Memento Mori von Mismar (Remember that you must die) ================================================================================ Kapitel 6: Helping Hand ----------------------- „Die Schwarze Seite…“ wiederholte Makoto überflüssigerweise. Was hatte das zu bedeuten? Seufzend schüttelte er den Kopf, er war seinem Ziel keinen Schritt näher gekommen. Shin zog sich und seinen ausgestreckten Arm zurück, verweilte laut wimmernd unter dem Bett. Aus ihm würde der Verleger keine weiteren Informationen bekommen. Fast schon enttäuscht trat er ins Freie. „Es ist spät geworden…“ Er war sich nicht sicher, ob er noch in der Nacht Autofahren sollte. Doch in diesem unheimlichen Haus würde er keine Nacht verbringen, selbst wenn das dreckig bezogene Bett so einladend gewirkt hatte. „Vielleicht hilft ein kleiner Spaziergang…“ Er wusste, wie gefährlich es war, um diese Zeit in den Wald spazieren zu gehen. Aber egal wo, er war nirgends mehr allein und sicher. Makoto war keine viertel Stunde umhergewandert, als er plötzlich Sutra-Gesänge hörte. Er horchte auf, es mussten mehrere Personen im Wald sein. Wie durch Geisterhand geführt, folgte er dem Gesang und kam plötzlich vor einem brüchigen, alten Tempel zum Stehen. Ihm war das Entsetzen im Gesicht geschrieben, als er mehrere Kinder im Kreis sitzend sah. Es waren keine Menschen mehr, das stellte er sofort fest. Die Geister schauten in seine Richtung, die Mimik war ausdruckslos und kaum zu deuten. Sie zeigten mit dem Finger auf ihn und sprachen verwirrende Worte. Er wusste nicht einmal, was sie damit sagen wollten. „Warum seid Ihr zu solch einer späten Stunde hier? Möchtet Ihr etwa auch beten?“ fragte eine schneidende, dennoch menschliche Stimme. Makoto schaute sich verwirrt um, er sah einen Mann mittleren Alters, der den alten Kleidungsstil Japans bevorzugte. „Nicht wirklich… ich weiß nicht einmal, wo ich hier bin.“ „Das hier alles ist ein sogenannter Friedwald. Der Tempel wurde damals für Waisenkinder gebaut, aber heutzutage wird dieser Ort nur noch als Grabstädte für obdachlose Kinder genutzt.“ „Das wusste ich nicht…“ flüsterte er leise und beobachtete die Geisterkinder, die wieder zu beten begonnen hatten. „Könnt Ihr sie auch spüren? Ich meine, die Präsenz der verlorenen Seelen?“ Er warf verständnislos eine Augenbraue in die Höhe, weil er nicht glauben konnte, jemand gefunden zu haben, der seinen Schmerz hätte nachvollziehen können. „Ich sehe sie sogar.“ „Wirklich? Man sagt: Nur ein Geist kann einen Geist sehen und ein Mensch nur einen Menschen. Entschuldigt… ich rede wirres Zeug.“ Verlegen fegte er seine Worte beiseite, als wenn es sie nie gegeben hätten. Makoto ließ seine Worte noch einmal auf der Zunge zergehen. Seit sie hier standen, war ihm aufgefallen, dass die Kinder nur in seine Richtung starrten, fast so, als würden sie den anderen nicht bemerken. „Danke, ich muss aber weiter.“ Kaum hatte er sich abgewandt, tauchte eines der Geisterkinder vor ihm auf. Es war das Mädchen mit dem Sommerhut. „Du bist einer von uns. Es gibt kein Entkommen mehr. Das musst du endlich begreifen.“ Ihre Stimme klang so kleinlaut, verlegen zog sie den Hut tiefer ins Gesicht. Sie sah wie ein gewöhnliches Mädchen aus, anders als die Obdachlosen hier. Wie auch die letzten Male verschwand sie spurlos. Seufzend machte er sich auf den Weg zurück, diese Nacht würde er im Auto schlafen. Vom Weiten konnte der Verleger sehen, das irgendwas nicht stimmte: Etwas Helles leuchtete im Auto, fast, als hätte er vergessen den Laptop auszuschalten. Aber selbst wenn es so gewesen wäre, hätte spätestens der verbrauchte Akku nicht lange mitgehalten. Als er das Auto erreichte und einen Blick ins Innere erspähte, sah er den tragbaren Computer auf dem Beifahrersitz liegen. Panisch blickte er sich um, aber es war weit und breit kein Geist in Sicht. Geschwind stieg er in den Wagen und setzte den Laptop auf seinen Schoß ab. Erneut war das Foto von Shin zu sehen, was Makoto letztendlich zum Schmunzeln brachte. Was sollte so toll an diesem Foto sein? „Sie sind anders…“ hörte er hinter sich eine ihm bekannte, aber seit neustem verhasste Stimme sagen. Der Verleger musste keinen Blick über seine Schulter werfen, um die Präsenz von seinem Ex-Mitarbeiter zu bemerken: Sadao. „Was willst du hier? Bist du gekommen, um mich ein weiteres Mal zu töten?“ fragte Makoto pikiert und hätte dem anderen am liebsten den Kopf dafür umgedreht, wenn dieser nicht bereits tot gewesen wäre. Immerhin war es seine Schuld, dass der Schwarzhaarige nun in dieser unangenehmen Situation feststeckte. „Es war ein Fehler damals…“ gab der Journalist peinlich berührt wieder. „Ich habe so viele Fehler gemacht.“ Genervt mit den Augen rollend stellte Makoto überflüssigerweise fest, dass sein besagter Freund mehr als nur einen Fehler gemacht hatte – wegen ihm war auch das Mädchen im roten Kleid hinter dem Verleger her gewesen. „Warum bist du hier? Für eine Entschuldigung ist es zu spät!“ „Deswegen bin ich nicht hier.“ Er schüttelte träge mit dem Kopf und sah ihn über den Rand seiner Brille hinweg an. „Ich will dir helfen.“ „Jaja, wer’s glaubt, wird selig.“ Seufzend fuhr sich der Verleger über das Gesicht. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, zumal die Müdigkeit ihn zu übermannen drohte. Es herrschte langes Schweigen. Makoto hoffte sogar, Sadao hätte es endlich aufgegeben und wäre wie die anderen Geister spurlos verschwunden. Dem war aber nicht so, als er seitlich schauend seinen Mitarbeiter mit gesenkten Haupt sitzen sehen konnte. „Gut, wie willst du mir helfen?“ Er musste seinem Rat nicht befolgen, aber in erster Linie war er sich sicher, dass der andere nur eine Möglichkeit suchte, ihn erneut ins Totenreich zu schicken. „Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder du bist von deinem Geist besessen und suchst einen Exorzisten auf oder…“ Sadao hielt lange inne. „Du musst herausfinden, wie du dein geisterhaftes Ich im Mnemonischen Abgrund sterben lässt.“ Fragend schaute er ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Was soll das Zweite heißen?“ „Du solltest mit Reiko Asagiri Kontakt aufnehmen und dich auf die andere Seite telepotieren. Während dein realer Körper im Diesseits schlummert, wird dein Geisterkörper auf der anderen Seite umherwandern.“ Makotos Augen verfinsterten sich, abwertend betrachtete er den Verräter von Freund. „Menschen, die sich in den Mnemonischen Abgrund gestürzt haben, sind gestorben. Warum sollte es bei mir anders sein?“ „Weil du halb tot, halb lebendig bist. Es ist deine Entscheidung, Makoto Shirae.“ Sadao richtete gekränkt seinen Kopf in Richtung Boden und sein geisterhafter Körper löste sich auf, als wäre er nie dort gewesen. Verzweifelt biss sich Makoto auf die Lippen. Um sich selbst ins Leben zurückzuholen, hatte er seinen Geist gebraucht. Was wohl passieren würde, wenn er tatsächlich sein Geister-Ich auf der anderen Seite zurückließe? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)