Memento Mori von Mismar (Remember that you must die) ================================================================================ Kapitel 3: Falling ------------------ Das Bild des Jungen löste sich langsam in Nichts auf. Verstört zeigte er in den Schrank hinein, aber Rin war zu spät an seine Seite geeilt, um noch etwas Verdächtiges sehen zu können. „Was ist passiert?“ Ihre Stimme war mit Sorgen gekennzeichnet. „Bitte ruh dich aus. Du machst gerade echt viel durch.“ Ohne Widerworte schloss sie die Kommodentür, ansonsten hätte er weiterhin wie eine Statur darauf gezeigt. Seufzend ließ sich Makoto auf eines der Betten fallen. Hatte ihn seine Sinneserfahrung wieder getäuscht? Er hoffte es zumindest. Plötzlich spürte er, wie Rin ihm die Schuhe von den Füßen streifte. Es war nur zu deutlich, dass sie von ihm einige Stunden Schlaf forderte. Aber das war vielleicht keine schlechte Idee, womöglich würde er sonst dem Wahnsinn verfallen. „Danke.“ Er schirmte sich die Augen ab, er versank sofort in einen festen Schlaf. In der Nacht hatte er sich die Weste entledigt, das Hemd ganz aufgeköpft. Er war dankbar, dass Rin in dem gleichen Bett ruhte, ansonsten hätte er sich einsam gefühlt – und wie ein Kind im Stich gelassen. Sie lag seitlich mit dem Rücken zu ihm, ihr regelmäßiger Atem deutete an, dass sie ebenfalls tief und fest schlief. Um sie nicht zu wecken, klappte er sein Handy auf. 2 Uhr 32, stellte er seufzend fest. Der Bildschirm strahlte ihm entgegen, er musste sich erst einmal an die schwachen Lichtverhältnisse gewöhnen. Es war so ruhig in diesem Zimmer, dass Makoto plötzlich ein sonderbares Geräusch vernehmen konnte. Er hörte, wie etwas auf glitt. Es klang wie eine Schiebetür, aber in diesem Zimmer gab es nur moderne Türen zum Öffnen. Von einer verzweifelten Vorahnung gepackt, leuchtete er mit dem Handy in Richtung Schrank, der aus dieser Sicht nur seitlich zu erkennen war. Die linke Seite war einen Spaltbreit geöffnet. Ob es ein defekter Fehler war wie bei den Toilettentüren in den Zügen? Zumindest hätte er sich das gewünscht, ein weißer Arm krallte sich raus. Quälend langsam spähte etwas Weißes aus dem Schrank hervor. Erst jetzt erkannte Makoto, dass es ein Mädchen mit langen weißen Haaren war – sie hatte er in diesem Raum völlig vergessen. Auf der mnemonischen Seite hatte er den Wandschrank geöffnet und sie war einfach auf die andere Seite gefallen. Sie zog sich mit aller Kraft hinaus, dabei starrte sie den Verleger mit toten Augen an. Es wirkte zu bewusst als das man es hätte Zufall nennen können. Makoto spürte die Angst in sich aufsteigen, rüttelte panisch Rins Schulter. „Wach auf!“ Der weißhaarige Geist rappelte sich auf, jetzt sah es wie eine gestellte Puppe aus. Mit langsamen Schritten ging sie in Richtung Fenster, dafür musste sie aber an das Bett der beiden vorbei. Sie ließ die zwei nicht aus den Augen, während sie sich dem Schrank immer mehr entfernte. Rin setzte sich verschlafen auf. „Was ist los?“ Dabei einen Blick zu Makoto werfend, der wie in Trance die Wand gegenüber anstarrte. Verständlicherweise folgte sie seinem Blick und sah… nichts. Schluckend bemerkte der mit Schweiß gebadete Verleger nicht, wie seine Freundin aufgewacht war. Er sah nur dem Geist hinterher, der endlich an dem Bett vorbeigezogen war und sich kopfüber aus dem Fenster fallen ließ. Entsetzt schrie er auf. „Makoto!“ Verzweifelt umarmte sie ihn, langsam machte er ihr mit seiner Art Angst. „Bitte sag mir endlich, was los ist!? So kann ich dir nicht helfen!“ Mit dieser Berührung riss sie ihn aus dem beängstigen Zustand wieder zurück in die Realität. Verwirrt sah er zu ihrem Braunschopf, der sich verspielt an seiner Brust schmiegte. Ihr Haar kitzelte seinen Oberkörper, aber das ließ ihn für einen Augenblick das schreckliche Szenario vergessen. „Rin…“ flüsterte er kaum hörbar, erleichtert, sie bei sich zu haben. Sie sah ihn mit vertränten Augen an. Sie weinte? Das war das erste Mal in seiner Gegenwart. „Bitte sag mir doch endlich, was los ist!“ Seufzend musste er zugeben, dass sie vermutlich der einzige Mensch auf dieser Welt war, dem er davon erzählen konnte – sie hatte all diese schlimmen Dinge mitgemacht, sie würde ihm Glauben schenken. „Ich sehe… Geister.“ „Geister?“ Sie hörte auf zu weinen, die Tränen trockneten auf ihren Wangen. „Wo siehst du Geister?“ „Gerade eben… vorhin…“ Langsam glaubte er nicht mehr daran, dass alles mit einem Traum begonnen hatte, daher musste er ihr vom Mädchen mit dem Sommerhut erzählen. Sie selbst schien keinen blassen Schimmer zu haben, aber in ihrem Gesicht spiegelte sich Verständnis wider. „Glaubst du, sie sind hinter dir her, weil du als erster Mensch die andere Seite verlassen konntest.“ „Das ist naheliegend. Aber anderseits dürfen Geister auch nicht das Leben eines Menschen bestimmen… und ich bin durch die Hand eines Geistes gestorben.“ Schmerzende Erinnerungen wurden wach, wenn er an die dunkle Aura seines angeblich guten Kollegen zurückdachte. „Gut, das ist aber ein anderer Teil auch…“ Rin löste sich aus der Umarmung, geschwind griff sie nach dem Laptop, den sie unter das Bett geschoben hatte. Im Schneidersitz kauernd legte sie sich das moderne Gerät auf den Schoß und schaltete es ein. „Ich denke, wir müssen wohl oder übel einem Geheimnis nachgehen. Wenn sie dich zurück auf die andere Seite geholt hätte wollen, so wärst du jetzt sicherlich schon tot.“ Seine Miene hellte sich auf, das machte Sinn. Aber vielleicht waren Geister auf dieser Seite nicht in der Lage, Menschen zu töten. Scheinbar sollten diese Erscheinungen ihn zum Selbstmord treiben. Dieses Hotel war ein Anhaltspunkt, ab hier würden sie der Sache auf den Grund gehen. „Zwei Kinder, die in diesem Hotel gestorben sind.“ Sie suchte in seinem Archiv nach, da Makoto als Verleger Zugriff auf allerlei Zeitungen dieser Welt hatte. Und sie wurden tatsächlich fündig. Beide sahen sich verwirrt in die Augen, den das scheinbar vor ihn liegende Thema war im Vergleich zu Reikos Schicksal weitaus herzzerreißender. Es handelte von einer Rabenmutter, die ihre Kinder regelmäßig misshandelt hatte. Rin schaute mit traurigen Augen auf die Tastatur, am liebsten hätte sie den Bildschirm runtergeklappt, selbst wenn nur die Fotos der Personen zu erkennen war. „Sie hatte scheinbar drei Kinder… scheinbar soll der Tod des ersten Kindes zu diesen beiden anderen Verbrechen geführt haben.“ Er überflog die einzelnen von dem Thema berichtenden Artikeln schnell. Erneut sah sie auf den Bildschirm und schlagartig wich ihr jegliche Farbe aus dem Gesicht. „Ich habe sie schon einmal gesehen!“ Ihr Finger zeigte auf die Fotos, allerdings tippte sie nur drei von den vier gezeigten an. „Alle im Haus der Kishibes!“ „Was? Ist das Haus etwa der Treff der verlorenen Seelen?“ spottete Makoto und betrachtete das Foto der Mutter, die in einem hellroten Kleid eingehüllt war. Danach sah er auf das Foto des Jungen, es war eindeutig der gleiche wie hier in der Kommode. Und das letzte… sein Herz setzte für einen Augenblick aus. „Sie sieht genauso aus wie das Mädchen im roten Kleid.“ Das hatte auch Rin gedacht, aber zumindest wusste sie nun, dass die heimliche Spannerin auf der Toilette eine andere war. „Das macht Sinn…“ flüsterte sie leise und las den Zeitungsartikel durch, wo berichtet wurde, dass das schwarzhaarige Mädchen in der Badewanne ertrunken war. So hatte sie es auch damals gesehen, ein Schwarzkopf der immer tiefer ins Wasser sank. Vielleicht hatte sie das Mädchen aus diesem Grund in der Schultoilette und nirgendwo anders gefunden. Seufzend lehnte sie sich an Makoto, der einen Arm um ihre Hüfte legte und sie fest umklammert hielt. Zusammen fingen sie an die tragische Story einer Mutter zu lesen, die den Tod ihres ersten Kindes nicht verkraftet hatte und in ihrer verzweifelten Lage die Kinder täglich in Schränke einsperrte, wenn sie mit ihren Nerven total überfordert war. Im Hotel hatten sich die beiden Kinder das Leben genommen – genau wie es Reiko damals im Krankenhaus getan hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)