mein Name ist Ryo Warren. Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mutter, Vater.“ Ein Nicken zu dem jeweils Genannten vollendete seine Begrüßung. Diese ergriffen beide nacheinander seine Hand und stellten sich ebenfalls vor. Es würde leicht sein, ihnen etwas vorzugaukeln. Diesen Menschen, die die Dreistigkeit besaßen, sich als seine Eltern ausgeben zu wollen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)