Grün, grün, grün... von Ditsch (Für Suki911) ================================================================================ Kapitel 1: Grün, grün, grün... ------------------------------ Die Schafe blökten. Linda seufzte. Sie sah sich um und betrachtete gedankenverloren all die weißen Punkte auf der grünen Weide unter dem weiten blauen Himmel. Eigentlich gab es keinen Grund für die Tiere, sich zu beschweren: Es war Sommer, aber nicht zu heiß, die Gräser und Kräuter schossen aus allen Ecken, alles grünte und blühte und strahlte in den schönsten Farben. Dennoch spürte Linda eindeutig anklagende Blicke auf sich. Auch für sie gab es eigentlich keinen Grund zur Beschwerde. Immerhin war es ihre Idee gewesen, sich ein paar Schafe zuzulegen und als Schäferin das Leben mit der Natur zu genießen. Im Grunde gefiel es ihr auch: Sie liebte ihre Schafe, sie liebte es, morgens das Haus zu verlassen und das frische, grüne Gras zu riechen und sie liebte auch den wundervollen Ausblick, den sie von ihrem Hügel auf die umgebende Landschaft hatte. Doch heute gab es irgendetwas, das sie störte. Die Schäferin stand von dem Stein auf, auf dem sie gesessen hatte und ging ein wenig zwischen ihren Schafen umher. Die Plüschkugeln, die seit der letzten Schur nicht mehr ganz so plüschig waren, bahnten ihr eine Gasse. Anscheinend hofften sie, dass sie ihnen noch etwas anderes zu fressen bringen würde. Aber Linda verschwand in der kleinen Hütte, die sie vor zwei Wochen bezogen hatte, nicht etwa in den Schuppen. Ein enttäuschtes Blöken war zu hören. Linda ignorierte es. In ihrem neuen Heim gab es nur einen großen Raum, der Küche, Schlaf-, Wohn- und Arbeitszimmer zugleich darstellte, und ein winziges Bad. In jeder Wand des viereckigen Häuschens gab es ein Fenster. Durch das eine konnte man die ganze Weide überblicken, sommergrün, und natürlich die Schafe, die darauf auf- und abgrasten. Der Blick durch das Fenster zu Lindas Linken zeigte einen kleinen Ausschnitt des Waldes, der durch die vielen Tannen am Rand eher dunkelgrün gehalten war. Wenn die junge Frau zur anderen Seite des Raumes sah, erstreckte sich vor ihr eine riesige grüne Fläche, an vielen Stellen von bunten Farbtupfern durchbrochen. Auf einmal wusste Linda, was bei ihr dieses Gefühl des Unbehagens ausgelöst hatte: Es war das Grün. Diese Farbe, die eigentlich für Hoffnung stand und einen sehr beruhigenden Effekt hatte, bedrängte sie auf einmal von allen Seiten und schien sie in Harmonie ersticken zu wollen. Linda sah durch das rechte Fenster und atmete erleichtert auf. Dort, ein paar Kilometer vom Fuß des grünen Berges entfernt, lag die Stadt. Hart, eckig, kalt. Und vor allem: grau. Bei Nacht verwandelte dieser unscheinbare Fleck sich in ein buntes Lichtermeer, doch noch waren keinerlei Anzeichen dafür zu erkennen. Kurzerhand griff Linda nach dem Autoschlüssel, der neben der Tür hing und lief hinaus. Ihr Wagen stand auf einem Parkplatz etwa zweihundert Meter bergab und sie wäre fast hingefallen, als sie mit großen Schritten den Berg hinab lief. Die Schafe blökten ihr protestierend hinterher und trabten sogar bis zum Weidezaun, um ihrer Schäferin so deutlich wie möglich ihre Meinung zu sagen. Doch diese hörte gar nicht hin. Sobald sie das kleine Auto erreicht hatte, sprang sie hinein, startete den Motor und fuhr in halsbrecherischer Geschwindigkeit los, nur ein Ziel vor Augen: die Stadt. Die Strecke, für die sie normalerweise zwanzig Minuten brauchte, schaffte sie heute in kaum mehr als zehn. Als sie endlich das Stadtgebiet erreicht hatte, drosselte Linda aufatmend ihre Geschwindigkeit. Graue Gebäude, graue Straßen, graue Menschen. Eigentlich hasste Linda die Stadt genau wegen dieser Eintönigkeit und hatte sie gerade deswegen verlassen, doch jetzt war sie froh, hier zu sein. Sie parkte ihr Auto in einem Parkhaus und begann, ein wenig durch die Stadt zu schlendern. Die dreckige Luft atmete sie ein, als wäre das die größte Wohltat, und sogar ein zufriedenes Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. „Entschuldigen Sie bitte, Sie haben etwas verloren“, sprach sie jemand an. „Oh!“, rief sie aus. Tatsächlich, sie spürte den Autoschlüssel nicht mehr in ihrer Jackentasche. Sie drehte sich um und wollte ihn gerade von dem jungen Mann entgegennehmen, der in ihr freundlich hinhielt, als sein Anblick sie erstarren ließ. Grün. Dieser Mann trug eine Wintergras-am-Morgen-grüne Hose. Er, der nicht ahnen konnte, welche Gefühle dieses Kleidungsstück bei ihr auslöste, sah sie fragend an. Sein Blick ließ sie vor Verlegenheit erröten. Schnell griff sie nach dem Schlüssel. „Entschuldigung. Dankeschön“, murmelte sie, drehte sich um und ging eiligen Schrittes davon. Sie erreichte eine Straße, hob den Kopf und sah – grün. Das Ampelmännchen forderte sie auf, zu gehen, doch Linda blieb wie angewurzelt stehen. Schon wieder diese Farbe! Wieder drehte sie sich in eine andere Richtung, rannte jetzt schon fast. Erst, als sie eine Fußgängerzone erreicht hatte, verlangsamte sie ihren Schritt wieder ein wenig. Aber da waren sie schon wieder: eine grüne Jacke im Schaufenster, eine grüne Bank am Straßenrand, ein grüner Hut auf dem kahlen Kopf eines alten Mannes... Linda sprintete los. Auf dem Rückweg zum Parkhaus hielt sie ihre Augen so weit wie möglich geschlossen, dennoch sah sie immer wieder grüne Schemen an sich vorbeihuschen. Bald hatte sie ihr Ziel erreicht – aber wann waren grüne Autos so modern geworden? Jedes zweite schien diese verfluchte Farbe zu haben! Endlich in ihrem Auto angekommen, betätigte Linda den Blinker, um aus ihrer Parklücke auszuscheren. Der grüne Pfeil im Armaturenbrett begann zu blinken und schien sich gnadenlos in ihre Netzhaut einzubrennen. Schnell schaltete sie ihn wieder aus und beschloss, dass sie dieses eine Mal auch ohne Blinken auskommen würde, auch wenn sie damit sicherlich den Hass aller anderen Verkehrsteilnehmer auf sich ziehen würde. Manchmal musste man eben Prioritäten setzen. Der Rückweg brachte Linda an den Rande eines Nervenzusammenbruchs. So viele Ampeln waren zu passieren und ausnahmslos alle waren grün! Sie war schon oft durch die Stadt gefahren und hatte die Erfahrung gemacht, dass im Durchschnitt jede zweite Ampel rot war. Wieso musste Mutter Zufall ausgerechnet heute eine Ausnahme machen? Sobald das gelbe Schild – Heureka! Es war nicht auf einmal grün geworden! – das Ende der Ortschaft verkündete, drückte Linda das Gaspedal durch. In der Ferne sah sie die grünen Hügel leuchten. Und seltsamerweise freute sie sich über diesen Anblick. Als sie das Auto im Schatten einer großen Buche geparkt hatte, schlenderte sie gemächlich den Bergpfad entlang. Alles hier war grün, aber es war echtes Grün. So musste es sein. Grün gehörte der Natur. Linda atmete erleichtert auf, als sie die Stadt nur noch als Fleck in der Ferne sah. Die Stadt war grau und die Weide war grün. So musste es sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)