James Norrington von Phantom (Ⅰ. Ankerlichtung) ================================================================================ Prolog: I. James ---------------- Mein Freund. Als den Ersten teile ich Ihnen mit, dass noch des Abends, da ich diesen Brief an Sie verfasse, meine Elizabeth einen Knaben zur Welt gebracht hat, und, Gott sei Dank, beide erfreuen sich guter Gesundheit. Wie Sie sehen werden, zittere ich noch; ärger als seinerzeit gegen die Holländer. Sie, mein Bester, wissen sehr wohl, was das heißen will. Ich bitte Sie nur, die Freude mit uns zu teilen und einen Prost zu erheben auf Admiral James Alexis Lawrence William Norrington, der gerade – wartet, ich muss kurz nachschauen… …Ah, schläft. Grüßen Sie uns die Familie. So sollten die Zeilen klingen, die Lord Lawrence Richard Norrington wenig später an den Schwager schreiben würde. Noch wäre er dazu nicht in der Lage, wie er jetzt unweit von mir stand; hätte ich es riskieren können, so würde ich wohl nicht von seinem Gesicht ablassen, von seiner ihm so unwürdigen Gestalt, die nichts gemein hatte mit dem Admiral der Englischen Marine, wie ich ihn sonst alltäglich erlebte, wenn er daheim war. Seine Augen starrten, als hätte der große Schlächter dergleichen nie vorher gesehen, auf das blutige Spektakel, auf diesen Mühsamsten aller Kämpfe, der eben einer Frau vorbehalten war, und vielleicht hätte er sich daran erinnern sollen, bevor er mit der bekannten Grobheit in das Schlafgemach gestürmt war, um als Herr des Hauses nach dem Rechten zu sehen. Die letzten Sonnenstrahlen übergossen den Landsitz im Osten Englands mit malerischem Gold, als im Übergang eines ausgesprochen kalten Winters zum erlösenden Frühling, so als wage der Lenz nicht mehr bar seiner Anwesenheit das neue Blütenkleid zu zeigen, weil er es allein für ihn tragen mochte, doch auch, als prophezeite ihm die Natur schon jetzt, verdammte sie ihn, dass er zeit seines Lebens stets zwischen zwei starken Gegensätzen würde stehen müssen, die Geschichte eines Mannes begann, der Fähnrich, Leutnant, Kapitän, Kommandant, Pirat, Admiral und Stolz der Britischen Marine Seiner Majestät sein würde, der verlierend gewinnen sollte und aufopfernd selbstsüchtig war, der sich einen Traum zu lieben zwang, dessen Entschlüsse immer die Falschen zu sein schienen, der sich lieber einem Hurrikan als sich selbst stellte, den die Liebe immer wieder blendete, der seine Ehre an dem Tag verlor, an welchem er sie retten wollte, der aus der Welt der Toten zurückkehrte, weil ein Schmiedegeselle die Ausnahme Regeln bestätigen ließ, und dem das eigene Pflichtgefühl schließlich den einzigen Sohn tötete, ehe ihn eine rachsüchtige Wiedergutmachung endgültig über die Realität erhob. Dessen Geschichte begann im Zwiespalt von Fisch und Widder und zwar wie so viele andere vollkommen unspektakulär in den Armen seiner Mutter und mit meinen Worten: „Herzlichen Glückwunsch, Mylady, zu diesem bezaubernden Jungen.“ Nachdem es gestillt und gewickelt worden und ziemlich bald eingeschlafen war, konfrontierte mich beim Verlassen des Gemachs, in welchem ich die Norringtons mit dem jungen Glück allein ließ, die gesamte sich vor der Tür zusammengefundene Dienerschaft wie im Erwarten eines Königssohnes. Die tratschenden und entzückten Zofen natürlich in erster Reihe, die Herren Kutscher und Gartenarbeiter und footmen diskret weiter hinten und scheinbar mit nur höflichem Interesse. „Husch, husch!“, machte ich. „Wenn sie euch so sehen, nein! An die Arbeit!“ Die Wirklichkeit fuhr blitzartig in die Menge und alle stoben auseinander, bemüht aber vergebens lautlos, als sei der Teufel hinter ihnen her, was er – ich möchte es nicht verleugnen – wahrlich sein würde, wenn Seine Lordschaft von dem Aufstand hier erfuhr. Zurück blieb Benedict. „Und?“, hechelte er, bebend vor Aufregung. Ich lächelte. „Wundervoll.“ In der letzten Sekunde konnte ich ihn davon abhalten, laut zu jubeln. James Lawrence Norrington war ein ruhiges Kind, das seiner Mutter nur dann echte Probleme bereitete, wenn es einmal wieder kränkelte. Obschon es ausreichend aß, blieb es schmal und blass und nicht sonderlich gesprächig. Es konnte sich stundenlang selbstständig beschäftigen und lernte, ohne dass es wissbegierig war, mit dem Aufnahmevermögen eines Blatt Papiers, das man in Tinte tauchte; nur wenn man es an den Kielflügel oder die Staffel setzte, harrte man endlos der Fortschritte, welche das frühe Studium sonst so treu begleiteten. Lady Elizabeth verzweifelte an den unzähligen Versuchen, ihren Sohn in die Geheimnisse der Schönen Künste einzuweihen oder zumindest in das einer einzigen, schließlich waren die Nachkommen des befreundeten Adelskreises allesamt so begabt, dass sie sich des ihren nicht schämen wollte, doch obwohl er sich fehlerfrei auf die Handhabung von Klaviatur, Pinsel und Feder verstand, gelang James kein harmonischer Akkord, keine erkennbare Skizze, kein reimender Vers, wie oft er sich auch daran wagte. Er hatte die Statur für das Ballett, aber nicht das nötige rhythmische Gefühl, und seine klare Chorknabenstimme traf keinen einzigen Ton, wie auch die Kenntnis aller gotischen Stilelemente nicht seine Kreativität anregte, wenn er ein Haus entwerfen sollte. Es war eine Zeit, in welcher er sich häufig in meine Arme rettete. Dass die so viel dunkler waren als die seinen, störte ihn nie. Ein Glücksfall, der mich erleichterte, hatte ich doch schon genug von Dienern gehört, welche die Aversion des Kindes ihrer Herren aufgrund der Hautfarbe mit der Anstellung oder – mir schauerte – dem Leben zahlen mussten. Über diese Tatsache verhalf mir nicht einmal das ungetrübte Verhältnis zwischen der Hausherrin und mir hinweg, das nichtsdestotrotz fast als freundschaftlich bezeichnet werden durfte. Auch mit ihrem Gatten kam ich entgegen aller Vermutungen, welche die Menge an Gerüchten über den bekannten Seelord des Karibischen Meeres eifrig nährte, gut zurecht, was möglicherweise mit meiner gründlichen und beschwerdefreien Arbeitsweise zu tun hatte. Schon meine Mutter hatte mich gelehrt, dass Subordination gegenüber den Weißen nichts war, gegen das man unbedingt aufbegehren musste, nur weil sie einen als Sklaven bezeichneten und vielleicht einen anderen, englischen Namen gaben, auch wenn ich nicht so blauäugig war zu glauben, dass jede Leibeigenschaftsbeziehung so gerecht verlief wie die meine. Trotzdem atmete das ganze Personal, ob afrikanisch oder europäisch, sichtlich auf, da der komplizierte Charakter Lawrence Norrington nicht lange nach der Geburt seines Sohnes wieder zur See fuhr. Dementsprechend hatte James nie viel von ihm. Dementsprechend lag die Ausbildung ganz in den Händen der allzu idealistischen Mutter, nahm ich an, aber bereits der Brief vom Abend des zwanzigsten März wies darauf hin, dass Lawrence auf der Hohen See nicht weniger hohe Pläne schmiedete. Bald wollte er zurückkehren, James war fünf Jahre alt, und es würde das erste Mal sein, dass der Sohn seinem Vater erkennend begegnen würde. Kapitel 1: I. Der Kompass ------------------------- James‘ Großvater war ein Kompass. Jedenfalls kannte er den einen nur in Verbindung mit dem anderen. Lady Elizabeth schenkte ihm das verstaubte Kleinod, welches wir während einer Entrümpelung der Norrington’schen Erbstückekammer gefunden hatten, zum fünften Geburtstag, er bedankte sich artig und verbrachte den Rest des noch frierenden ersten Frühlingstages mit seinem Französischlehrer. „Ms Abda“, fragte er erst, als ich ihn abends für das Zubettgehen bereitete und dabei feststellte, dass der Kompass noch immer genauso in seiner Hand klemmte wie da wir ihn des Morgens damit gehen ließen. „Wofür ist der?“ Ich musste wohl an die Rückkehr seines Vaters denken und den Brief, den ich damals – neugierig, wie ich war – heimlich gelesen hatte, dass ich nicht etwa sagte: „Der zeigt den Norden an“, woraufhin er nachgefragt hätte, wie das genau funktionierte, ich ihm wiederum mit Rücksicht auf meine jämmerliche Bildung erklärte, dass die Wirkungsweise mit der magnetischen Anziehungskraft zwischen Erde und Nadel zusammenhing, wir beide vom Thema abkommen und er schließlich schlafen würde. Stattdessen machte ich den Fehler, beobachtete sein Gesicht, das nicht nur in Farbe, sondern auch in Ausdruckslosigkeit, in jener er sich oft übte, an Marmor erinnerte und antwortete letztlich, das Einlaufen der Victory in den heimischen Hafen bildlich vor mir: „Der zeigt Ihnen immer, wenn Sie sich verlaufen haben, wohin Sie gehen müssen.“ Wissend, dass nur die metaphorische Interpretation meiner zweideutigen Aussage mit meinem gar verschwörerischen Tonfall harmonierte, während sich die schlichte reale Funktion von ihm stieß, wie es zwei gleiche magnetische Pole tun würden, nahm ich so merkwürdig stolz zur Kenntnis, dass James‘ kühle Züge unter dem Bewusstwerden der vermeintlich übersinnlichen Fähigkeiten seines Erwerbs kurz dahinschmolzen, als habe ich nie zuvor eine wichtigere Antwort gegeben. Sein Großvater war Kommodore in der Marine gewesen, demzufolge hatte Lawrence den Beruf praktisch geerbt, auch wenn Charles es nie zum Admiral brachte. Zudem hatten die beiden völlig unterschiedliche Beweggründe: Während der eine vor allem nach geografischen und persönlichen Grenzen trachtete, die er gerade dort zu finden glaubte, wo Unendlichkeit sich für das menschliche Auge sichtbar manifestiert, verführte den anderen die Attraktivität der Gefahr, die Ehrsucht; der Wille, England zu dienen und eine Leistung ohne Beispiel zu erbringen, einen Obelisken der steinharten Realität in das immergrüne, aber einen über die Blätterdächer Emporstrebenden einschränkende Eden seiner Jugend zu rammen. Welche Interessen würden James leiten? Und wohin? Der Junge war anspruchslos wie schweigsam, folglich kristallisierten sich weder Vorlieben noch Abneigungen heraus, wie es normalerweise bei Kindern seines Alters geschah. Ich hoffte, er würde sich mit den Vorstellungen seines Vaters, die zwar noch immer realistisch, jedoch wenig umsichtig waren, arrangieren können. Ich hoffte, er würde auf die Kompassnadel seines Herzens achten, bevor er mit zwölf Jahren die Entscheidung traf, zu jener andere sich ihr ganzes Leben lang nicht überwinden konnten. Ein Unwetter zog auf. Ich las es in ihrem Antlitz, als Lady Elizabeth am Türspalt zum Zimmer des Sohnes erschien. Das lange, formlose Nachtkleid und ihr nur zweckmäßig geflochtenes Haar ließen ihre natürliche Grazie unbeeinträchtigt – so wie es nichts zu geben schien, das dem Stolz und der Schönheit schaden konnte, die selbst Admiral Norringtons eisblaue Augen bezaubern zu vermochten. Es schien ihre Familientradition zu sein, eine formvollendete Skulptur darzustellen, ein Musterbeispiel englischer Aristokratie, nicht der vorüberziehenden Emotionen, nicht eines irrelevanten Augenblicks, und so musste äußerst präzise geschaut werden, wollte man den oftmals unausgesprochenen Standpunkt einer Lady Elizabeth erfahren. Gerundete fünfzehn Jahre des Dienstes im Hause Norrington hatten mich zum Kunstkenner gebildet, und so registrierte ich den Sturm des Lebens hinter den jetzt völlig schwarzen Augen jener Frau, der eine niemals an das Licht der Akustik tretende Anklage formte, während der englische Regen zur Marschmusik der Nacht ansetzte. „Lawrence“, sagte sie lediglich und ich musste spontan an eine entmachtete Löwin denken, die in einem Käfig ihre ungeduldigen Kreise zog. Sie wusste, was ich ahnte, weil sie durch den Admiral und Gemahl sehen konnte, doch das wahrsagerische Wissen würde ihr nicht erlauben, das Befürchtete zu verhindern. In der Tat. Die Selbstbewusste, die Starke, die Stolze fürchtete es. Ihre Pupillen zitterten unter der vereisten Oberfläche ihres makellosen Gesichts, als sie nur deswegen ihr Haupt senkte, um einen gehauchten Kuss auf die Stirn ihres Sohnes zu geben. Dann glitt sie aus dem Raum. Ich verfolgte James‘ stillen Schlaf eine ganze Weile, als würde er verschwinden müssen, sobald ich mich von ihm wandte. Vielleicht hatte ich ihm zuvor tatsächlich keine wichtigere Antwort gegeben. Wichtig war schließlich nicht gezwungenermaßen gleichzusetzen mit richtig. Hätte ich damals ahnen können, welche Folgen meine scheinbar marginale Erklärung auf die scheinbar bedeutungslose Frage des unwissenden Jungen ziehen würde, so hätte ich ihm doch lieber gesagt, dass ein Kompass nichts weiter tat als nach Norden zu zeigen, immer nur nach Norden, weil die magnetische Nadel auf die magnetische Erde reagierte; so hätte ich mich gehütet, Erwartungen in etwas Magisches zu wecken, und James Norrington hätte, als ihm das irgendwann verloren Geglaubte ausgerechnet im schlechtesten Moment wieder in die Hände fiel, den Kompass nicht in blinder Enttäuschung gegen die Wand seines Anwesens am Rande Port Royals geschmissen, während er der klaren Wegweisung doch am Dringendsten bedurfte. Kapitel 2: I. Stille, tiefe Wasser ---------------------------------- Bald genügte das Herrenhaus nicht mehr, um es mit der Unterstützung des Kompasses auszukundschaften, und Lady Elizabeths Mund stand ungewöhnlich offen ob des ungewöhnlichen Gehabens ihres Jungen, der das Problem der räumlichen Begrenzung zu lösen suchte. Sie lag an jenem herrlichen Mittfrühlingsmorgen auf dem Kanapee unter den blütenprächtigen Magnolien und las, während ich neben ihr saß und frische Erdbeeren zubereitete, von denen nicht selten flugs eine ungeschnitten hinter ihren Lippen verschwand. Die Gärtner verrichteten ihre Arbeit so meisterlich, dass man sie selbst schon der zum Stehen und Staunen verlockenden Grünanlage zugehörig sah; die Komposition des Raschelns, Zwitscherns, Pfeifens und Plätscherns fächerte den Duft des vollen Lebens über die Bühne und komplettierte schließlich das immer wieder gelingende Schauspiel des Mais. Wir glaubten James an der Seite seines Historienlehrers den Hundertjährigen Krieg bestreiten – endlich schien etwas gefunden zu sein, das nicht nur seine Aufmerksamkeit, sondern gleichwohl sein ehrliches Interesse empfing. Er ging in und kam aus dem Unterricht mit derselben nichtssagenden Maske, welche er nur zum Schlafen absetzte, indem er immerhin die Augen schloss, aber die Tatsache, dass ich um den Inhalt seiner aktuellen Geschichtslektion informiert war, was nur deshalb möglich war, weil er mich doch wahrlich bruchstückchenhaft an seiner lehrstofflichen Eroberung Calais‘ unter König Edward III. teilhaben ließ, bewies ohne Zweifel, dass er interessiert war an der englischen Vergangenheit. Erst einmal freuten wir uns darüber, ohne abzuwägen, ob diese Neigung nun eigentlich positiv oder ob sie es vielleicht eher nicht war. Man hätte sich unter anderen Umständen wahrscheinlich sorgen müssen, dass einen fünfjährigen Knaben gewaltige Schlachten und herrschaftliche Intrigen begeisterten, aber uns war nicht das Was, sondern das Überhaupt von Bedeutung nach einer sehr langen Zeit des – ja, so durfte man es bereits nennen – Haderns. Umso seltsamer schien es, dass James eben nicht mehr mit dem renommierten Historiker zusammensaß. Wir sahen ihn ohne jedwede Begleitung, im luftdurchlässigen Hemd von einem Strauch hinter dem nächsten verschwinden und hielten ihn zunächst für einen Geist. Mit derselben Armut an Wort und Bewegung nämlich, welche einer Geistererscheinung würdig war, ließen sich unsere Augen auf seinen scheinbar unbestimmten Weg ein, doch das Rätselhafte, Mystische, Gespenstische an dem Vorgang war nicht etwa sein lautloses Kommen und Gehen in der prallen Flora und Architektur des Gartens, sondern schlicht die Feststellung, dass er doch tatsächlich von sich aus hinausgegangen war. Ich brauchte die Frau des Admirals nicht anzusehen, um zu ahnen, dass wir beide überrascht wurden von einer Erfahrung, die – näher betrachtet – der Aufregung gar nicht einmal wert war. Ein starres Gesicht und verhaltene Gesten machten keinen Apathiker aus einem Jungen, der er nun eben war, der lediglich hinter einem Gebirge aus Büchern und Plänen versank und sehr alt sein würde, ehe er es erklommen hätte, wenn er sich nicht endlich traute, den geebneten, sicheren, aber einheitlichen Pfad seiner Eltern zu verlassen und einfach durch den Stein zu brechen. Es würde wehtun, aber ihn für ein Schicksal wappnen, das ich persönlich keinem Kind wünschte, das viele nichtsdestotrotz erwartete. Jetzt schien James nach seinem eigenen Weg zu suchen, und wenn ich die blitzenden Sonnenreflexionen in seinen vor sich gestreckten Händen richtig deutete, dann schien der Kompass seines Großvaters der Grund dafür zu sein. Womöglich hatte die nie endende Unruhe des auf nicht mehr als einer Spitze tanzenden Magnets eine erste Brise in die verschlafende Neugier, in die bisher gerefften Segel des Kindseins geblasen, welche nach und nach – je weiter er sich traute – aufblähen und ihn aus dem elterlichen Hafen, auf einen ungewissen, aber festen Kurs hinaus auf das unergründete Meer der eigenen, selbst zu erlebenden Erfahrungen tragen würden. Mit Freude und Stolz verfolgte ich deshalb seine mutige Jungfernfahrt in den zwar heimischen Gewässern. Lady Elizabeth hingegen erschreckte die Vorstellung, ihren Jungen auf dem Rand des Horizonts verblassen zu sehen in eine Welt, die sie nicht überblicken konnte wie das englische Anwesen. Und ich wusste, warum. Gerade, da er sich uns wieder zeigte, sog sie die Luft ein, doch meine Hand auf ihrer hinderte ihren Ruf nach dem durch das goldene Riff seiner ersten Jahre stoßenden Suchenden. „Das Wasser, Mylady“, erklärte ich auf ihren förmlich empörten Blick hin, „bewegt bereits unaufhörlich das Mühlenrad. Ihr werdet seinen biografischen Werdegang nicht aufhalten können, doch genauso solltet Ihr nicht versucht sein, seine persönliche Entwicklung zu hemmen. Wenn Ihr ihn nicht verlieren wollt…“ Es wurde nicht deutlich, ob Lady Elizabeth verstand, worauf ich hinauswollte, als sie mir befahl, James zu folgen. Da sie das unauffällig langsam und betont hervorhob, konnte ich es immerhin vermuten. Ich brauchte mich nicht als Katze zu versuchen, um der geforderten Unauffälligkeit die Ehre zu geben, was mir mit meinem Polster an überflüssigen, aber keineswegs verabscheuten Pfunden zumindest nicht leicht gefallen wäre; zu sehr war der brünette Schopf auf die Kompassrose fixiert. Was immer er auffinden wollte, der Norden schien es nicht zu sein, denn er wechselte immer wieder die Richtung, blieb manchmal abrupt stehen, wo man annahm, er hätte seinen Weg endlich entdeckt, überlegte eine Weile, wenn ich sein Versteinern richtig interpretierte, und machte nach Minuten des Herummarschierens vor dem großen Teich endgültig Halt. Das leuchtende Gewässer war eine Lichtung im dichten Gelände, als breche man nach langer Wanderung aus einem Wald heraus, und auch James schien das zu empfinden, selbst wenn er weder Wald noch Gestrüpp kannte. Seine Schritte setzte er kleiner, während er an das glatte Steinufer trat und schließlich darauf. Ohne dass es mir bewusst war, beugte ich die Knie, um notfalls zu ihm hechten zu können – Pfunde hin oder her. Auch seine Beine zogen sich zusammen, was mich bereits in Alarmbereitschaft versetzte, doch statt zu springen, war er zu meiner Erleichterung lediglich darauf aus, die sich wiegende Wasseroberfläche zu inspizieren, auf der die Frühlingsblüten zu Dutzenden einen friedlichen Walzer tanzten. Aus meiner Deckung heraus vermochte ich es nicht mit ganzer Gewissheit zu sagen, aber ich meinte, dass er den Zauber der Spiegelung erforschte. Er starrte auf die Fläche unmittelbar vor ihm, durchbrach die Haut gelegentlich mit einem achtsamen Finger und zog ihn rasch zurück, als ob die kühle Nässe ihn erschreckte. Mindestens zweimal am Tag hatte er vor einem Spiegel zu stehen, aber dieses Abbild des lebendigen Wassers nur gab ihm das, was er in dem des toten Glases vergebens suchen würde: Falten in den Kleidern, Unebenheiten auf der Haut, ein verzerrtes Gesicht, das einmal lachte, einmal trauerte, ganz wie der schwingende See mit seinen Zügen spielte. Zum ersten Mal erblickte das vereiste Antlitz einen kindlichen James und verspürte vielleicht Neid durch die Erkenntnis, dass dieser Junge auf der anderen Seite, dieser einzige Junge in der Umgebung des einsamen Gutbesitzes, des Vaters Garten Eden, um so viel freier war, dass sogar sein Gesicht es ausdrücken konnte. Wie mochte es dem, der von der Schaffung her nicht von ihm zu unterscheiden war, gelungen sein? Er schob die Hände zum Rand der Steinblöcke. War es das Umfeld dieses Jungen, war es anders als das eigene? Doch wo der gespiegelte James stand, waren nur die Zipfel zweier Baumkronen zu erkennen. Über seine Schultern gelang ihm der Blick nicht; sein Alter Ego unterband seine Versuche, indem es sich grinsend auf die Zehenspitzen stellte und damit immer ein Stück größer war. Es zitterte, als müsse es ein höhnisches Gelächter unterdrücken, dabei stieg es höher und höher, doch die wachsende Aufgabe stachelte James nunmehr an. Unterdessen stand er aufrecht, schon fast selbst auf den Schuhspitzen und spannte die Ballen zum Sprung, da zerriss ein Fisch das Spiegelbild sowie die Illusion und traf ihn so unvermittelt, dass er seine tiefe Konzentration mit seinem Gleichgewicht bezahlte. Ich stieß seinen Namen aus und eilte aus meinem Versteck, er flatterte mit den Armen, meine Hand schnellte hervor, er fiel vornüber und ich bekam ihn nicht mehr zu fassen, seine Füße verloren den Kontakt, die Blätterkleider raschelten, und fanden ihn wieder, als Benedict ihn zurück auf den Rasen zog. Ich legte meine Arme um seinen mageren Körper. Er atmete schnell und zitterte, seine Augen, noch immer mit Blick auf das schattige Wasser, waren groß geworden. „Was machst du auch!“, sagte ich zur beidseitigen Beschwichtigung, nachdem ich ihn sicher wusste. In meinem Schock merkte ich nicht, dass ich ihn geduzt hatte; dasselbe musste wohl für ihn gelten, denn er sah mich deswegen nicht einmal an. So blieb er mir auch die Antwort auf meine Frage schuldig, welche ich nach einer kurzen Dauer des Erholens noch einmal mit wirklich interessierter Intention stellte: „Was haben Sie hier gemacht?“ Wieder zog diese Frage eine Zeit des Schweigens nach sich. Wäre ich nicht durch einen Blick in seine Augen eines Besseren belehrt worden, hätte ich sicherlich aufgegeben, eine Antwort abzuwarten. So erkannte ich seinen Denkprozess, als sei er nicht gewiss darüber, ob das Verraten seiner Tätigkeit vernünftig wäre. Dann, mit geschürzter Unterlippe und äußerst leise: „Ich habe etwas gesucht.“ „Auf dem Grund des Sees?“, fragte ich erstaunt, sollte jedoch keine Erwiderung erhalten, weshalb ich etwas anderes versuchte: „Haben Sie es gefunden?“ „Ja.“ Es kam zögerlich. „Ich sehe es nicht. Ist es noch dort unten? Sollen wir es Ihnen holen?“ Er starrte geradeaus, als er sagte: „Was der See einmal nimmt, das gibt er nicht mehr zurück.“ Benedict, in seiner verschmutzten Arbeitskleidung, begann zu glucksen, dann ging er nahtlos in ein Kichern über. Aus einer Hosentasche brachte er ein unsauber zerrissenes Stück Papier hervor und ließ es von Hand zu Hand wandern. „Ich fürchte, ich verstehe nicht… Wenn doch auf dem Grund etwas liegt, das Ihnen gehört, dann werden wir es Ihnen wiederholen.“ Er verneinte wortkarg. Sein Bestreiten einer Selbstverständlichkeit ließ mich genauer über seinen Satz nachdenken. Ich hatte nicht gesehen, dass etwas ihm Eigenes in den Teich gefallen wäre; der Kompass lag noch am Steinufer, unweit von ihm. Worauf wollte er dann hinaus? „Was ist mit den Blüten?“, fragte ich ihn mit fröhlicher Neugier, als wolle ich mich auf das Spiel eines Kindes einlassen, und zeigte auf die anschaulichen Exempel auf dem Gewässer. „Wenn der See sie sich genommen hätte, könnte ich sie nicht“ – ich tauchte meine Hand hinein und schaufelte ein paar hinaus – „aus dem Wasser fischen, nicht wahr?“ „Sie nimmt er nicht, er berührt sie nur“, erklärte mir der Fünfjährige geduldig. Benedict torkelte erwartungsvoll auf uns zu und tippte James ein paar Mal auf die Schulter. Er sah ihn an. Der Gärtner wandte sich zum See, kniete sich hernieder und schob das zusammengedrückte Papier auf die seichten Wellen. Bei genauerem Hinsehen konnte ich in der scheinbar willkürlichen Form ein kleines Boot erkennen. Sofort erhaschte es James‘ ganze Aufmerksamkeit. Er spannte sich auf meinem Schoß, als würde etwas aus dem Wasser tauchen, das die Sensationalität einer Najade an sich haften hatte, und erlöste sich erst aus der gestreckten Haltung, nachdem die gefaltete Nachbildung ihre Antriebskraft verlor und ganz sicher keinen Zoll weiter vorwärts fuhr. Benedict klatschte mit ausschweifender Gestik. James schaute mich an und schien etwas sagen zu wollen, da fuhr er unter einem dumpfen Knall zusammen. Hinter mir stand Lady Elizabeth, den Folianten noch wie in der letzten Phase des Zuschlagens haltend und augenscheinlich darauf aus, mit James hineinzugehen. Warum, wusste ich nicht, doch in diesem Moment erinnerte mich das Papierschiff an etwas, das ich James nicht vorenthalten wollte, was ihm nicht vorenthalten worden war, woran ich nicht dachte, weil mir das Gefühl fehlte – gleich welcher Art – angesichts der Nachricht, die ihm schlichtweg nicht egal sein konnte: „Ihr Vater kehrt bald heim.“ Abermals zeigte er keinerlei Regung. Er glitt aus meiner leichten Umarmung, das Frühlingsgrün reckte sich und durchdrang meine Augen, dass ich mir dort einen trüben Druck einbildete. „Was die See einmal nimmt, gibt sie nicht mehr zurück“, wiederholte er seine Worte und drehte sich um. Das Papierschiff dümpelte noch auf dem Atem des Sees, nachdem der Mond ihn in den Schlaf gesungen hatte. Jeder Zug brachte es nur minimal voran. Dennoch strebte es seinem festen Ziel entgegen, ohne vom Kurs zu weichen, mit einer kraftlosen, aber bleibenden Brise, die es schob, und der wertvollen Fracht aus vielen kleinen, utopischen Wünschen. Das bleiche Gesicht wandte sich, während sein Herr den allnächtigen Spazierweg entlang schlenderte, nicht einmal ab von der Reise des kleinen Schiffes und schien den Gang sogar zu verlangsamen, dass manchen Bewohnern des Hauses die Nacht heute ein wenig länger erschien. Da das Antlitz des Spaziergängers aber in seiner hell erleuchteten Haustür verschwamm, trieb das Schiff die letzten Seemeilen, vermochte die Stadt bereits an ihrem grauen Kleid zu erkennen und fuhr nach dauernder Reise schließlich in den Hafen ein. Kapitel 3: I. Fremdsprachen --------------------------- „Soyez le bienvenu, je suis heureux de vous rencontrer. Comment allez-vous?“ James stand vor dem großen Fremden in dem besten Rock wie ein kleiner Soldat und wartete mit glitzernden Augen auf ein Lob des Admirals. Niemand hatte geahnt, dass die ersten Worte zwischen Vater und Sohn ausgerechnet in Französisch fallen würden. Lawrence Norrington verabscheute die Franzosen, er verabscheute die Spanier und die Holländer ebenso wie alle anderen, die nicht englischer Abstammung waren oder wenigstens in Großbritannien lebten. Er war nicht misanthropisch, als militärischer Befehlshaber einer ganzen Flotte jedoch mochte ein gewisser Nationalismus fast vorausgesetzt sein. Die Familie und das entbehrliche Hausgesinde hatten sich im Salon zusammengefunden, um den Hausherrn zu empfangen. Alle standen auf, als er nach beinahe zwei Stunden des Wartens im Rahmen der Doppeltür erschien. Die Bediensteten, einschließlich mir, verneigten sich auf ihren Plätzen, dann schritt Lady Elizabeth voran, ihn sehr formal zu empfangen, aber ich spürte das leidenschaftliche Glück, welches sie der Rückkehr ihres Gemahls gegenüber empfand. Anschließend löste sich James aus seiner Position, begab sich bar jeder Schüchternheit, doch mit gehörigem Respekt an jene Stelle, welche seine Mutter ihm frei machte, und entrichtete besagte französische Grüße. Und da standen sie nun. Stille folgte auf die unenglischen ersten Worte, die zumindest mir äußerst unbequem war, niemand rührte sich. James hielt den Blickkontakt, nach welchem er selbst zielstrebig gesucht hatte, aufrecht. Der Lord schien den Buben vor sich ausgiebig zu begutachten, wie er es wohl mit jenen Infanteristen zu tun pflegte, die er auf sein Schiff musterte, um in die nächste Schlacht zu ziehen. Dann erhob er eine Augenbraue. „Er ist ja recht mager. Isst er denn gut?“ Lady Elizabeths Blick wurde scharf. „Was man ihm auftischt.“ „Und bleich ist er. Mag die Sonne wohl nicht gerne sehen.“ „Abda führt ihn jeden Tag eine Stunde spazieren.“ Ein Diener brachte ihm die Tabakrollen, welche er bestellt haben musste, bevor er in das Salonzimmer gekommen war. „Und? Wie macht er sich im Fechten?“ „Lawrence.“ Elizabeths Stimme war eisig. „Permettez-moi de vous montrer ma chambre.“ „Ruhe!“ Der um Aufmerksamkeit Bemühte zuckte zusammen, als Lawrences Blick wie ein Blitz aus dem verfinsterten Himmel auf ihn niederschoss. „Du prahlst mit dem Wissen eines Fünfjährigen, Junge? Hat man dir keine Tugenden gelehrt? Statt mir etwas Sinnvolles zu präsentieren.“ Das war der Augenblick, in dem Lady Elizabeth die Dienerschaft zu gehen anschickte. Auch James, der plötzlich ganz lethargisch dastand, sandte sie fort, er kam dem unverzüglich nach. „Abda“, hielt sie mich zurück, da ich gerade zur Tür hinaus wollte, „du bleibst.“ Ich folgte wider meinen Willen. Natürlich lag es mir fern, Lady Elizabeth allein zu lassen, andererseits wusste ich um die Intensität der Diskussionen zwischen Mister und Misses Norrington und um meine eigene Ohnmacht bezüglich derselben. Mein Einfluss beschränkte sich auf die unsichtbare Stärkung des Muts der stolzen Frau, der das Herz des Admirals gehörte. Um mehr bat sie mich auch nicht. „Ein wenig sonderbar, der Junge. Er unterhält doch nicht etwa Kontakt mit diesem Gartenarbeiter?“ Der Lord zog kräftig an seiner Zigarre. „James sieht dich heute zum ersten Mal. Wie konntest du ihm gegenüber derart abweisend sein? Du weißt nicht, wie freudig er den Zeitpunkt dieses Treffens erwartet hat.“ „So?“ Er blies den Rauch hinaus, dass der sein markantes Gesicht bedrohlich umgab, als sei es soeben aus den Schwaden gestiegen und nicht umgekehrt. „Mir scheint, er ist zu überhaupt keiner Gefühlsregung fähig.“ „Von wem mag er das wohl haben…?“, murmelte sie mit einem unüberhörbaren Vorwurf. „Ich habe dir seine gesamte Erziehung überlassen, Elizabeth. Damit sollte klar sein, wer für sein Verhalten verantwortlich ist.“ „Gerade durch dein Fehlen hast du ihn entscheidend geprägt, Lawrence. Was, erwartest du, kann aus einem Jungen werden, der seinen Vater entbehren muss?“ „Was wird aus einem Jungen, frage ich dich, der seinen Vater nur daheim herumlungern sieht?“ Er zerdrückte den Stummel der Zigarre in seiner bloßen Hand. Die knochige Faust, aus dem breiten Aufschlag des Admiralrocks herauslugend, war mit sich dick und hell hervorhebenden Narben alter Schlachten versehen, die seine Haut scheinbar gegen die Glut immunisierten. Lady Elizabeth funkelte ihn an, ihre Arme in eine leichte Verschränkung geschlossen. Sicherlich hatte sie sich und vor allem ihrem Sohn ein friedliches Wiedersehen gewünscht, doch gerechnet nie mit einem anderen denn genau diesem. Sie kannte ihn – und auch sich selbst – zu gut. Die geborene Defoe, Tochter eines recht einflusslosen Gutsherrn, hatte in die damals kaum mächtigere Familie Norrington eingeheiratet und es war aus Liebe geschehen. Der Triumphzug des Seewolfes Lawrence Norrington, Admiral des karibischen Meeres, erst hatte den Namen mit dem heutigen imposanten Klang versehen, welcher die Winde noch über die Ozeane hinaus kalte Schauer über die Rücken all seiner Feinde laufen ließ – und davon gab es reichliche. Man fürchtete seinen blauen Marinerock mit den großen, goldenen Aufschlägen, sein von Wunden, Salzwasser und großer Erfahrung gezeichnetes Gesicht, das eine markante Nase und zwei außergewöhnlich helle Iriden unverwechselbar machten; man fürchtete die Flagge seiner HMS Victory, die ihrem Namen alle Ehre bereitete, und er selbst fürchtete nur den Zorn seiner Frau. Da Lord Norrington aber nun einmal ein Mann des Kampfes war, scheute er nicht, seine Furcht immer wieder zu provozieren. Wiewohl ihm bewusst war, dass er diese eine niemals würde überwinden können, aus dem einen Grund, dass er es gar nicht wollte. Er liebte Elizabeth Grace Defoe, wie sie war, gerade weil sie so war, und sie liebte Lawrence Richard Norrington wie am Tage, da ihre Liebe zueinander mit dem größten Geschenk belohnt wurde, allein verschlossen sie nicht nur den physischen Akt ihrer tiefen Zuneigung hinter den Türen ihrer gemeinsamen Gemächer. Doch wer sie so diskutieren hörte, der durfte zu Recht an irgendeiner Art von Innigkeit zweifeln. Das komplizierte Kunstwerk Liebe bedurfte des Gefühls für Harmonie, für Verständnis, und es konnte ja so leicht und schnell geschehen, mit einem einzigen Abrutschen die Arbeit der ganzen schweren Mühe zu zerstören. Aus diesem Grund feilten Lady Elizabeth und Lord Norrington viele Jahre an der Skizze, ehe sie über die Reife zu verfügen meinten, sie mit Koloration und Tiefe zu gestalten und das Werk letztlich öffentlich zur Schau zu stellen. Es fiel einfacher, eine Vorzeichnung zu verändern oder aufzugeben statt eine Pinselarbeit fortzuwerfen, die bereits Farbe und Kraft gekostet hatte. Die beiden waren sich dessen durchaus gewahr. Obwohl es dieses Mal um mehr ging als um die Personalbelegung oder Lawrences ewige Abwesenheiten: Zum ersten Mal handelte ein Streit von dem gemeinsamen Kind. Nie zuvor war Lady Elizabeth dermaßen zwiegespalten gegenüber der Rückkehr ihres Gatten gewesen, denn sie wusste, dass er sie nicht mehr allein verlassen würde: Im Laufe des sich entzündenden Streits bestätigte sich die Vermutung, die mich nicht mehr überraschte seit dem Lesen des Briefes an den Earl von Dalton. „Du und deine elende Schifffahrerei!“ Lady Elizabeths Angewohnheit, ihre Sätze in verführerischem Hauch zu kleiden, rächte sich nun, da sie schrie. „Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, Lawrence, noch nicht! Du wirst gehen, wie du gekommen bist und wie du es am liebsten hast: Allein! Hast du verstanden!“ Meiner Ansicht nach verstand niemand irgendetwas. Solange das Streitthema James hieß, zeigte sich Elizabeth nicht länger einsichtig, sie ging nicht einmal auf die Argumente des Lords ein, welche nur sporadisch waren, da er seine Position prinzipiell durch die gekonnte Darstellung eines unbeweglichen, steinkalten Monuments zu untermauern bevorzugte. Fand ein Wortwechsel statt, dann schossen sie aneinander vorbei, als sprächen sie zwei verschiedene Sprachen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Wie zu erwarten war, räumte schließlich Elizabeth das Feld, denn gegen die sturstarre Wortarmut ihres Mannes, der schon in seinen frühen Offiziersjahren brachiale Anfuhren über sich ergehen zu lassen lernte, war gerade sie zwar nicht machtlos; es war nur der falsche Weg – und das war ihr klar – ihn mit ihrer Überzeugung besiegen zu wollen. Sie stapfte also davon und nur ich und mein Herr blieben in der drückenden Wärme des Salons. Irgendwann kehrte auch sein Geist, der bisher versucht hatte, seiner Gattin zu folgen, in jenes Zimmer zurück, und dann sah er mich an. „Ist es denn verkehrt, den Jungen auf seine Zukunft vorzubereiten, ehe es zu spät ist und er wohlhabend, sorgenfrei und dumm wie faul in den Wänden dieses Hauses krepiert?“ Er wartete offensichtlich auf eine Antwort von mir, was mich unsicher machte, denn ich wollte mir nicht anmaßen, meine Gedanken in die Angelegenheiten meiner Vorgesetzten einzumischen. Allein mit Lady Elizabeth redete ich frei, weil sie es eines Tages von mir verlangt hatte und aus dem Befehl eine Freundschaft geworden war. Mit Seiner Lordschaft? Nicht doch. Ich war nicht Elizabeth. „Mein Vater war in der Navy“, setzte er nach dieser Pause im Ton eines Monologs erneut an, und wenn er bewegt war von meiner Sprachlosigkeit, so ließ er sich das nicht anmerken. „Sie wissen, Abda, es ist kein Geheimnis, dass ich und mein Vater seinerzeit… nicht immer derselben Ansicht waren. Als Gott ihn an Seine Seite rief, hinterließ er mir Gut, Geld und all den wertlosen Ramsch seiner eigenen Vorfahren. Aber das Wichtigste, das Teuerste, meine Gute“ – er beugte sich vor und stach mit seiner lädierten Hand, die schon wieder eine Zigarre umgriff, einige Male in die großzügige Luft zwischen uns – „das vererbte er mir bereits zu seinen Lebzeiten. Wenn ich ihm etwas zu verdanken habe, dann ist es der Acker, den er umgrub, bepflanzte und wässerte, völlig frei der Illusion vom Eigennutzen und in dem Wissen, dass es Jahre brauchen würde, bis die Keime reiften und dass ich und niemand sonst die Früchte seiner Arbeit ernten würde. Ich dürfte nicht älter gewesen sein als der Junge heute, als ich das verstand. Ich verstand, für was ich vorgesehen war, ich sammelte die Ernte ein. Man muss es rechtzeitig tun, man darf nicht warten. Sonst geht sie ein und die ganze Arbeit war umsonst. Und sehen Sie mich an: Habe ich Anlass, die Entscheidung, die mein Vater – nicht ich – für mich, für mein Leben traf, in Frage zu stellen? Ich bin Lawrence Norrington, Befehlshaber der karibischen Flotte Seiner Majestät und festes Glied der Admiralität, Diener des Vaterlandes, Ehegatte und Vater, ich liebe meine berufliche Pflicht und meine familiären, ich bereue nichts. Ich verkaufte die Ernte meines Vaters gewinnbringend und nun ist es an der Zeit, dass ich mit diesem Umsatz einen neuen Acker anlege. Und kein Grund unserer Welt ist so fruchtbar, so sicher wie die Royal Navy.“ „Doch was ist, wenn er es nicht kann?“ Ich konnte den vorsichtigen Einwurf nicht zurückhalten. Er prüfte mich aus den Schatten seiner Augenbrauen. „Ja, stecke ihn in ein Kleid und lass ihm die Haare lang, dann könnte er glatt ein Mädchen sein, nicht wahr?“ Er hatte mich falsch verstanden. Ich war versucht, ihn aufzuklären, da fiel er mir schon in den Atem: „Doch selbst ein Mädchen, Abda, kann einen Garten ziehen, wenn man es darin zu unterrichten weiß. Er mag wie ein Schürzenkind wirken, und vielleicht war es mein Fehler, ihn ganz seiner Mutter zu überlassen, aber er ist vor allen Dingen ein Norrington; es steckt ihm also im Blut, es weit zu bringen. Mein Vater war in der Navy, ich bin es und er wird es sein. Merken Sie sich das, dann wird er Sie nicht erschrecken und Sie werden ihn nicht durch Ihren plötzlichen Schreck kränken.“ Damit war die zweite Zigarre ausgeraucht. Ich war nicht seiner Ansicht, nicht in allen Belangen, aber objektiv hatte er vermutlich Recht. Nichts und niemand konnte widerlegen, dass Lord Norrington ein weiser Mann war, der nicht vom Aufstieg träumte; der die leichtlebige Realität an den Schultern fasste und jede Illusion aus ihr herausschüttelte. Leider verkannte er in all seinem realitätsnahen Denken, dass die Brise seiner berechnenden Einstellung unstet war, mal ein müßiger, nichtsnutziger Windzug, mal ein unerbittlich starker Sturm, und dass es aber einen Rumpf brauchte, Masten und Segel, um von ihm angetrieben, vor ihm beschützt zu werden, ihn auch einmal schlicht genießen zu können – ein Schiff aus den eigenen Zielen und Auffassungen, Vorlieben und Abneigungen. „So. Und jetzt will ich meinen Sohn sehen“, verkündete der Admiral feierlich und marschierte auf die Tür zu. James saß in dem Wohnzimmer und las, wie Burgund sein Bündnis mit England löste und der französische König Charles VII. Bordeaux zurückeroberte. Lady Elizabeth streichelte ihm durch das Haar und weinte leise über seine fehlende Reaktion. Er setzte zwei Schritte vorwärts, um aus ihrer Reichweite zu fallen, wo sein Vater ihn stattdessen ergriff und über die Planke auf den Rücken des furchterregenden Monsters schob. Dieses breitete seine weißen Flügel mit dem kräftigen Wind und stieß sich aus dem Hafen und hinaus in das Blau der endlosen Weite, in welche sie ihm nicht mehr folgen konnte. Bis der beginnende Abend das Schiff auf dem Rand des Horizonts verschluckte, windete sich Elizabeth zwischen all diesen winkenden, rufenden, verwunderten feinen Zurückbleibenden in einem ungehaltenen Weinkrampf und an meiner verständnisvollen Schulter. Bon voyage, petit James. Danach weinten wir beide. Kapitel 4: I. Mutterstolz ------------------------- Wiewohl James niemals auffälliger gewesen war als ein Fisch im Teich, setzte das Anwesen bald nach seiner ersten Abreise den Staub der Tristesse an. Das Heer von Lehrern marschierte nicht mehr ein und aus, Benedict erfüllte die schallfreundlichen Räume nicht mehr mit seinem heiteren Gelächter, die Dienstmädchen quiekten nicht mehr ob des Jungen Stolperns über die teuren Teppiche oder die eigenen Füße in den modischsten Schuhen und ich erschien mir plötzlich vollkommen platzfehl, nachdem ich mich nun wieder – in der Abwesenheit meiner fünfjährigen Lebensverpflichtung und der Isolation meiner für gewohnt jede Abwechslung durch mich begrüßenden Herrin – eingängigen Tätigkeiten zu verschreiben hatte, die mir entgegen meiner ersten Dienstjahre vor meinem Aufstieg zur lady’s maid und Amme unwahrscheinlich leicht und langweilig fielen. Erstmals stand das Schachbrett wieder still, aus der Küche schlich wieder der einnehmende Duft von bratendem Fisch, die Kinderzimmer konnten, ihrer unangetasteten Versuche entrümpelt, dem Besitzer eine Regung zu entlocken, wieder aufatmen, und das Klavier übte sich wieder in ergreifenden Euphonien, wenn Lady Elizabeth geistesabwesend auf den Tasten nach der letzten Wärme ihres Sohnes suchte. Es waren klagende Klänge, die Löwin lamentierte und nichts konnte sie ermuntern. Der Verlust ihres Jungen hatte sie zweifellos hart, sehr hart getroffen. Redete man mit ihr, war es ihr zwar nicht anzumerken, und doch spürte man es deutlich an der jähen Anspruchslosigkeit jener Frau, die sich doch mit gesunder Vorliebe bedienen ließ. Zum Nachmittagstee, den James seit je gemieden hatte wie schon sein Vater, ließ sie sich plötzlich Unmengen an Englischer Creme zubereiten, die wiederum sie eigentlich nicht ausstehen konnte. Wie sie wortlos und bar jeder Reaktion neben mir saß und die Custardmassen schlemmte, kümmerte ich mich lediglich um ihre schlanke Figur, sodass ich mir nicht eingestehen musste, was mir im Unterbewusstsein klar war: Dass es ihr Geist war, der litt. Ich öffnete das Buch. „Also gut – eine noch.“ Und fuhr durch die einzelnen Strähnen, verweilte auf dem spröden, aber nicht ungepflegten Haar, wie um dem wirren Kopf darunter meinen Schutz zu versprechen. Nun, zugegeben, nicht alle meine mütterlich anmutenden Dienste waren mit James‘ Fortgang erlahmt, weil auch – vielleicht – ich auf sie so wenig verzichten konnte wie auf die tägliche Nahrungszufuhr. Womöglich liebte ich nichts mehr als das Behüten und Ziehen eines Kindes; jenes Gefühl, das mein Herz in sanftem Fieber anschwellen ließ, bis das Wohlgefühl, welches es friedlich seufzend ausatmete, die gesamte Brust warm erfüllte gleich eines irgendwie wollenden Nebels, eines dunstgeblähten Kissens. Das Geld, die Unterkunft, das Wissen, etwas Sinnvolles zu tun – all dies sind Bedürfnisse des Körpers. Dabei zu sein aber, wenn das Leben sein wohl größtes Wunder vollbringt, Zeuge zu sein, wie aus einem Menschen zwei werden, einfach da zu sein, wenn ein hilfloses, unschuldiges Wesen nach Nähe und Wärme sucht, das ist Erquickung, Entschädigung, das ist ein Rausch für die Seele. Als James geboren war, gab er mir in seiner unbeschadeten Naivität die Antwort auf jene Frage, nach der ich bis zu diesem Zeitpunkt vergebens und von Sehnsucht gepeinigt gegraben hatte im stinkenden, unfruchtbaren Boden meines Daseins, er stand plötzlich neben mir, in seiner ganzen lichten Erscheinung, zog mich aus dem Dreck und lächelte mich an, und mit einem Mal befreiten sie mich aus dem Sklavenstand. Indem James Lawrence nichts anderes tat als zu weinen, zu trinken, zu atmen, die Unterlippe vorzuschieben, zu erkennen, zu lernen, zu wachsen – zu leben. Auch der Abschied war ein Teil davon, von dem Leben, doch oder deshalb brannte es jetzt in mir, jenes Feuer, das leidenschaftlich war und aktiv, anders als der saure Humus in meiner Vergangenheit, das aber verzweifelt schluchzend nach dem, was es begehrte, seine flammenden Arme in die Ferne streckte, ohne es erreichen zu können, solange uns Meere trennten. Insofern verstand ich meine Herrin nicht nur. Ich fühlte wie sie, weil ich mir inzwischen anmaßte zu glauben, James als wenigstens eine Art von Sohn bezeichnen zu können, als eine Art von meinem Sohn, als einen Teil von mir vielleicht, der diese Lücke füllte, welche ich eigentlich der Liebe meiner Mutter zu mir reserviert hatte. Sie hatte sie mir nicht geben können – nicht, weil sie mich abgestoßen oder keine Liebe gekannt hätte, sondern weil die benötigte Intimität und Zeit nie zwischen uns reifen konnte, die zarte Blume, die kein Wasser fand und die ich verloren glaubte, als aus dem von spitzen, scharfen, groben Felsformationen bestimmten Weg plötzlich ein dünner, ebener Pfad spross. "Nimm die Blume und pflanze sie dort, wo der Pfad endet" sagte meine Mutter und drückte den schwarzen Stängel in meine Hand. Ich war noch so jung, dass ich jede Äußerung eines Erwachsenen für unantastbar und richtig hielt, also nahm ich die verwelkte Blume und folgte dem schmalen Pfad und ließ meine Mutter mit einem Gefühl, das ich damals so wenig benennen zu vermochte wie noch heute den Grund ihres Entschlusses zu unserer Trennung, den steinigen Arm des Weges klettern. Nun war ich allein, hungrig und kalt, geprägt von der Mühsal der vergangenen Strecke, aber bald darauf sollte ich in einem Wald landen, in allen Tönen des saftigen Grüns leuchtend und mich wassersprudelnd und vogelsingend Willkommen heißend. Lange verweilte ich an jenem faszinierenden Ort, vergaß meine Schmerzen, die Anstrengungen meiner Mutter – ja, ich vergaß endlich sogar sie. Ich verließ den Pfad, der durch den Wald hinführte, setzte mich nahe des Wegesrandes an einen starken Stamm und schloss die Augen, stellte mir vor, wie es wäre, für immer hier zu bleiben, wo die Natur mir alles in den Schoß legte, was ich brauchen würde, wo ich endlos Kind sein durfte, ohne mich um die Welt sorgen zu müssen, indem ich lediglich ein Teil dieses Umfelds zu werden hatte – schön und zierlich wie die Blumen sein, zugleich prächtig und saftig wie die Beeren, scheu und neugierig mich geben wie die Tiere, doch stets erhaben und unerschütterlich wie die Bäume bleiben, den Menschen erwartend, dem Menschen zur Schau gestellt, dem Menschen dienend… Da sah ich den dürren, schwarzen Stängel wie den Apfel des Verbotenen Baumes und erkannte just die Wahrheit, vor der ich die Augen verschlossen hatte an jenem Tage, da ich mich unschuldig am Wegesrand zur Ruhe gebettet hatte. Das bin doch nicht ich. Erschrocken riss ich mich von dem Rasen, unter dem meine Wurzeln bereits ausgeschlagen hatten, riss mir das glänzende Blütenkleid vom Leib, die sündig roten Beeren von meinem Hals, nahm nur das, mit dem ich gekommen war, und eilte auf dem Pfad aus dem Wald hinaus. Als die Erschöpfung meinen hektischen Lauf stoppte, sah ich mich auf einem öden Feld stehen, und letztlich mag es sein, dass ich dort gar nicht nach einer Antwort gesucht hatte, als James mich fand, sondern ein Loch grub für die sterbende Pflanze, die Liebe meiner Mutter zu mir. Ich klappte die Seiten zu. Benedict klatschte heftig, als ich sein Lieblingsbuch auf das Schränkchen legte, er klatschte solange, bis ich ihm einen Gutenachtkuss gegeben hatte, wie jeden Abend. Fünf Jahre lang hatte ich das nicht mehr getan, weil Lady Elizabeth restriktiv darauf bestanden hatte, mich permanent an der Seite ihres Sohnes oder wenigstens an Arbeiten und Vorbereitungen für den folgenden Tag desselben zu sehen, und obwohl das Zubettbringen von James kaum schwerer und länger verlief als das Schließen eines Fensters, war es mir doch niemals wieder gegeben, Benedict diese Freude zu erweisen, welche ihm zuvor selbstverständlich geworden war. In den ersten Tagen hatte er – ich kann es ihm nicht nachtragen – getobt, hatte seine Arbeit verweigert wie auch sein Wort zu mir, gleich wie oft ich es ihm auch zu erklären versuchte, und eventuell würde es sich als Fehler ergeben, jetzt wieder damit anzufangen, wiewohl mir bewusst war, dass James irgendwann in dieses Haus und in meine Obhut zurückkehren würde. Ich verdrängte die Voraussicht auf Benedicts logische Reaktion darauf ebenso wie die in mir wachsende Ahnung, dass mir die Pflege meines Ammings nicht nur relativ sehr viel einfacher fiel, freilich eindeutig lieber war als die des befreundeten Gärtners, und ich fühlte mich furchtbar deswegen. Dies Empfinden vor ihm zu verbergen war vergeudete Anstrengung, denn wenn es etwas gab, das Benedict noch besser gelang als die überwältigende Arbeit im Garten und auf dem Hof des Landguts, dann war es das Hellsehen eines Menschen Emotionen. Nur um die Anlässe einschätzen zu können, war er zu naiv, was mich rettete, auch wenn seine unaufhörliche Fragerei nichtsdestotrotz lästig war. „Ich habe nur an früher denken müssen“, wich ich ihm müde aus, da er gerade wieder auf meinen Zustand hingewiesen hatte. Im Grunde entsprach es der Wahrheit. Benedict hakte natürlich nach und ich erzählte ihm resigniert und schmucklos und zum dutzenden Male von dem morschen Sklavenschiff, der dampfenden Enge, dem Gestank von Krankheit. Meinen eigenen Worten, wenig euphemistisch und nicht darum bemüht, es zu sein, entwuchsen Klauen. Gleich ungehindert an Wänden entlang schleichenden Schatten dehnten sich ihre Krallen aus und drohten, mich von überall her zu umfesseln, so klar noch war mir die ferne Vergangenheit, also brach ich ab und setzte an lichteren, kühlen Tagen fort: Wie wir auf unsere Tauglichkeit geprüft und gleich einem edlen Geschirr unter den Adelsfamilien herumgereicht wurden. Wie sie befanden, mich von meiner Mutter trennen zu müssen, und wie ich… Wieder wurde es schwarz. Doch die Blume im Wald, scheu wie ein Tier, unerschütterlich wie ein Baum, sollte sprießen. Mit tiefem Groll sah ich zurück, aber ich versuchte mir zu verdeutlichen, dass es nicht umsonst gewesen war. Es war nicht umsonst gewesen. Die Sonne war wieder aufgegangen und ich blickte einem faszinierenden Tag entgegen. „Schlaf jetzt“, gebot ich meinem alten Schützling und klopfte auf die wollende Decke über ihm. Ich wollte mich entfernen, stand gerade an der Tür zum Garten, da flüsterte er meinen Namen. Bereitwillig drehte ich mich noch einmal um, seinem Anliegen zu lauschen, sah seine Augen in der mondlosen Finsternis glitzern und wurde auf einmal von der Ahnung übermannt, dass heute Nacht eine Beichte erklingen sollte, deren Echo noch in der Zukunft hallen und nach Antwort schreien würde, was ganz und gar ungewöhnlich für ein Gespräch mit Benedict war, und tatsächlich sollte mir das, was er auf dem Herzen hatte, das ganz anderer Art war als eine Geschichte oder ein Gutenachtkuss, für einen Lidschlag sämtliche Sinne rauben. Es hätte mich nicht derart heftig getroffen, würde er mir schlichtweg seine Liebe gestanden haben. Das nämlich überraschte mich nicht. Aber eine Frage, Bitte, Forderung wie diese ließ mich gar schwindeln. „Bleib!“, stieß ich aus, da er sich eilig aus der Decke schälte, und fand selbst zurück zu sicherem Stand, indem ich mich an die alte, raue Wand lehnte, welche mich blitzartig an den Ort meiner Überführung in die sogenannte Zivilisation erinnerte. Ich löste mich hellwach und inspizierte den Splitter in meiner Hand. „Wie kannst du mir so eine Frage stellen, Benedict?“ Mein Tonfall war nicht ohne Wut. „Ich habe es dir doch schon erklärt, nicht wahr?“ Er schien sich keiner Schuld bewusst. „Aber… du wünschst es dir doch! Ich weiß es… Du liebst ihn ja so!“ „Benedict…“ Es gelang mir kaum, meinen Ärger zu mäßigen. Möglicherweise hatte ich mich in diesem Moment ernsthaft und zum ersten Mal gefragt, ob Benedict tatsächlich dermaßen naiv war wie er vorgab, es zu sein. „Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Natürlich liebe ich den Jungen, ist es verkehrt? Er ist wie ein Sohn für mich, Benedict, verstehst du?“ Offenbar missverstand er es: Seine glitzernden Augen verschwammen und ein ersticktes Grunzen war aus seiner Richtung zu vernehmen. „Also nicht?“ Ich war erschrocken, welche Wendung die junge Nacht genommen hatte. Eben noch hatte ich ihn friedlich geküsst, während wir beide ein Lächeln trugen, nun stand er den Tränen nahe – und ich ebenfalls, wie ich verwirrt feststellen musste. „Liest du mir noch eine Geschichte vor?“ Es klang, als würde er befürchten, mich für immer zu verlieren, wenn ich jetzt hinausginge, und wäre ich ein wenig anders gewesen, dann hätte er mich vielleicht wirklich verloren. Mit einer Frage nach dem zwanzigsten März vor fünf Jahren hatte er angefangen. Ja, gab ich unverschämt zu, das Wunder der Geburt war ein unvergleichliches Ereignis. Ja, antwortete ich auf seine nächste Frage, es ist unbeschreiblich, ein Kind im Arm zu halten. Ja, ich liebe Kinder. Ja, ich will glücklich sein, ja, Familie zu haben ist schön, aber nein, Benedict, nicht mit dir. Ich weiß nicht, ob du das kannst, ob ich das kann, ob ich dich überhaupt liebe. Gewiss, du liebst mich, du liebst mich wie ein Sohn seine Mutter, und ich bin stolz darauf, aber das ist alles. Ich… möchte ein Kind mit dir. Yewande. Bitte. „Liest du mir noch was vor?“ Nein, Benedict. Aus Mitleid kann keine Liebe entstehen, wie du es auch drehst und wendest. Ich stürzte aus der Tür und vermied auf meinem Gang zum Haus, auch nur einen einzigen Blick auf den schönen Garten zu werfen. Kapitel 5: I. Erbschaftsbürde ----------------------------- Für die nächste Zeit wechselten Benedict und ich kein Wort miteinander. Dafür sorgte ich eifrig. Benedict selbst schien es bereits vergessen zu haben oder er machte sich wegen des peinlichen Ereignisses schlichtweg nicht das Leben schwer, vielleicht hatte er meine Reaktion auch als eine klare Absage gedeutet und Verständnis dafür, was mir zwar am liebsten gewesen wäre, sehr wahrscheinlich jedoch nicht der Grund für sein typisch leichtgeistiges Gehaben war, mit dem er die Hecken beschnitt und die übrigen Gärtner zurechtwies, wenn er glaubte, nicht zufrieden mit ihrer Arbeit sein zu dürfen. Das voranschreitende Jahr erlaubte ihm, sich zwischen die reifenden Weinstöcke zurückzuziehen, und bald darauf saß ich mit meiner einsamen Herrin zusammen und war bemüht, sie mit dem weder italienisch noch französisch, aber mit all der Hingabe gut bezahlter Domestiken hergestellten Wein zu erheitern. Sie war blass geworden, ich auch, das ganze Anwesen schien in den vergangenen Monaten ein wenig ergraut zu sein, alle aus verschiedenen Gründen, und doch versuchten wir, das Beste daraus zu machen. Irgendwann hatte sie begonnen, mir mit besorgniserregender Regelmäßigkeit die Tage mitzuteilen, und obwohl sie diese lieber hinuntergezählt hätte, blieb ihr doch nichts, als sich die Verstreichenden zu merken, denn der Lord hatte – wie üblich – kein Datum der Rückkehr genannt. Der Brief würde von unpersönlicher Stelle kommen und erst, wenn er bereits sein Vaterland betreten hatte. „Fünfundneunzig Tage“, ließ Lady Elizabeth mich wissen und starrte an mir vorbei. Mechanisch zog ihre Hand mit dem Weinglas zum Mund, ließ ihn trinken und senkte sich. Sie sah weiter geradeaus. „Ob er tot ist?“ Ich zuckte zusammen. „Mylady!“ „Der Vogel. Er singt ja nicht mehr.“ Mir fiel eine Art Stein vom Herzen, als ich ausatmend antwortete: „Sie werden längst weitergezogen sein.“ Da war es nun an ihr, überrascht aufzusehen. Ihr Blick wirkte vernebelt. „Lawrence und James?“ „Die Vögel“, erläuterte ich mich mit irritierter Skepsis. Und als würde alles vollkommen ohne Belang sein, das nicht Lawrence oder James Norrington hieß oder mit ihrer Reise verbunden war, driftete ihre Aufmerksamkeit wieder in die Innenwelt ab. Es hatte den Eindruck, als würde sie fieberträumen. Die süße Creme, derer sie noch immer nicht überdrüssig geworden war, hatte keinerlei Ausdehnung bewirkt, doch ihre Züge waren hart geworden wie die einer abgeklärten Großfamilienmutter aus dem Armenstand. „Lawrence erzählte“, begann sie nach Minuten des stillen Gegenübersitzens, in welchen ich tatsächlich nach unserer Amsel horchte, „sie fahren in den Westen, in die karibischen Gewässer. In diese piratenverseuchte Karibik. Er ist entschlossen, diesen berüchtigten Piraten zu fassen, mit welchem er eine alte Rechnung zu begleichen hat, man hat ihn dort gesichtet. Wie der Ehrgeiz aus ihm gebrochen ist, da ihm die Botschaft überbracht wurde! Er ist nicht mehr vernünftig. Sollen sie sich doch mit ihren Katapulten und Kanonen gegenseitig in die Hölle schießen, aber“ – sie griff nach meinen Händen – „nicht mein Kind!“ Ich vernahm aus ihrer Stimme eine Mischung der bekannten Standfestigkeit und einer unbekannten Angst. Letztere fühlte ich selbst, dachte ich an James, jedoch hatte ich seit jeher die Rolle der abgeklärten, armen Mutter inne, nach der Lady Elizabeth heute lediglich aussah, sodass einerseits mein Wissen über die Notwendigkeit des Reifeprozesses, andererseits die Vergeblichkeit, Lawrence Norrington von einer Zukunft seines Sohnes als irgendetwas Friedlicheres überzeugen zu vermögen, vermutlich auch die inzwischen verstrichene Zeit meine zu Beginn nahezu zerfressende Angst erstickt hatten. Stumpfte ich gegen sie ab? Oder war es der mächtige Lord, unter dessen Schirm ich James für unantastbar hielt? „Er kehrt heim“, antwortete ich nur und ohne Empathie und fühlte mich seltsam ermüdet, rasch setzte ich dann hinzu: „Und die neugewonnenen Erfahrungen, die Verantwortung werden ihn gereift haben.“ „Eher werden sie in ihm wuchern“, zerbrach sie, plötzlich wieder lebhaft, meine romanhafte Prognose wie eine empfindliche Wasserhaut und korrigierte ihre vormals zusammengesunkene Haltung. „Sie versteinern seine Miene, seine Muskeln und schließlich sein Gehirn. Er wird ein militärischer Grobian werden, der zwar seinen Degen streicheln, aber keiner Dame aus der Kutsche helfen kann, und er wird Narben haben, so dick, dass er es nicht bemerkt, wenn man ihn berührt. Überall wird er Feinde wittern, vor der Tür, unter dem Bett, hinter der Puderdose, und sobald irgendwo ein Feuerwerk entzündet wird, schreit er "In Deckung!", hechtet hinter den nächsten Busch und langt nach nicht vorhandenen Pistolen. Nur über Schiffe noch wirst du ein Wort mit ihm wechseln können und wehe dir, bist du nicht wie er der völligen Überzeugung, dass die Admiralität aus feigen Landratten bestehe und gefälligst ein Geschwader unter seiner persönlichen Führung die Küsten von Spanien, Frankreich, Holland und überhaupt alle kaputt zu schießenden Küsten zu bombardieren habe…“ Ich lächelte zärtlich. „Aber erst einmal wird er sechs Jahre alt, dann sieben und sich doch immer noch mit kleinen Holzschiffen begnügen müssen. Mylady, sollen wir uns denn wirklich in seinen Weg stellen statt ihn darauf zu begleiten? James ist der Erbe vieler Generationen von Seefahrern und wir beide kennen seinen Vater, er ist so stolz auf ihn, selbst wenn er es nicht auszudrücken vermag. Vielleicht ist es James‘ Schicksal?“ „Schicksal? Ich glaube nicht an von indiskutablen Übermächten vorbestimmte Zukünfte. Aus bedeutungslosen Gründen zu verfolgende Tradition und schlichte Faulheit, andere Wege in Betracht zu ziehen, das ist es, was Lawrence antreibt, einen kriegerischen Halunken aus meinem Sohn zu ziehen! Würde er wirklich stolz auf ihn sein wollen, so ließe er James selbst sich für einen Beruf entscheiden und erfreute sich dann an dessen ehrlicher Hingabe.“ „Und wenn es doch genau das ist, was James möchte?“ Ihre Augen zeigten tiefe Trauer, als sie bedeutungsschwer die Worte sprach: „Ich denke, wir werden niemals erfahren, was James wirklich wollte.“ Innerlich konnte ich ihr unverhohlen beipflichten. Norringtons Erbe hatte in der Tat die Bürde der großen Taten seiner Ahnen auf den schmalen Schultern zu tragen. Lawrences stolzes Schiff teilte das Meer aller Widerworte und Vorwürfe und steuerte den Hafen seiner prachtvollen Karriere an, in welchem James im dichten Gedränge der väterlichen Orden und Urkunden verloren gehen würde. Eigentlich konnten wir Frauen ihn lediglich auf diese seine Bestimmung vorbereiten, indem wir ihm die unbezweifelte Schönheit des Meeres vorführten und jene Aspekte beleuchteten, die einst und noch in Romanen zahllose junge Männer bewegten, ihr Leben der – sagen wir – nicht tadellos berufenen Königlichen Marine zu verschreiben. Um ehrlich zu sein, war mir selbst die Vorstellung unseres schmächtigen, bleichen, französisch sprechenden James zwischen all den Trinkern und Rüpeln und Pedanten und Heuchlern problematisch. Ich konnte ihn mir nicht in eine Takelage aufentern vorstellen oder als Schiffsfähnrich die Matrosen befehlen, andererseits glaubte ich nicht, dass der erfahrene Seelord Energie und Zeit in die Ausbildung des Sohnes investieren würde, wenn er dessen Befähigung anzweifelte, wie wir es taten. „Er soll sich nicht verändern, Abda“, sprach Lady Elizabeth wie eine Antwort auf meinen nächsten Gedanken und war schon wieder halb in ihrer Depression versunken. „Er soll so bleiben, wie er ist, so liebe ich ihn. …Ich habe Angst, Abda.“ Eben die überkam mich ebenfalls jäh. Damals konnte ich mir nicht erklären, weshalb auf ihre Worte das Gefühl der Sorge in meinem Busen schwellte, doch heute, da ich den unfassbaren Skandal in seinem fast vollständigen Auswuchs entsinne, begreife ich, dass Elizabeth schon an jenem Tage, acht vor der Ankunft des heiß ersehnten Briefes, ahnte, was mit ihr geschehen sollte, sobald sich ihre Befürchtung bewahrheitete und James sich nun einmal doch veränderte; dass sie bereits der kühle Hauch einer Ahnung beschlichen hatte, was sie im Begriff war, sich und ihrem Sohn, aber auch ihrem Gatten anzurichten. „Es ist uns nicht gegeben, die Zeit festzuhalten“, entgegnete ich damals in meinem Unwissen und empfahl mich, da sich die einsame Hausherrin zur Ruhe begeben wollte. Erst am einhundertdritten Tage wachte sie wirklich auf – und wie! Ihr Antlitz versorgte das Landgut mit dem, was die Sonne ihm zu jener Jahreszeit längst vorenthielt, sie glitt in ihren schönsten Kleidern durch Haus und Garten und scherzte mit den Arbeitern und Dienern, sie griff selbst mit an, wo sie konnte und wo ich sie ließ, und sämtliche Hinweise auf eine etwaige Niedergeschlagenheit verschwanden unter den Hügeln bunter Blätter, welche die Gärtner jeden zweiten Morgen zusammenkehrten. In diesem Jahr fielen sie wieder unnormal rasch, als drängte sie die Kälte, die Äste ihrem Schnee freizugeben, der glücklicherweise noch ein wenig auf sich warten ließ. Kühl wie der Spätsommer blieb auch meine Beziehung zu Benedict, obwohl ich nicht wusste, ob dafür überhaupt noch Anlass bestand. Die endliche Rückkehr des Lords lenkte mich von entsprechenden Überlegungen ab. Doch so sehr wir ihn erwartet hatten, so bescheiden war der Augenblick des Wiedersehens. Wie zwei Fraktionen standen wir uns gegenüber – Lady Elizabeth und ich auf der einen, Lord Norrington und James – James! – auf der anderen Seite. Um uns herum im lockeren Kreise die zu entbehrende Dienerschaft. Der ganze Salon hielt den Atem an, als müsse etwas geschehen, dessen Ausmaß von solch niederschmetternder Schwulst war, dass es Geschichte schreiben würde, doch tatsächlich löste sich der Empfang in einer undekorierten Begrüßung seitens der heute leuchtend weiß gekleideten Gemahlin und dem Wegtritt des gefrackten Personals. Erneut blieb lediglich ich bei den Adligen zurück. Selbstverständlich gab es nicht wenige Angestellte, die meiner gesonderten Position neideten und mein Ansehen innerhalb des Gesindes mit bösen Gerüchten schwärzten. Meinen vertrauenswürdigen Kreis hatte ich mir längst gesucht und ich hatte James, seit dessen Geburt ich mich nicht mehr um die verfälschten Haltungen mir gegenüber scherte – wie nachlässig es auch sein mochte. Schlecht konnte ich es ihnen nicht nehmen – ich war, was ich niemals vergessen würde, eine schwarze Frau, zudem wusste ich selbst gut genug, wie wichtig es war, um die Gunst seiner Brotgeber zu ringen. Auch aus diesen Gründen würde ich nicht auf meine Tätigkeit als Amme des Haussohnes und Freundin der Hausherrin verzichten, nur um die üblen Nachreden zu beschwichtigen. In mir war mehr zu finden als ich Untergebenen wie Vorgesetzten zu sehen erlaubte. Doch zurück zu dem Wiedersehen: Ich kann meine Gefühle ob des Anblickes meines Ziehkindes nicht beschreiben. Das ungewohnte Klima des Atlantischen Ozeans hatte Farbe in das Marmorgesicht gezaubert, doch seine Miene ausgeblichen. Als sei er versucht, möglichst wenig Raum zu beanspruchen, stand er nebst seinem mächtigen Vater in grauem, schmucklosem Rock und Umhang, und vermutlich hatte sein glanzloses, sprödes Haar Lady Elizabeth einen gehörigen Schrecken versetzt, denn sie hatte den Zofen sogleich aufgegeben, ein Bad einzulassen. Der Lord selbst sah immer noch genauso aus, wie ich ihn kennen gelernt habe. Ausgerechnet James war es schließlich, der die nicht zu deutende Reglosigkeit unvermittelt brach, indem er sich plötzlich von seinem Platz stieß, vor seiner Mutter auf alle Viere stürzte und binnen einer Sekunde unter ihrem Kleid verschwunden war. Wir übrigen drei sahen ihm nach, zumindest fixierten wir die Stelle, hinter die er gekrabbelt war, dann gab sich Elizabeth hernieder und zog ihn mit sanfter Gewalt hervor. Als sie ihn emporhob, ließ er Kopf und Glieder leblos hängen und gab keinen Ton von sich. Lawrence nahm seine Zigarre entgegen und entlud, was immer er empfand, in einem fahrigen Pusten. Auch sein Gesicht mit den eisblauen Augen und den buschigen Brauen, die permanent schwer über Ersteren hingen, war von den ältesten Gelehrten der Pathognomik nicht zu entschlüsseln, standen sie ihm nicht nahe. Ich behaupte sogar, dass ihm das Versteckspiel seiner Gefühle und Gedanken noch besser gelang als Frau und Sohn – sofern er es beabsichtigte. „Ich möchte dich heute nicht mehr sehen“, forderte Elizabeth hörbar missgelaunt von ihm und steuerte dezidiert auf den Ausgang zu, mich mit einer freien Hand zu sich winkend. Ich verneigte mich schnell vor dem aufmerksamen Wolf und hörte noch, wie er nach seinem Lieblingswein verlangte, nach dessen Genuss er entweder überaus ungemütlich oder merkwürdig redselig wurde. Lady Elizabeth bestand auf ihre Anwesenheit während James‘ gründlicher Reinigung, welche in eine penible Inspektion inklusive Arztvisite ausartete. Wir seufzten erleichtert, als wir feststellten, dass er keine plötzliche Panik vor dem Wasser zeigte, und außer einigen blauen Flecken, Kratzern und seinem charakteristischen leichten Fieber waren keine Folgen auszumachen – zumindest keine körperlichen. Mehr Gedanken machte ich mir um Elizabeth, die den marionettenhaften Jungen herzte, streichelte, küsste, bis ich sie mit einigem Druck voneinander trennte, was sie jedoch nicht lange an ihrer eifrigen Liebkosung hinderte, und an diesem Abend lag sie nicht mit Lawrence, sondern James in dem Ehebett, während der unbeachtete Admiral im Salonzimmer einige shanties zum Besten gab. James hatte bis dahin kein Wort gesprochen. Erst am nächsten Morgen, da seine Eltern sich schuldbewusst miteinander versöhnten und in einem der endlosen Zimmer den Verlust der letzten Nacht ausglichen, erzählte er mir sachlich von seiner ersten Schifffahrt; wie sein Vater – wieder einmal – zwei Tage lang seekrank gewesen sei, wie er ihm ab dem Dritten die Funktion von Segel und Tauen erklärt habe, wie ihm keine Aufgabe der Matrosen gelungen sei und er dafür "verdiente" Schelte erhalten habe, wie er von seinem Vater über die Navigation per Augenmaß aufgeklärt worden sei, wie man ihnen immer wieder Fisch und ihm versehentlich ein Glas Rum serviert habe, wie er einmal krank geworden sei und der Schiffsarzt Dr. William Beatty sein Fieber schlichtweg fortgezaubert habe; wie sie schließlich auf den Piraten Edward Grant Teague, im Volksmund Teague The Sparrow genannt, trafen, in einen Kampf verwickelt wurden und James dabei über Bord ging. Ich erfuhr nicht ohne Entsetzen, dass Sparrow ihn aus dem Wasser gerettet habe, und die nüchterne Rekonstruktion der anschließenden Konfrontation von Vater und Sohn vervollständigte meine Fantasie sowie meine Kenntnis über den Admiral ganz von selbst. „Gerettet von einem Piraten, James. Dummes Balg, du hättest dich ertränken sollen. Ich sähe einen Norrington lieber auf dem Grund des Ozeans als in der Schuld eines Piraten.“ Indes war ich derart in der lebendigen Szene gefangen, dass ich viel zu spät merkte, wie James leise weinte. Ich legte mich zu ihm und hielt ihn lange in meinen Armen, ohne dass es weiterer Worte brauchte. Niemals wieder sollte dieser Vorfall irgendjemand anderem geschildert werden, aber ganz sicher hatte er James Norrington für den Rest seines Lebens drastisch geprägt. Kapitel 6: I. Was Höhen bewirken -------------------------------- Nicht das Wasser. Die Tiefe. Wir nahmen ganz unvermittelt davon Notiz. Wieder besuchten uns die Lehrerscharen, die Dienstmädchen kicherten und die kleinen Röcke und Schuhe und Hüte bedurften bereits einer eigenen Kammer. Angesichts der raren Ehre durch des Admirals Präsenz wurde zwar weiterhin Fisch gebraten und das Klavier stumm gehalten, aber endlich ließ Lady Elizabeth von ihrer täglichen Aufnahme Englischer Creme ab und stillte ihr Verlangen nach Süßem – fragte man die jungen Hausmädchen – indem sie sich besorgniserregend intensiv mit James beschäftigte. Mir bereitete ebenfalls Kummer, dass dem Jungen, der zwar schon in den fünf Jahren zuvor verwöhnt wurde, jählings die Behandlung eines Prinzen zuzukommen hatte, welche nur dann Grenzen kannte, wenn Lawrence Norrington sich seiner annahm. Väterlich, aber streng verfolgte der fürderhin sein Ziel, den Nachkommen in die Theorie der Schifffahrt einzuweihen. Andernfalls suchte man, eigentlich frau sich James‘ selten sichtbare Freuden mit neuen Büchern, strategischen Brettspielen oder Custard und buntem Speiseeis zu erkaufen, sodass der Junge bald schon wenig anderes aß. Sein Lächeln blieb dennoch aus. Elizabeth führte ihn ins Theater, Lawrence bestellte ihm einen Fechtlehrer aus Frankreich und stellte ihm fragwürdige Aufgaben zur Schärfung von Verstand und Sinnen. Verstaubt lag der Kompass auf der Kommode des Knaben ohne Freizeit. In tiefen Kämmerchen quietschten schrill die Geigensaiten, der eine Professor ging, der andere kam, die einstündigen Spaziergänge wichen abendfüllenden Feiern bei adligen Bekannten und ein munterer Kanarienvogel fing James‘ argwöhnische Blicke ein, der sich nicht nur durch den unzweifelhaft paradiesischen Gesang gestört fühlte (mir, die ich gerne und begeistert lauschte, versetzte er oft einen beleidigten Stoß, ehe er wortlos aus dem Zimmer rannte), auch die Desserts von dem winzigen Schnabel des Zuckervögelchens bedroht, ja, sich beraubt glaubte. Realitätsgetreue Nachbildungen bedeutender Schiffe zierten sein Gemach, die er keines Blickes würdigte, außerdem ließ Lawrence ihm doch wahrhaft eine kleine Kapitänsuniform der Englischen Marine auf den Leib schneidern. Wie eine Puppe ließ er sich damit einkleiden; noch einen Tag zuvor hatte er uns durch einen unerklärlichen Wutanfall entsetzt. Ich legte ihm den Gürtel mit dem kleinen Degen an und hoffte zugleich, er würde ihn nicht in einem Neuerlichen gegen uns verwenden, dann puderten wir jede Pore zu, richteten sein Haar und setzten ihm einen Dreispitz mit goldener Bordüre und schwarzer Schleife auf. Ich führte ihn zu seinen Eltern und einem ihm fremden Mann mit Staffelei in das väterliche Arbeitszimmer. Gemalt werden solle er, und nach konkreter Anweisung des noch immer nicht vorgestellten Fremden platzierte sich Captain James am Schreibtisch und wurde zu Marmor. Das Ergebnis hatte all seine Vorzüge idealisiert, jegliche Unstimmigkeiten verworfen. Ein uniformierter Junge, auf einen verzierten Degengriff gestützt und mir so fremd wie sein Maler, herrschte fortan aus dem meistbenutzten Korridor über uns alle. Er sollte auch Unterricht im Reiten empfangen und erhielt ein eigenes Pferd. Er protestierte nicht, weil er den Stolz seines Vaters spürte, die Zuneigung, welche dem Lord in Momenten, da James die üblichen Fortschritte zeigte, tatsächlich in den hellen Augen schimmerte. Als er jedoch aus seiner unsichtbaren Ortung einer Verbindung zum Vater erwachte und bemerkte, dass er schon auf dem Rücken des Schimmels saß, erbleichte die Röte der niedrigen Außentemperatur und der Verlegenheit. Der wie dünnes Glaswerk verhüllte Junge legte sich nieder, griff in die Mähne der Märe und zitterte, schwitzte zur selben Zeit. Lady Elizabeth im dicken Pelzmantel warf Lawrence in dünnem Admiralsrock vor, diese Grippe zu verantworten, doch handelte es sich mitnichten um eine Erkältung, wie sich herausstellte, als James nach ein paar Minuten schwerer Atmung auf dem Boden wieder auf eigenen Beinen stand und den weißtragenden Garten besah. Sofort hob Lawrence ihn wieder auf das Pferd. Keinen Schritt setzte es, da sich sein Reiter wieder vibrierend zusammenkrümmte und eine Vermutung heraufbeschwor, die sich bestätigen sollte: Nicht das Wasser, wie wir anfangs befürchtet hatten; die Tiefe ängstigte James seit der Rückkehr vom Atlantik. Ob dessen freilich beachtliche Tiefe der Anlass war, die Tiefe des Freibords der HMS Victory, welche er beide einschneidend erlebt hatte, oder eine andere; er fürchtete sie gewisslich seit dem Fall von dem Schiff, er fürchtete den Fall selbst und jedwede Folgen, die dieser nach sich gezogen hatte, die jeder Fall nach sich zog, und obwohl Elizabeth ihn nie wieder auf ein Pferd zwang, solange er hier lebte, und ihm auch sonst jede Höhe ersparte, würde auch zukünftig die eine oder andere Möglichkeit eines Falles oder der Bewahrung vor einem solchen ihn in der sich selbst an erster Stelle stehenden Manier eines Panischen agieren lassen. Doch war der Fall an sich in seinen vielen Ausführungen, aber gleich welcher Höhe, nicht für jeden Menschen eine unerträgliche Vorstellung? Ich habe einmal geträumt, aus einer Höhe, die mir im Nachhinein nicht einmal mehr bekannt war, niederzufallen, und der atemberaubende Druck, der dabei auf meinen Körper wirkte, fühlte sich so real an. Es waren zwei oder drei Sekunden, aber genug, um mir für den weiteren Verlauf meines Lebens die Lust am Fall zu nehmen. Er vermittelt keine Freiheit oder die Aufregung des Fluges wie Ikarus, von dem viele Menschen träumen, sondern Unsicherheit und Kontrollverlust. Und Angst vor dem Aufprall. Als ich am Morgen aufwachte und über das eingebildete Erlebnis sinnierte, wurde mir klar, wie verzweifelt jemand wirklich sein muss, wenn er am Rand eines todsicheren Abgrunds steht und sich fallen lässt. Ich glaube nicht, dass man in diesem Moment lange fackeln darf. Überraschend empfing Lawrence Norrington eines Tages Besuch aus den Kreisen seines Dienstes. Auch Lady Elizabeth schien nicht über die Gäste in Kunde gesetzt worden zu sein, denn sie raufte hektisch mich und alle, die sie innerhalb von Sekunden in ihrer Nähe entdeckte, zum Bereiten des Tisches zusammen. Wir stolperten von der Küche zum Salon, um Geschirr, Tee und Gebäck zu transportieren, während der Admiral und seine Kollegen schon im Eingangsraum in das ewige Thema unter Seesoldaten – Schiffe, Schiffe, Schiffe – eintauchten. Einmal konnte ich es mir nicht nehmen lassen, um die Ecke zu spähen, als würde ich erwarten, den Fremden Namen zuordnen zu können, was natürlich nicht der Fall war. Erst, als ihr Vorstand sie mit großzügiger Miene an den Tisch führte und Lady Elizabeth die Herren bescheiden, aber würdevoll begrüßte, gaben sie sich als Captain Robert Gillette, Captain Edward Groves – Norringtons Vorzugskapitäne – Graf John Sheffield zu Mulgrave, der ebenfalls in der Marine Seiner Majestät gedient hatte, sowie Direktor Thomas Mercer, ein wichtiger Mann der English Company Trading to the East Indies, bekannt. Captain Gillette brachte außerdem seinen Sohn mit, welcher mit seinen elf Jahren entschlossen war, demnächst seinen Dienst für das Vaterland zu verrichten und sich bereits jetzt verhielt, als sei er fest integrierter Teil der seemännischen Runde. Es dauerte gar nicht lang, da sie von den Schiffen und Kriegen zum Sohn des verehrten Admirals der Blauen Flagge wechselten, den sich dieser sogleich stolz schicken ließ, um ihn den Männern wie das Modell eines neuartigen Schiffstypen zu präsentieren. Weil sehr darauf geachtet wurde, dass James selbst im Schutz der heimischen Gitter ein perfektes Erscheinungsbild gab, mussten wir ihn nicht noch eilig herrichten, obwohl ich mich gedrungen sah, die Grenzen seiner individuellen Perfektion irgendwie zu überwinden, da er mir auf einmal nicht ausreichend schien, den hohen Gästen gezeigt zu werden. Auf der Hälfte des Weges gab ich ihn an seine Mutter ab, die ihn in den Saal brachte, damit die aus Höflichkeit unausgesprochenen Fragen nach einer schwarzen Frau als augenscheinliche Amme nicht die Aufmerksamkeit auf das eigentliche Objekt des Interesses verwirrten. Ich durfte allerdings Nachschub an Getränken liefern, wodurch es mir ermöglicht war, der Gesellschaft immerhin teilweise beizuwohnen. James’ Blick haftete an dem zur Strenge verkniffenen Gesicht des älteren Jungen, der sich dessen bewusst wurde, ihn jedoch nicht erwiderte, eher resolut ignorierte. Admiral Norrington und Captain Gillette tauschten sich über die Köpfe der beiden Söhne hinweg in eben dem Belangen aus, als würden sie eine neue Strategie zurechtlegen, dann warf Captain Groves munter dazwischen, dass auch mindestens einer seiner Schar von Söhnen auf dem Schiff Seiner Majestät dienen würde. Mister Mercer, der sich eigentlich nur ungern dem unberechenbaren Temperament der Ozeane aussetzte, der ohnehin weder von Navigation noch von Kriegsführung erwähnenswerte Ahnung innehatte, schwieg auch hier wieder als der Vater zweier verzogener Töchter und – doch! – eines Sohnes, über dessen denkwürdigem Interesse an Waffen und exotischen Exekutionsmaßnahmen er sich nicht zu sprechen traute. Der Earl of Mulgrave war, obzwar verheiratet, noch nicht in den Genuss eines männlichen Erben gekommen, was ihn, der er ein intelligenter und sympathischer Mensch war, trotzdem nicht mit beleidigenden Scherzen der anderen Männer versehen sollte. „Wenn meine kleine Mary Jungen nur nicht so "fusstierend" fände“, spaßte er aber, „so wäre ihre Hand dem Eurem gewiss.“ Norrington beugte sich zum Ohr seines Sohnes. „Hast du das verstanden, James? Was ein beneidenswertes Lob dir da doch ausgesprochen wurde!“ Ob James die Worte des Grafen verstanden hatte, spielte eine untergeordnete Rolle; seine Augen aufleuchtend machte einzig und allein der berechtigte Verdacht, dass er seinem Vater gerade zur Ehre gereicht hatte. Ehre. Welch Macht steckt in diesem Wort, dieser Eigenschaft, die den Menschen unserer Zeit vergleichbar unersetzlich ist wie das Recht zu sprechen und zu handeln. Und wie leicht ist sie zu verletzen! Wie rasch wird ein Duell auf Leben und Tod ausgemacht, weil jemand einem anderen eine im Grunde marginale Beleidigung gestellt hat. Schon einmal war James direkt mit den Begriffen Ehre und Schande konfrontiert worden, nun aber musste er lernen, was jene zu erwarten hatten, welche es versäumten, ihren Ruf wieder rein zu waschen. Mister Mercer war nicht nur kein Kapitän und Vater eines Vorzeigesohnes; man kannte ihn außerdem als chronischen Skeptiker, der nicht davor zurückschreckte, die eigene Monarchie zu kritisieren, woran nicht einmal der Ire Gillette dachte, erst recht nicht in der Gegenwart des patriotischen, nationalistischen Admirals Norrington. Mister Mercer aber, ein verhaltener, wenig prunkvoll und doch elegant gekleideter Mann, der sein Haupt würdevoll wie ein Pferd trug, ängstigten die barbarischen Reaktionen zur Wiederherstellung der englischen Ehre, die seine scharfen, doch niemals aus dem Blauen gegriffenen Bemerkungen überall auslösten, nicht im Geringsten. Er wusste um die Verletzlichkeit eines jeden gentleman, wenn es um den Ruf ging, vor allem aber um die der Würdenträger, der Verantwortlichen, der Könige, Generäle und Admirale; eben all jener, die ihre Lüge eines tadellosen Vaterlandes angegriffen sahen, und deshalb wusste er auch, weil er in England lebte und nicht in Frankreich, im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation oder in der Neuen Welt, dass seine gefährliche Ehrlichkeit eines Tages sein Untergang bedeuten würde. Es will mir nicht einleuchten, aus welchem Grund genau der Lord ihn eingeladen oder er um diese Einladung gebeten haben mochte. Er inspizierte den ihm von einem Naval Lord, einem Mitglied der Admiralität als hoffnungsvolle Zukunft vorgestellten blassen, mageren Jungen, welcher der ausgiebigen Betrachtung durch die fünf unbekannten Augenpaare nur schlecht standhielt, hörte sich die höflichen Meinungen des Grafen und des einen Kapitäns an und das von irischer Seite vorsichtige Schweigen, ließ das sich ihm bietende Bild in seinem Verstand schwenken wie das Glas zur Beurteilung eines Weines, summierte eins und eins und äußerte schließlich im Manchester-Dialekt: „Erlaubt mir die sachliche Anmerkung, Admiral, aber dieser Junge wirkt nicht enthusiastisch noch körperlich in der Lage, den komplexen und abverlangenden Beruf eines Seeoffiziers ausüben zu können. Seht doch: Ihn verraten die Anzeichen der Unentschlossenheit. Habt Ihr je die Meinung Eures Sohnes in Betracht gezogen bei Eurem zukunftsorientierten Projektieren?“ Unparteiisch betrachtet konnte ich ihm damals in jedem Aspekt Recht geben. Der Lord fuhr buchstäblich auf. Seine spektakuläre Statur thronte über dem Kopf des Tisches wie Poseidon über der Meeresoberfläche und seine ausgekühlten Augen kündigten einen Orkan an. Noch war seine Stimme ein gefürchteter abflauender Wind, eine ruhige Welle, die sich unnatürlich weit zurückzog, ehe die gigantische Flut auf das Land zustürzte. „Zweifelt Ihr, Mr Mercer, etwa an meinem Verstand oder der Eignung meines Sohnes?“ Man konnte beinahe spüren, wie sich die übrigen Genossen der Runde innerlich auf ihren Stühlen ein paar Zoll vom Tisch wegschoben. Der Kritiker selbst, der Norrington ausgerechnet gegenüber saß, verschränkte in unveränderter Ruhe die Hände auf dem Plattenrand und legte das Haupt schief, um ihn aus zufriedenen Rabenaugen zu mustern. „Ich bin in der Tat ein wenig skeptisch, was die Stärke einer Mannschaft, eines Schiffes betrifft, das von festgefahrener Tradition statt von bewiesenem Talent geführt werden soll.“ Noch horchte Norrington. „Wir alle kennen doch die Auswirkungen des alten Fehlers, Landgeneräle an der Stelle von mit dem Element des Wassers aufgewachsenen Seemännern zu setzen. Habt nicht noch Ihr selbst im Heer gedient, Admiral?“ Sein blitzartiges Erheben ließ uns übrigen zusammenfahren, und das Donnern des stürzenden Stuhles versetzte uns in eine respektvolle Starre. Thomas Mercer fasste den Gang des Lords um den Tisch herum noch in nichtsahnendes Visier, da bohrte sich die Faust bereits in sein Gesicht, dass es ihn rückwärts umwarf. In meinem Blickwinkel versteifte sich Captain Gillettes Sohn merklich. Eine Grundregel der hochgeschätzten Erhaltung der Ehre, die Admiral Lawrence Norrington von mitunter tödlicher Bedeutung war, bestand darin, einem öffentlichen Austragen der Fehde möglichst entgegenzuwirken, um beider Seiten Ehre zu wahren; insbesondere, wenn eben dieses Austragen Gefahr lief, einem ungeordneten Gelage ähnlich zu werden. Und doch setzte sich Norrington aufgrund desselben Zieles schlichtweg darüber hinweg, wenn er, der er sich selbst der Richter war, es für notwendig erachtete. Gerade da es scheinbar paradox anmutete, hielt die gesamte Runde still und ließ den Verstand rattern – ohne Erfolg – bis sich Mister Mercer auf die Beine schaffte. Unter seiner Nase klebte ein Blutbart, der sich bis in den weißen Spitzenkragen fortsetzte. „Und Eure Argumente, Admiral?“ „Lawrence, lass es!“, zischte Lady Elizabeth. James’ Augen hingen an den beiden Männern. Er wirkte ganz gebannt. Norrington griff in den schwarzen Kragenumschlag seines Gegenübers und zerrte ihn mit einem „James, komm!“ aus dem Raum. Der Junge trotzte der aufhaltenden Hände seiner Mutter und eilte hinterher wie eine Taube einem krümelnden Brotesser. Als ich ihnen folgte, hörte ich hinter mir den jungen Gillette erschrocken fragen: „Der wird doch nicht bevorzugt, Papa, oder, der wird nicht vor mir befördert, oder?“ Natürlich verharrte ich in einem Versteck, aus dem ich die Szene sicher verfolgen konnte. Ich möchte das, was vor sich ging, gar nicht bis ins Detail beschreiben – gewiss kann man es sich ausmalen, sofern einem bewusst ist, dass eine leicht verletzliche Wasserhaut die Hemmschwelle des alten Seesoldaten verbildlichte. „Das, James“, so schloss er seine bedenkliche Lektion, nachdem der Direktor der Handelsgesellschaft die Sturmstille ausgenutzt und sich aus der Gefahrenzone geschleppt hatte, „haben die Männer verdient, die es nicht verstehen, dass Zurückhaltung gegenüber einem Ranghöheren mehr als das menschliche Laster des Begehrens nach Aufmerksamkeit die eigene Würde erhält. Schweige, wenn deine Worte nicht einer für jedes Auge ersichtlichen Tatsache dienen.“ James, etwas erbleicht aufgrund der vielen ungesunden Farben im Gesicht dieses Fremden, der Geschwindigkeit, mit der sein Vater sie verursachen konnte, sowie der eigenen Ungewissheit, warum überhaupt, nickte lediglich und wandte sich um zum Gehen. „Du wirst die Erwartungen deines Vaters, unserer Gäste und die deines Heimatlandes doch nicht enttäuschen?“ War dies eine Frage? James schüttelte den Kopf, ohne sich noch einmal umzudrehen. „Und genau aus diesem Grund, mein Sohn; weil du nur deine Lebensaufgabe im Kopf hast, weil du dienst, statt zu beweisen, wirst du eines Tages über allen anderen triumphieren.“ Ein sehr kleines, unsicheres Lächeln. Bald proklamierte uns der Lord den nächsten Schritt im Plan James’ längst entschiedener Biografie. Er würde eine privilegierte Privatschule besuchen. Wenn Lady Elizabeth nicht mit dem Plan des Gatten übereinstimmte, dann teilte sie es zumindest nicht mit. Ich kann mir jedoch durchaus vorstellen, dass die Aussicht auf erstklassige Bildung ihre damit verbundenen Entbehrungen einigermaßen aufwog. Irrtümlich schienen sie beide eine Hochbegabung in dem fleißigen, stummen Lernen des – obwohl ein Norrington – ganz normalen Sprosses zu sehen. Kapitel 7: I. Die Sense im Schnee --------------------------------- Mit unbarmherzigen Klauen griff der Winter nach Europa und England war seiner Farben beraubt. Kein Leben bewegte die Fläche, das Gut lag still. Dem Garten war es selbst zum Schlafen zu kalt. Die öden Bäume und Hecken lasteten ungeheuerliche Schneemengen, der Teich verbarg sich unter einer unzerbrechlichen Eisschicht. Seine Tiere waren weitergezogen oder hatten das despotische Spätjahr unterschätzt. Vereinzelt standen tote Blätter aus der Lawine. Wie ein wuchtiges Monument ragte das renaissancistische Bauwerk aus dem grauweißen Schaum, seine Gänge und Zimmer lagen noch bei Tage in hungrigen Schatten. Verloren brutzelte das Kaminfeuer und Lawrence Norrington zeigte mir, dass er sich in die Neue Welt zurückträumte. Ich stellte sie mir als einen faszinierenden Ort von feinweißem Sand, glitzerblauem Wasser und kräftiggrünen Palmen vor und wusste nicht, inwieweit meine Imagination der Wahrheit entsprach, denn der Lord pflegte, wenn überhaupt, lediglich seiner Familie von den unendlich vielen Gegenden, zu denen er fuhr, zu berichten. Als Kriegsherr war womöglich selbst seine Sicht der Landschaften und Strände verzerrt, verfälscht. Lady Elizabeth saß wie Helena zu Sparta in einem Sessel und badete im flackernden Licht der Wärme. Auf dem indischen Teppich zog James in akkurater Haltung Striche und Kurven auf ein leeres Blatt Papier; als Unterlage diente ihm das Theatrum Orbis Terrarum. Ich strickte in seiner unmittelbaren Nähe einen Schal und hätte ihn sich gerne einmal mit Spielzeug beschäftigen sehen. Dann hätte ich meiner Aufgabe als Kinderfrau nachkommen können; so aber würde ihm die wortfreundliche und unternehmenslustige Alte nur lästig sein. Abseits prüfte ein Diener zwei Tassen Tee auf sein Aroma und ein anderer gab dem Feuer Nahrung, der Dritte brachte eine Pfeife. Irgendwo hielten sich die Franzosen mit Waffenschwingen warm, starb ein ehemaliger Erzbischof und Primas, tobte nicht nur das Wetter auf der See, die der Wolf so sehr liebte und die ihn nicht über das neue Jahr hinaus entbehren konnte. Scharfes Eisen und spitzes Eis fuhren einmal gezielt, einmal wahllos durch Familien, viele Länder, alle Stände. Elizabeth stellte fest, dass sie schwanger war, und dann, dass es nicht mehr lebte. Ihre schwarze Melancholie dauerte sechs, so viele Tage wie der Tod des Erstgeborenen Jahre zählte. James lag manchmal mit Fieber darnieder, aber nie aufgrund der kräftigen Kälte, was mir ein Rätsel aufgab. Inzwischen war er den Prozess gewohnt, sodass er aus dem Bett kletterte und sein Selbststudium fortsetzte, wenn man nicht auf ihn achtete. Immer weniger Lehrer hatte man zu bedienen, denn die streikten im Verlauf der nächsten todbringenden Winter, ihr Heim, geschweige denn ihre Stadt zu verlassen, um den langen, zugeschneiten Weg auf sich zu nehmen, welcher uns schließlich von der Außenwelt abgrenzen sollte – mehr noch, als die Gutseigner es sich gewünscht hatten, da sie es zu ihrem Domizil bestimmten. Zwar erkannte Lady Elizabeth auf das Drängen der Dienerschaft die Not und schickte ein paar Arbeiter aus, um den Weg zu räumen, doch wiedersehen sollten wir diese nicht. Dass der Verkehr zum Anwesen noch immer eingestellt war, bestätigte, dass sie nicht einmal hatten ihre Arbeit beenden, vielleicht gar beginnen können. So hatten mehrere Dutzend Menschen von verderblichen Vorräten zu leben; bald aßen die beiden Adligen nicht besser als durchschnittliche Bürger Londons. Eines Morgens fand man im Stall James‘ schöne Stute ärmlich verendet vor, und am Tisch der gehobenen Hausbewohner warf man sich mit endlich vollen Backen und über den Kopf des Jüngsten hinweg vielsagende, von der Furcht der Entdeckung durchdrungene Blicke zu. Lady Elizabeth blieb der wiedergekehrte Optimismus erhalten und sie versuchte, jedem einen Teil davon zu schenken. Oft verlebte sie die Tage ganz und gar mit dem Jungen, auf dass ich mich ein wenig zurückzog. Wenn der Admiral nicht gegenwärtig und seit James selbstständig war, beanspruchte mich seine Pflege an sich nicht; ich bemerkte den Unterschied kaum, sehr wohl jedoch mein Alter, was mich in mein Inneres kehren und über das eigene Leben nachdenken ließ. Viel hat es mir geschenkt – viele Siege, viele Verluste – es hat mich reich gemacht. Ob es ein außergewöhnliches Leben war, vermag ich nicht zu bewerten, für mich als Individuum jedenfalls ist es aufregend gewesen. Lawrence Norrington war der einzige Mensch, der es in seiner kompletten Fassung kannte; wie es dazu kam, ist ein Geheimnis, das ich wohl mitnehmen werde. Meine Augen schlossen sich schwer, während ich lag und dachte, und ich sank in einen Schlaf, den unförmige, tanzende Kreaturen beherrschten. Sie zogen mich spottend und singend in ihren fantastischen Altarraum, in dessen Mitte ich niedergelassen wurde, um von ihnen zelebriert zu werden. Angst entstand. In einer Einheit streckten sie ihre lächelnden Gesichter über mich und zogen sie wieder zurück, rhythmisch zum Klang eines entfernten Trommelschlages, und jedesmal, wenn es geschah, hatte sich zwischen ihnen und mir der Abstand wieder ein wenig verringert. Ihre Bemalungen hinterließen bunte Streifen in der Luft, wenn sie zurückschnellten; immer mehr wurden es, bis alles von ihnen erfüllt war. Wie Würmer krochen sie über mir, nur sich selbst im Weg, tausend Würmer von allen Farben, grell und weitab jeder Vernunft. Auf einmal stoppten sie – gekrümmt, gestreckt – und stürzten auf mich nieder! Unfähig, irgendwie zu reagieren, sie aber auch nicht verspürend, harrte ich des Regens aus, der mir zwei Exemplare in die Augen trieb. Sie wuchsen und wuchsen, die gelbe und die pinke Flächen, bis ich nichts anderes sah als ihre wirre Mischung, die – ohne dass ich es sofort registrierte – in einem Schwarz endete! Es ward still. Unsicher horchte ich genauer in die Dunkelheit – nichts. Ich entspannte. Nur ein böser Traum. Der wahre Horror dürfte hinter mir liegen, denn meine Zeit, so glaubte ich, war für einen erneuten Schicksalsschlag zu knapp bemessen. Kein Grauen würde sich herabwürdigen, den Rest meiner Tage für seine große Vorstellung zu wählen, wenn es keinen vollen Saal zu erwarten hatte. Ich hatte die Lichtung erreicht und würde sie nicht verlassen. Sie beruhigte die strapazierten Sinne und spielte entfernt die Ballade der Natur. Ich hörte den flötenden Wind und die Vogelchöre, Blätter, die sich gegenseitig strichen, sehr leise Tamburins der Fliegen, auf dem Boden spielten Flora und Fauna vierhändig das Klavier. Trommeldonner! Die Fratzen! Schossen hervor! Ich schrie! James zuckte und fiel auf den Hosenboden. Seine Maske fixierte mich. Als ich mich zu ihm lehnen wollte, ihn zu beruhigen, musste ich einsehen, dass ich mich nicht bewegen konnte. Ein nasser Lappen scheuerte mich förmlich und ich hörte den Dampf des Wassers zischen. Als müßig in mein Bewusstsein drang, wo ich war und was, wurde mir auf den Schlag hundeelend. Eine widerlich warme Säule stieg in mir empor und ich widersetzte mich ihrer Forderung nicht; glücklicherweise hatte der Herr mit Monokel über mir vorgesorgt. James an meiner Seite starrte mich seltsam an. Ich wollte nicht, dass er hier war – ich hatte keine Ahnung, weshalb – er sollte nur verschwinden. Beinahe stieß ich ihn fort, doch ich fand nicht die Kraft dazu. Mir war, als sei er die Quelle meines Übels; eine Annahme, welche jeglicher Rationalität entbehrte. Trockenheit hatte mich ausgehöhlt. Das Wasser von Lappen und Becher waren dürftige Tropfen auf heißem Stein; nichts frischte die raue Steppe in mir, deren Furchen immer wieder unter einem schwülen Vulkanausbruch aufrissen. Erlosch er, schien ich mich immer weiter von mir selbst zu entfernen – ohne zu denken, sah ich dem beglasten Mann bei seinen Bemühungen zu, den breiten, bebenden Körper auf dem Lager zu stillen und gleichzeitig am Leben zu erhalten – als ob mit der Galle immer auch ein Teil der elastischen Masse, die uns beseelte, hinausgeworfen wurde. James war noch da und Lady Elizabeth, Benedict und die junge Mary und wenige weitere, ihre Hände trugen hohe Kerzen, da stand meine Mutter, sie alle umgaben einen Sarg, geschlossen von jenem Mann mit dem Monokel, eine Bibel auf dem Tisch, ich war nicht katholisch, nicht protestantisch, doch ich wusste, die Bibel dort bedeutet, sie bedeutet… Ein Wechsel von Hell und Dunkel ließ die Besucher kommen und gehen. Nur meine Mutter kehrte nicht wieder. Des Winters Kinder bildeten eine Räuberleiter und spähten durch das Fenster auf dieses leblose Fleisch. Ich hörte die weiße Sense über den Weg schaben, wusste jedoch nicht, ob sie sich dem Hof näherte oder ob sie ihn verließ. Mit der Nacht würden ihre dünnen Spuren verblassen. Als es aufhellen sollte, wurde es schwarz um mich; ich öffnete die Augen und wieder stand James neben mir, meinem Kopf. Ich musste verachtenswert ausschauen. Als Kind solcher Eltern war der Junge gewohnt, das Hässliche zu verachten. Kein mit Sorgfalt und Geduld errichtetes Zelt einer Spinne wurde auf dem Landsitz toleriert. Es fehlte ihm an der Stimme, um zu schreien, aber er ging zu seinem Vater, wenn der anwesend war, und teilte ihm seine Entdeckung schlicht mit. Das gab mir ausreichend Zeit, dieselbe vorsichtig in den Garten zu verfrachten. Ich ließ ihr Netz dem Lord zum lustlosen Zerquetschen, dass James nicht als Lügner dastand, und niemand sprach mehr darüber. Ob der Sohn eines Sturmstrategen die Taktik durchschaut hatte? Er wirkte noch so unschuldig, wie er hier stand, die kleinen Hände auf meiner, wie ich jetzt spürte, und keine Abscheu zeigend vor dem üblen Gesicht, welches ihn aus tiefen Augen anstierte. Der Gestank von Krankheit und Medikamenten ließ kaum Luft zum Atmen, sodass ich in meiner Verzweiflung – was ich ansonsten nicht wagen würde – James bittend anwies, die Fenster zu öffnen. Zu spät fiel mir ein, dass er die Griffe ohne Hilfsmittel gar nicht würde erreichen können, und so schnell es mir möglich war, wollte ich mich aufrichten, doch da hatte er zu meiner Erleichterung (und Verwunderung!) mit dem schlanken Kerzenständer Vorlieb genommen, statt auf den nicht weit entlegenen Stuhl zurückzugreifen, dessen Gefahr für sich er nicht einzuschätzen in der Lage war. Die Scheiben klappten auf, ich hörte das etwas linkische, aber ordnungsgemäße Platzieren des Ständers, dann kam er zurück an meine Seite. Der eisige Wind, der mich erst in diese offenbar ernste Lage gebracht hatte, wie ich später erfahren würde, versorgte mich jetzt schuldbewusst mit seiner willkommenen Frische, doch weit drang sie nicht. Die mich abartig warm umschlingende Ermattung presste mir Stück für Stück das Leben aus. Mir schien, mein Körper würde sich gemächlich in Laken und Decke zergehen. Innerlich war ich verdorrt, mein Rachen war eine erhitzte Höhle in der Steppe, ich schmeckte den widerlichen Geruch meines Atems. Ohne James anzusehen, bedankte mich mit einer mürben Stimme und fragte ihn, um mich von unliebsamen Gedanken abzulenken, ob er überhaupt hier sein durfte. Er antwortete nicht, was hieß, dass er zumindest nicht nach der Erlaubnis gefragt hatte. Mir schoss durch den Kopf, dass er sich anstecken könnte, und wieder reizte mich etwas, nach ihm auszuschlagen, ihn anzuschreien, aber erneut scheiterte es an meinen verzagenden Kräften, als wüsste mein geschundener Körper besser als ich, was ich bereuen würde, wenn mir die Zeit zum Reuen überhaupt noch gegeben war. Meine Erregung – ohne dass sie sich zeigte – war dermaßen stark, dass sie mich vor einer Ohnmacht bewahrte. „Gehen Sie“, forderte ich ihn schwer verständlich. Meine Worte gelangten kaum von meinen Lippen, eher schienen sie in meiner Brust zu verweilen und an meinen Lungen zu zerren. Von allen Seiten, je mehr ich sprach oder es versuchte. Zu meinem Bedauern bewegte sich James nicht. Stockend schob ich ihm mein Gesicht zu, wobei ich riskierte, dass mein fauliger Atem ihn niederzwingen würde, was es mir wert war, um genau jetzt einen Blick in seine Augen zu erhaschen. Und tatsächlich hatte irgendetwas das stille Gewässer in Wallung versetzt. „Wenn ich gehe“, sagte er, nachdem seine Augen meine eingefangen hatten, „dann kann ich wiederkommen.“ Ich zwang mir ein Lächeln ab. „Natürlich. Dennoch sollten Sie Ihre Mutter vorher…“ Er schien mich nicht zu hören. „Doch wenn Sie gehen…“ Stille. Die Worte blieben in der Luft hängen. Der Wind trieb seine Wellen mir entgegen und die Kälte ließ mich erstarren. Tiefer und tiefer drückte ich mich in das Kissen, doch ich konnte nicht fliehen. Genauso wenig, wie er mich ihn würde belügen lassen. Er starrte mich durchdringend an und ich erschrak vor der Drohung, die dieses Kind ausgesprochen hatte. Kapitel 8: I. Im Vertrauen -------------------------- Was sollte ich sagen? Jede Beschwichtigung, jeder Versuch, vom ernsten Thema abzuweichen, schien im Angesicht dieses wissenden Jungen falsch zu sein. Ich glaubte nicht, ihn über meinen Verlust hinwegtrösten zu müssen, denn trotz seiner Annahme, mich zum letzten Mal zu sehen, blieb er förmlich und gestattete keiner Träne den Blick aus den Fenstern seines Innenlebens. Ganz im Gegenteil. Endlich erkannte ich die Gene seines Vaters in den kindlichen Pupillen, das Erbe jener eisblauen Augen, die selbst dann zum Furchteinfluss verdammt waren, wenn sie in Liebe und Zärtlichkeit schauen wollten. Ich erkannte nicht den matten Glanz eines hungrigen Raubtieres, den Eindruck des unberechenbaren Wahns kleiner Pupillen, aber ich erkannte die wachsende Stärke, das innere Eisen, aus welchem Lawrence Norrington das Schwert seines Triumphes geschmiedet hatte. James wollte mir zeigen, dass er groß genug war, sich über die guten Ratschläge seiner alten, kranken Amme hinwegzusetzen, und ich erkannte darin den entstehenden Geist eines inspirierenden, mitreißenden Helden einer Zeit des Umbruchs, der sich über all seine Vorgänger erheben würde. Ich sah etwas, das dem Admiral schon vor Langem aufgefallen zu sein schien: James würde zu allem in der Lage sein, zu dem das Schicksal – eben jenes, für das der Wolf gnadenlos einstand, gegen das die Löwin aber unermüdlich rebellierte – ihn erkoren hatte. Nun, wo ich meine Kräfte schwinden fühlte, war mir der Moment gegeben, ihn derart genau zu betrachten, dass ich ihm dieses Versprechen reinen Gewissens mitgeben konnte. Und natürlich ließ ich ihn nun bleiben. Wie einen großen Flügel hob ich die Bettdecke an und ließ seines Vaters Jesus der Seefahrt, meinen nichts ahnenden Odysseus darunterkrabbeln, nachdem er Rock und Schuhe abgestreift hatte. Ungeachtet meines feuchtwarmen Körpers drückte er seinen Kopf unter den meinen und legte seine Hände an meine Schultern, und jetzt spürte ich, dass er doch Angst hatte. Hier zitterte die einzige Kerzenflamme im Todeskampf und draußen schwankte friedlich der Schnee vor schwarzer Kulisse. Ohne Eile schliff die weiße Sense den Weg zum Anwesen empor und spazierte durch den Garten. Ich konnte sie hören, sie war schon sehr nahe, ich konnte sie spüren. Ja, unter Umständen würde James morgen allein erwachen. Und diese Möglichkeit schien auch ihm selbst – ohne dass er sie würde benennen können – eingeleuchtet zu sein, denn er war nicht zu mir gekommen, nur um das Bedürfnis eines Kindes nach schützender Nähe zu befriedigen. Wenn er die ungeschriebenen, aber ihm im vollen Umfang bekannten Regeln der Eltern überwand, um mich heute Nacht zu sehen statt morgen Mittag, so hatte sein verschlossenes Herz etwas zu erzählen, das keine weitere Aufschiebung duldete, weil es außerdem wusste, hoffte, dass das, was es erzählen würde, zwar endlich von jemandem gehört wurde, so wie jeder Mensch der Erleichterung eines Geständnisses bedurfte, anschließend jedoch mit diesem Jemand in die andere Welt übersetzte, wo es sicher der Kenntnis der Lebenden und der sein Leben Beeinflussenden war. Sich etwas von der Seele reden, ohne jemanden mit dem Wissen des Geheimnisses zu beauftragen, das ihm selbst zum Verhängnis werden konnte als Kind des kriegerischen Adels – eine Methode dieser erwachsenen Überlegung seines Standes hatte er also erkannt. Mich ärgerte es nicht, eine Art Zweckmittel zu sein. Nein, ich fühlte mich geehrt, dass James mit diesem höchst bedeutenden Anliegen zu mir kam und nicht zu seiner Mutter. Die stillende Erkenntnis, demzufolge etwas richtig gemacht haben zu müssen, versüßte mir den bisher unerträglichen Abschied von einer Welt, an die ich mich zu sehr gewöhnt hatte. Endlich brachte ich ohne Anstrengung, tatsächlich ohne dass ich es gleich bemerkte, ein Lächeln zustande, das dem gedunsenen Gesicht sicher makaber stand, während ich auf die Bestätigung meiner mütterlichen Intuition wartete und sie nun in der Form eines undeutlichen Namens, der wahrscheinlich der meine werden sollte, seitens des Jungens einsetzte. Vielleicht hoffte er, seines Mutes beraubt, dass ich schlief. Bevor er auf das Angelegentliche kam, verging eine ganze Weile, die wir eng aneinander in der schwer zu ertragenden, klebrigen Hitze meiner Krankheit verbrachten, dann endlich fragte er vorsichtig – sich nun seiner eigenen Annahme nicht mehr gewiss – ob ich sterben würde. Weil meine Zunge ein trockener, schwerer Lappen war, brachte ich ihn mit schwacher Geste dazu, mir in die Augen zu schauen, dann endlich konnte ich Nein sagen, denn der blasse Kerzenschein zeigte mir, dass das Kind wieder Kind mit naiven Hoffnungen war und seine Angst vor dem Verlust von etwas Vertrautem beschwichtigt wissen wollte. Das determinierte Wissen des starren Blickes niederlag dem Wunsch nach illusionärem Unwissen schimmernder Augen, denen es noch gelang, jegliche unliebsamen Anzeichen zu verleumden, selbst wenn Anzeichen inzwischen keine gerecht werdende Bezeichnung für das Versprechen des kommenden Todes war, das mich wie ein nicht zu verbergendes Brandmal zeichnete. Dennoch klammerte sich James jetzt an meine Worte, er vergrub sein Gesicht wieder an meinen Hals, dass er das schwarze Mal nicht sehen und insofern nicht tolerieren brauchte; allein der Todeshauch, den er nun zwar nicht mehr riechen mochte, der jedoch jeden meiner Sätze höhnisch lachend verzerrte, war nicht zu ignorieren. Daher vermied ich, seine festgefahrene Illusion von Alles wird gut durch weiteres Sprechen zu verunsichern, und ließ ihm einfach die Zeit, um zu erzählen, auch wenn ich ihm damit ungewollt bestätigte, dass es richtig sei, mit einer Aussprache bis zum förmlich letzten Moment zu warten, wo er besser hätte lernen sollen, dass dieser geplante Zeitpunkt sich immer dann, wenn man ihn für derart Wichtiges bestimmt hatte, unvorhersehbar in die verpasste Chance zu verwandeln pflegte. Vielleicht würde ihm solch eine im Nachhinein fürchterlich qualvolle Frustration gleich heute widerfahren, denn er kämpfte noch mit dem Geheimnis, das es satt war, geheim zu sein, oder wieder, da er seinen anfänglichen Plan durch die Möglichkeit meines Überlebens bedroht sah. Ich wollte es ihm erleichtern und stellte ihn damit vor etwas, das James, für dessen Entscheidungen sich erstens der Vater, zweitens die Mutter und drittens die Mode aus Versailles verantwortlich gezeichnet hatten, in seiner Kindheit unerträglich war: Hier und jetzt, ganz spontan eine Wahl zu treffen. Ich verspielte die Ehre, Träger seines Geheimnisses zu werden, aber wenn ich nichts unternahm, würde ich wegnicken, und auch er schien schon halb im Schlaf versunken. In der völligen Dunkelheit griff ich ihn an den Rippen und setzte ihn aufrecht neben mich. Ich spürte Verwirrung aus seiner Richtung. „Sprich“, sagte ich barsch. „Sprich jetzt oder geh.“ „Woher wissen Sie…?“ Dieses Mal war es an mir, abweichende Fragen zu übergehen. In meiner Fantasie sah ich ihn sein Gesicht von mir abwenden, die Lippen aufeinanderpressen, wobei die untere kaum merklich vorrutschen würde. „Ich“, begann er endlich, so andächtig, als würde er mir während einer Kirchenmesse einen Mord beichten wollen, und suchte lange nach den richtigen Worten. „Ich befürchte, eine… widersprüchige… oder zumindest zu Nachforschungen anregende…“ „James“, unterbrach ich den Jungen in seinem Bemühen um eine Sprache, die aus seinem Mund gestellt klang, und schickte ihn wieder auf die Suche. Er hatte verstanden, dass ich von ihm verlangte, ein Vokabular zu verwenden, in dem er vielleicht nicht einmal zu denken gelernt hatte. „Seit ich wieder in England bin, gibt es Momente, da sagt mein Gefühl Nein zu etwas, mit dem sich mein Verstand verträgt.“ Ich sagte nichts. James sah in die Schwärze. Er brauchte seine Zeit. „Ich glaube, ich kenne die Auslöser dieser Disharmonien, aber es sind ganz gewöhnliche Ereignisse; Dinge, die es auch schon vor der Reise gegeben hat. Alles, was sich an ihnen seitdem verändert hat, ist die Reaktion dessen, was ich spüre, wenn es wieder passiert.“ Was mochten es für Dinge, für Ereignisse sein? Er fesselte meine Aufmerksamkeit und das war es, was mich wach hielt, obwohl mein schmelzender Körper nach Schlaf schrie. Meine Augen brannten, doch ich dachte nicht daran, sie zu schließen. „Soll ich mich nach meinem Gefühl richten? Oder soll ich mich damit arrangieren. Ist es ein vorübergehendes Fremdeln, vielleicht… aufgrund eines Abgewöhnens?“ Ich wusste, ich konnte nicht ewig schweigen, auch wenn mir jeder Satz wie eine Rasierklinge den Hals hinaufstieg. „Was geschieht, wenn du dich… nach deinem Gefühl richtest?“ Er wog es ab. „Es könnte jemanden verletzen. Vielleicht verstehe ich nur etwas falsch und muss mich wirklich erst wieder daran gewöhnen.“ „Wenn es doch dein Gefühl ist! Mein Kind, dein Gefühl… irrt sich nie.“ James nickte scheinbar einsichtig. Aber: „Vielleicht ist es nichtig.“ „Der… Auslöser?“ „Hm-hm.“ Um die Residenz Norringtons spukte ein schneller Wind. Das Echo einer sich schließenden Tür versetzte keinen von uns beiden in Bedrängnis. In einem großen Haus wie diesem, das von Herren und so vielen Domestiken bewohnt wurde, war es keine Besonderheit, wenn tief in der Nacht jemanden das Bedürfnis nach einem Glas Wasser oder einem dringenden Geschäft aus dem Schlaf holte. Lady Elizabeth hatte alles, was sie nachts gebrauchen könnte, in ihrer unmittelbaren Nähe – und der Rest scherte sich um diese Uhrzeit nicht um etwaige noch brennende Lichter oder auch die offene Tür zu den Gemächern des jungen Herrn. Neben mir hörte ich zwei Seidenstrümpfe über das Laken fahren. James beugte sich vor und legte die Arme um seine Knie. Die leichten, schuhlosen Schritte auf dem Flur endeten mit einer weiteren Tür, die in ihr Futter fiel. Und für Minuten hielt die Sense im Garten still. „Dann wird das Gespräch darüber ebenso nichtig sein.“ „Das heißt, wenn es nicht nichtig ist, wird das Gespräch schwerwiegelnde Folgen ziehen.“ „Auch, wenn es nicht-nichtig“ – ich brachte es nicht so locker über die Zunge wie er, selbst wenn sie feucht und gewandt gewesen wäre – „ist, solltest… sollten Sie darüber sprechen.“ „Das tue ich“, entgegnete er fast ein bisschen adlig-empört. „Nicht mit mir. Mit denen, die es auslösen.“ Jetzt rutschte ihm Verwunderung heraus. „Meiner Mutter?“ Nicht nur sie schien ein Versehen zu sein, auch die wichtige Information, die er mir durch seine Nachfrage vermittelte. Ich bejahte, als hätte ich Bescheid gewusst, um ihn nicht durcheinander zu bringen. Während ich seinen sich mir öffnenden Gedanken lauschte, begann ich, die wenigen Teile jenes Rätsels, welches zu entschlüsseln er nicht bereit war (womit er eben doch nicht über das Nichtige oder nicht… Nichtige sprach, nicht einmal mit mir), zusammenzufügen. „Dann könnte ich sie verletzen. Ich weiß, dass es ihr sehr wichtig ist. Sie ist so glücklich…“ Sprach er von seinem Schicksal? Wollte er der Mutter bedeuten, dass er sich nun, nach seiner ersten Seefahrt, für die Marine, für den Acker seines Vaters entschieden hatte? Ich hob eine Hand auf seinen dünnen Oberarm. „Es geht um dich. Du kannst für das der anderen nicht dein eigenes Glück verwerfen, auch… wenn du das, das vermutlich gerne würdest. Von Zeit… von… Zeit zu… Zeit müssen Sie“ – ich hielt inne und versuchte mich zu räuspern, wobei ich allerdings in ein nasses Würgen verfiel, das James in Bewegung setzte, den armen Jungen, um zu flüchten oder Hilfe zu holen – ich wusste es nicht – doch meine Hand ließ ihn nicht los. Er tat mir unendlich Leid – „müssen Sie sich über allem geltend machen.“ „Sie meinen, ich soll mich allen anderen bevorzugen?“ „Egoistisch sollen Sie nicht sein. Und bevorzugen ist das falsche Wort… Wenn du aber dein körperliches oder seelisches Heil riskierst, nur um jemanden nicht zu verletzen… dann solltest du daran denken, dass… eine Mannschaft, dessen Kapitän zu viel für sie gewagt hat, sehr oft verloren ist. Sein Opfer ist sinnlos, denn er… er ist ihre Laterne in der Nacht. Verstehen Sie? Wenn der Kapitän an sich selbst denkt, dann denkt er an seine Mannschaft.“ Ich spürte, dass sich James‘ romantische Vorstellung eines Anführers an meiner Äußerung schnitt. Wir hörten dumpfe Schritte und eine Tür, die geschlossen wurde. „Deshalb stürmt der gute Kapitän niemals zuerst auf die Gegner zu.“ Trotzdem hielt ich Lawrence Norrington für einen guten Kapitän. „Was soll er tun?“, fragte dessen Sohn, sich an sein Ideal klammernd. „Sieht er zu, wie seine Männer sterben?“ „Die Männer eines guten Kapitäns sterben nicht, James.“ Als mir auffiel, dass ich dem künftigen Seefahrer damit ein utopisches Kriterium mit auf den Kurs gab, fügte ich rasch hinzu: „Natürlich lassen sich einige Verluste in einer Schlacht oder einem Unwetter kaum vermeiden.“ Er ging nicht darauf ein. „Man sagt doch auch: Für seine große Liebe sterben.“ Meine Finger wanderten in seinen Schopf. Sie glitten jedoch ab, über seine spitze Schulter und schließlich auf das Bett. Etwas berührte mich und ich erschrak, bevor ich registrierte, dass es nur seine Hand gewesen war. Er klang besorgt. „Ruhen Sie sich aus, Ms Abda. Bitte.“ Ach, James. „Sagen Sie es Ihrer Mutter. Sie wird es ver…kraften. Sie wird… es… Sie will nur, dass Sie glücklich… Sie glücklich sind… Sagen Sie’s ihr…“ Er versuchte, die Bettdecke zu wenden, wie ich es immer bei ihm tat, wenn er Fieber hatte. Es gelang ihm nicht, weil ein Teil unter mir eingeklemmt war. „Jetzt werde ich darüber nachdenken.“ Meine Augen schlossen sich, das Ende des Gesprächs ersehnend. Ein Fliegengewicht lag auf meiner rechten Hälfte, es streckte sich und atmete mir ins Ohr. „Danke.“ Dann schob er sich hinunter. Ich hörte das unaufdringliche Rauschen der Decke, spürte den sanften Druck, als er sich wieder zu mir legte. „Lady Elizabeth liebt mich, oder?“ „Natürlich“, versicherte ich ihm gleich, doch das allein schien ihm nicht zu genügen. „Sie liebt mich wirklich, oder?“ „Ja, James… deine Mutter liebt dich mehr als die Strahlen der Sonne, mehr als ihre… Unabhängigkeit, sie liebt dich mehr als alles, was ihr unsere Welt bieten kann…“ „Ich verstehe“, murmelte er gedankenverloren und ich war für den Augenblick zufrieden. Ich wäre entsetzt gewesen, hätte ich hier in ihm einen klar kalkulierenden Heranwachsenden mit ernsthaften Problemen gesehen und nicht das kleine Kind, das ich nicht loslassen wollte. So war ich mir nicht bewusst darüber, sein Unbehagen nunmehr intensiviert zu haben. Kapitel 9: I. Das verlorene Rad ------------------------------- Unmittelbar nach unserer vertraulichen Konversation hatte sich die weiße Sense in Bewegung gesetzt. Sie kehrte um und hatte damit entschieden, mir noch nicht die Seele aus dem Leib zu schneiden. Schon am nächsten Morgen blitzte das Monokel des Doktors fassungslos auf, da ich ihn in aufrecht sitzender Position begrüßte. Wie mochte James auf die Besserung meines Zustandes reagieren? Als ich – zu meinem großen Glück! – wieder erwachte, war er längst fort gewesen. Weder seine Kleidung hatte er vergessen noch die Stelle zu glätten, auf der er gelegen hatte, dass ich selbst überlegte, ob ich mir unsere nächtliche Begegnung nicht nur einbildete. Ich erhielt die Antwort, während wir uns am folgenden Tag zufällig über den Weg liefen und sein ausdrucksloser Blick mich einmal traf und nicht mehr losließ, bis ich schnell, wie es mir mein sehr angeschlagener Zustand gestattete, um die nächste Ecke bog. Lady Elizabeth stattete mir neben meinen Freunden des Gesindes einen Besuch und bat mir gleich ab, keine Blumen mitgebracht zu haben. Ich winkte wegwerfend und begann mit ihr eine Unterhaltung, die herrlich erfrischend verlief. Wo sollte sie auch zu dieser Jahreszeit, in diesem harten Winter Blumen kaufen oder finden können? Ich fühlte mich mit jedem Morgen wohler, doch das ursprüngliche Problem bestand weiterhin: Der Schnee schmolz an den gnädigsten Tagen auf Unterschenkelhöhe, die Vorräte senkten sich zur Neige und noch immer war niemand von der Außenwelt zu dem Anwesen vorgedrungen. Unsere Kutschen bewegten sich nicht vorwärts, auch waren die Zugpferde zu schwach. An Sonntagen gab es immer dieselbe Art von Fleisch. Doch nicht nur im Stall wurde es stiller, auch James‘ Zimmer lagen von einem auf den anderen Tag wieder in ihrer leblosen Ruhe. Er drehte mir trotzig den Rücken zu, als ich ihn fragte, ob er mich in den Garten begleiten wollte, und ich wusste nicht, ob er sauer auf mich war, weil ich seine Beichte wider Erwarten nicht mit ins Grab genommen hatte, ob es schlichtweg auf seine Abneigung des Gesanges zurückzuführen war oder er den Kanarienvogel letztendlich doch ein wenig liebgewonnen hatte. Ich musste mit der kleinen Schaufel in den Boden hacken, um durch die gefrorene Erde zu gelangen, und bettete das zarte Tier deswegen nicht so tief, wie ich es geplant hatte. Nach vollendeter Arbeit murmelte ich ein paar Abschiedsworte, dann richtete ich mich stöhnend auf und starrte in den weißen Himmel, der uns aber auch nichts ersparte. Der Februar sah seinem Ende entgegen, und noch immer drosch des Winters Gerte auf dieses geplagte Land ein. Ich sah durch den kalten Nebel die nächsten zwei Gewächsreihen, die dritte hob sich kaum vom Hintergrund ab, die vierte ließ sich gar nur erahnen. Alles Weitere war verschluckt worden. Doch was war das? Ich kniff die Augen zusammen, was mich nicht besser sehen ließ. Ohne meinen Blick abzuwenden, erhob ich mich, bewegte mich auf den Vorhof zu, wo die Bäume mir nicht das letzte Stück Sicht versperrten. Ich näherte mich dem hohen Tor, dann sah ich es deutlich. Tatsächlich! Durch den Schnee hüpfte ich zurück in das Haus und war schon an dessen Schwelle außer Atem. „Mary!“, schrie ich mit dem letzten. „Mary, Mädchen, gib der Herrin Bescheid! Draußen!“ Marys Schuhe trommelten auf dem Teppich. Ich wartete nicht, sondern stapfte an das Gitter und löste die widerspenstige Verriegelung. Ich konnte nicht zulassen, dass ich Zeit verlor; meine Entdeckung schien mir derart unglaubwürdig, dass ich Angst hatte, sie würde sich als Trugbild herausstellen, wenn ich mich nicht beeilte. Das unberührte Schneemeer vor dem Ansitz der Norringtons ließ mich kaum vorangelangen, mein Blick war starr auf das Ziel gerichtet, doch meine Gedanken gehörten allein der großen Erwartungen: Nahrung! Menschen! Kontakt! Uns war im wahrsten Sinne ein Licht erschienen in der dunklen Stunde, selbst wenn es schwach war, ein falber Kreis hinter dem Grau des Dunstes, welcher aus dieser Entfernung keinen Daumennagel groß wirkte, aber sich hoffnungserweckend ausdehnte und an Strahlkraft gewann, je näher ich kam, bis ich die Silhouetten eines schiefen Objektes und von Personen ausmachen konnte. Meine Nase brannte und mein Rachen war trocken. Ich fühlte mich wunderbar. Die Gestalt mit der hoch erhobenen Laterne trat auf mich zu wie auf ein angriffslustiges Tier, das er irgendwie verscheuchen musste. Diese Leute hatten wahrscheinlich ebenso wenig mit einer Begegnung gerechnet wie wir. „Madam…?“ Weil ich in diesem Augenblick der Offenbarung nichts Gescheites hervorbringen konnte, erwiderte ich nur: „Sir?“ Dem Nebel war die schwarz gekleidete Figur eines Mannes entkommen, dessen immense Höhe dank eines Kastorhutes noch unterstrichen wurde. Dem zerbrechlichen Erscheinungsbild zum Trotz hielt er dem schneidenden Wind besser stand als ich. Der Anblick von uns beiden so dicht beieinander musste mindestens befremdlich wirken. Als würde sie den enormen Unterschied kompensieren wollen, gesellte sich nun eine plumpe, aber offenherzig ausschauende Dame dazu und ein Kind, das sie sich an der Hand auf Schritt und Tritt folgen machte. Es blieb bei diesen dreien, und ich wusste nicht recht, ob mir das genügen konnte. Sie brachten keinen Proviant und waren nicht minder hilflos; noch ehe sie sich erklärten, schwante mir, dass sie bei meinem Anblick dieselbe Zuversicht empfanden und in naher Zukunft genauso enttäuscht werden würden. „Gottlob, Madam! Als das Rad unserer Kutsche brach, stellten wir uns auf das Schlimmste ein. Wir riefen lange, aber niemand hörte uns. Dann schweigen wir, gezwungen von unseren heiseren Kehlen, und – da werden wir errettet! Der Himmel muss Euch schicken!“ Seinen Himmel in allen Ehren, der in größter Not dicke, schwarze Engel schickte. Nun, vielleicht brauchte es derer auch, damit man Gottes Boten in des bitteren Winters Schneegewalt überhaupt ausmachen konnte, in welcher blondgelockte Bohnenstangen erbarmungslos untergehen würden. Als ihr Erretter führte ich die kleine Gruppe selbstverständlich sofort zum Hof – ein beschwerlicher Weg, auf dem uns die Hausherrin mit zwei Dienern entgegenkam und ich die ersten Informationen erhielt: Steven Smith hieß der optimistische Kutscher, der die Hardys nach Süden hatte fahren wollen, als die alte Droschke nicht etwa stecken geblieben, sondern schlichtweg zusammengebrochen war. Mister Smith erzählte abenteuerlich, wie das Hinterrad mit einem Explosionsknall über das Feld geflogen war. Dass er fast erfroren wäre, fiel ihm erst ein, da er und seine Kunden in Decken am Kaminfeuer saßen. Lady Elizabeth ordnete heißen Tee für die Gäste an und setzte sich dazu, um Misses Hardy zum Reden zu ermuntern. Natürlich war auch der wachsame Norrington-Spross erschienen, die Fremden zu analysieren, und mit steigendem Vergnügen sah ich seinen auf dem anderen Buben haftenden Blick. Dieser fühlte sich von seiner jungen Intuition getrieben, nach dem Grund der störenden Beklemmung aufzusehen, und da er James erhaschte, sprang er aus dem Sessel und tappte in aller Seelenruhe auf die Tür zu. Kurz schien es, als würde James einen Abgang in Betracht ziehen, doch er blieb stehen, noch als der ihm in der Größe um nichts Nachstehende vor ihm innegehalten hatte. Weiter passierte nichts. Wir hörten die Frauen amüsiert plappern. Die Enttäuschung war auf unserer Seite vergessen. Was die andere betraf, so hatte Elizabeth versprochen, das verlorene Rad durch ein Neues zu ersetzen, sofern sich die Gäste ausgeruht hatten. Sie freute sich über jeden Menschen, dem ihre Anschauungen der Welt noch nicht bekannt waren und der ihr wiederum die seinen offerieren mochte. Ihr Gespräch gestaltete sich dermaßen innig, dass Misses Hardy gar keine Kunde nahm von ihrem Sohn, welchen sie vorher wie einen teuren Fächer gar nicht aus der Hand geben wollte. Es konnte durchaus sein, dass sie seinen Alleingang, kaum dass sie seinen Freiraum beschränkt wusste, gewohnt war. Er schien im Gegensatz zu unserem Jungen recht aufgeschlossen zu sein. Seine Hand schnellte in die Mitte zwischen den beiden. „Ich bin Will.“ James starrte ihn an. Rasch wandte ich mich einer irrelevanten Tätigkeit zu und drehte wie zufällig meinen Kopf wieder zu den Kindern. „Seien Sie höflich und stellen Sie sich dem jungen Mann vor, James.“ Die beiden registrierten mich, aber nicht lange war ihre Aufmerksamkeit voneinander abgelenkt. Das Adjektiv höflich musste etwas in ihm geweckt haben, denn er nahm die Vorstellung auf einmal sehr ernst. Vor allem sein Vater bestand auf diese Ausführlichkeit, die gegenüber dessen Gästen angemessen sein mochte, angewandt auf einen Gleichaltrigen jedoch sehr komisch und zugleich sehr traurig war. „Mein Name ist James Alexis Lawrence William Norrington, Sohn des Admirals und Naval Lords Lawrence Richard Norrington. Ich bin erfreut, Ihre Bekanntenschaft machen zu dürfen.“ Und deutete nur mit dem Kopf eine kaum sichtbare Verneigung an. Bloß nicht zu tief das Norrington’sche Haupt! Auch darauf bestand der Lord. Wie zu erwarten war, ließ die Miene des Hardy-Jungen keinen Zweifel, welchen Eindruck James auf ihn hinterlassen hatte. „Das… ist ja ein sehr langer… und sehr schwerer Name. Ich glaub’, den kann ich mir jetzt gar nicht so… so merken…“ Eine scharfe Erwiderung blitzte in den hellgrünen Augen, doch ausgesprochen wurde sie nicht: Du wirst ihn sowieso nicht brauchen, denn so lange wirst du dich hier nicht aufhalten. Der Mütter schon freundschaftliche Redseligkeit im Hintergrund schien im Vergleich dazu grotesk. Ich musste an den Kanarienvogel denken. „Kann ich einfach James zu dir sagen?“ William Hardy zählte ungefähr ein Jahr weniger als James. Wie der mit einem Taufnamen, so war auch er nach dem gegenwärtigen Herrscher Englands benannt worden, welcher in seinem Geburtsjahr die Krone empfangen hatte. Durchaus kein seltener Name, denn viele Eltern versuchten auf diese Weise, ihrem Erben die wünschenswerten Attribute des Monarchen, der die Meinungsfreiheit zugelassen hatte, der Wirtschaft und Kultur dieses Landes aufleben ließ und dem religiösen Streit Einhalt gebot, zu verleihen. Sein Vater unterhielt eine mittelmäßige Reederei und hatte demnach ähnlich viel mit Schiffen zu tun wie unser Herr, jedoch war William nicht dazu erkoren, das väterliche Geschäft fortzuführen, sondern sollte und – was das Erwähnen wert ist – wollte einmal die englische Armee zu Lande verstärken. Jegliche Voraussetzungen, die ich Ungebildete mir vorstellen konnte, schien er bereits mit seinen fünf Jahren zu erfüllen oder waren zumindest im Ansatz vorhanden. Wovor uns die Mauern des imponierenden Herrenhauses weitestgehend geschützt hatten, brachte Will Hardy nun hinein, und was uns diese Epoche der Kälte geraubt hatte, gab er uns zurück. Er war ein kleiner Sturm, der uns erwärmte, der zwar kein Besteck angemessen zu verwenden wusste, jedoch aufrichtig und von dem Gemüt der Sonne war und, wiewohl er auffällige Probleme damit hatte, sich auch verständlich mitzuteilen, vor keiner Gefahr zurückschreckte. Ich kam nicht darum herum, den aufgeweckten Jungen bei allem, was er tat, mit James zu vergleichen. Neben ihm wirkte er wie ein flacher Umriss, nicht mehr. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass ihn Wills Verhalten bedrängte oder ob mir der enorme Unterschied in der scharfen Gegenüberstellung zweier Extreme zum ersten Mal auffiel, dass mir zum ersten Mal klar wurde, was Jungen waren, was James nicht war. Vermutlich spielte beides eine Rolle, denn es war nicht von der Hand zu weisen, dass Will unbewusst die Ambition des in einen fernen Himmel aufgestiegenen Kanarienvogels übernahm, Menschen zu interessieren, zu unterhalten, zu fesseln, zu verzaubern, was ihm spielerisch gelang. Hingegen hatte James nun die Rechnung für seine unheimliche Diskretion zu tragen. Niemand mehr war über den Jungen entzückt, der in den alten neuen Schuhen über die dicken Teppiche stolperte. Niemand versuchte die Aufmerksamkeit von Norringtons Sohn mit selbst montierten Geräten und lustigen Geschichten zu kaufen, was ja doch nie glückte. Während der Abwesenheit des Admirals, während der Präsenz eines echten Kindes schien man den von den Dienern stets ferngehaltenen, kühl-höflichen, aber nicht freundlichen Jungen als einen Ersatz des Lords zu sehen und behandelte ihn auch so. Eben dies beschwor einen Teufelskreis. James’ Augen verschmälerten sich und tauchten aus den schweren Wälzern auf, wann immer Will Zentrum wurde, Applaus und helles Lob ertönte. Nach einer Periode der Trockenheit ergötzten die Menschen des Hauses sich an der Brise William Hardy, und anders als ein Vogel ließ die sich nicht in einen Käfig, in ein kaum betretendes Zimmer sperren. Kapitel 10: I. Ein freier Vogel ------------------------------- Angesichts meines genauen Vortrages über Will Hardy und seine wundersame Wirkung auf die deprimierten Hausbewohner mag man sich bereits gedacht haben, dass der eigentlich gar nicht planmäßige Zwischenstopp der Durchreisenden von längerer Dauer war, als es für einen Aufenthalt bei Fremden üblich gewesen wäre. Es hatte durchaus seine Berechtigung. Inzwischen war es einigen starken Männern gelungen, die Kutsche auf den Hof zu transportieren und das Rad provisorisch zu ersetzen. Dennoch befand die Hausherrin, dass es unverantwortlich sei, die drei Gäste in den anhaltenden, nur sporadisch schwächelnden Sturm zu entlassen. Man richtete Zimmer für sie her und ließ sie unbeschämt teilhaben an den bedürftigen Mahlzeiten. Weder Mutter und Sohn, die gewiss besseren Standart gewohnt waren, noch der Kutscher äußerten auch nur eine Beschwerde. Für die ungedacht lange Zeit, die sie hier verbrachten, eine Zeit, in welcher der Winter regierte und jegliche Grenzen verschneien machte, verwuchsen sie mit uns, waren wir alle miteinander verästelt wie eine große Familie. Der Hunger, die Kälte… Irgendetwas zog auch den introvertiertesten Lakaien in unseren gemeinschaftlichen Kreis. Nach einer mir ewig vorkommenden Länge saß ich endlich wieder mit Benedict beieinander. Mister Smith stellte sich ungeachtet seiner äußerlichen Erscheinung als eindrucksvolle Hilfe für unsere Männer heraus, die in dem nahe gelegenen Wald neues Feuerholz beschafften. Wir fühlten innige Dankbarkeit für jede Speise, die nicht gefroren war, und einige fielen ihr fast zu den Füßen, da Lady Elizabeth uns die Schätze aus dem verschlossenen Weinkeller präsentierte. Sie sollten gegen die Kälte sein, aber letztendlich wurden sie doch gegen alles eingesetzt, was Wein so bekämpfen kann, und derlei Gründe gibt es bekanntlich genug, wenn man gerade nach welchen sucht. Diesen Abend feierten wir, vergaßen den Winter und so manche Hemmungen. Steven Smith stolperte in mein Blickfeld und ich hatte auf einmal das Gefühl, etwas Wichtiges wiedergefunden zu haben. Späße treibend rangen wir beide uns durch die großen Räume. Ich suchte Elizabeth, um mich ihr zu empfehlen für den Abend, doch ich sollte sie nicht entdecken. Will tanzte auf einem leer gefegten Tisch und spielte Pirat. Die Menge brüllte vor angetrunkenem Humor und hätte es wahrscheinlich auch dann getan, wenn der Knabe einfach nur stumm daneben gestanden hätte. Ich ließ sie. Ich ließ sie, obwohl ich es besser wusste. Der Hunger in einem intimen Bereich meines Körpers nahm überhand. Und damit stand ich nicht allein. Mit strahlendem Gesicht, fast wie zwei Kinder verließen wir nach ein paar Stunden meine Kammer. Überall brannte noch Licht, und auf dem Flur war das Grölen und Lachen aus dem Salon zu hören. Wir wollten wieder hinuntergehen, sahen einander an und lächelten verschmitzt, dann bogen wir ab und – Benedict! Mich traf der Schlag. Dieser Blick! Ich werde ihn nie vergessen. Wie Gott in einer persischen Erzählung Rose und Nachtigall voneinander trennte, riss ich mich von Steven los und bemühte mich um Selbstdisziplin. „Benedict! Ähm… Wolltest du mir irgendetwas…“ – Himmel, ich schien einen Mord verheimlichen zu wollen! – „…sagen?“, würgte ich das Satzende beinahe hervor. Der Blick des Gärtners veränderte sich nicht. Ich glaube, ich habe ihn noch nie so gesehen. Und das Schlimmste war, dass ich diesen Blick, nichts anderes – keine Verzeihung, kein Verständnis, keine Erklärung – nur diesen einen Blick verdient hatte. „Du solltest zu der Herrin gehen“, sagte er lediglich und in seinem Inneren knackte heißes Gestein. Die Hitze wurde unerträglich. Steven schaute verwirrt auf mich nieder und ich fühlte, dass er helfen wollte, doch ich schob ihn bestimmt von mir. Benedict selbst hatte mir, möglicherweise bewusst, einen Ausweg eröffnet, und ich wollte nicht, dass er sich vor mir schloss, also nickte ich knapp und eilte an ihm vorbei. „In ihrem Zimmer“, rief er mir nach. Ich hoffte, er würde mir nicht folgen. Oder diente dies alles dem Versuch, mich in eine Enge zu treiben, mich zu stellen, wo mich jetzt niemand vermuten würde? Schließlich wüsste ich nichts, das Elizabeth während dieser sorglosen Feier… oberflächlich sorglosen Feier von mir verlangen mochte. Steven! Steven Smith war bekannt, wohin ich mich begab. Oder würde Benedict ihm in seiner von Trauer erfüllten Wut – denn nichts anderes hatte ich in seinen Augen gesehen: ansteigende, schmerzhafte, gefährliche Wut – etwas antun? Er bedachte nicht, welche Folgen es nehmen würde. Aber ich konnte mich nicht umdrehen. Weil ich mich nicht traute. Um Lady Elizabeth machte ich mir keine Gedanken. Die Tür zu ihr stand offen, vielleicht durch Benedict. An der Breitkante des Bettes, die man gleich sah, wenn man vom Korridor aus hineinschaute, saß sie in dünner Batistchemise und mit angezogenen Beinen. Da ich aber ihr Gesicht zwischen dem verworrenen Haar ausmachte, erwachte die Sorge und verdrängte alles andere; ich ließ mich vor ihr nieder, legte meine Hände auf ihre Schultern und bemerkte, dass sie nur gering kräftiger waren als die ihres Sohnes. Sie hatte auf mich nie gewirkt, als würde sie das Essen vernachlässigen. Sie erwiderte meine Aufmerksamkeit nicht, so als sei sie nicht überrascht über, nicht interessiert an der angebotenen Unterstützung. Deshalb musste ich sie bestimmt dazu bewegen, mich anzusehen, und da ich so tat, zeigte sich kaum merklich diese Angst in ihren Augen, die selten, mir aber nicht unbekannt war seit jenem Tage, fünfundneunzig nach James’ Aufbruch zur ersten großen Reise. Doch was sie zu bedeuten hatte, das wusste ich nach wie vor nicht. „Schicke ihn fort“, befahl sie endlich. Wen? Niemand außer uns beiden war hier. Oder irrte ich? Ich hatte niemanden hereinkommen hören. „Fort mit ihm!“, herrschte sie mich an, dass ich heute nicht mehr sicher bin, ob mich ein Stoß von ihr oder der Schreck allein zurückgeworfen hatte. Hastig warf ich den Kopf herum. Lange suchen musste ich nicht, denn er war nie darauf aus gewesen, sich zu verstecken. Unmittelbar neben der Tür, an einer Kommode, unter einem Spiegel stand er, gepresst an das polierte Nussbaumholz, aber keine Miene verziehend. Ihm war nichts Beunruhigendes anzumerken. Ich führte aus, wonach Lady Elizabeth verlangte; widerstandslos ließ sich James aus dem Gemach geleiten. Das ganze Stockwerk lag in seltsamer Stille, als ich die Tür hinter mir schloss, obwohl die fidele Geräuschkulisse im Erdgeschoss bis hier oben hin lärmte. Ich führte James in jene Richtung, der folgend wir nicht zu seinen Räumen gelangen würden, denn ich wollte mich hüten, Benedict oder Steven allzu früh wieder zu begegnen. Stattdessen brachte ich ihn in das nicht weit entfernte Büro seines Vaters, an das dessen umfassende Bibliothek schloss. Auch hier machte ich die Tür zu, um uns vor etwaigen neugierigen Ohren zu schützen. „Sie hätten bei meiner Mutter bleiben sollen“, riet er mir erhobenen Hauptes, doch fühlte sich in Wahrheit unwohl ob dieser Gegenüberstellung. „Damit Sie nicht darüber reden müssen?“, parierte ich. Er wandte den Blick ab. „Was ist vorgefallen, James?“ „Nichts. Von dem Wert, erklärt werden zu müssen.“ Es war wohl erklärungsbedürftig genug, wenn Lady Elizabeth, die ihres Sohnes nicht überdrüssig werden konnte, ihn auf einmal aus ihrem Zimmer befahl wie einen diebischen Verführer. „Ich begehe mich zur Ruhe.“ Schon fasste er nach der Türklinke. Ich vermied dieses Mal, was auch zu meinen Aufgaben zählte, seinen kleinen Diktionsfehler zu verbessern, und korrigierte stattdessen die Hierarchie zwischen Amme und Kind, indem ich seine Hand gar herunterriss. Erstaunen war die rare Regung, mit welcher er meinen gefährlichen Mut belohnte, und endliche Beachtung. „Wenn du nicht… Sie nicht sprechen, werde ich Ihrer Mutter nicht helfen können.“ „Niemand kann ihr helfen.“ „Warum nicht?“ Seine Pupillen wanderten den Boden entlang. „Weil niemand bis zu dem, was sie belastet, vordringen kann.“ „Was ist es?“ Dann richteten sie sich wieder auf mich. „Ich kann nicht wissen, was es ist. Ich weiß ausschließlich, dass niemand daran gelangen wird.“ „Aber Sie wissen, weshalb es passiert ist“, stellte ich ihn erneut. „Nichts ist passiert.“ Jedes Wort einzeln betont. Er begann, mir drohen zu wollen, drohen auf seine indirekte, missverständliche Art. Sein Drängen zu diesem Drohen verriet mir, dass er durchaus etwas verbarg, das meinen Groll, selbst nicht zur rechten Zeit dagewesen zu sein und deswegen den Bericht aus einem rätselhaften, weit mehr Geheimnisse enthaltenden Kind ziehen zu müssen, immerhin ein Stück weit besänftigen würde. Es erschloss sich mir jedoch nicht, wie ich ihn zum Reden bewegen konnte. „Haben Sie sich mit Ihrer Mutter aussprechen wollen?“, holte ich aus, da mir unsere nächtliche Unterredung in den Sinn kam, und selbst, wenn er jetzt verneinen würde, so schien es mir unwahrscheinlich, dass beides nicht miteinander in Zusammenhang stand. Er bestätigte es mit einem langsamen Nicken, mich überraschend durch die unvermutete Einstellung zur Kooperation, wobei der Junge selbst gewiss nichts anderes wollte, als dass endlich jemand die Last des Verschwiegenen von ihm nahm. Allein er war geprägt durch einen sich immer selbst zu helfen wissenden, abverlangenden Vater, einer stolzen, sich mit der ständigen Einsamkeit arrangierenden Mutter, deren beider Anforderungen und wahrscheinlich weit mehr, von dem ich nie erfahren würde, und aus diesem Grund musste ich – unfähig, etwas zu beeinflussen – hinaufsehen zu einem Höhenängstlichen, der mit kindlicher Unsicherheit auf dem schmalen Seil der elterlichen Genugtuung balancierte und früher oder später fallen würde, weil man sich immer wieder, solange man sich vor etwas fürchtete, gezwungenermaßen mit dieser Angst auseinandersetzen müsste. Doch das ahnte man nicht. Nicht bewusst. Niemals würde er mir irgendetwas verraten. Ich ließ ihn sich an mir vorbeidrängen, ließ ihm die Zeit, in sein Zimmer zu laufen. Dann ging ich selbst. Elizabeth schlief bereits oder tat so. Was sollte ich machen? Forsch sein? Die Angelegenheit auf sich beruhen lassen? Einerseits war ich nicht mehr als eine Dienerin des Hauses. Andererseits oblag mir doch gerade deshalb eine gewisse Verantwortung für dessen Familie. Oder interpretierte ich zu viel Bedeutung in diesen dunklen Wanst? Zumindest innerhalb meiner freien, grenzenlosen Gedankenwelt durfte ich zusammenfügen, erkennen, spekulieren. Ist unser Verstand nicht das wertvollste Geschenk, der teuerste Besitz? Ich versuchte, mir die Einzelheiten des besagten Gesprächs mit James zu vergegenwärtigen. Ich war dieser Nacht sehr schwach gewesen, stets schwankend zwischen Wachheit und Schlaf, in einem Zustand der siechenden Trunkenheit schon, sodass sie mir immer wieder, wenn ich glaubte, eine von ihnen zu erfassen, entglitten wie nasse Seife. James versuchte, durch den Schlitz der schweren Holztür seines Gefängnisses namens Diskretion Stück für Stück verschlüsselte Hinweise zu schieben, und merkwürdig war, dass Lady Elizabeth dasselbe aus derselben Zelle tat. Wer war es also, der ihre Münder auf Verschluss bewachte? Admiral Lawrence Norrington? Zumindest Elizabeth musste wissen, dass sie mir alles erzählen konnte, ohne dass ich es an jemanden weitergab – auch nicht an den Lord. Nun, während dessen Abwesenheit, war der geeignete Zeitpunkt für das Geständnis da. Was also hinderte sie, die sie offensichtlich schwer litt unter jenem, von dem ich nicht einmal wusste, ob ich es je würde erschauen können, wenn ich aufmerksam war, oder ob es sich um etwas handelte, das allen physischen Augen vorenthalten blieb, am Sprechen? Ich beschloss, die Entwicklung des heutigen Abends vorerst zu verfolgen. So, wie es Elizabeth hatte vollkommen neben sich selbst stehen lassen, musste es sich auch am folgenden Morgen in irgendetwas äußern, das ich hoffentlich ausnutzen konnte. Das tat es nicht, leider. Oder erfreulicherweise? Die einsame Gemahlin entzückte sich ob des Frühstücks, welches man ihr zubereitet und selbstverständlich auf das Gemach getragen hatte, James schob abwechselnd die weißen und die schwarzen Figuren über das adäquat karierte Feld. „Darf ich bitte in Herr Vaters Bibliothek?“ Sie lächelte in der Güte eines Engels. „Nein.“ Wieder änderten die Figuren ihre Position. Ich fand nicht den Mut, das Thema anzusprechen, obwohl sich mir jetzt die anscheinend beste Möglichkeit dazu bot. Eine Weile ging es so weiter, dann legte Lady Elizabeth das Haupt schief. „Weshalb spielst du nicht mit William?“ „Er kann kein Schach.“ „Du musst ja nicht unbedingt Schach mit ihm spielen.“ Er blickte sie an, als habe sie ihm soeben eröffnet, dass er sich heute nur zwischen Lachs und Steinbutt entscheiden dürfe. „Vielleicht fällt ihm eine interessante Beschäftigung ein.“ Wie immer, wenn jemand Will etwas zutraute, verdunkelten sich James’ Augen. „Er tut den ganzen Tag nichts als herumzurennen, Laute fernab jedes Worts von sich zu geben oder sogar zu singen. Er hat seinen Körper noch nicht unter Kontrolle. …Und seinen Geist offenbar auch nicht.“ „Er ist ein Kind, James.“ „Er ist ein Jahr jünger als ich.“ „Gibt dir gerade das nicht zu denken?“ Ein Blinzeln. Es gab ihm durchaus zu denken, wie mir schien, denn gen Nachmittag suchte er selbst nach dem Kontakt mit erwähntem Kind. Ein Großteil des Personals lag immer noch in seinem Bett, und hätte Lady Elizabeth es unter diesen Umständen nicht verstanden, so würde sie ihn bestrafen für die gegönnte Weinseligkeit. Es war der Schritte ruhig innerhalb der Villa, sodass James sich ungestört zu Will begeben konnte, ohne sich durch einen fest verschlossenen Kreis vergnügter Bediensteter quetschen zu müssen. Übrigens zählte auch Benedict zu den sich vom reichen Trank Kurierenden, der sonst ausschließlich (am Liebsten frisch gepressten) Fruchtsaft und Milch (gerade von den Kühen! Sie muss noch natürlich warm sein und nuanciert süß schmecken! Und je nach Jahreszeit, Tier und Futter anders!) favorisierte. Freundlich wie er war, unterbrach Will sein Nachziehen der Marmorierung des Bodens. Zweifellos hatte er unseren Jungen sehr gern. Der diese respektvolle Zuneigung, wie ich eingestehen muss, eigentlich gar nicht verdient hatte. „Was tust du?“, verlangte James zu wissen, weil ihm keine bessere Frage in den Sinn gekommen war, wie ich erkannte. „Ich maaale.“ „Wenn du derart mit den Fingern über den Boden fährst, hinterlässt es fettige Abdrücke.“ „Ja. Toll, nich’?“ Sein Blick wurde scharf. „Nein! Du machst ihn ja schmutzig. Hardy… Schluss jetzt!“ Wills Iriden nahmen die Farbe von Bernstein an, als sie feucht wurden. Mit bebendem Mund starrte er auf seine Hand, die hart umschlossen von James seiner weg vom Untergrund gezogen worden war. Das Zittern erreichte seine Schultern, dann erfasste es den gesamten kleinen Leib. Erst jetzt begriff James, was zu passieren drohte. Flugs gab er ihn frei und Will, der die Tür zu seinem Tränenreich zuschlug, setzte seine gänzlich triviale Tätigkeit fort. „Willst du mitmachen?“, fragte er heiter. „Warum tust du das?“ James tastete sich allmählich an seiner Naivität vorbei. „Weil, es ist lustig! Komm, mach mit!“ Ehe er es realisierte, schnellte der junge Hardy vor und griff, rüttelte an James’ Ärmeln. Sicherlich bräuchte ich es nicht einmal zu erwähnen, dass der sich heftig zur Wehr setzte. Aus der Entfernung zu den beiden Jungen tönte ein Gewirr von „Nein!“ und „Lass das!“ und „Komm schooon!“ und „Ich rufe gleich!“ und „Mach mit!“ und „Es ist lustig!“ und „Gleich…!“ und „Ihihihihihihi!“ und so weiter hinüber und brachte mich zum unfreiwilligen Lachen. Will beschloss aus einem mir nicht bekannten Grund, einfach einmal über James hinüberzuklettern, und es kam, wie es kommen musste: Der Ältere stürzte unter dem nicht auszugleichenden Gewicht nach hinten um, Will kullerte kichernd von ihm herunter und blieb ein paar Fuß weiter mit ausgestreckten Gliedern liegen. Als Erster sprang er auf die Beine und – James’ Nachgeben scheinbar falsch verstehend – gleich wieder auf ihn hinauf. Ich konnte nicht einschätzen, was genau er mit seinen erneuten Fuchteleien bewirkte. Möglicherweise wollte er auch gar nichts bewirken. James nahm seine Kraft zusammen und beendete die Rangelei endlich, doch da präsentierte Will stolz sein Ass, von dem ich gar nicht wusste, dass James es mit sich führte: Den so geschätzten Kompass des Großvaters. „Ich bin Pirahaaat!“, verkündete der kleine Dieb fröhlich und rannte durch den Speisesaal, dicht gefolgt vom rechtmäßigen Besitzer. Ich wich ihnen aus, dann erreichte er ihn beinahe, doch in der letzten Sekunde rettete sich der lebhafte Junge auf den Tisch, in dessen Mitte er sich zu voller Kürze aufrichtete und in Gedanken den Anker lichten ließ. James’ schnaufende Bemühungen, ihn herunter zu befehlen, blieben ohne Wirkung. Wie jedes begeisterte Kind verstand auch Will nicht, wann ein Spiel endete. Er langte in die Porzellanteller und warf die Kleinkramdekoration, mit der ich die Leere der ehemaligen Obstschüsseln zu überdecken suchte, nach dem unten Stehenden. Der hob seine Hände über den Kopf, doch die waren so empfindlich wie sein Gesicht. Schmerzen, das kannte er nicht, davon war ich überzeugt, auch wenn man nach seines Vaters einstweiliger Obhut etwas anderes hätte vermuten können. Ich hatte erfahren, dass der Lord – ich bin mir nicht sicher, ob es mich überraschte – sehr darauf bedacht war, dass James an Bord seines Schiffes kein Haar krümmte oder gekrümmt wurde, dass er seinen Schiffsarzt Dr. Beatty eigens auf ihn angesetzt und dass ihm unverhohlene Erleichterung im Blick gestanden hatte, da sein Sohn nach dem Sturz in das Wasser wieder in Sicherheit gelangt war. Bis er nur Sekunden später auskühlte. "Verdiente Schelte" nannte James die tief treffenden verbalen Züchtigungen, die Lord Norrington zum Bedauern meisterlich zu verwenden wusste, wahrscheinlich, um den hässlichen Schmerz durch ein Kleid des positiven Nutzens erträglicher zu machen. Und viel später sollte ich erfahren, dass nicht nur Lawrence Norrington erfolgreich alles weltliche Leid von seinem Nachkommen abwendete, ihn zugleich dem unsichtbaren und sich weit unterscheidenden Leid der Seele aussetzte, was im Leben von James Norrington zu Entbehrungen führen, ihm jedoch gleichsam ein Anstoß sein würde, aus dem von seinen Eltern gesponnenen Wintermantel zu gleiten und die abertausend Nadeln der Kälte auf der bloßen Haut zu empfangen, nur um den nie gekannten körperlichen Schmerz dessen zu erleben, was ihm mental seit seiner Kindheit vertraut war. Und vielleicht war das hier der erste Schritt in jenen echten Winter. James riss an Wills Fuß, da dieser gerade den schmuckvollen Kompass zu werfen drohte, und ließ damit zu, dass der Jüngere ihm halb im Spaß, halb im Schreck den nunmehr wieder leeren Porzellanteller über die Stirn zog. Ein heiseres Klirren begleitete Wills Schrei beim Herunterfallen, dann waren die Rollen vertauscht und James stand nun siegreich und mit dem Kompass in der Hand über ihm. Er zeigte dabei sogar ein ehrliches Lächeln, genauer: ein ehrlich schadenfrohes Grinsen; etwas, das ich nie an ihm gesehen hatte. „Ich fürchte, ich muss den Piraten davon hinweisen, dass eben dieser soeben in eine aussichtslose Lage geraten ist und demzufolgend mit höchster Wahrscheinlichkeit katapultieren muss.“ Will lachte freundlich. Und ganz bestimmt würde er den körperlichen Schmerz bezwingen und ein mutiger Soldat werden. Zuvor jedoch musste ich mich um seine Kriegsverwundung sorgen, welche ihm selbst erst bewusst wurde, da ich ihm die blutfeuchte Watte vor Augen hielt, bevor ich seine Stirn verband. Mit großen Augen starrte er sie an. „Ich war so sehr in das Spiel versunken…“ Ich vermochte nicht zu sagen, ob dies eine Rechtfertigung oder eine Frage darstellen sollte. Zu denken gab, dass ich mich über die Verletzung freute. Etwas mulmig wurde mir nicht etwa wegen der Befürchtung, sie würde irgendeine Komplikation mit sich bringen, sondern aufgrund der Überlegung, wie wir sie Lady Elizabeth erklären konnten. Vor allem, weil ich schließlich dabei gewesen war und eingreifen gemusst hätte. Eben das warf sie mir vor, als es so weit war. Ich konnte keine Antwort darauf finden, die mir selbst einleuchtete; alles andere empfand ich als Lüge gegenüber meiner Herrin. Sie tobte. Und das irritierte mich. Die Elizabeth, welche mir bekannt war, die früher mit mir über James’ Unbeteiligung an alltäglichen Freuden gerätselt hatte, hätte sich natürlich beherrscht. Mitunter sogar und ganz heimlich mit mir gefreut. Doch dieses von Schminke und Wut verschmierte und fast schon zu menschliche, zu fehlerhafte Gesicht war mir fremd. Sie schickte mich hinaus und behielt James bei sich. In den nächsten Tagen begleitete sie neben dem braven Jungen der Argwohn, mit welchem sie selbst Misses Hardy bedachte. Und doch gelang es James plötzlich mit wahrlich spielerischer Leichtigkeit, sich in den verschiedensten Auseinandersetzungen mit Hardys Sohn immer wieder kleine Wehwehchen zuzuziehen. Hat der Vogel erst einmal fliegen gelernt, dann wird ihn nichts so rasch auf den Boden zurückholen. Kapitel 11: I. Kakao -------------------- Nach der grauenhaften Kälte atmete die Natur im April erschöpft aus. Sie schüttelte sich den Schnee von den Schultern und brach sich vorsichtig das Eis von der Nasenspitze. Aus dem weißen Boden ragten zögerlich die ersten grünen Halme, und durch den schwergrauen Wolkenmantel spähten einige schwache Sonnenstrahlen. Leise fragte ein Vogel in den Garten, ob jemand da war, und der Teich begann, sich zu regen. Die trockenen Bäume streckten sich und spannten sich an, Blütenknospen sprießen zu lassen, doch noch fehlte ihnen die Kraft. Lady Elizabeth stand am kleinen Grab ihres jüngsten Kindes und verabschiedete den vergangenen Winter und all das, was er gebracht oder genommen hatte. Man konnte die Umrisse ferner Erhebungen am Horizont sehen, über welche der neue Morgen glühend vor Anstrengung kletterte, als wir unsere Gäste verabschiedeten. Mit sehnsuchtserfüllten Augen begegnete ich Stevens schuldbewusstem Blick. Seit dem einen Abend hatten wir uns nicht erklären, kaum ein Wort wechseln können. Benedict hatte ihm Angst eingejagt und wir fühlten uns selbst in den dunkelsten Räumen der großen Residenz nicht vor ihm sicher. Es hatte einfach nicht sein sollen. Als schwarze Frau in England war mein "Glück" in der Liebe ohnehin knapp bemessen, aber als Verantwortung übernehmende Amme sah ich nicht länger irgendeine Chance, durch eine oder innerhalb einer Beziehung glücklich zu werden. James reichte William Hardy gar kameradschaftlich die Hand, aber der ließ es sich nicht nehmen, seinen Spielgenossen noch einmal heftigst zu umarmen, was diesem schmerzhaft den noch nicht verheilten Bluterguss am Oberarm ins Bewusstsein rief. Endlich gesellte sich auch Elizabeth zu uns, empfing den Dank für ihre Gastfreundschaft und ein paar Wünsche. Wir drei standen lange am Tor und sahen der Kutsche nach; die flache Landschaft ermöglichte uns, ihr Schrumpfen zu einem Punkt zu verfolgen, und mir war, als würde sie unvermittelt in kleinste Partikel zerfallen, als hätte sie niemals existiert. Mein Körper ermattete jäh wie damals vor meinem Fieber, während der Frühling Ausflüchte stammelnd über den Plan fegte. Viel Zeit, in schwarzer Galle zu versickern, blieb nicht. Admiral Norrington kehrte heim. Die Familie und alle Entbehrlichen versammelten sich zum Ritual im Salon, Stunden später trat Seine Lordschaft durch die Tür, Elizabeth begrüßte ihn diszipliniert und James blieb jede französische Floskel in der Kehle stecken. Norringtons Antlitz war nicht durch kontrollierende Skepsis verhärtet, sondern erschreckend mutlos und blass, und wo wir normalerweise eine rauchende Zigarre sehen würden, starrten wir nun auf eine der verzierten Türflügel hinter ihm. Als er sich des ungläubigen Blickes des Knaben gewahr wurde, fuhr Leben in die gesunkene Gestalt des Seewolfes, er riss sich vor aller Augen Mantel und Leinen von der linken Schulter und streckte ihm die in dem Chaos eines Gefechts scheußlich genähte Amputationswunde entgegen. „Siehst du, James?! So sieht das aus, wenn du einem Franzosen die Hand reichst! Er reißt dir gleich den ganzen Arm aus! Ich hätte ihm das verdammte Rattenhirn wegschießen sollen, aber ich war nachsichtig, weil ich ihn sekundenlang für einen Ehrenmann hielt. Merke dir, Junge: Die Franzosen kennen keine Ehre!“ Lady Elizabeth erholte sich von der Tatsache, die nun zu unübersehbar war, als dass sie sich noch zu verleugnen lohnte. Während ein paar Diener den Hausherrn an den Tisch setzten, ließ sie Wein bringen, viel Wein. James hing an den Lippen seines Vaters. Eine eigenartige Spannung hatte seinen schmächtigen Körper ergriffen, eine Mischung aus Aufregung und Bange zitterte in seinen Augen. „Bitte erzählen Sie weiter, Herr Vater. Was haben die Franzosen getan?“ „Sie haben uns diesmal geschlagen, die Hunde!“, posaunte Lord Norrington, aber es klang nicht danach, die Frage des Jungen beantworten zu wollen. „Aber den Krieg, den werden sie nicht gewinnen. Dieser impertinente Schnösel von einem König jammert über die fatalen Folgen der letzten Winter in seinem Land, statt auf diesen unbedeutenden Sieg das Glas erheben zu können. Seine Schiffe werden von einem Haufen Versagern bemannt, weil ihm die Gefechte zu Lande wichtiger sind, aber selbst ein Versager, James, weiß eine Kanone auf unsere großen Schiffe auszurichten, und mehr braucht es nicht auf der See dieser Zeit als Quantität und blanke Gewalt.“ James machte Anstalten des Widersprechens, erinnerte sich jedoch rechtzeitig, wer hier vor ihm saß und vor allem in welchem Zustand. Erst heute Abend würde aus ihm heraussprudeln, dass er Brander eingesetzt hätte, die feindlichen Konvois auf Station auseinander zu jagen und die verteilten Schiffe konzentriert zu bombardieren. Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen, weil er auf diese Weise eine Beschäftigung einräumte, von welcher ich nicht die geringste Ahnung hatte, und war beruhigt, als er mir darauf wie selbstverständlich mitteilte, dass Francis Drake im Kampf mit der Spanischen Armada genauso vorgegangen war. Das habe er in seinem geschätzten Geschichtsunterricht gelernt. „Nehmen Sie mich mit, bitte!“, stieß James auf einmal aus, als der Admiral mit roten Wangen Vergeltung ankündigte, aber sein fontänenhafter Mut erlosch so rasant, wie er emporgeschossen war, wofür es nicht einmal eines zu Boden schmetternden Blickes des Vaters bedurfte, den zu rächen James zum Ausruf animiert hatte, ehe er sich seiner gerade einmal sieben Jahre entsann. Er wollte seine unbedingte Zugehörigkeit untermauern, um so die mattblauen Augen zum ersehnten Funkeln zu bringen. Die latente, ernste Vaterliebe hatte ihm ganz instinktiv jene Worte in den oft lautlosen Mund gelegt. „Sei kein Narr!“, donnerte der Lord erniedrigend. „Du schlotterst ja schon vor Angst, wenn du einem Gaul ins Gesicht schauen sollst, Junge! Muss dich erst auch noch ein Franzose auf den Armen wie ein Baby aus dem Wasser fischen, damit du begreifst?“ Elizabeth horchte auf. Natürlich. Neben denen, die damals an Bord der Victory dienten, war ich die Einzige, die um den Vorfall Bescheid wusste. „Er trägt es mir noch immer nach“, würde James an diesem Abend das Gespräch mit mir beginnen. „Werde ich mich jemals reinwaschen können von dieser Schmach?“ „Sie dürfen sich dafür nicht selbst verantwortlich machen“, suchte ich ihn zu beschwichtigen. „Sie baten den Piraten nicht um seine Hilfe.“ Er sah mich an, als ob er glaubte, mir nicht mehr vertrauen zu können. „Und… und wenn ich es getan hätte…? Ich meine, ich habe es nicht, gewiss nicht, aber…“ „Der Stolz ist es nicht wert, für ihn zu sterben.“ „Was ist es dann? Ich habe lange darüber nachgedacht und bin zu dem Entschluss gelangt, dass etwas nur dann des Lebens wert ist, wenn es auch des Sterbens wert ist. …Wofür leben und wofür werden Sie sterben, Ms Abda?“ Der Lord kippte ein weiteres Glas Wein herunter, schlug die noch übrige Hand, die es hielt, auf den Tisch und atmete dabei lange aus. „Nein, mein Junge. Jemand wie du leistet unserem König den größten Dienst, indem er im Vaterland bleibt und die Arbeit der Passiven verrichtet. Du gehst auf diese Privatschule und deine Mutter wird beten, dass du dort gut lernst.“ Sonst… Der Satz war nicht beendet worden. „Ich habe schon sehr viel gelernt“, würde James tonlos lamentieren, als ich ihn gerade in die Dunkelheit der Nacht schließen wollte. „Was soll ich erfahren, das mir nicht auch einer meiner Lehrer beibringen könnte? Was soll ich innerhalb eines Klassensystems, in welchem ich allen anderen voraus sein werde?“ „Die Schule kann Ihnen Ihre Erfolge schriftlich bezeugen und damit sämtliche Pfade in die Zukunft eröffnen.“ „Sollte ich nicht aber besser, da ich mich für einen einzigen entschieden habe, allein auf eben den hinarbeiten?“ Weil es offensichtlich war, ob und für was er sich entschieden zu haben glaubte, übersprang ich die Fragen danach. „Finden Sie es nicht voreilig, den Entschluss als endgültig zu erachten?“ „Er war nicht endgültig“, räumte er kurz darauf ein. Das wollte ich hören. Auch die Rationalität eines Norringtons gefror manchmal durch den Einfluss des einen oder anderen impulsiven Gefühls. Doch das Eis, auf dem manch unüberlegter Satz über die Lippen glitt, war nur dünn und gab im Schmelzen die Furchtsamkeit vor den Konsequenzen der eigenen Forderung frei. Er wusste, dass sein Vater im Recht war. „Wieso haben Sie ihn dann geäußert?“ Ich konnte es mir denken, warum, aber indem sein Mund es noch einmal aussprach, hoffte ich, dass ihm selbst seine Verbindung zum Vater bewusster wurde. Doch er gab mir – vielleicht, weil er es sich nicht eingestehen wollte – keine Antwort. Daraufhin bezog unser kleiner James ein Quartier in der Royal Grammar School, einer sittsamen, ehemals öffentlichen Schule in Norfolk, deren Tradition so viele Jahre zählte wie die Entfernung dorthin Meilen. Wieder kam ich mir hinsichtlich meiner Aufgaben, aber langsam auch bezüglich meines Geistes pensioniert vor. Der Urlaub erschreckte mich mit der Erkenntnis, dass es noch jemanden gab, um den ich mich dringend zu kümmern hatte: Mich selbst. Ich gab nach. Die auftauende Regsamkeit um das Domizil der Norringtons zog Lady Elizabeth und mich hinaus. Wir fuhren zu den umliegenden Kleinstädten, ritten auf neuen Pferden aus oder spazierten erzählend im erwachenden Wald. Einmal fragte ich sie eben dort in der platten Freude unserer Unterhaltung, wie sie dazu gekommen war, eine farbige Frau zur lady’s maid und schließlich sogar zum Kindermädchen zu ernennen, wo doch all die Frauen des bekannten Adelskreises inländische, gut gebildete Damen bevorzugten, was ich auch nachvollziehen konnte. Ich hingegen war in meiner Heimat Afrika höchstens zum Wurzelsammeln und Fleischkochen ausgebildet worden, ich war als eine Sklavin nach England geschifft worden, was man mich stets hatte wissen lassen, ehe meine gegenwärtige Arbeitgeberin Elizabeth diesen unbetonten Menschen aus der schwarzen Herde zu einem spöttischen Preis errungen hatte. Das Pekuniäre hätte ihr schon vor ihres damals Verlobten Ruhmeszug in der Königlichen Marine eine kritischere Auswahl gegönnt. Ich und diese anderen Überführten aus den Kolonialgebieten saßen dort innerhalb von etwas, dem ich mich heute nur noch als Stall entsinne; manche sprangen auf wie armselige Hunde, bellten Beteuerungen und führten kleine Kunststücke vor, jedes Mal, wenn unser Händler die ladies und gentlemen an unseren engen, vergitterten Raum führte. Was mich betraf, so zählte ich zu der nicht kleinen Menge, deren Hoffnung bereits durch die Schiffsreise, die ich bis heute nicht treffend zu beschreiben weiß außer, dass sie lang war, sehr lang; durch diese Schiffsreise jedenfalls zu sehr gelitten hatte, als dass sie sich noch einmal zu erheben vermochte. Eine Decke hatte sich über uns Trostlose gelegt, deren Staub dunkle Müdigkeit in uns aufkommen ließ und klebrige Trägheit. Wie unter dem Einfluss von Laudanum erinnerte ich mich an runde Strohhütten, die gleich Pilzen aus einem Land der Riesen vor zu Djembé und Balafon tanzenden Baumbergen in allen dunkleren und kräftigen Tönen der Farbe der Vegetation aus dem ebenen Boden gewachsen schienen, welcher mit seinem sonnigen Hellgrün einen einklanglichen Kontrast darbot und den erdig-krautigen, belebenden Duft ausatmete. Schaute man über die aus sternförmigen Pflanzen bestehenden Teppiche hinweg, konnte man den Verlauf des friedlich zu den Füßen spielender Kinder ruhenden Flusses bis zum Horizont verfolgen, an dem sich entfernt wieder Wälder entlangstreckten. Im Schutz der höheren Halme, deren angegrautes Gelb die leuchtenden Wiesen besänftigte, schlichen einzelne Tiere, angezogen von dem Lärm unserer Ziegenherde. In flatterndem Gewand schritt das Oberhaupt über die Siedlung und empfing lachend die ersten Funde und Basteleien der jüngsten Mädchen, während sich die in Farbe und Stärke wachsenden Stämmen gleichenden Krieger, die tatsächlich nicht älter als siebzehn waren, mir seinerzeit jedoch wie erwachsene Männer schienen, weil ich sehr klein gewesen war, in spaßhaften Raufereien und Wettbewerben für ihre Aufgaben der Zukunft übten. Denke ich jetzt daran, erkenne ich, dass ich nie einem erwachsenen Menschen meines Volkes von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden habe, und obzwar mir dies im Grunde kein gravierendes Versäumnis ist, vermag es mich trotzdem zu erschrecken. Plötzlich jedoch folgte ich über den sternförmigen Blättern nicht mehr dem ruhigen Fluss und den spielenden Kindern, stattdessen sah ich dort die Küste und ein Schiff mit bedrohlichen Masten wie riesige Speere, durchrauschte ich die Fahrt in jenem tothölzernen Monster, merkte ich schließlich im Arm meiner Mutter auf; ihr Atem sang mir leise ins Ohr, sie holte mir die verwelkte Blume ins Gedächtnis zurück, die wir im Boden unserer reichen Heimat hatten pflanzen wollen, sie sagte "Du musst jetzt gehen, Yewande" und war, als ich mich umdrehte, nicht da. Der Händler rief mich, er nannte mich Kakao, und ich gehorchte bereits, als habe ich in dieser Bezeichnung schon immer meinen Namen gesehen. Da stand eine junge Frau hinter dem Gitter, mich überraschten die Schlichtheit ihrer Gewandung und ihre bezaubernde Ausstrahlung, gerade noch in der Bewegung eines entschlossenen Zeigens, die Spitze des schlanken Fingers unmissverständlich auf mich richtend, wie es sich keine der anderen englischen Frauen getraut hätte. Sie lächelte mit einer offenen Miene, würdigte die an meinem Mitleid zerrenden Gestalten um mich herum nicht eines Blickes, bannte meine Augen an die ihren, lud mich mit ihrer ungetrübten Freundlichkeit ein, mich aus der stöhnenden schwarzen Masse zu erheben und ihr in einer Trance der Fassungslosigkeit entgegenzukommen. Dolchartig stachen hundert Augen in meinen Rücken und ich vernahm ihr missgönnendes Flüstern. Nie hatte ich geschrien, weil ich kaum ein Wort Englisch kannte, immer nur still dagesessen. Nie hatte ich etwas vorgeführt, weil ich nichts konnte, immer nur vor mich hingeträumt. Sollte ich einmal schön gewesen sein, so war meine Blüte zu jenem Zeitpunkt längst verflossen; mehrere Geburten hatten mich unförmig gemacht, meine Nase war flach und breit und mein Gesicht rund und wenig herausragend, meine Bewegungen ohne Rhythmus und Fluss. Nichts hob mich von der Masse ab, und doch hob sie mich nun von der Masse ab, gestattete sie es mir, nicht mehr das Teil eines Ganzen sein zu müssen, ein Irgendetwas, nein, sondern eine Person, eine Identität, ein Mensch. Sie, die in der Vorfreude der Hochzeit frohlockende Elizabeth Grace Defoe. „Du besaßt… diese einnehmende Ausstrahlung“, erklärte sie mir während unseres Waldspazierganges mit abwiegender Überlegung. „Ich sah dich an und spürte, dass ich dich retten konnte, wenn ich dich auswählte, und dich sterben ließe, würde ich es nicht tun. Eine vertrocknete Blume in dir sehnte sich bescheiden nach ein paar Tropfen Wasser und wenigen Strahlen der Sonne, die ihr genügen würden, um wieder zu strahlen, wie sie es sich selbst nicht bewusst war. Ich möchte dir gegenüber nicht die andere Hälfte der Wahrheit verschweigen: Als angehende Ehefrau bedachte ich natürlich auch die Tauglichkeit für Lawrences Nachkommen“ – sie wurde sehr leise, beinahe etwas beschämt – „und dir war die – leider unglückliche – Mütterlichkeit anzusehen… Mir wurde deutlich, dass ich Gottes Fehler gutmachen und dir die verlorene Chance geben musste, welche dir mit Fug und Recht zustand.“ Ich war verlegen, vor allem aufgrund des Vergleiches mit der Blume. Ob es daran lag, dass Blumen stets eine gewichtige Rolle in meinem Leben gespielt hatten? „Aber warum eine Sklavin, wenn Ihr doch wusstet, eine Amme beschäftigen zu wollen? Warum keine europäischen Gouvernanten, die dafür geschult sind?“ Da wurde sie wieder lauter. Ein bisschen erinnerte sie mich an ein junges Mädchen. Sie war siebzehn gewesen, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren. „Anfangs habe ich das auch in Erwägung gezogen, und Lawrence hat es, so kann man sagen, sogar gefordert – freilich weißt du, wie er ist. Aber diese Ammen aus England oder Frankreich oder sonst woher, die sind streng und verbittert wie alte Nonnen. Ich brauchte Natürlichkeit, Unberührtheit von Diane de Poitiers, Puder und Parfüm. James sollte in die Augen einer Mutter schauen, den Geruch einer Mutter in sich aufnehmen, er sollte Liebe erfahren…“ Sie sprach nicht von jenem James, der zuweilen die Schulausbildung und das Gefühl, Teil eines Kollektivs zu sein, erfuhr. Nie sprach sie von James Lawrence, wenn sie ihre unerfahrenen Träume, Vorstellungen, Pläne und die Realität von jenem Lebensabschnitt rund um die Vermählung an bis hin zum einen Jahr vor diesem, da der 20. März nicht länger nur irgendein Tag, Anfang des Frühlings war, Revue passieren ließ. „Ich ahnte, dass ich Lawrences Ehrgeiz, seinen Sohn sich folgen zu machen, durch irgendetwas kompensieren musste… Er durfte die Lehrer anstellen, jeden einzelnen ließ ich ihn kommentarlos akzeptieren oder ablehnen, doch die Wahl der Kinderfrau, auf die bestand ich mit derselben Entschiedenheit, die mir sagte, dass nur du meinen äußerst hohen Ansprüchen gerecht werden konntest. Und das bist du, und auch für mich… Ich hoffe, meine Antwort hat dir nun keine ideale Vorstellung zerstört oder dich gekränkt, ich wollte ehrlich sein.“ „Nein“, winkte ich lächelnd und befreit ab. „Die Gründe sind, selbst wenn sie rein zweckdienlich wären, was sie nicht sind, unterrangig. Ich lebe, Mylady, und ich lebe mit Privilegien, von denen jemand meiner Abstammung niemals hätte auch nur träumen können. Ihr habt mir ermöglicht zu leben, und ich diene Euch mit Freuden und dem Wissen, dieser Eurer Wohltat möglicherweise nicht gerecht werden zu können.“ Jetzt spielte sie es hinunter. „Wir sind doch beide Frauen, Abda.“ Nun lebe ich für dich, James. Und wahrscheinlich würde ich auch für dich sterben. Kapitel 12: I. Hausgeister -------------------------- „Was schreibt er?“, fragte sie den Admiral, der schon wieder allein am Tisch im stummen Speisesaal saß und eben den Brief gelesen hatte. Seine fünf übrigen Finger pressten sich gestreckt auf das Blatt Papier, das nicht etwa James beschrieben hatte, aber der Direktor der Royal Grammar School höchstselbst. Seine Lordschaft schnaufte, wie um sich selbst zu beherrschen. Die Vorstellung, James würde nicht den Erwartungen entsprechen, resolut zu lernen und mindestens in den meisten Bereichen von Trivium und Quadrivium zu glänzen auch innerhalb eines ihm fremden Umfelds, war mir fern. Etwas anderes als eine von fairen Diskussionen und vollkommenem Gehorsam durchwirkte Beziehung zu seinen Dozenten schien paradox, und auch besuchten die teure Privatschule freilich keine vielen William Hardys, die sangen und sprangen und auf ihm herumkletterten, sondern durchaus Kinder wie er, von vorbildlichen Manieren und manierlicher Vorbildung. Und doch war Lord Norrington anzusehen, dass irgendetwas nicht seinem Willen entsprach von dem, was ihm die Lettern vor seinen Augen berichteten. Er war seit seiner Rückkehr, seit dem Verlust seines Armes ein anderer Mann geworden. Ich konnte es nicht verhehlen, obwohl ich es wie die anderen Bewohner des Anwesens lieber getan hätte. Admiral Lawrence Richard Norrington der Blauen Flagge, jener nimmersatte Genießer, der einige Gänge Französisch verschlang und sich über Piraten zum Dessert freute, nachdem die leichte Vorspeise aus seinen eigenen, unangemessen agierenden Untergebenen bestanden hatte, der die unwürdigen Seelen all seiner Gegner in einer Zigarre zu rauchen pflegte, büßte mit dem Körperteil den Appetit ein, schmeckte nur noch bitter und salzig. Er sang keine shanties oder erzählte von Erfolgen, derer er genug vorzuweisen hatte, uns für ein ganzes Leben spannend zu unterhalten. Von Zeit zu Zeit war er schwierig wie ein greiser Kriegsveteran, strahlte nicht mehr jene unantastbare Überlegenheit aus, die uns allen Sicherheit versprach, er ging förmlich in sich zusammen und wusste mit seinem nach innen gerichteten, bald zweifelnden, bald rasenden Blick mein Mitgefühl zu erregen. Die dunklen Pupillen seiner Gattin zitterten, hatte sie doch, wie ich später wissen sollte, nach der absoluten Autorität gelechzt, welche sie vor jenem Unvernünftigen, dem sie sich aus Zwang hingab, bewahren sollte. Jetzt wird er alt, dachte ich damals, aber ich lag falsch. Lawrence Norrington war nie den Gesetzen der Zeit unterlegen. In seinem Verstand brodelte der Vulkan, der bis zuletzt nicht erlöschen sollte. Besorgt, aber stumm beobachteten Elizabeth und ich ihn. Würde er ausbrechen? Und wenn ja? Würde sein Feuer die sterbend rauchende Glut neu entflammen? Oder würde die Lava zerstörerisch über den Acker seines Lebens schwappen. Doch seit dem gestrigen Mittag schwirrten die Gedanken um die Familie Norringtons nur in einem Seitenzimmer meines Verstandes herum. Ich hatte nie verdrängt, dass der Tag kommen würde, da wir so oder so aufeinander treffen würden und nicht einfach ausweichen könnten, aber ich hatte verdrängt, dass dieser Tag irgendwann ein Heute sein würde. Nun war es schon ein Gestern, trotzdem wallten die Gefühle noch unverringert in mir ob ihrer Stärke, mit der sie mich heimgesucht hatten. Über Steven Smith hatte er kein Wort verloren. Ich hatte zweimal versucht, den Abend anzuschneiden, um ihm diesen zu erklären, doch jedes Mal war er sofort zurück zum eigentlichen Thema gekehrt, das sich nicht für Nebensachen interessierte. So war Benedict damals gewesen. Und vielleicht war das der Schlüssel. Denn letztendlich, da besiegte mich sein Starrsinn, der – verständlicherweise – Klarheit verlangte: Ich beichtete dem erwachsenen Mann vor mir all das, was ich dem kindlichen Gärtner verschwiegen hatte, und glaubte mich für eine Weile sogar verstanden wie beinahe nie zuvor. Sogesehen gab es niemanden in meinem Leben, wie sehr ich dessen Verlauf auch schätzte, dem ich mich anvertrauen durfte. Zwar hätte Lady Elizabeth mir jederzeit ein offenes Ohr zur Verfügung gestellt, ich bezweifle das nicht, aber sie fürchtete ich unnötig zu belasten. Gewiss würde James mir helfen, wie es in seinem Möglichkeitsumfang lag, und sicher verstehen, was ich ihm erzählen würde, aber er hatte nichtsdestotrotz schließlich nicht einmal ein volles Jahrzehnt hinter sich gebracht. Und für die mir freundlich gesinnten Bediensteten war ich wie eine Art Mutter, fühlte mich damit verpflichtet, mir ihnen gegenüber nicht diese Schwäche zu erlauben. Einmal hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass der Admiral über mich Bescheid wusste. Das Verhältnis zwischen ihm und mir war mit keiner Beschreibung zufrieden, doch wurde es von meiner Seite niemals so eingeschätzt, als dass ich ihn je um ein Ohr bitten könnte, um ausgiebig über etwas Zwischenmenschliches zu sprechen, das dann noch eine simple Dienerin betraf. Ob ich Lawrence Norrington zutraute, auch in solcherlei Angelegenheiten klar kalkulieren zu können, stand außer Frage. Er verfügte, was die Wenigsten vermuteten, solange sie nur den Admiral oder den Lord kannten, über erstaunliche Menschenkenntnis, über Verständnis, über Empathie. Lediglich sah er keinen Sinn darin, sich damit zu brüsken wie ein Pfau mit seinem prächtigen Federkleid, und wenn er erst wieder einem Franzosen auf See begegnete, würde ihm ohnedem niemand irgendetwas von wegen Feingefühl glauben. Er behandelte diese seine Qualität außerordentlich sparsam, eigentlich schon penibel, und eben das verlieh ihr den ersehnten Glanz aus romantischen Dichtungen. Wie ein Schatz lag sie auf dem Seelengrund des Admirals. Die Truhe einen Spalt weit geöffnet, schimmerte ihr schweres Gold noch an der wippenden, grünlichblauen Oberfläche, und längst war James dieses Funkelns ansichtig geworden. „Werdet Ihr ihn einmal für seinen Fleiß, seinen Gehorsam und seine… Bewunderung für Euch mit dem erwünschten Lob bedenken?“, hatte ich ihn eines Tages gefragt und dabei in der letzten Sekunde das Wort Liebe vermieden. „Das ist wohl die Pflicht eines Vaters“, antwortete er mir, und sein Blick ließ mich wissen, dass er an den ersten Sohn dachte, der ihm nicht lange vor seinem achten Geburtstag feurig und selbstlos eröffnet hatte, in die väterlichen Fußstapfen zu treten. Ich würde niemals von mir aus mit ihm über meine Belastungen reden. Normalerweise würde ich das auch nicht mit Benedict tun. Aber an diesem recht unaufregenden Nachmittag war es mir hinausgerutscht. Im Nachhinein vermag ich nicht zu erwägen, ob wir zufällig aufeinandertrafen, nachdem wir uns wieder einmal lange aus dem Weg gegangen waren, oder ob es von ihm geplant worden war. Dies leuchtet mir ein, denn in der oberen Etage, wo ich auch dieses Mal nur geschwind meine Aufgabe verrichten wollte, James’ Bett neu zu beziehen, obwohl er gar nicht darin geschlafen hatte, hatte der Gärtner grundsätzlich nichts zu suchen, solange er nicht mit seiner Blechkanne unterwegs war, um die Pflanzen zu wässern. Wir stießen förmlich zusammen, wobei das zu waschende frische Bettzeug den Aufprall ausgesprochen weich gestaltete. Ich erlaubte mir, es auch im weiteren Verlauf dieser Begegnung als Polster zu verwenden, indem ich es störrisch vor mich hielt, zwischen mir und Benedict oder dem, was ich in seiner Existenz fürchtete. Fürchten? Aber ja! Meine vor Schreck geweiteten Augen machten ihn zum Tier, das mich anfallen würde, weil es einfach Hunger hatte; keineswegs, weil es von bösartiger Gesinnung wäre. Benedict hingegen schien ich das Tier zu sein, denn mit einer ähnlichen Achtsamkeit setzte er einen Schritt auf sein scheues Gegenüber zu, so als wäre er tatsächlich der Meinung, sein Herannahen würde mir dadurch entgehen. Zuvor war ich es gewesen, die im gewissen Maße Einfluss auf den anderen walten lassen konnte, doch seit jener Nacht im Winter, da Benedict mich und… mit Mister Smith erwischt hatte, glaubte ich mich ihm nicht länger unbegrenzt überlegen. Es mochte ihm an der Rationalität fehlen, an der Unabhängigkeit und auch an der Härte, doch all das – so hatte ich verstanden – rettete ihn nicht vor dem menschlichen Besitz der emotional gesteuerten Aggressivität. Im Gegenteil. Ich hatte seinen Blick gesehen, ich hatte – habe – ihn noch vor den inneren Augen. Er sprach nur meinen Namen aus. Wenige Minuten später klatschte die schützende Wäsche zu Boden. Ich war vor Angst wie gelähmt, während er, mich an meinen Armen greifend, gegen die Wand presste. Was wir bis dahin besprochen haben, das weiß ich nicht mehr. Ich weiß aber, dass er mir jetzt seine Liebe beteuerte und ich mir wünschte, dass er nicht so fest drückte. Ist es überhaupt von Bedeutung, was es ausgelöst hatte? Ist in einer Lage wie dieser nicht allein wichtig, dass es endlich geschieht? Man kann sich nicht immer wieder von dem Unangenehmen abwenden. Irgendwann greift es dein Kinn und zwingt dich zum Hinsehen. Es ist besser, den Augenblick selbst bestimmen zu dürfen. So behält man eher die Kontrolle über alles: Die Situation an sich, das Gegenüber, die eigenen Gefühle. Hätte ich den Augenblick selbst bestimmt, wäre ich nicht vor Benedict, wäre ich vor überhaupt niemandem zusammengebrochen, hätte nicht der Flut meiner Emotionen, gedrängt in den Stausee meiner Verpflichtungen – meines neuen Lebens, das vergessen hatte, mit Altem abzuschließen – freien Lauf gelassen, hätte Benedict nicht mit der unerwarteten Gewalt meiner inneren Pein überschwemmt. Wie armselig musste ich ausgesehen haben! Sich von der Seele zu heulen war ganz und gar keine Wohltat. Nicht, wenn es vor einem zurückgebliebenen Handwerker passierte. Und doch schien mein Instinkt in der absoluten Auslieferung die letzte Möglichkeit gefunden zu haben, dem sich und mir nicht mehr als eine kleine, glückliche Familie wünschenden Benedict endgültig klar zu stellen, dass eine vierundvierzigjährige Frau, die sich ihre Kinder zu lieben bemühte, deren Gesichter allesamt wie zurückgelassene Erinnerungsstücke an jeden einzelnen jener von Wollust heimgesuchten Männer waren, die jedes dieser Kinder nach und nach hatte verabschieden müssen, weil es für Gott oder den Händler schlichtweg zu viele waren, die vor jedwedem Kontakt mit einem maskulinen Geschöpf panisch Reißaus nahm, bis Lawrence ihr endlich, sie an einfühlsamer Hand leitend, den Weg in sein heimatliches Paradies wies, wo man das Beste aus ihr gemacht hatte; dass solch eine Frau keine eigene Familie gründen wollte, sondern sich einfach nur ihren Lebensabend ausklingen zu lassen sehnte. Einen Tag brauchten die Wassermassen, um sich zurückzuziehen, und mit der Ebbe wurde das Ausmaß der Katastrophe sichtbar und kalkuliert. Ich habe seinen Blick gesehen. Angesichts meiner einprägsamen Erfahrungen waren der Kutscher und ich nie über die Berührungen Ausprobierender hinausgegangen, und doch fühlte ich mich jetzt, wie sich wahrscheinlich eine Ehefrau fühlte, welche zu spät registrierte, ihrem Mann untreu geworden zu sein. Ich hatte Benedict Unrecht getan. „Sein Bemühen im Lernen gibt keinem Tadel Grundlage“, wiederholte der Lord die Worte des Briefes in einer Stimmung, als habe man ihm den Verlust eines ganzen englischen Geschwaders mitgeteilt. „Als hätten wir etwas anderes erwarten können.“ Seine Frau verbarg ihre Verwunderung. „Die von ihm gelieferten Resultate veranlassen aber zur Sorge, dass er nicht im Stand ist, dem steigenden Anspruch unseres Lehrstoffes in der Zukunft gerecht zu werden. Fürderhin sehe ich mich zu der Mitteilung verpflichtet, dass er unfähig scheint, sich in die soziale Gemeinschaft unserer Schule, soll heißen, in die Gruppe unserer Schüler zu integrieren, obzwar diese ihn mehrmals eingeladen hat.“ Auch Lady Elizabeth regte sich jetzt auf, aber natürlich wegen des Admirals, den sie allein im gesamten Europa nicht fürchtete. „Verflucht seist du, Lawrence! Ich habe dir gesagt, dass der Junge Kontakte in seinem Alter braucht!“ Dergleichen hatte sie nie gesagt. Norrington erwiderte nichts. Er ließ die Kochende, die besorgte Mutter sich umkleiden und per Kutsche in die nächste Stadt fahren, wie sie es oft tat, da des Eises Gitter geschmolzen und James nicht mehr hier war. Sein Blick verhehlte nicht das Wissen über ihre außerhäuslichen Geschäfte, doch wenn es um Elizabeth ging, war Lawrence seit jeher ein selbstloser Mann gewesen. Er mochte in jenen Augenblicken ahnen, wie sehr er sich selbst verändert hatte, und das für englische Verhältnisse äußerst inakzeptable Benehmen seiner Angetrauten sogar verstehen. Der nächste jener seltenen Briefe, welche auf das Landgut flatterten, enthielt eine nicht weniger zu Sorgen anregende Botschaft. Admiral Lawrence Norrington schien ihn lange erwartet zu haben. Gleich einem ausgezehrten Wolf schnellte seine Hand tatzenartig vor und langte nach den Umschlag aus meinem losen Griff. Wo ihm seine Linke fehlte, riss er ihn glattweg mit den Zähnen auf, schlug das zusammengefaltete Blatt auf und las noch an Ort und Stelle. Wenn man ihn betrachtete, so konnte man annehmen, dass nicht Monate, nicht einmal Jahre, nein, Jahrzehnte verstrichen waren seit dem Tag, da er in dieses Haus zurückgekehrt war und es nicht wieder verlassen hatte. Sein Tatendrang war in Eisenketten gelegt. Er trank viel, was seinen Zustand nicht besserte, weil er unheimliche Mengen an Alkohol vertrug, und versetzte uns alle mit seinen extremen Stimmungsschwankungen in Angst. Sein einstmals strahlblondes, nun noch falbes Haar kontrastierte auffällig mit den tiefen Furchen, welche einen fast schwarzen Schatten warfen, wenn sich seine Mimik wie jetzt zu einer finsteren Bitterkeit verzog. Die Furcht hatte mich wie jeden anderen Untergebenen gelehrt, besonders in diesen Momenten Abstand von ihm zu halten – was, so muss ich sagen, unverantwortlich egoistisch von uns war. Wenigstens ich wusste, dass wir Lawrence Norrington verletzten, wohingegen wir ihm gerade in üblen Phasen – und eben das waren diese – hätten beistehen sollen. Niemand hatte es auch nur versucht. Unser Herr war kein vom Grund auf schlechter Mensch. Hülle und Kern unterschieden sich sehr stark, und der Kern war vielleicht so weich, dass es ihm nicht gelang, durch die harte Hülle zu gelangen. Was immer diese hatte verhornen lassen, das werde ich nie erfahren. Anders als James Norringtons Werdegang sind mir die unser erwachsenes Leben bis in den Tod bestimmenden Ereignisse der Kindheit seines Vaters nicht bekannt. So erfuhr ich später von der einzigen Person, die klug genug war, sich rechtzeitig einen Geheimgang durch die Hülle bis hin zum Kern auszuheben; die einzige, die ihn jetzt noch erreichen konnte – Lady Elizabeth – dass die Admiralität seine "mentale Tauglichkeit", erneut an dem Krieg um die Thronfolge der Pfalz teilzunehmen, in Frage stellte. Er hatte erwartet, Rache an dem französischen Kaperfahrer nehmen zu können, den er für seine Niederlage sowie die Amputationswunde verantwortlich zeichnete. Nun konnte er nichts anderes tun als der endgültigen Entscheidung seiner Kollegen auszuharren, und das machte ihn allmählich verrückt. Nicht länger blieben seine Albträume gestaltlos: Jetzt jagte ihn ein Knabenchor durch jede Nacht, der sang: "Jean Bart, Jean Bart, wohin geht die Fahrt? Nach Westen, nach Osten, das soll uns nichts kosten, da wollen wir schnappen, die goldenen Happen…" Es war das Letzte, worüber Lady Elizabeth, welche gehofft hatte, dass die Anwesenheit ihres Mannes sie vor dem Irrsinn bewahrte, sich vor mir erregte, bevor sie wieder aus dem Haus schwand, um die Mode von Kleidung, Mobiliar und sexueller Abhilfe auf den wöchentlichen Neustand zu bringen, denn danach verschloss sich der Admiral außer Dienst auch ihr gegenüber. Wie der Schatten eines gefährlichen Tieres schlich er den ganzen Tag lang durch die Flure, derer es ausreichend gab, um bald niemanden mehr eine Antwort auf die Frage wissen zu lassen, wo sich Seine Lordschaft denn zurzeit aufhalte. Man begegnete ihm zufällig, und selbst dann konnte man lediglich sein starres, brütendes Gesicht anschauen, Worte verlieren, die ihr Ziel nicht erreichten, ihn vorbeiziehen lassen und seinen eigenen Weg fortsetzen. Ob er aß, schlief, sich wusch oder sonst einem Bedürfnis nachkam, kann ich nicht sagen. Meine Informationsquelle beschränkte sich auf das Sehen, und schon immer hatte Lawrence Norrington es verstanden, enttäuschend wenig sehen zu lassen. Seine volle Admiralsuniform kleidete ihn zumindest dann, wenn er mir über den Weg lief; dabei war es gleichgültig, ob draußen die Nachtigall oder die Lerche zwitscherte. Wurde einem unserer plötzlich zunehmenden Anzahl an jungen, männlichen Gästen der Schrecken zuteil, auf der Suche nach dem Schlafzimmer der Hausherrin auf den Herumirrenden zu treffen, so begann ich bald, sie mit einer Erklärung zu trösten, die von Lord Norrington wie von einem Hausgeist sprach. Als mir das in den Sinn kam, war ich nur bis zum ersten Lidschlag reumütig; nach dem zweiten hatte ich erkannt, wie passend diese Bezeichnung für ihn oder das Übrige von ihm geworden war. "…die engelschen Pinten, die holländischen Krinten, den spanischen Wein. Steig ein!" Kapitel 13: I. Ganz ehrlich --------------------------- Zwei Jahre nach seiner Einschulung fuhr eine Kutsche vor, und wir alle waren recht erstaunt, James so plötzlich wiederzusehen. Er fiel mir wortwörtlich in die Arme, nachdem ich ihm und zwei schlicht gekleideten Damen die Tür geöffnet hatte und sollte bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufwachen. Das Scharlachfieber, welches sich für seine nicht geplante Rückkehr verantwortlich zeichnete, vernichtete die Erfüllung jeglicher Erwartungen, darüber erstaunt sein zu können, wie reif er doch geworden war, denn tatsächlich hatten die Klauen der Krankheit bereits alles Fleisch, das man ihm in der strikten Schule angeeignet hatte, um einen prächtigen Kerl aus dem zarten Jungen zu machen, wieder abgerissen. Lady Elizabeth blieb ausnahmsweise zuhause, um ihrem Sohn höchstpersönlich Walratpulver und viel Wasser zu verabreichen, und nach einigen Tagen hatte das Fieber zumindest so weit nachgelassen, dass es ihm schon wieder egal war. Nach der ersten Woche musste ich mich nur umdrehen, da war er schon halb aus der Tür, und damit ich mir auch einmal eine Pause von meinem Wachdienst gönnen durfte, um meinen menschlichen Bedürfnissen nachzukommen, stellte ich zum Beginn meiner nächsten Schicht eine Reihe an Aufgaben zusammen, die er zu lösen hatte. Er beugte sich über den Zettel wie ein vom Tun Besessener. Gerade war ich von meinem Ausflug zum sanitären Zimmerchen zurück, da trafen wir uns jedoch auf dem Flur vor seinen Räumlichkeiten wieder. „Wo wollen Sie denn hin?“, fragte ich endlich mit leichter Resignation. „Auf die Schule?“ Er brauchte nicht zu verneinen, ich wusste seine Antwort trotzdem. Mit mehr Rücksicht auf seine Furcht vor Höhen denn vor seinem beinahe schon jugendlichen Alter schob ich ihn, statt zu heben, sanft zurück auf die erniedrigte Fläche von vier mal sechs Fuß frischem Bettzeug, seinen weichen Kerker für die übrigen Tage. Er überreichte mir den Aufgabenzettel zur Kontrolle. Dummerweise hatte ich nicht daran gedacht, mir die richtigen Antworten zu notieren, und die Übungen waren zu schwer, als dass eine Dienerin wie ich sie lösen könnte. Seine Rechnungen stellten mir eine Wand aus wie willkürlich platzierten Zahlen dar, aber es machte den Eindruck, korrekt zu sein. Zumindest hatte er nirgendwo etwas durchgestrichen, was auf mögliche Schwierigkeiten bei der Aufgabe hingewiesen hätte. „Wie gefällt Ihnen die Schule?“, fragte ich beschwingt. Wie ich bereits erwähnte, bedurfte es eigentlich keiner Antwort, doch ich hoffte, die Begründung zu erfahren, welche mir zuweilen ein größeres Rätsel war als alle mathematischen Rechnungen dieser Welt. „Sie entspricht den Erwartungen“, sagte er nach kurzem Sinnieren. Es war eine jener Erwiderungen, die typisch für ihn waren, weil so ungenau, schon kryptisch. Sie legte sich nicht fest, wessen Erwartungen entsprochen wurden, und selbst dann, wenn es die eigenen waren, so blieb doch im Dunkeln, mit welchen Erwartungen er nach Norfolk gereist war. Mir, die ich vom Inhalt der Briefe seitens des Direktorats voreingenommen war, wirkte seine Antwort furchtbar traurig zu sein. „Erzähle d…en Sie doch“, bat ich ihn oder bot ich es ihm an, für eine Sekunde durch mein manchmal ärgerliches Mitgefühl nachlässig, doch er schwieg nur wieder wie der James, der uns vor zwei Jahren verlassen hatte, auf all diese Aufforderungen, die seiner Ansicht nach zu tief dringen wollten in die aufregende Biografie eines Neunjährigen. Doch eine Sache war anders. Wo ich es gewohnt war, sein Schweigen, wenn er den Blick abwandte oder den Kopf senkte und die Unterlippe schürzte, wohl oder übel hinzunehmen, drehte er sich, von plötzlichem Sittendrang gesteuert, mir wieder zu und brach die von ihm begonnene Stille, die zuvor niemals eine gewesen, weil sie seine Art war, sich in gewissen Situationen mitzuteilen, als wäre sie ihm zum ersten Mal peinlich – er lenkte ab: „Was ist mit meinem Vater?“ „Die anderen Naval Lords haben ihn vorübergehend außer Dienst gestellt. Sie verstehen, wegen der Sache mit seinem Arm ist er nun natürlich eingeschränkt.“ Die halbe Wahrheit stellte sich in diesem Fall als die simpelste Antwort heraus. Einmal war der beurlaubte Admiral Lawrence Norrington aus dem Nichts seines Labyrinths der äußeren Apathie aufgetaucht, hatte James angesehen, James hatte ihn angesehen, und war wieder verschwunden. Es hatte genügt, um den Jungen zu verwirren. „Es gab schon viele einarmige Offiziere in der Kriegsgeschichte“, konterte er mit einem schwachen, aber präsenten Vorwurf, als vertrete ich in seinen Augen plötzlich die Meinung der Großadmirale. „Warum sollte mein Vater, ausgerechnet er sich nicht in ihre Reihe gliedern dürfen?“ Eine andere Antwort lag mir auf der Zunge, aber aufgrund seiner Wortwahl fiel mir etwas ein: „Ihr Vater wird sich niemals in eine Reihe gliedern. Er ist zu stolz, um einer von vielen zu sein.“ Unvermittelt machte er sich klein. Ich grübelte, was ihn so zusammengehen ließ. Erst nach einer weiteren Phase von Schweigen kam mir in den Sinn, dass er anscheinend sich selbst bezichtigte, seinen Vater für nicht ausreichend würdevoll gehalten zu haben, um selbst auf diese Idee zu kommen. „Sie können sich vorstellen, dass es ihm schwer fällt, gar nichts zu tun. Doch die Zeit wird kommen, da wird er wieder in See stechen dürfen, und bis dahin wird sein Ärger längst verraucht und er wieder gesprächiger sein.“ Er nickte, doch ich ahnte, dass ihn die Angelegenheit weiter beschäftigte. „Darf ich Sie fragen, woher die Aufgaben sind?“ Irgendwie schien es mich zu bedrücken, weil er nicht angenommen hatte, dass sie eigens von mir erdacht sein könnten. „Aus den Büchern in der Bibliothek deines Vaters.“ „Sie können dort hinein?“ Die Frage funkelte förmlich vor verheimlichter Faszination. Ich sah ein Kind vor mir, das Wissen seit jeher aufgesogen hatte, ohne jemals ernsthaft neugierig zu wirken, ich sah es gedanklich ein Areal betreten, über das es nie ein Wort verloren hatte; einen Orpheus, der Chance gegenübergestellt, möglicherweise bald, endlich, jetzt vielleicht in die einen mahnenden Finger schwenkende Unterwelt hoher Regale zu gelangen, um dort Eurydike zu finden, die ihm wie unbegrenzt quellende Erfüllung seines verborgenen Sehnens, welche er eigentlich nicht anschauen durfte. Aber Kerberos wachte nicht mehr, und siedend heiß leuchtete mir ein, dass ich mich dummerweise als Charon offenbart hatte. Konnte es falsch sein, die seltene Aufmerksamkeit des Jungen als Obolus zu akzeptieren und ihn einmal mitzunehmen? Der Grund, weshalb mein Herr seinem Sohn den Zugang nicht gestattete, verschloss sich vor mir. „Wenn Sie sich brav kurieren“, stellte ich von seinen permanenten Fluchtgedanken Gestresste zumindest die eine Bedingung, „dann gehe ich das nächste Mal nicht allein.“ Zwei Tage später steckte er bis zum Kopf wahrhaftig untergeben im Bett und mit der Nase dafür in einem alten Wälzer. Beim ersten Mal hatte er sich gemerkt, wohin ich den Schlüssel legte, und machte auch ohne Begleitung von ihm Gebrauch – natürlich gab er mir jetzt Bescheid, wann, wohin und wie lange er fort war. Dass er den von meiner Seite gestellten Teil unserer Abmachung mit diesem strikten Ernst befolgte, frustrierte mich ein bisschen ob der verpassten Gelegenheit, ihn über die nach wie vor im Zentrum meines Ammeninstinktes stehende Frage nach dem sprechen zu lassen, was immer in der uns fremden Stadt vorfiel, dass der auffassungsemsige und durchaus gescheite Schüler bis zu diesem Tage kein einziges ehrgeizige Eltern zufrieden stellendes Ergebnis erzielt hatte. So machte er weiterhin von seinem Recht zu schweigen Gebrauch. Was es ihn auch kostete. Denn dass es ihn belastete, war offensichtlich. Derart offensichtlich, dass ich mich heute wundere, weshalb mir sein stummer Kummer nicht selbst aufgefallen war. Tag für Tag verbrachte ich an seinem Bett während der sich hinziehenden Rekonvaleszenz und doch war es Benedict, der – auf mein Wort hin aus seiner Ecke verschreckt – mir – noch bevor ich ein Zweites verlor – wie nebensächlich einen meinen Argwohn zerstreuenden Wink gab, wie krank der praktisch gesunde Junge doch wirke. Ich hätte mich bloßgestellt gefühlt, würde ich mein Versäumnis zugeben, und so entgegnete ich etwas trotzig: „Er will nicht darüber reden.“ Benedict richtete sich daraufhin unmerklich auf und starrte wie durch mich hin. „Bei diesem Herrn Papa? Wer will das schon. Aber manche Dinge, die müssen einfach raus, weißt du, Abda?“ Manche Dinge, die müssen einfach raus… Am nächsten Mittag kehrte ich zur verabredeten Zeit zurück zu James’ Zimmer. Die verabredete Zeit war als Punkt dreizehn Uhr siebenundvierzig definiert. Bis dahin nämlich pilgerte James in der Bücherei herum und mir blieb genügend Raum, ohne Hektik zu Mittag essen und gar noch einen Plausch mit der jungen Mary oder Lady Elizabeth führen zu können. Was Letztere betraf, so war sie bemerkenswert selten in den Gemächern ihres Jungen anzutreffen. Ohne Unterlass informierte sie sich über seinen Zustand, aber in der Zeitspanne von acht bis zwölf Uhr, der abgesprochenen dreizehn Uhr siebenundvierzig bis achtzehn Uhr – seiner vom Hausarzt verschriebenen Schlafenszeit – inoffiziell aber achtzehn Uhr neun, weil ich mich oder er sich noch zu einer Partie Karten überreden ließ, steckte sie noch nicht einmal den schönen Kopf durch die Tür. Es mochte der Schatten von Lawrence Norrington sein, welcher ihr einen frostigen Schauer über die Haut fahren ließ, wann immer sie nur daran dachte, es doch zu tun. Bei allem, was mir entging: In diesem Bezug stand ich mit großer Gewissheit dafür ein, dass ihr Fernbleiben James nicht im Kleinsten störte. Nichtsahnend wollte ich also in den Durchgang biegen, mit Blick auf die offene Tür, welche allein mich vielleicht schon innehalten lassen sollte, James bereits vor Augen habend, wie er von einer Kompanie Bücher belagert wurde, darauf eingestellt, mich vor das Bett auf einen Stuhl zu setzen und ihn zu beobachten, was ihn – so vertieft würde er sein – nicht kümmern würde, und das tat sie auch. James von seiner günstigen Position aus erblickte mich sofort und begrüßte mich mit einem hohlen Blick. Ich aber verharrte ohne Reaktion, machte keinerlei Anstalten, mich zu ihm zu begeben, wie es vorhergesehen war. Mit dem Rücken zu mir und an der Bettkante auf dem Stuhl, den ich für gewöhnlich in Beschlag nahm, saß Benedict und redete mit dem Jungen. Bar eines Verlangens, scheue Vögel zu verschrecken, wenn sie einmal gelandet waren, schwebte mein vorgesetzter Fuß zurück hinter die Schwelle, und zum Glück machte James seinen Gast nicht auf den Störenfried aufmerksam. Sein Gesicht wandte sich, obwohl er sich im Klaren darüber war, dass ich an der Tür blieb, wieder dem Gärtner zu. Auf seinem Schoß wartete ein Buch mit Zeichen, die ich nicht entschlüsseln konnte und die mich überraschten, wenn James eben das gelingen würde, erst einmal vergeblich darauf, umgeblättert zu werden. „Ganz ehrlich“, sagte James. Es klang wie ein Gebot. „Ihr Herr Papa“, so hörte ich Benedict antworten, „der kann jetzt einem schon Sorgen machen. Aber wir müssen das verstehen, wir zwei. Die Marine hat ihn vor die Aussicht gestellt, vielleicht niemals wieder auf das Meer fahren zu dürfen! Sie können sich vorstellen, wie traurig ihn diese Vorstellung macht. Er hat ja sein Leben lang nichts anderes gemacht als zur See zu fahren, immer zur See hinaus! Und es ist ja nicht nur wegen seinem Arm. Auch um seinen Kopf machen sie sich Gedanken. Ihr Papa hat viele Kriege über sich ergehen lassen müssen. So viele Kriege, das erträgt man einfach nicht so leicht. Und Ihre Frau Mama? Für sie ist es auch zu viel. Anstatt ihm beizustehen, ist sie oft außer Haus, seit Ihrer Abwesenheit, James. Sie geht viel mit anderen Männern um. Sehen Sie? Aber wir beide, wir müssen das verstehen, wir dürfen ihm nicht böse sein oder ihn deswegen fürchten. Ihr Papa, der ist ein toller Mensch. Das wissen Sie doch?“ James nickte. Meine Kinnlade war niedergefahren bei den Worten, welche Benedict dergestalt leichtfertig von den Lippen hüpften. Längst hätte ich eingegriffen, wenn nicht, was mir ein Rätsel war, meine Füße wie festgefroren an ihrem Platz verweilten. Hier wurden Geheimnisse ausgeplaudert, die der Neunjährige wirklich nicht zu erfahren brauchte. Zumal er kaum etwas mit Umschreibungen wie "viel mit anderen Männern umgehen" anfangen zu wissen würde. „Und, um das auszugleichen, müssen ich und Sie besonders stark sein“, versetzte Benedict mit dem charakteristischen Ton von kindlichem Ernst. „Deshalb bin ich auch ganz besonders stark und zwar für Sie, damit Sie, weil Sie ja noch recht jung sind, das, was Sie traurig macht, jemandem mitteilen können, damit es Sie nicht mehr belastet und Sie wieder stark sein können für Ihren Papa und Ihre Mama. Wir wollen ja nicht noch mehr Traurigkeit in unserem Haus, wenn wir sie vermeiden können, oder? Wir können dann nicht tun, wofür der Herr uns in die Welt gesetzt hat, wofür wir leben. Und deshalb jetzt: Ganz ehrlich.“ Die beiden Worte waren wie der Zauberspruch in einem sich überirdischer Kräfte bedienenden Spiel, das mich fesselte. Eine Magie hüllte die beiden schützend ein und verhinderte jegliches Vordringen, und dieselbe Magie veranlasste James schließlich, Benedicts Angebot zu beherzigen, wo er bei mir konsequent verstummt wäre, und sich zu öffnen, wie er es mir gegenüber nur einmal getan hatte, als er fest davon ausgegangen war, dass ich den nächsten Morgen sowieso nicht mehr erleben würde. Heute weiß ich, dass diese Magie, welche nur der unschuldige Benedict gegenüber dem Knaben beschwören konnte, nichts anderes war als ungeschönte, klare, ungemütlich angemessene Ehrlichkeit, und dass ihm gelang, woran die Amme verzagte, weil er nicht Opfer des Reflexes der Erwachsenen war, sich nicht einmal unbedingt mit bösen Absichten, möglicherweise unbewusst über ein Kind oder einen Heranwachsenden zu erheben, weil Benedict allein sich niemals die Mission auferlegt hatte, den Jüngeren von alledem, was ihn als Podest dienend über das Gitter seiner Kindheit zu schauen ermöglichte, fernzuhalten. So wie zwei junge Geschwister oft ohne die Kenntnis der Eltern schon über die eben diese beschäftigenden Themen diskutierten und urteilten, führten auch James und Benedict ein vorbehaltlos offenes Gespräch. Der deutlich Kleinere schob die Lippen fest aufeinander. Er schien vergessen zu haben, dass ich lauschte, denn in der Anwesenheit eines typischen Erwachsenen hätte er nicht geredet. „Zu allererst möchte ich bekannt wissen, dass ich bemüht bin, den mir gestellten Aufgaben und den Pflichten meines jungen Lebens im vollen Umfang nachzukommen. Ich… ich gebe zu, dass es mich überfordert. Ich versuche nicht, diese Tatsache, über die Sie alle bereits informiert zu sein scheinen, abzustreiten, denn es ist nun einmal so. Darüberheraus sehe ich mich… muss ich bedauerlicherweisend eingestehen, nicht mit einer Erklärung aufwarten zu können, denn die Gründe meines Versagens erschließen sich nicht einmal vor mir selbst. Ich kann es… Ich weiß, dass ich es kann. Es ist mir nicht zu schwer, wenn die Lehrer es erklären, und ich verstehe die Zusammenhänge… aber wenn ich es anwenden muss… dann…“ „…dann gelingt es Ihnen nicht?“, beendete Benedict den Satz, als ob James dessen Rest hätte hervorwürgen müssen. „Ihre Lösungen sind falsch?“ Wieder nickte Norringtons Sohn, doch noch ehe die knappe Bewegung ausgeführt worden war, sprudelte es bereits aus ihm wie einem Leck: „Manchmal fragen sie mich, ob ich mich vielleicht unwohl fühle oder irgendwie seltsam, wenn ich eine Aufgabe vorrechnen oder eine Frage vor den anderen beantworten soll. Aber das tue ich nicht. Ich weiß, dass sie denken, dass ich unter Druck stehe und ich deshalb überall Fehler mache, aber ich stehe nicht unter Druck. Meine Hausarbeiten sind schließlich auch alle falsch. Dabei denke ich mir immer, diesmal müssen sie einfach richtig sein!“ „Und die anderen Schüler? Was ist mit denen?“ James‘ Augen schweiften ab. „Ich weiß nicht. …Ich habe nicht viel Umgang mit ihnen. …Sie sind merkwürdig. …Sie geben sich merkwürdigen Spielen und Streichen hin. …Ich glaube, sie können mich nicht besonders gut leiden. Mir ist, als würde ich der Inhalt ihrer Streiche sein. Immer nur ich… und hin und wieder die Lehrer. Vermutlich bin ich ihnen schlichtweg zu besonnen. Weil ich mich niemals auf ihre Kinderspiele einlasse. Ich habe nicht viel mit ihnen zu tun und das ist auch gut so. Glaube ich… Aber…!“ Neue Energie fuhr in ihn, nachdem er immer weiter zusammengesunken war. „Das ist nicht das Problem! Mein Vater, er baut darauf, dass ich diese Schule schaffe! Kann ich ihn denn wirklich nur enttäuschen? Sie sagen, wir müssen stark sein, stark für ihn! Doch ich werde ihm und allem, was er in mich investiert hat, nicht gerecht. Ich stehe nicht an Englands Front, aber auch der Dienst der Passiven liegt mir nicht. Was soll ich tun? Wie passe ich in mein Schicksal?“ Unerwartet zeigte Benedict eine Seite der erwachsenen Verständnisfülle, die ihn lächelnd eine beschwichtigende Hand auf die Schulter des besorgten Kindes legen ließ. Zum ersten Mal sah James ohne sekündliche Unterbrechung in das mir vollkommen unbekannte Gesicht, welches wie selbstverständlich eine Attraktivität auszustrahlen wusste, die nichts mit dem unbekümmerten, kindlichen Gartenarbeiter zu tun hatte. Die erhobenen Mundwinkel spannten die Haut über seinem markanten, mit kurzen Stoppeln übersäten Kinn und verliehen seinen dunklen Augen einen Ausdruck von brüderlichem Stolz ob dem beachtlichen Mut des Kindes, sich frei von der Seele weg gesprochen zu haben. Ich wusste in dem Augenblick nicht, wie mir geschah. Konnte dies der Benedict sein, den ich zu vergrämen versucht hatte? Ohne ein weiteres Wort – das hieß: ohne Meinung, ohne Ratschlag, ohne Bevormundung, ohne sich einzumischen – erhob er sich von seinem Platz und näherte sich der Tür. Es waren Sekunden, die zu Minuten wurden, während sich der Vorgang verlangsamte, als würde man durch den Dunst am Horizont einer heißen Steppe jemanden auf einen zuschreiten zu sehen glauben, ohne sich dessen ganz sicher zu sein. Rasend schnell hingegen strömten die Gedanken durch meinen Kopf. Sollte ich flüchten? Würde er es jetzt nicht bemerken? Wusste er eventuell, dass ich hier war? Er trat durch den Rahmen und… Ich stand dort. Er begrüßte mich. Ich ihn wahrscheinlich ebenfalls. Er sagte mir, dass ich jetzt wieder zu James könne. Ich schaute wieder in das vertraute Gesicht. Ertappt oder verwundert wirkte es nicht. Ich nickte. Und er ging einfach. Neben Benedicts sonderbarer Wandlung, die möglicherweise gar keine war, weil ich bisher lediglich die eine Seite seines Charakters kannte, ohne dass ich mich je um eine vorhandene andere geschert hatte, die ebenso und zwar schon immer Teil des Gärtners Benedict gewesen war, sowie meiner unerklärlichen, nicht einzuordnenden inneren Reaktion darauf beschäftigte mich eine Art Schuld gegenüber James. Mir als seine Amme war es nicht gelungen, ihm sein Geständnis abzuringen, obwohl ich stets stolz davon ausgegangen war, dass niemand eine engere Bindung zu ihm genoss denn ich – nicht einmal Lady Elizabeth. Um meine Unfähigkeit wieder gutzumachen und ihm zu bedeuten, wie interessiert ich an ihm war, betrat ich selbst nicht lange vor seiner Abreise die Bücherei des Lords und fühlte mich zwischen den wuchtigen Schränken wie vor stummen Geschworenen und strengen Richtern die entscheidende Aussage sprechen müssen. Auf einem Tablar, welches sich so weit oben befand, dass James ohne die Leiter nicht heranreichte, fiel mir ein Buch ins Auge, das ich auf der Fahrt in meiner Tasche verstaut hatte. Da Lady Elizabeth wieder einmal bei einem Freund untergekommen und der Lord weiterhin verschwunden war, musterte lediglich James mich fragend, bis er den zwischen hohen, goldgelben Halmen schlafenden See ausmachte. Der einsame Spaziergang beschäftigte uns für Stunden. Selbstverständlich ließ er sich wieder nicht von seinem Antlitz ablesen, doch ich wusste, dass James die keine Gitterstäbe kennende Bewegungsfreiheit und der Anblick von Menschenhand unberührter Natur gefiel. Wie ein kleiner, neunjähriger Junge entfernte er sich bald von mir, kniete sich in das Getreide, bis er nicht mehr zu sehen war, ließ sich an dem Rand des Sees nieder und stupste die Wasseroberfläche an. Je näher wir der vollständigen Umkreisung des Gewässers kamen, desto forschender, mutiger wurde er. Wo das Gewächs niedrig war, grub er in der Erde, und dann zeigte er mir verschiedene Insekten, die sich fern instinktiver Angst auf und um seine Hände tummelten. Wir entdeckten ein kleines Holzkreuz im Boden stecken und setzten uns zeitraubend mit den die Familie Norringtons nicht im Geringsten beeinflussenden und damit recht sinnlosen Fragen auseinander, wer es dort platziert hatte und warum. Schließlich breitete ich eine Decke mitten auf dem Pfad aus und überraschte James mit dem Platzwunder meiner kleinen Tasche, aus der ich eine bunte Vielfalt an Gaumenfreuden zauberte. Graugelbe Streifen mischten sich am Himmel in das schwache Blau, die ununterbrochene Bergkette am Rand der sichtbaren Welt formte eine braune Silhouette und die Sonne warf einen leuchtenden Schatten unmittelbar über jenen fernen Wald, welchen sie heute zu ihrem Ruheort erkoren hatte. Der See war erwacht und täuschte uns im letzten Schein gelassen vor, einen Teppich aus Münzen zu beherbergen, während auf den wippenden Ähren kleine Punkte weiß glitzerten. Verdutzt bemerkte James, wie ich jetzt erneut in mein Täschchen griff und das Buch hervorholte. Willkürlich blätterte ich es auf und schob es ihm zu. Was es beinhaltete, erschloss sich aufgrund der unverkennbaren Form von hellen Flächen über einer einzigen dunklen sofort. „Schiffe“, erkannte James sie. Ich nickte und betrachtete ihn mit sanfter Erwartung. Er schaffte es nicht, dem Druck der aufeinander treffenden Blicke standzuhalten. „Ich weiß, was Sie sagen wollen“, flüsterte er in den verträumt tanzenden Wind. „Ich mag jung sein, doch das hält mich nicht davon ab, die Pläne meines Vaters im Bezug auf mich zu erkennen. Er will…“ Nun sah er mir doch ins Gesicht, hoffend, darin Klarheit finden zu können. „Schau dir doch erst einmal das Buch an. Blättere ein bisschen darin.“ Das zu tun, schenkte ihm die willkommene Gelegenheit, die von ihm selbst angestoßene Thematik noch einmal einer genauen Überlegung zu unterziehen. Seine Augen tauchten nicht, wie ich es sonst von ihm kannte, in die Texte und Abbildungen hinein. Ich holte mir die kaum vergangenen Stunden seiner kindlichen Entdeckungsreise in den Vordergrund meines Gedächtnisses zurück. Die sichere Gefährdung jener sorglosen Entfaltung schmeckte bitter – mir ganz bestimmt bitterer als ihm. James war jetzt noch nicht in der Lage, einschätzen zu können, welcher Wert die rasch vergängliche Jugend würdigte. „Sie sollen sich keine Gedanken um mich machen“, sagte er auf einmal, noch immer langsam Seite um Seite wechselnd. „Ich bin mir der mir auferlegten Berufung im Klaren. Ich habe keine Angst davor – nein! Bitte sagen Sie nichts. Sie wissen, dass es der Wille meines Herrn Vaters ist, selbst… wenn er zwischenzeitend anderes behauptete. Aber das ist nicht alles… Ms Abda: Wenn beide sich in einer Sache, und ist sie auch so bedeutsam und bindend, einig sind, sollte man dann nicht das Grübeln, welches – das bezweifle ich nicht – durchaus vernünftig ist, dennoch aufhören lassen und zur Tat schreiten, ehe die Chance ungenutzt an einem vorüberzieht? Es mag Sie überraschen, aber das ist meine Entscheidung: Sobald ich die Schulausbildung abgeschlossen habe, trete ich in den Dienst der Royal Navy. Ich werde Menschen beschützen. Und ich werde meinem Vater be…“ Unvermittelt sog er Luft ein. Seinem Augenziel folgend, blickte ich auf den skizzierten Entwurf eines Schiffes. Ein Labyrinth aus Pfeilen, Beschriftungen und Detailvergrößerungen ließen mich recht spät feststellen, dass dieses Schiff kein Gewöhnliches war… werden sollte. In der gleichen Sekunde, da ich mir der fünf Masten bewusst wurde, leuchtete mir gleichwohl ein, dass dieses Konzept niemals Realität geworden war. Es lag in der Natur des Menschen, immer weiter immer schneller immer höher zu streben. Auch Seemänner konnten sich diesem Drang nicht entziehen, allerdings war selbst mir bekannt, dass fünf Masten voller Segel zu anstrengend wären für jedes Holz unserer Welt, aus dem man Schiffe fertigen konnte. Dieses abgedruckte Bleistiftkonzept war der Traum irgendeines Idealisten gewesen, und als ich aufsah, um zu versetzen, dass man aus einem einzigen Wunsch heraus nicht derart leichtfertig die Entscheidung für das gesamte Leben treffen sollte, merkte ich, dass James bereit war, diesen Traum weiterzuträumen: Stehend unter einer sich in frischer Brise schlängelnder englischen Flagge, in einer von Orden wie ein jeden Ozean durchkämmt habender Schiffsrumpf von Algen besetzten Uniform an Deck seines Fünfmastvollschiffes, mit dem Blick immer auf das Meer zu seiner Tiefe, sahen seine Augen doch nie etwas anderes als das eine Ufer hinter dem Horizont, wo – endlich! – die väterliche Anerkennung darauf wartete, erweckt und empfangen zu werden. Kapitel 14: I. Wind zieht auf ----------------------------- In Wahrheit lagen seiner Entschlossenheit weit mehr Aspekte zu Grunde, als ich damals wissen konnte. Deshalb sollte der junge Fähnrich auf dem Schiff seines Vaters, der HMS Victory, unter dem Kommando seines Vaters und der Aufsicht von dessen Erstem Steuermann, Lieutenant Samuel Bennett, zu unvorhersehbarem Enthusiasmus gelangen, waren die Umstände seiner Einschiffung, der ersten offiziellen Einschreibung in die Musterrolle des Flaggschiffes auch noch so bedenklich. Der fundamentale Umriss in James Norringtons Biografie begann mit einem – nein – nicht irgendeinem Brief, sondern mit der endlichen Antwort der Admiralität. Als habe er ihn gerochen, wuchs Lawrence Norrington wie aus dem Boden hinter Mary, die mir augenblicklich das noch verpackte Schreiben überreichen wollte, zog es an sich und hatte seinen Inhalt in wenigen Sekunden zur Kenntnis genommen. Da er, wie gesagt, Anlass war, James unverzüglich die Schule abbrechen zu lassen, in der dieser zusehends versagte, weil ihm der Druck durch sich selbst und den Vater jegliche gute Zeugnisse verwehrte, scheint es offenkundig, dass der Seelord der Karibik – Erleichterung! – die Genehmigung erhalten hatte, aus seinem Gefängnis zu brechen und wieder stöhnendes Holz unter den Füßen zu spüren, sich den salzigen Wind des Atlantiks durch das Haar wehen zu lassen. Am selben Abend noch, während des Mahls, explodierte er in Zorn vor den Augen seiner Gattin und den meinen. Ich sprang wie eine erschreckte Katze unter den nächstbesten Tisch, während über mir Silberbesteck wie Pfeile und Geschirr wie Kanonenkugeln hinwegbrausten. Mutig stellte sich Lady Elizabeth in den Marschweg des Parolen und Hasstiraden brüllenden Admirals; ich wollte aus meiner Deckung flitzen, um sie rasch aus der Schussbahn zu ziehen, da knallte Lawrences flache Hand gegen das Gesicht Elizabeths. Scharf zog ich den Atem ein. In ihrer Beziehung ging es immer einmal wieder hitzig zu; es war einfach Bestandteil dieser Ehe, aber geschlagen, große Güte, geschlagen hatte Norrington sie nie. Es war ein Phänomen, das dann sogar seinem Ausbruch Einhalt gebot. Zum ersten Mal war es mir gegeben, in Lawrences Zügen zu lesen. Nicht, weil er es gestattete, sondern weil er zum ersten Mal in meiner Anwesenheit nicht imstande war, sie zu beherrschen. Der keine Minute dauernde Streit hatte einen Haufen Diener an die spaltoffene Tür gelockt, und so gab es ausreichend Zeugen für des Admirals unfeierlich, trocken geäußerte, doch nichtsdestotrotz unvergessliche Verkündung: „Es ist mir egal, was die Admiralität vorschreibt, die meint, über einen erwachsenen Mann in diesem Ausmaß entscheiden zu dürfen. Ich diene nicht einer irdischen Zusammensetzung aus fehlbaren Menschen; mich führen weit höhere Beweggründe, denn ich tue meine Pflicht für niemand anderen denn unseren König, unser England sowie meine Väter, denen ich es schuldig bin. Ich fahre wieder zur See.“ Wenn er es nicht vorher schon gewesen war: Jetzt war er besessen. Bis zum April traf er Vorbereitungen. Darunter ließ er James sein zwölftes Lebensjahr beginnen. Er irritierte seinen Sohn mit der wie aus dem Blauen gegriffenen Forderung, ihn ab sofort mit Sir zu betiteln; der Name James machte auf der Zunge des Lords hingegen einem Mister Norrington Platz. Ich hatte nicht länger das Gefühl, dass die beiden mehr gemeinsam hatten denn den Familiennamen, und der ständige Austausch von „Norrington?“ und „Sir?“ und manchmal „Ja, Herr Va… Sir?“ machte mich von Zeit zu Zeit Glauben, in einer Kaserne gelandet zu sein. Ganz abgesehen davon, dass es Norrington – der Ältere, natürlich – meines Erachtens nach zu weit trieb. Weder Lady Elizabeth noch ich bekamen James oft zu sehen, obwohl er nach Jahren endlich wieder innerhalb dieses Anwesens wohnte. Wie er es anstellte, erschließt sich mir bis heute nicht gänzlich, aber Admiral Norrington war wunderlicherweise befähigt, trotz des Auflehnens wider den höheren Beschluss sein Schiff, die HMS Victory, mitsamt seiner vollzähligen Besatzung ablegen zu lassen. Vermutlich missbrauchte er seinen Titel und ließ jeden, der primär durch ihn selbst statt durch die Admiralität am Schreibtisch in London Informationen bezog, über seine Amtsentbindung im Dunkeln. Nichts schien zu existieren, das einen Mann wie ihn aufhalten konnte, und nicht erst seit seiner Rückkehr zum Atlantischen Ozean sah ich in ihm einen unvergleichlichen Menschen, der weit über uns allen stand. James würde es schwer haben, unumstritten unglaublich schwer, wenn er seinen Vater jemals erreichen wollte; es war eine jener unumstößlichen Gegebenheiten, für die man diesen Gott rügen wollte, dem sich die abergläubischen weißen Gesichter trotz allem entgegenreckten, um auf Unterstützung oder wenigstens eine Antwort zu warten, bis der Nacken steif war und – es soll tatsächlich vorgekommen sein – der unglückselige im Winter Anrufende auf seinem stummen Platz erfroren. Mein Herr war nicht gläubig – dafür war er sich selbst viel zu sehr Gott – und auch meine Herrin sündigte zu gerne, als dass sie ein überirdisches Fegefeuer ängstigen würde. Niemand betete für James’ sichere Heimkehr, da ich ihn wieder am Horizont schwinden sah, außer die gute Mary vielleicht, deren Eltern offensichtlich sehr religiös gewesen waren. Genutzt hatte es ihnen schließlich nicht. Überhaupt wussten wir James vorzugsweise im Schutz seines unverblendeten Vaters als in dem ungewissen, launischen eines Mannes, der dem Satan seine Schützlinge zur Prüfung überlässt, weil seine Wege ja so unergründlich seien. Anstatt mich für ihn auf die Knie zu werfen und zu hadern, nahm ich James nach hohen Geduldskosten das Versprechen ab, dass er mir immer dann, wenn er wieder Land betrat, einen Brief zukommen ließ, welcher nicht einmal ausführlich werden musste, Hauptsache… Als er sich umdrehte, überlegte ich, ob ich Benedicts Zauberworte verwenden sollte, verzichtete letztlich jedoch aus Furcht, dass sie den Konversationen zwischen dem Gartenarbeiter und dem Aristokratensohn vorbehalten waren. „Eurykleia wird warten“, formten meine Lippen lautlos, nachdem er mich gebeten hatte, seiner Mutter, die aufgrund beträchtlichen Unwohlseins nicht mit uns nach Portsmouth gereist war, beste Grüße zu bestellen. Er wirkte ganz anders in dem blauen Rock der Seekadetten mit den großen gelben Knöpfen. So wie junge Schauspieler berichten, wie das lähmende Lampenfieber erstickt, kaum dass sie auf der Bühne stehen und endlich spielen, lösten sich auch meine Bedenken auf. Nicht nur mir war bewusst, dass James sich etwas vorgemacht hatte; auch ihm selbst, doch er war bereit, sich von der Erbarmungslosigkeit seines Schicksals neu formen zu lassen, ehe das Material, aus dem er geschaffen war, verhärtete, und ich, ihm zu vertrauen. Er drehte sich nicht einmal nach mir um. Kaum zurück in Suffolk, erwartete ich schon mit heißer Sehnsucht den ersten Brief, gegerbt vom salzigen Wetter des Meeres, gezeichnet von der Versicherung, dass James noch lebte. Ich kam lediglich auf andere Gedanken durch Lady Elizabeths besorgniserregenden Zustand, der sich wider Erwarten nicht nach ein paar Tagen regeneriert hatte. Sicherlich hatte es mit dem Verlust ihres Jungen zu tun, den sie nach wie vor nicht verkraften konnte. Um mir Gewissheit zu verschaffen, sammelte ich die bemerkenswertesten Symptome: Eine schreckliche Übelkeit überfiel sie in unrhythmischen, aber regelmäßigen Abständen, sie aß und trank daher wenig, viel zu wenig, die Brust schmerzte ihr, und wann immer man ihr Gutes wollte, wies sie einen mit fürchterlicher Aggressivität zurück. Fühlte sie sich selbst alleingelassen? Ich zweifle nicht daran. Doch nicht lange nach meiner Rückkehr versetzte ich die ohnedem schon überforderte Mary am Bett der kranken Admiralsgattin mit einem heiteren Lächeln in Panik. Sie musste annehmen, ich sei verrückt geworden. Tatsächlich allerdings waren mir die Anzeichen zu bekannt – ihren bitteren Beigeschmack verdrängte ich angestrengt – als dass ich mich länger von zehrender Angst um meine Brotgeberin und Freundin heimsuchen ließ. Natürlich war es gemein von mir – aber Mary ließ ich über den Grund meiner Erleichterung im Unwissen. Ihre den Teufel an die Wand malenden Wortschwalle wichen verblüfften Fragentiraden in dem Monat, da der erste Brief von James eintrudelte. Ich machte mir nicht vor, dass er nicht schon früher festen Boden unter den Füßen gespürt hatte, aber ich akzeptierte die Zeit seiner Überwindung, die es brauchte, bis er mir wahrlich Nachricht zukommen ließ – es machte mich glauben, dass dies, was er niederschrieb, wenn er von der Richtigkeit dieses seines Tuns überzeugt war, ehrlich ausartete im Gegensatz zu dem, was aus dem Zwang des Versprechens entstanden wäre. Ehe ich den Umschlag öffnete, zog ich mich in meine Kammer zurück, obwohl es unwahrscheinlich war, dass Lady Elizabeth das Bett verlassen würde. Es hatte aber auch etwas Gemütliches, bei schwachem Licht unter der Decke zu kauern, als würde man etwas Verbotenes tun, und die persönlichen Zeilen eines Vertrauten in sich aufzunehmen, dem man gewissermaßen seit Jahren nicht mehr begegnet war. Da ich den Brief las, war mir, als wäre James niemals so offenherzig mir gegenüber gewesen. Kapitel 15: I. Amalia und Elizabeth ----------------------------------- „Und was schreibt er?“ Lady Elizabeth Norrington standen Tränen in den Augen. Mochte es an den Schmerzen ihrer "Krankheit" liegen oder an der Tatsache, dass James mir schrieb und sie nicht mit einem Wort persönlich erwähnte. Sie wirkte irgendwie reumütig. Ich wusste, ich sollte sie ermuntern. „Er hat einen Jungen in seinem Alter kennen gelernt, mit dem er häufig zusammen ist. Theodore Groves, Mylady, wisst Ihr? Er kann sich gut behaupten unter den übrigen Midshipmen. Einmal durfte er sogar einen Wachdienst beaufsichtigen, und der Schiffslehrer lobt ihn oft für seinen Fleiß. Er gibt uns allen Grund, dass wir uns über ihn freuen können, nicht wahr, Mylady?“ „Ich möchte ja nur wissen, ob sein strenger Vater derselben Ansicht ist“, schnitt sie meine sie anstecken sollende Fröhlichkeit und stützte müde den Kopf auf den Daumenballen. „Mylord hat erreicht, was er wollte. Wie hätte die Bilanz besser aussehen können?“ „Für Lawrence?“ Ich stockte. „…Ja.“ „Auf welcher Seite stehst du?“ Mein Kopf senkte sich. „Ich bitte um Verzeihung.“ Das Domizil lag still in dieser Zeit. Selten wies die Herrin einen begabten Diener an, leise auf dem Kielflügel zu spielen, und ganz gleich, welche Melodie er anstimmte; immer wirkte sie furchtbar bedrückend. Selbst setzte sie sich nicht mehr an das Instrument, welches sie wundervoll beherrschte. Sie war auch nicht mehr interessiert an irgendeinem Wechsel im Kleiderschrank oder im Bett, und ich verstand, dass die Tändelei mit anderen Männern nur einem Ziel gedient hatte. Es war dasselbe Ziel, welches auch James zu außergewöhnlichen Mitteln greifen ließ, aber weder die Mühen der einen noch des anderen sollten mit Erfolg belohnt werden. Elizabeth war unübersehbar eine stattliche Frau, um die sich alle Arten von Männern scharten. Doch sie, sie wollte nur diesen einen und zwar gerade den, welchen sie nicht bekommen konnte, obwohl er ihr doch schon angetraut war. Nichts band Lawrence an diese Welt, nicht einmal eine Ehe. Natürlich liebte er seine Gemahlin. So, wie ein Mann der See eben einen Menschen lieben konnte. „Der Frühling umarmt dieses Haus“, säuselte ich, „aber Ihr lasst ihn nicht in Euer Herz. Verschließt Euch doch nicht vor den Schönheiten, mit denen das Leben noch aufwartet.“ Sie sagte daraufhin nichts. Aber ich sah, dass sie wusste, wie Recht ich hatte. Allein irgendein Teil von ihr wollte sich dem unbeschwerten Leben nicht unterordnen. Auf der anderen Seite ließ sich das unbeschwerte Leben nicht einfach aussperren. Ein Brief, wie aus dem Himmel kommend, kündigte Besuch an, und angesichts der Art dieses Besuchs frischte sich Lady Elizabeth zumindest äußerlich auf. Sie klagte nicht mehr über ihre Schmerzen wie ein Kind, das bemuttert werden wollte, und kaufte sich ein neues Kleid, denn das in Sachen der Mode bemerkenswert fortschrittliche Paris ließ ihr Aktuellstes bereits wie einen Lumpen aus Urgroßmutters Kiste erscheinen. Prunkvoller, bunter und vor allem weiter waren die Röcke, die Elizabeth jetzt trug, und anfangs hatte sie Schwierigkeiten, das sperrige und bei jeder Berührung knirschende sogenannte Vertugadin durch die Türen zu ziehen. Besonders begeistert war sie selbst nicht, aber sie nahm jene Unbeweglichkeit, die man einer Mistress Norrington gar nicht zutraute, grummelnd in Kauf, um sich von dem gemeinen Volk absetzen zu können, dessen Tracht ebenfalls immer extraordinärere Wandlungen erfuhr. Ich, die ich mir aus der neuen Mode nichts machte, weil ich nicht mehr darauf aus war – es vielleicht niemals gewesen bin – vor jemandem zu profilieren, musste mir ein Kichern ersticken, als die beiden Frauen hilflos um die jeweils andere tanzten und versuchten, sie über die enormen Stoffkuppeln um ihre Beine hinweg in die Arme zu schließen. Wie sie sich letztendlich gegenüberstanden, mochte kaum jemand annehmen, dass Elizabeth Grace Norrington und Amalia Isabella Swann in irgendeiner Weise miteinander vertraut waren, schon gar nicht, dass sie Schwestern sein könnten. Nun, das waren sie auch nicht, aber die innere Verbundenheit beider, die sie sich seit ihrer Kindheit kannten, machte sie gewissermaßen zu Verwandten, was der große Unterschied in der Erscheinung nur müde zu belächeln wusste. Amalias Glanz und Grazie standen denen Elizabeths in nichts nach; allein hatte sie ein offeneres Gesicht und goldblonde Locken, wo das Haar ihrer Freundin in rabenschwarzen Wellen über den Rücken strich. Auch trug sie nur dezente Schminke, was gut war, denn so verbarg kein Puder die strahlende Natürlichkeit des gebräunt angehauchten Teints. Ihre Augen funkelten vor Lebensfreude, und es war ein Genuss, den rosigen Lippen zu folgen, wenn sie sich beim Sprechen bewegten. Vorbehaltlos begrüßte sie sogar mich, als Lady Elizabeth ihr die lady’s maid vorstellte. Es machte ihr nichts aus, dass ich mit ihnen in unserem beschaulichen Wohnraum saß, und auch nicht, dass ich ihr im Laufe der sich rasch ergebenden Konversation Fragen stellte oder jene von ihr ehrlich beantwortete. So stellte sich heraus, dass ich die Gemahlin eines Londoner Adligen vor mir sitzen hatte, mit noch einigen spannenden Hoffnungen für die Zukunft. Einen besonderen Platz nahm natürlich auch James ein – nicht auf einem Sessel zwischen uns, aber als Gesprächsthematik – und wir erhoben uns aus den Positionen, die jedem Standesbewusstsein fern waren, damit Lady Elizabeth der neugierigen Lady Swann das Porträt von Klein-Captain James Norrington im Korridor zeigen konnte. Zwischen einem Gemälde seines Vaters als Kapitän sowie dem seines Großvaters in bester Galauniform würde er definitiv verloren und traurig wirken, wenn der Maler sich nicht dermaßen großartig auf sein Handwerk verstanden hätte. So wusste der Junge da Lady Amalia Swann zu imponieren. „Und er zählte zu diesem Zeitpunkt wirklich fünf Jahr?“ „Unglaublich, in der Tat“, murmelte Lady Elizabeth bedeutungsschwer. „Lawrence hat das Bild in Auftrag gegeben. Er hat auch diesen Rock anfertigen lassen. Normalerweise trägt James so etwas nicht…“ „Dann wird er also ebenfalls der Marine beitreten, wie sein Vater.“ „Schon geschehen. Er ist jetzt Midshipman.“ Sie betonte das Wort, als würde es ihr an der Zunge kleben und müsste durch langwieriges Kauen erst davon gelöst werden. Lady Swann sprach aus, was sie bestimmt schon länger vermutete: „Du bist nicht davon begeistert.“ Ihre Mundwinkel hingen wie durch unsichtbare Gewichte erschwert herab. Vor der vertrauten Freundin erwärmte sich die schöne, starre Mimik der Frau Norringtons und schmolz. „Woher weißt du das nur? Ich bemühe mich doch so sehr, Begeisterung im höchsten Grade seiner Möglichkeit auszudrücken…“ „Was hält er selbst davon?“ „Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht. Über so etwas hat er nie viel gesprochen. Ich denke, dass er große Stücke auf die Zuneigung seines Vaters setzt, und die muss ihm wichtiger sein als seine Vorlieben, wenn er jede andere Möglichkeit fahren lässt, um ihm folgen zu können. Er hat immer viel gelesen, besonders über Geschichte und Fremdsprachen – vor allem Französisch, wie du weißt – und er übte sich gerne in Strategiespielen. Schiffe haben nie sein Interesse schüren können. Im Fechtunterricht, welchen Lawrence angeordnet hat, zeigte er wenig Elan. Könnte ich die Zeit nur zurückdrehen, Amalia, könnte ich das nur, dann würde ich dafür sorgen, dass James in unserer Politik tätig wird oder im Rechtswesen. Er mag kein Künstler sein, das akzeptiere ich jetzt, aber er ist zu zart und zu schlau für einen Seefahrer.“ „Elizabeth!“ In Lady Swanns Stimme war just der warme, korrigierende Ton einer Mutter eingeflossen. „Hörst du dich nicht selbst reden? Jetzt würdest du ihn auch zu etwas bewegen, ohne dass du weißt, ob es seinen eigenen Wünschen näher liegt als die Absicht deines Mannes. Weißt du, manchmal müssen die Anzeichen nicht offensichtlich sein und sinnvoll auf etwas hindeuten, sie können auch täuschen – zum Beispiel über etwas anderes hinweg. Hast du niemals darüber nachgedacht, dass James sich in Französisch übt, um mit Englands großem Feind zur See kommunizieren zu können? Dass er sein taktisches Vermögen in all den Brettspielen zu stärken versucht, um als Kapitän einer Flotte geschickt taxieren zu können? Dass er aus den vergangenen Kriegen in seinen Geschichtsbüchern für seine Zukunft als ein Teil dieser Geschichte lernen möchte? Wie oft hast du mir von seiner Intelligenz und Reife geschrieben und willst doch immer schon an der Klarheit seines Verstandes gezweifelt haben, dass du ihm zutraust, die Anerkennung des Vaters durch nichts anderes als unüberlegten Gehorsam verdienen zu wissen. Ich möchte dir gegenüber ehrlich sein: Bist du sicher, James wirklich zu kennen, zumindest nur halb so gut, wie du meinst, es zu tun?“ Lady Elizabeth stellte eine kerzengerade Figur dar. Nur ihre Augen wirkten lebendig, und sie stierten ihr Gegenüber an, als wäre sie der Ansicht, es auf diese Weise sauber in zwei Hälften spalten zu können. „Du kennst James überhaupt nicht“, verteidigte sie sich. Doch die elegante Dame aus London machte keine Anstalten, die Samthandschuhe überzuziehen, um die Löwin streicheln zu können. „Ich führe dir die Unstimmigkeit in deiner Betrachtung vor. Du scheinst ihn jedes Mal neu zu charakterisieren, wie er dir gerade passt, und bedenkst dabei nicht, dass er bereits zu einer Persönlichkeit mit seinen bestimmten Nachteilen, aber auch Vorzügen geworden ist. Als Mutter ist es nicht deine Aufgabe, ihn zu formen, sondern ihn zu beobachten, ihn zu erkennen und ihm deine Hand entgegenzuhalten, welchen Weg er auch immer gehen mag. Du sollst ihn nicht zwingen oder aufhalten, aber du solltest seine Einstellungen, seine Anschauungen hinterfragen. So zieht er sie selbst noch einmal in Erwägung und dir ergibt sich die Gelegenheit, ihn zu verstehen. Sehe mir meine Direktheit nach, aber das hast du bisher versäumt, und deshalb stehst du im Dunklen, was seinen letzten, sicher nicht voreiligen Entschluss betrifft. Darunter hat auch er zu leiden.“ Bei der Art, wie sie sprach, überrascht es vielleicht, dass Amalia Swann jünger war als Lady Elizabeth. Ich hatte nicht die Muße, ihren durchaus weisen Ratschlägen die verdiente Achtung zu zollen, denn ich fühlte mich nicht weniger als James’ Mutter von einem Vorwurf der Nachlässigkeit angeklagt, an dem ich schwer zu nagen hatte. Schließlich wusste ich nicht besser, weswegen sich James scheinbar plötzlich mit der Verordnung des väterlichen Admirals ausreichend überein fühlte, um uns zu verlassen. War Lawrence Norrington am Ende der einzige, der James’ wahre Ziele, vielleicht von Beginn an, durchschaut hatte? „Du bist nicht einmal Mutter.“ Lady Elizabeths Mundwinkel zuckten gequält. Der Versuch, die langjährige Freundin zu verunsichern, möglicherweise sogar zu verletzen, um das eigene Ego wieder zu kräftigen, das sich nicht in seiner Überzeugung von romantischer Mütterlichkeit gestört sehen wollte, scheiterte an jenem Glück, das mit solch hübschen, gescheiten, aufrichtigen, vollkommenen Frauen wie Lady Amalia Isabella Swann fest verbunden zu sein schien wie das Bildnis eines Engels mit den weißen Vogelflügeln und der hellen Gewandung. Ich sah, wie sich ein sanftes Rosa in die Ebenmäßigkeit ihrer Wangen schlich, ehe sie das Haupt senkte. Beinahe ängstlich fuhren ihre Hände über ihr cremefarbenes Korsett, aber es war eine schöne, beneidenswerte Angst. „Noch nicht“, flüsterte sie mit einem schüchternen Lächeln. Am selben Abend versteckte ich mich im Bett innerhalb meiner Kammer, die mehr denn je einem Schneckenhaus gleichkam. Nicht, weil sie so klein war. Sie war meine Stätte der Stille, mein dunkles Reich der Ruhe, von keinem sonst mit großer Beachtung bedacht, sodass niemand die Zeit vergeudete, die darin befindliche Zurückgezogene zu belästigen. Solange ich hier drinnen war, existierte ich für die Außenwelt nicht wirklich, und das war auch einmal gut so. Eine flackernde Kerze stellte das einzige Leben dar, das ich neben mir in meinem Refugium duldete. Sie leistete mir Beistand, indem sie mir über die Schulter blickte, während ich den Brief erneut auffaltete. Sehr geehrte Ms Abda stand dort in sehr engen Lettern, als würden sie befürchten, zu viel Platz zu beanspruchen, und Nichts gibt meinem Entschluss Gedenken, hier und jetzt unter einem knarrenden Holzdeck aufzuwachen und von dem intensiven Geruch nach Fisch, Schweiß und Teer bedrängt zu werden, während um mich die beinahe stets währende Geräuschkulisse heranschwellt, statt unter den ersten Sonnenstrahlen des schon vorangeschrittenen Morgens, aus meinem langen Schlaf erweckt durch das Zwitschern der Lerche oder Ihre Hand, die mir einfühlig über den Kopf fährt. Ich fürchte, es noch immer nicht zur Gänze realisiert zu haben, jetzt hier zu sein. Zu bewundernswert noch ist mir die Gegebenheit unzähliger Erweiterungen meines vorher so beschrankten Horizonts, von der jeder Matrose sagt, dass es an ihr nichts zu bewundern gäbe. Die Tage sind lang und heiß, doch bei Nacht, wenn nichts das Wellenrauschen übertönt, dann den Himmel durch die geisterhaften Segel zu betrachten, die durch den Vollmond beleuchtet werden und höher sind als alles, was ich kenne, dieser faszinente Anblick gibt mir das Gewissen, dass es richtig war, England und Sie zu verlassen, und den Mut zu beweisen, dass ich nicht das bin, was Ihr alle immer in mir gesehen habt. Der letzte Teil dieses Satzes war großzügig mit Tinte übermalt worden, und er dachte wohl, das würde ausreichen, damit ich seinen kleinen Ausrutscher nicht mehr lesen konnte, doch er hatte sich geirrt. Kapitel 16: I. Die Romantik des Todes ------------------------------------- Entlang des Horizonts zog sich ein schmaler Goldstreifen, der Himmel war grau und trug blasse, orangefarbene Wolken. Die Segel wellten sich in einem friedlichen Wind und das Meer glitzerte. Wenige Matrosen saßen auf den Masten und beobachteten das frühe Schauspiel der Natur, auf dem Oberdeck war ich fast allein. Lange hatte der Tag nicht so ruhig begonnen wie an diesem Morgen. Mein Herr Vater stand unweit von mir. Als der goldene Streifen sich mit müßiger Langsamkeit zusammengezogen hatte und sich die Rundung der Sonne über dem Firmament wölbte, wandte ich die Augen von dem grellen Schein ab und sah, dass er weiter über das Meer blickte, so als würde er auf irgendetwas warten. Mir ist bewusst, dass er nicht über die Erlaubnis verfügt, sich bei den Auseinandersetzungen unserer Nation mit anderen zu beteiligen, daher macht er ohne den königlichen Segen Jagd auf Seeräuber und Kaperfahrer. Piratenschiffe zu entern, das ist anders als das Kämpfen gegen ausländische Soldaten. Es geht leicht von der Hand. Er macht eines ihrer Schiffe ausfindend und übernimmt es, als würde das alles ihm nicht mehr als einen einzigen Tropfen Schweiß kosten. Wie mit ihnen verfahren wird, nachdem sie im Inneren unseres Schiffes verschwinden, ist mir nicht bekannt. Er lässt mich niemals so weit gehen, bei dem, was tief unter Deck geschieht, anwesend zu sein. Ich wollte mich meiner Lektüre der Flaggenkunde zuwenden, die ich in den letzten Tagen, an denen der Sturm alles von uns abverlangt hatte, deutlich vernachlässigt hatte. Gerade öffnete ich das Handbuch, da sagte mein Herr Vater nur ein einziges Wort, Betrieb setzte ganz plötzlich ein. Als nicht mehr zu übersehen war, dass irgendetwas Eigenartiges im Gange war, drängte ich mich zwischen die Menschenreihen, die sich an der dem Osten zugewandten Brüstung gebildet hatten. Die Sonne, nun fast zur Hälfte aus dem Wasser gestiegen, blendete uns alle, ich hörte die anderen stöhnen und sah, wie sie sich bemühten, den Blick auf das zu fixieren, worauf sich mein Herr Vater schon länger konzentrierte. Lieutenant Bennett kam dazu mit einem Fernrohr und bestätigte seinen Verdacht. Er sagte, dass er ein Schiff an der Kimm ausmachen könne. Ich fragte ihn nach dem Fernrohr, doch auch damit war es mir nicht gegeben, etwas zu erkennen. Mein Herr Vater vertraute Lieutenant Bennett ohne Nachfrage und ordnete an, mehr Segel zu setzen. Ich, Theodore und Joseph Conrad, ein Midshipman, der jünger war als wir und immer mit ganzem Elan bei der Arbeit, fanden uns in der Mitte des Decks zusammen und ließen alle Segel des Großmastes fallen. Das Schiff gewann langsam an Fahrt. Es drehte in den Wind. Als wir fertig waren, leuchtete der Himmel in einem beinahe wolkenlosen Blau, und die Sonnenstrahlen nahmen die Segelfläche ein, sodass wir selbst dann geblendet wurden, wenn wir nur in die Masten hinaufschauen wollten. Wir fragten Lieutenant Bennett, ob er eine Ahnung habe, was das für ein Schiff sein könnte. Dies in Erfahrung zu bringen ist sehr wichtig für uns Midshipmen, denn wir müssen so schnell wie möglich die Vorbereitungen treffen, die sowohl gegenüber einem Verbündeten, einem Feind und gegenüber einem Piraten anders ausfallen. Selbst gegenüber einem verbündeten Captain werden andere Vorbereitungen getroffen als gegenüber einem verbündeten Admiral. Es ist nicht weniger eine Katastrophe, zum Salut eines Admirals zu wenig Schüsse abzufeuern als längsseits eines Feindes zu gehen und festzustellen, die Kanonen gar nicht geladen zu haben. Lieutenant Bennett sagte, es könne alles Mögliche sein. Er ist ein vorsichtiger Mann, aber nicht träge. Er ist nicht eher davon überzeugt, ein englisches Schiff vor sich zu haben, bis dessen Kapitän ihm in perfekter Aussprache das Lieblingskonfekt Seiner Majestät mitgeteilt hat. In einem Fall der Ungewissheit sind wir nicht weniger vorsichtig und bereiten uns deshalb auf die schlimmste Annahme vor. Unter Deck teilten wir uns auf und ließen die Kanonen gefechtsbereit machen, überprüften die Festigkeit der Seile, klärten die noch unkundigen Männer über die Entdeckung und den möglicherweise bevorstehenden Kampf auf. Als ich wieder auf das oberste Deck trat, stand die Sonne bereits so weit über dem Meer, dass ich nun ebenfalls in der Lage war, durch das Fernglas den grauen Fleck auszumachen, der sich in unsere Richtung bewegte. Wieder war es still, etwas lag in der Luft, das ich nicht benennen kann, das vorher jedoch noch nicht dagewesen war, nicht in diesem Ausmaß. Ich erinnere mich, Möwen kreischen gehört zu haben, was bedeutet, nicht mehr allzu weit vom Land entfernt sein zu können. Der Tag näherte sich seiner Mitte, der Wind wurde etwas stärker. Der graue Fleck nahm mehr und mehr Gestalt an, auch für das bloße Auge, aber noch immer konnten wir keine Flagge entdecken. Mein Herr Vater verkündete, es wäre eine Galeone und nach ersten Erkenntnissen beschädigt. Also teilten wir erste Anweisungen aus, falls es notwendig sein würde, unseren Zimmermann Mr Harry Bunce oder unseren Arzt Dr. William Beatty hinüberzuschicken. Joseph prüfte seine Pistole. Mein Herr Vater persönlich begann, nach dem Kapitän des anderen Schiffes zu rufen. Aber das Deck war verlassen. Wir schoben uns längsseits. Es wirkte ausgestorben und ich glaubte, das war es auch. Ich glaubte es bis zu dem Augenblick, da aus der großen Luke eine Einheit schreiender, wackelnder, blitzender Degen hervorquoll. Sie überrannten uns schlichtweg, so als gäbe es gar keine Spalte zwischen unserem und ihrem Schiff, stürzten sich einfach auf unser Deck, bildeten eine Wand, aus der abertausend Dornen ragten. Ihr Kreischen war schrill und lähmend, ihre Gesichter von unmenschlicher Hässlichkeit, so verzerrt, bald sah man nicht mehr als den eigenen Degen und die aus dem Tumult herausschießenden. Man musste es gar nicht sehen, man hörte und fühlte, wie Kameraden und Gegner neben einem niedergingen oder in das Wasser stürzten. Dutzende der Fremden waren bereits in das Wasser gestürzt, als sie auf uns losgegangen waren, wie zornige Blinde, und ich begreife nicht, warum dies alles. Zu unserem gegenseitigen Schutz taten ich, Theodore und Joseph uns zusammen, schlugen einige zurück. Irgendwann vergisst man all das, was man im Fechtunterricht gelehrt bekommen hat, oder es geht einfach in das Blut über. Man sticht nur noch zu und zieht zurück, man schlägt seine Klinge gegen die Klinge des Angreifers, bis er nachgibt, aber er gab nicht nach, er kam plötzlich auf mich zu, ich duckte mich und steche wieder zu, ich dachte, er würde parieren aber es gab einfach keinen Wiederstand und dann zog, der Degen an meiner Hand, bohrt sich tief, hinter das graue Hemd, saugt das Blut auf, es kommt bis zu meiner Hand zieht es sich hinauf und der Mann fiel um und ich fiel auch um, das Schwärt steckte in seinem Körper und hatte sich festgebissen, ich zog dann zog mich Vater auf die Beine und ich drehte mich um. Theodore stand da und ich griff nach einem Säbel auf dem Boden. Mir blieb keine Zeit zum Nachdenken, in einer Schlacht muss man instinktiv handeln, das habe ich jetzt begriffen. Theodore wurde angegriffen und ich eilte zu ihm hin, doch ich konnte ihn nicht schnell genug erreichen. Dann sah ich Josephs blonde Locken. Er hatte seinen Hut verloren. Er sprang über ein Hindernis hinweg mit ausholendem Arm und zog es durch den großen Mann. Joseph Conrad ist der Jüngste von uns. Er hatte nicht genug Kraft, wahrscheinlich war sein Degen auch nicht scharf genug, die Schneide verletzte den großen Mann kaum. Ich nahm den Griff in beide Hände und hielt ihn direkt vor meine Brust, sodass das Entermesser wie ein Rammbock war und lief einfach auf den Mann zu. In seiner Mitte stößt die Spieze auf eine kaum zu durchborende Härte, da wo seine Wirbel sind, ich rutsche ein bisschen ab und dann versänke ich es in ihm. Sein ganzes Hemd wird rot, als würde es sich verwandeln, das Rote kriecht von diesem Zentrumm aus überall hin, dann fiel er um wie wenn Mr Benedict ein Gebüsch schneidet. Joseph schrie durch das grälle Tosen des Kampfes entschlossen und Theodore starrte mich an. Ich sah ihn nicht, aber ich sah meinen Vater kämpfen, und Lieutenant Bennett. Ich stand Theodore direkt gegenüber und hörte Josephs Rufe. Ich drehte mich zu ihm um, er stand auf der Brüstung und hielt mit einer Hand das Netz, mit der anderen seinen Degen, von dem das Blut über seine Hand rannte, er sah sehr groß aus und entschlossen, brüllte Anweisungen. Ich und Theodore eilten nah am Boden über das Deck, zwischen den Beinpaaren hindurch, und ich schnitt mit dem Säbel in ein paar Beine, sie waren anders als die unseren, ich konnte sie auseinanderhalten. Endlich sah ich Vater, als ich ihn sah, wurde mein Arm taub und ich verlor meine Waffe aus der Hand. Das Holz unter unseren Schuhen hatte eine rötliche Färbung angenommen, die Sonne ließ das feuchte Deck funkeln. Vater stach seinen Gegner nieder und wirbelte herum, um einen weiteren zu bezwingen, und plötzlich verebbte das Chaos, das Getöse wandelte sich zu einem leiseren Rauschen und Klirren. Menschen warfen sich herum, hechteten aufeinander zu, und über ihnen stand Joseph Conrad mit seinem entschlossenen, nichts fürchtenden Blick, er hob seine Hand, die den Degen hielt, sein Rock flatterte im Wind, er hob den Degen und öffnete den Mund weit, er blies wie zum Angriff, ich wollte nach ihm rufen, hatte auf einmal das Verlangen, es zu tun, dann schoss etwas von der Seite über seiner Brusst an ihm vorbei, kann es nicht erkennen, es ist auch schon weg und plötzlich sprenngt sich Josephs Gesicht mit dem weit geöffneter Mund von seinem Körper ein rundes Objekt mit hellblonden Locken, wirbelt durch die Luft schlägt gegen den Mast mit einem dumpfen Klopfen, prahlt ab und als ich zurücksehe, Joseph steht nicht mehr auf der Brüstung, hählt sich nicht am Netz seinen Degen in die Höhe, das letzte Duell entscheidet sich gerade und man hört nur noch Stöhnen. Mit einem Mal war er weck, ich weiß nicht, warum. Ich und Theodore halfen, die besiegten Gegner über Bord zu werfen, ich erkannte sie an ihren Kleidern und an den Schnitten in den Beinen, es war ruhig bis auf die Möwen, das Deck wurde geschrubbt, die Sonne hatte den Zenit überquert und das Meer glitzerte, ich sah zwei oder drei Delfine, als einige wie Menschen geformte, in Leinen gewickelte Pakete über Bord geworfen wurden und Lieutenant Bennett ein Gebet vortrug, Theodore stand neben mir, dicht neben mir und ich dicht neben ihm, Joseph fanden wir nicht wieder, ich sah auf die Delfine, sie spielten im letzten Sonnenlicht. Jemand nahm die rot verklebte, blond gelockte Kugel und warf sie endlich über Bord. Wir sprachen ein Amen. Er ging nicht von uns, weil er im Gefecht unterlegen oder feige war. Er ging nicht heldenhaft von uns, und wahrscheinlich ging er nicht, wofür er lebte. Er war ein Held, aber nicht im Tod, und jetzt frage ich mich, ob überhaupt irgendjemand im Augenblick seines Todes ein Held sein kann. Vielleicht davor, vielleicht sogar danach, aber wenn es passiert, genau dann, wenn es passiert, exakt in dieser einen Sekunde? Mich lässt die Überlegung nicht mehr los, obwohl man so etwas nicht überlegen soll, wie der Tod meines Herrn Vaters sein wird. Auch er wird nicht als Held sterben, das ist gewiss, selbst wenn er, auch das ist sicher, als Held tot sein wird. Denn Joseph Conrad konnte nicht heldenhaft von uns gehen, wobei er doch bis zu seinem Tod wie ein Held dort auf der Brüstung des Schiffes gestanden hatte, mutig und entschlossen, war sein Tod sinnlos, und deshalb wird bald niemand mehr an ihn denken. Eines weiß ich bestimmt: Der Anblick des Meeres vom Hafen aus, wenn auf seiner Linie Schiffe langsam vorbeischweben, die Sonne einen geraden Strahl über die Wasserobenfläche schickt, der sich fast bis zum Ufer zu strecken scheint, oder eine Art Steg aus Licht, dem man folgen zu können glaubt. Wenn einen die ungestörte Entfernung nahezu anzieht, und es wehtut, am Rande des Hafens stehen bleiben zu müssen. Wenn man anfängt, die Möwen um ihre Flügel zu beneiden. Dann trügt dich das Meer. Denn wenn du erst bist, wo du sein wolltest, dann wirst du feststellen, dass es keine Scheu kennt, die romantische Vorstellung, von der du geblendet bist, mit einem gehässlichen Grinsen zu vernichten. Ich muss mich entschuldigen, doch ich werde diesen Brief nicht mehr zu Zwecken der Korrektur überlesen. Ich bin ein wenig besorgt, dass er dann nicht mehr ehrlich sein wird, und ich sollte ehrlich sein. Nicht, weil Sie mich darum beten. Ich sollte schlichtweg ehrlich sein, solange ich es mir noch erlauben kann. Es wird nicht mehr lange dauern, da wird es mir nicht mehr möglich sein. Wenn es Ihnen keine zu großen Umstände bereitet, grüßen Sie bitte alle einmal von mir. Alle. J. L. Norrington Ich glaube, dem ist nichts hinzuzufügen. Kapitel 17: I. Alexia --------------------- Wir haben den Äquator hinter uns gebracht. Ich würde es Ihnen nicht schreiben, wenn es eine Überfahrt wie jede andere gewesen wäre. Das war sie nicht. Mein Herr Vater holte mich äußerst früh an diesem Morgen aus dem Nachtlager, alle anderen Midshipmen schliefen noch. Ich hatte sehr leise zu sein, um sie nicht zu wecken. Er sagte mir nicht, was er von mir verlangte, ich fragte auch nicht weiter nach. Draußen war es noch finster. Wir hatten wenig Wind. Aus uns allen war ein wenig die Antreibskraft gewichen, immer noch aufgrund des Vorfalls, von dem ich Ihnen in meinem letzten Brief berichtete. Bis zu diesem Morgen nach der Äquatorüberquerung. Auf einmal wurde es laut. Die Matrosen schrien und jauchzten, gedämpft durch das Holz des Schiffsrumpfes. Dann schrien Kinder. Es wurde lauter und lauter, bis sie aus dem unteren Deck emporströmten. Ich sah Theodore, zwei Männer hielten ihn fest. Alle Midshipmen wanden sich in dem Griff der Älteren. Er sah mich nicht. Von der Höhe des Achterdecks aus hatte ich einen guten Blick über das gesamte Spektakel. Ein abnormer Geruch von Alkohol und Fisch stieg auf, und ein Mann, dem ich zuvor noch nie an Bord begegnet zu sein glaubte, in seltsamer Kleidung verhüllt, stach aus den Matrosen in großer Haltung. Theodore und die anderen wurden vor ihm auf die Knie geworfen. Er stellte sich ihnen in Versen als Triton vor, der im Namen seines Vaters Neptun, der Herrscher über alle Gewässer sei, gekommen war, und warf ihnen vor, man müsste sie nun, da sie in die südlichen Meere eingefahren waren, vom Dreck des Nordens befreien. Außer den Midshipmen selbst schien sich niemand über die angebliche Präsenz eines Gottes auf unserem Schiff zu wundern. Triton wandte sich meinem Herrn Vater zu, um den Kapitän zu grüßen, da riss er mich rasch hinter sich. Die laut lachenden Männer schnitten Theodore und den anderen grob die Haare ab, wiesen sie mit verknoteten Seilenden zurecht, wenn sie aufschauten, und, ehe sie sich versahen, überschütteten sie sie mit einer undefinierbaren, klebrigen Substanz, Muscheln und Fischteilen, rieben sie damit ein. Sie verschwanden unter der Schar betrunkener Seeleute, dass nur ihr Geschrei Gewissen gab, dass sie noch lebten. Ich verstand nicht, weshalb mein Herr Vater, der grundsätzlich keinerlei ausschweifende Geschehen seiner Männer an Bord duldete, dies zuließ. Später erklärte er mir, das Ritual sei notwendig, um die ernste Atmosphäre unter der Crew zu lockern. Ich kann es dennoch nicht im Ganzen nachvollziehen. Die Midshipmen wurden unter den Achseln gegriffen und in ein Becken mit Salzwasser geworfen. Als Theodore auftauchte, war sein ganzer Körper rot. Sie drückten seinen Kopf immer wieder unter Wasser, obwohl er sich wehrte, obwohl er selten keinen guten Dienst leistet. Gewiss brilliert er nicht vor unserem Lehrer, manchmal beschwert er sich über die große Anstrengung, macht Fehler oder schwärmt von den Abenteuern der Piraten, aber er gibt, was er zu geben in der Lage ist, um seinen Vater nicht zu enttäuschen. Schließlich zog man sie heraus, sie zitterten und schluchzten, stellte sie vor den Mann, der sich als Triton herausgegeben hatte. Ein einheitliches Jubeln ging durch die Menge. Ihnen wurden Decken umgelegt. Triton sprach einen Segen aus und gab ihnen eigentümliche Namen, die sie zu wiederholen und sich unbedingt zu merken hatten. Dann verabschiedete er sich von der Mannschaft, dem Kapitän und der Victory und sprang über Bord. Zum Jubeln gesellte sich enormer Applaus, dann spendierte man den Getauften einen halben Becher Rum, ehe sie von den Lieutenants unter Deck gebracht wurden. Es erscheint mir dumm, überhaupt den Gedanken zu heben, doch hätte ich vielleicht, statt hinter dem Rücken meines Herrn Vaters, dort unten auf dem Deck, zwischen den anderen Midshipmen stehen sollen? Der diesjährige Herbst war ungefähr zwei Monate alt, da ließ Lady Elizabeth nach mir rufen. Ich warf die Strümpfe hin, in dessen Vollendung ich vertieft gewesen war, bis ich Marys dünne Stimme meinen Namen kreischen hörte, und stemmte mich in die Höhe, um sofort in das Zimmer meiner Herrin zu rasen. Die zarte Zofe kam mir mit einem Gesicht entgegen, das vollkommen ausgebleicht und feucht war, Tränen schimmerten in ihren Augen. „Schnell! Schnell! Bei Gott, es ist so schrecklich! Blut! Überall Blut!“ Lady Elizabeth selbst, verkrampft und in einer nassen Lache auf ihrem Bett noch immer prächtiger als manch andere Damen in ihren besten Jahren, bagatellisierte es hingegen. Sie hatte sogar noch die Muße zu einem frechen Lächeln. Es war für sie schmerzhafter als zuvor; die vergangenen Monate schon waren qualvoller gewesen, als sie es aus der Erinnerung kannte, und das bereitete mir Sorgen. Vorsichtig und dennoch zügig brachte ich sie in eine vertikale Position, welche ich aus eigener Erfahrung als die Beste empfinde; auf den Knien und an das Bett gestützt, sodass die Schwerkraft ihr behilflich sein konnte, und ertappte mich glattweg, wie sich mir am guten Ausgang leise Zweifel auftaten. Sie schrie plötzlich auf, was mich zusammenfahren ließ, hatte sie sich doch nie diese "Blöße" geben wollen, wie sie es nannte, und in der Tat hatte sie natürlich gestöhnt, geächzt, gekeucht, aber bis zu jenem Tage niemals geschrien. Würde sie jetzt etwa, wo der Lord nicht daheim war und James ebenfalls nicht, wo alle sie verlassen hatten, würde sie da etwa uns verlassen? Würde sie zuhause sterben, während Mann und Sohn in seemeilenweiter Entfernung in ständiger Lebensgefahr schwebten? Ich wartete auf Mary in der Hoffnung, dass sie an das Wasser gedacht hatte, doch war das Mädchen viel zu sensibel, um sich auch nur in Türnähe zu trauen. Schließlich aber blieb dort Benedict mit seiner vollen Blechkanne stehen, mit welcher er zuweilen die Pflanzen im Inneren des Anwesens wässerte, und ich befahl ihm förmlich, zu bleiben. Zirka vier Stunden später lag Lady Elizabeth reglos da. Das Haar strömte von ihrem schlanken Haupt fort, über die Kanten des großen Ehebettes wie Flüsse aus einem schwarzen See. Ihre Wimpern, noch ungeschminkt außergewöhnlich lang, strebten an den geschlossenen Lidern der Zimmerdecke entgegen, und wäre nicht ihr Mund, man könnte meinen, das sich bietende Bild sei ein einziger Kontrast von Schwarz und Weiß. Doch ihre Lippen schimmerten in der Farbe der Kirschen, sehnten sich danach, durch die Blassen des Gatten Ausgleich zu erlangen. Schweiß wie Wasser waren getrocknet, und wir wussten, dass sich jeder Monat, jeder Tag, jede Minute des meist stummen Leidens gelohnt hatte, als ich den neuen Mitbewohner des Domizils Elizabeth in die Arme legte. „Endlich eingeschlafen?“, fragte ihre heisere Stimme amüsiert. „Hilf mir, Abda, wenn ich mich irre, doch ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass James damals genauso laut gewesen ist.“ Ich hatte mir ein Stuhl an das Bett gerückt und hielt ihre Hand. „Nein, Mylady, Ihr irrt nicht. James war sehr still gewesen, schon am Abend seiner Geburt.“ Sie lächelte erschöpft. „Können wir also aus ihrem Gebrüll schließen, dass sie ein nervenaufreibendes, aggressives Energiebündel werden wird?“ „Sie ist eine Norrington“, sagte ich, als würde dies alles beantworten. Um ehrlich zu sein, schockierte mich die Vorstellung. Ich fühlte mich zu alt für ein Energiebündel. Mit den anderen beiden Norrington-Sprösslingen hatte man es gut mit mir gemeint. Auf so etwas wäre ich gar nicht vorbereitet. „Sie trägt immerhin das blonde Haar ihres Vaters“, bemerkte die Mutter stolz, „und sogar seine wundervollen Augen.“ „Und welchen Namen?“ Mir gegenüber, auf der anderen Seite des Bettes saß Benedict auf einem weiteren Stuhl. Als ich ihn angewiesen hatte, ruhig zu bleiben, hatte er beide Fäuste so weit, wie es ihm die Elastizität seiner Gesichtsmuskeln gestattete, in seinen Mund gesteckt und sie seitdem nicht mehr herausgenommen, als wäre er sich im vollen Umfang bewusst darüber, dass er sich selbst manchmal nicht unter Kontrolle hatte. Womöglich war er das auch. „Jetzt, wo Seine Lordschaft nicht hier sein und Euch in dieser Sache "beraten" kann, ist die Entscheidung ganz Euch überlassen.“ Lady Elizabeth summte den Ton des Nachdenkens, ihr Blick immer auf das wahrlich engelsgleiche Antlitz Alexias, wie sie später genannt werden sollte, gerichtet. Von James’ vielen Vornamen war letztlich kein einziger auf ihr Geheiß entstanden. Lawrence hatte ihn nach zwei englischen Monarchen taufen lassen sowie nach einem großen Eroberer und natürlich nach sich selbst. Elizabeth hatte ihn Julius nennen wollen, nach ihrer verehrten Mutter Julia, und Charles im Gedenken an den Schwiegervater, den kennen gelernt haben zu dürfen ihr stets ein unersetzliches Glück gewesen war. Umso größer war die Freude, ausgiebig über den Namen der ersten Tochter sinnieren zu können, ohne dass ihr jemand irgendwelche als Vorschläge verkleideten Vorschriften machte. Ich will gleich an dieser Stelle verraten, dass Alexia Juliett Charlize Elizabeth Norrington mit ihrer goldenen Lockenpracht, den sehnsuchtsvollen, himmelblauen Augen, der weichen Elfenbeingestalt und ihrer frühreifen Weiblichkeit ein Engel – wie ein solcher in der Imagination der ihr zu Füßen liegenden Männerwelt eben zurechtgedacht ist – bleiben sollte. Allein ihr Charakter vereinte das Schlechte, worum sich bei derart vollkommener Schönheit sowieso niemand scherte: Durch die ihr völlig entgehende Vaterstrenge würde sie sich zur Manifestierung aller sieben Todsünden entwickeln: So war sie faul und lebte verschwenderisch, war selbstgefällig und intrigant, gönnte niemandem etwas, über das sie nicht selbst verfügte oder verfügt hatte; sie liebte die Affären in jedem Bereich ihres Lebens und sie liebte Macht. Ohne Zweifel verfügte sie über Macht. Über die Macht des Schönseins, und sie kannte keine Skrupel, diese auch auszuspielen. Musizierte, malte, reimte, tanzte sie, drang das Gräuel ihrer Persönlichkeit aber nicht in einem Ton, einem Klecks, einem Vers, einem Schritt hervor – es war, als habe Lady Elizabeth just das mit Gaben gesegnete Kind empfangen, das sie sich ewig gewünscht hatte. „Warum duzt du mich nicht?“, fragte mich sie unvermittelt, als habe für sie soeben ein ganz neuer Lebensabschnitt begonnen. Bis zu dem Lebensjahr jedoch, da sich der Charakter eines Menschen erst entfaltete, hatten wir alle unsere Freude an dem zauberhaften Geschöpf, welches da aus der letzten Blüte des Jahres auf das Grundstück gepurzelt war. Alexia erleuchtete jeden Winkel des Hauses und unserer Herzen; der Winter zog unbemerkt vorbei. Als wir im neuen Jahr erfuhren, dass Admiral Norrington James versehentlich auf ein Kriegsschiff der spanischen Marine eingeschrieben hatte und Elizabeth schwor, ihren Gemahl dieses akzeptierte Risiko mit dem übrigen Arm zahlen zu lassen, zeigte das goldige Mädchen bereits ehrliches Interesse an dem großen Bruder, den es noch nicht einmal gesehen hatte, indem es jedes Mal auf die Erwähnung seines Namens mit Aufmerksamkeit reagierte. James selbst beruhigte uns: Er habe sich gut eingliedern können und dabei die Möglichkeit, eine neue Sprache zu erlernen. Außerdem seien sich der spanische capitán und sein Vater nicht fremd. Das konnte ich mir durchaus vorstellen. Doch dass es ein freundschaftliches Verhältnis war, daran wollte ich nicht glauben. Die Angst um den mir aus den Armen entwachsenen Schützling überzog jeden Tag unmerklich und unbezwingbar wie morgendlicher Dunst die nahen Felder, ganz gleich, ob die kaum leeren Hände dank Alexia erneut ordentlich zu tun hatten. Während Seine Englische Majestät völlig überraschend von uns ging, eine Frau seinen Platz einnahm und James in eine spanische Auseinandersetzung um die dort weniger entschiedene Thronfolge, damit zugleich in seinen ersten Krieg verwickelt wurde, musste das Mädchen adligen Ursprungs früh in Lesen und Schreiben unterrichtet werden, in Hauswirtschaft und Konversation, damit es in der Lage sein würde, Gäste angemessen zu unterhalten, und in den Schönen Künsten natürlich. Anfangs zeigte es den lernwilligen Geist, der schon für seinen Bruder typisch gewesen war, und war stets zur Stelle, wenn es darum ging, kleinere Dinge in der Küche oder im Garten zu erledigen. Unter dem Einfluss der Mutter lernte es, Blumen, Düfte und allem voran Schmuck – überaus teuren, überwältigend teuren Schmuck – zu lieben und Schiffe zu verabscheuen. So erwischte ich es bei der Reinigung von James’ unbenutzten Zimmern, welche darin bestand, sämtliche Schiffsmodelle einfach vor die Tür zu stellen. Irgendjemand würde sie schon forträumen. Auf der Fensterbank fand Alexia nun genügend Platz, ihre Alpenrosen zu platzieren. Ich sollte nicht vergessen zu vermerken, weil es so kurios war, dass Elizabeths Freundin, Lady Amalia Swann, uns beide nicht lange nach der Niederkunft der Gattin Norringtons in einem Brief darüber unterrichtete, ebenfalls eine Tochter zur Welt gebracht zu haben. Wahrscheinlich war es unsinnig, darüber nachzudenken, und trotzdem fragte ich mich, ob die beiden Mädchen ungeachtet der großen geografischen Entfernung, die jetzt noch zwischen ihnen lag, in Anbetracht der geringen Entfernung ihrer Geburtstage zueinander weitere Ähnlichkeiten teilen würden. Ob das Schicksal sie eines Tages auf irgendeine ungewöhnliche Weise gegenüberstellen würde. Kapitel 18: I. Fremdsprachen II ------------------------------- „Ab’aaaaaa!“ Alexias entzückendes Vogelstimmchen klang um mich herum, während der schmale Körper unter ihrem dichten Lockenschopf um meinen Platzraubenden wuselte. Das Mädchen musste wissen, dass der Umschlag in meinen Händen Botschaft von James enthielt. Wie sein großer Bruder beliebte es, sich an Dinge, die es interessierten, die ihm allerdings nicht zugedacht waren, geschickt heran zu lavieren. Ich konnte ihm seinen Wissensdurst, was den Verbleib des Bruders sowie dessen Zustand betraf, nicht übel nehmen. Doch die Briefe eines nunmehr Fünfzehnjährigen aus der Marine hatten eine Dreijährige nun einmal nichts anzugehen. Sie sah das anders. Sie hob ihr unbequemes Kleid so weit, dass ich erschrocken einatmete, kletterte ohne jede Furcht auf den Stuhl rechts von dem meinen und sprang, ehe ich eingreifen konnte, mit ihren kleinen Krallen auf meinen Schoß. Meine Hände schnellten rechtzeitig nach oben, und als würde ein unsichtbarer Faden ihre Nase mit dem Brief verbinden, zog sie sich in ihre volle Länge, um doch noch an das begehrte Stück Papier zu reichen. Unser Gerangel hatte erst ein Ende, als Lady Elizabeth überraschend eingriff, zwei mütterliche Hände an die Seiten der Tochter platzierend, welche sie auf ihren Arm schweben ließen. Alexias rundes, rosenwangiges Gesicht zeigte sich trotzig, aber immerhin verharrte sie jetzt still. Elizabeth hingegen lächelte mich an. „Lies du nur, Abda. Und lass uns später wissen, was er schreibt. Ich kümmere mich um unsere Kleine hier.“ Und obwohl die Sonne noch viel weißes Licht durch die Fenster schickte, begab ich mich in meine Kammer, deren erwärmende Dunkelheit den Tag zur Dämmerung machte. Minutenlang starrte ich das ungeöffnete Kuvert an und fragte mich, was James, wenn er ihr einmal gegenüberstehen würde, von Alexia halten würde – überhaupt davon, eine Schwester bekommen zu haben. Merkwürdigerweise dachte ich nicht darüber nach, wie sich Lord Norrington verhalten würde, beim Erfahren von der Tochter, von dem, was aus ihr geworden war in den drei Jahren ihres Lebens, welche sie ganz ohne ihn zugebracht hatte. Vielleicht stand es im Zusammenhang damit, dass sie selbst keine besondere Motivation zeigte, den Vater kennenzulernen. Vielleicht lag es an etwas anderem, das mir klar zu erkennen nicht möglich war. Vielleicht an meinem Gedanken, dass dieses Haus Lawrence Norrington längst verloren hatte. Sehr geehrte Ms Abda. Ich habe Ihnen nun schon seit Monaten nicht mehr geschrieben. Ohne meine Schuld von mir weisen zu wollen, setze ich Sie darüber in Kenntnis, dass die schweren Zeiten unseren ganzen Einsatz verlangen. Ich kann und möchte Ihnen nicht schreiben, wenn mein Kopf voll von Konzepten, Anweisungen und dem Wissen, dass ich gebraucht werde, ist. Auch jetzt schreibe ich Ihnen nur, weil ein Sturm über Südengland und den Englischen Kanal uns auf das Land gezwungen hat. Die Tatsache, dass kein Wasser uns mehr voneinander trennt, setzt sich nicht über die hinweg, dass wir uns dennoch nicht werden sehen können, also möchte ich wenigstens meine Ehre mit Ihnen teilen, zuletzt von Lieutenant Bennett das alleinige Kommando über eine Prise erhalten zu haben, die wir von den Franzosen aufgebracht haben. Es ist eine Fregatte mit drei Masten und zwei Batteriedecks, getauft auf den Namen "La Petite Gloire", was "Kleiner Ruhm" heißt. Sie muss um die 150 Fuß lang und zirka 40 Fuß breit sein und ist mit einigen 8-Pfündern und zusätzlichen 4-Pfündern ausgestattet. Ihre fortschrittliche Bauweise mit dem schlanken Bug, die sie jeden Wind ideal nutzen lässt, legt nahe, dass sie ein neues Modell ist. Sie teilt die Dünung unter den 4 Beaufort, wie ein Messer durch erwärmte Butter fährt, und so kamen wir gar der Victory auf, nachdem wir gehalst hatten. Aufgrund des Unterschieds in der Geschwindigkeit von wenigen Knoten erhielt ich die Erlaubnis, mich von dem Linienschiff abzusetzen und zum englischen Konvoi vorauszufahren, der die Prise entgegennehmen sollte. Meine Crew beschränkte sich auf wenige Männer, denn es brauchte nicht viele, um die Petite Gloire zu manövrieren, und die, welche ich ausgewählt hatte, gaben mir keinen Anlass, ihnen nicht zu vertrauen. Während ich den Kurs absteckte und das Logbuch führte, überließ ich Theodore Groves mit ruhigem Gewissen die Aufsicht an Deck. Und so verlief mein erstes Kommando fast ohne herausfordernde Vorkommnisse. Ein paar Stunden nach dem Ermitteln des zweiten Etmals drehte der Wind überraschend, dass die Segel zu killen drohten. Ich orderte an, gegen den Wind zu kreuzen, und es kostete uns ein bemerkenswertes Maß an Anstrengung, nicht so weit abzudriften, dass die sich unter dem aufbrisenden Wind türmenden Wellen nicht dwars auf den Schiffsrumpf einfallen würden. Trotz der entstehenden Brecher krängte die Gloire kaum – ein erneuter Beweis für das Hervorragen ihrer Architektur. Wir erreichten den Konvoi am folgenden Morgen, ohne jede Havarie an Fahrzeug wie Besatzung. Der Admiral dieser Flotte empfing uns mit Verwunderung, was mich nicht weiter irritierte: Meinem Herrn Vater ist es freilich nach wie vor nicht ausdrücklich gestattet, seemännische Unternehmungen zu tätigen. Nur Ihnen möchte ich verraten, dass ich eine gewisse Art von Schadenfreude empfand, da Admiral Simon ihm gegenüber im Hinblick auf die eroberten Prisen, vor allem auf die Gloire, mit knirschenden Zähnen einräumen musste, dass Admiral Norrington mitnichten unfähig geworden ist, seinen Dienst für das Vaterland zu leisten. Herr Vater ruft nach mir. Draußen regnet es heftig, aber ich denke nicht, dass wir in diese Gaststätte zurückkehren werden. Ich werde diesen Brief geschwind abschicken, bevor wir abreisen. Ich kann es jedoch nicht tun, ohne das Niederschreiben meiner Gedanken vollendet zu haben. Meinen Sie, ich habe einen Teil dazu beitragen können, das Ansehen Admiral Norringtons innerhalb der Royal Navy wiederherzustellen? Grüßen Sie bitte die Frau Mutter. J.L. Norrington Kurz darauf folgte ein weiterer Brief. Die feinen Linien der Lettern waren hie und da von kleinen Tintenknötchen befallen, so als hätte jemand nicht gerade selten zu hart aufgedrückt. Piraten! Mein Herr Vater beliebte einst, mehr über die Franzosen herzuziehen denn über sie, und doch, manchmal gab es Gelegenheiten, in denen diese heimatlosen Vagabunden auf Schiffen nicht besser wegkamen. Der Volksmund erzählt sich freilich viel über sie. Unbedeutende Dichter schreiben ihnen allerhand romantische Geschichten zu. So verwundert es nicht, dass das Bild der Seeräuber innerhalb unserer Gesellschaft vollkommen verzerrt ist. Was mögen Sie von ihnen halten, Ms Abda? Sehnen auch Sie sich nicht manchmal nach der unbezähmbaren Freiheit, dem Rausch, hoch oben an den Wanten zu hängen und einen Säbel in den Fahrtwind zu schwingen? Ich weiß, wie angetan Sie von der Unterhaltungsliteratur sind, und daher warne ich Sie in aller Höflichkeit: Lesen Sie nicht weiter, wollen Sie sich Ihre Illusion erhalten. Piraten sind schmutzige, eingebildete, gierige, sündhafte, brutale, ehrlose Männer ohne Ehre. Und sie sind schuld an der Wandlung meines Vaters. Ich kann dies mit allem Recht behaupten, denn ich sah sie mit meinen eigenen Augen. Um genau zu sein, roch sie zuvorderst, noch ehe sie wie Ungeziefer aus den unteren Decks des Schiffes, welches sie gestohlen hatten, krochen. Sie riechen nach verdorbenem Fisch und Blut, sie tragen Masken eines teuflischen Grinsens und ihre angesengte Haut weiß den Vorwurf der Hölle als ihre Herkunft nicht von ihnen zu weisen. Wie Geier, denen die Flügel ausgerissen worden waren, stierten sie uns Männer an, und wenn die mächtige Präsenz des Admirals sie nicht verängstigt hätte, wer weiß, wozu sie sich angeschickt hätten. Mein Herr Vater forderte höflich nach dem Kapitän – wenn man diesen noch als einen solchen bezeichnen kann. Ein grotesker Anblick mit einem ungepflegten Bart, als sei er verkohlt worden; unter seinem vor Dreck starren Hut quellte verfilztes Haar wie Unkraut hervor, mit Perlen und Münzen darin verflochten; er selbst in alten, bunten Lumpen, und seine Füße steckten in zwei verschiedenen Stiefeln. Er fügte sich nahtlos in die Wand seiner Leute aus Gestank, Lärm und Respektlosigkeit, konnte nicht einmal gerade stehen, denn er war doch tatsächlich sturzbetrunken. Und als wäre der Boden des Fasses nicht schon in einem hohen Bogen abgesprungen, wagte es dieser (Hier standen ein paar außergewöhnlich unschöne Worte, die wieder einmal kaum ausreichend übermalt worden waren.) "Kapitän", obwohl mein Herr Vater gerade den Mund öffnete, um ihn, wie es sich gehört, zurechtzuweisen, ihn jedes Mal, wenn er zum Wort ansetzte, mit einem – stellen Sie sich das vor – einzigen Anzupfen einer Saite seiner kleinen Gitarre zu unterbrechen. Stellen Sie sich das vor. Geschickt, wie er nicht nur im Umgang mit dem elenden Pack ist, ließ der Admiral schließlich dem Kapitän das Wort. Was er sagte, hinterlässt keinen Zweifel an meiner endlich vorbehaltlosen Anschauung von Piraten. Ich versuche, seinen genauen Wortlaut zu rekonstruieren: "Schön'n gud'n Am'd, Ammiral Lawry. 'Rinnert Ihr'sch noch anneu'n Lieblinnspirad'n, dän ald'n Diisch? 'Ier binnisch, gekomm', ummeusch su verkünn'n, nisch' eh'r su stermm dänn innem 'Fesch' middeusch. Awa wie'sch seh'n muss, habda hinge'n Eusch gan'schön surisch'n lass'n v'n jemman'n, där sischer nisch' ich 'wes'n sei' kann, aus'm simbl'n Grunn', dassisch misch nisch'rinner', Eusch'n A'mm ab'schlan'n zu ham'm. Finned'a das fair? 'Sch risker' jäde diesa doll'n Fädan an meim Hut, um für'sch meine besse 'Fassunn su wahr'n, wo Ihr'sch so häng' lasst? Wassis' scheh'n, Ammiral? Iss' da Junge 'mal wüda üver Bor'gang' unn war dess'ma' gein Pürat inner greifbar'n Nähe, ihn su redd'n? Haddeusch's Weib verlass'n, wall se annahm, Ihr steggt Eu'r Ruda inswisch'n 'n fransösische Ärsche? Unn, was misch eindlisch noch mär ind'ressiert... Wär war's? Wär? Wär haddemm groß'n Ammiral Lawry Nor'ngdon 'n Arm 'glaut? Muss'n Meisa vom Fach 'wes'n sein... odda v'leisch' war's do' nur'n Mezzers'selle? Iss'er alde Lawry edwa faul 'word'n...?" Konnten Sie das verstehen? Ich hege keineswegs Skepsis an Ihren Fähigkeiten, Ihre Sprache ist hervorragend, Sie lehrten sie mir, doch für den Notfall lasse ich meine Übersetzung des Gesagten folgen (ich muss zugeben, ich hatte selbst meine gewissen Schwierigkeiten): "Schönen guten Abend, Admiral Lawrence. Erinnert Ihr Euch noch an Euren Lieblingspiraten, den alten Teach (Teetch? Teach? Lehren, unterrichten? Es muss sich wohl um einen Eigennamen handeln)? Hier bin ich, gekommen, um Euch zu verkünden, nicht eher zu sterben denn in einem Gefecht mit Euch. Aber wie ich sehen muss, habt Ihr hingegen Euch ganz schön zurichten lassen von jemandem, der sicher nicht ich gewesen sein kann, aus dem simplen Grund, dass ich mich nicht erinnere, Euch einen Arm abgeschlagen zu haben. Findet Ihr das fair? Ich riskiere jede dieser tollen Federn an meinem Hut, um für Euch meine beste Verfassung zu wahren, wo Ihr Euch so hängen gelassen habt? Was ist geschehen, Admiral? Ist der Junge wieder einmal über Bord gegangen und war dieses Mal kein Pirat in greifbarer Nähe, um ihn zu retten? (Hier hatten sich die Tintenkleckse besonders gehäuft.) Hat Euch die Frau verlassen, weil sie annahm, Ihr würdet ihr inzwischen mit französischen Offizieren fremdgehen? Und, was mich eigentlich noch mehr interessiert… Wer war es? Wer? Wer hat dem großen Admiral Lawrence Norrington den Arm geraubt? Das muss ein Meister seines Fachs gewesen sein… oder vielleicht war es doch nur ein Metzgergeselle. Ist der alte Lawrence etwa träge geworden…?" Sehen Sie nun, worauf ich hinaus möchte? Mein Herr Vater war bereit, sich auf die Stufe dieser bemitleidenswerten Menschen herabzulassen, um dort mit ihnen zu kommunizieren, er attackierte sie nicht, er drohte ihnen nicht einmal, und diesem Kapitän Teetch fällt nichts Vernünftigeres ein, als schlecht über jenen, in dessen Händen allein sein Leben liegt, zu sprechen, als zu versuchen, ihn zu erniedrigen? Bemerkten Sie, wie er ihm vorhält, dass ich damals in das Wasser stürzte und gerettet werden musste, als sei dies etwas, wofür man ihn verantwortlich machen kann? Woher weiß er überhaupt davon? Er beschuldet ihn, nicht über die Ehre und den Anstand zu besitzen, meiner Frau Mutter treu zu bleiben, ohne dass er nur den Hauch einer Ahnung hat, wie mein Vater jenseits der alles von ihm abverlangenden Arbeit eines Admirals, eines Naval Lords ist. Womit nimmt er sich dieses Recht heraus, das keines ist? Und unterstellt ihm Müßiggang und Ungeschick! Ich aber und hundert andere waren der Szene Zeuge und können lediglich bestätigen, dass der Admiral zehnmal mehr an Ehre hat als dieser stinkende Dilettant Knoten in seinem Bart. Wissen Sie, was seine Männer machten? Sie lachten! Sie wollten meinen Herrn Vater auslachen. Doch wie wir uns alle bestens bewusst sind, ist Auslachen ein Zeichen und beinahe schon ein Eingeständnis der Schwäche. Man ist nur versucht, sein Gegenüber auszulachen, wenn einem ansonsten keine Lösung in den Sinn kommt, sich aus einer bedrängenden Situation zu lavieren. Und, so betrachtet, verfügen diese Piraten zumindest über ein grandioses Vermögen der Selbsteinschätzung. Alles, was sich würdevolle Gentlemen im Dienst Seiner Majestät über Seeräuber erzählen, entspricht der Wahrheit: Piraten rauben ehrliche Menschen aus, plündern und brandschatzen und haben es nicht verdient, weiterhin auf den Meeren unserer sich auf eine moderne Anschauung umstellenden Welt geduldet zu werden. Ich persönlich sehe diese Feststellung als eine jener Pflichten an, derer ich mich im Laufe meiner Karriere innerhalb der Royal Navy mit ganzem Ehrgeiz verschreiben werde. Nur scheint es wohl noch nicht soweit zu sein. In tiefer Schande muss ich Ihnen gestehen, dass es der kompletten Räuberbande gelungen ist, zu entkommen, wie durch ein böses Wunder. Wir hatten sie erst eingesperrt, da segelten sie bereits auf ihrem unrechtmäßig gekaperten Schiff davon und alles, was von ihnen blieb, war eine einzige Gitarrensaite in der Brig und das, was ihre unmögliche Flucht im Admiral auslöste. Es hat meinen Herrn Vater erzürnt. Sehr erzürnt. Jetzt, unter Einfluss der neuen Erfahrung, komme ich nicht darum herum, peu à peu zu begreifen, was ihn damals in solchem Ausmaß verändert hat, da ein Freibeuter seinen Körper wie seinen Stolz verletzte. Nicht die Soldaten anderer Staaten, die für ihre Heimat und ihren König kämpfen aus denselben Gründen wie wir, mit derselben aufrichtigen Liebe, die auch uns antreibt, sondern die Piraten sind unsere wahren und einzigen Feinde auf See. Mir wurde unwohl bei der Vorstellung, James würde sich auf seinen noch in den Kinderschuhen steckenden Hass versteifen, wie es sein Vater getan hatte; ich wollte nicht, dass er denselben Weg wählte, nur weil er die Piraten für Norringtons Zustand verantwortlich sah, indem ihm einer von ihnen vor vielen Jahren das Leben rettete. Zugleich musste ich mir meine Machtlosigkeit eingestehen. Die Zeit, in welcher ich einen mir zur Brust reichenden Jungen darauf aufmerksam machen konnte, dass es "die Wichtigkeit des Status" und nicht "des Statusses" hieß, war vorbei. Die Länge von zwei Jahren trödelte nicht, an uns vorbeizuziehen, und James, mittlerweile 17 – siebzehn! – fieberte auf sein Leutnantsexamen hin. Fünf Jahre lang hatte ich ihn entbehren müssen – doch nun entschlossen wir Frauen, unsere Männer passend zur Vorweihnachtszeit zu überraschen. Kapitel 19: I. Wiedersehen mit einem Fremden -------------------------------------------- Die Droschke wackelte brutal, und mehr als die Droschke wackelte nur Alexia auf ihrem Platz zwischen unseren schmerzenden Hinterteilen. Sie quietschte und gluckste vor Aufregung, seit wir losgefahren waren. Ich weiß nicht, wie es um Elizabeth stand, doch meine Ohren vibrierten schon vor lauter Inanspruchnahme. Unsere Köpfe jedenfalls waren müde, doch nur Alexia verfügte über die Muße, unter dem endlosen Scheppern und Rummsen schlafen zu können, wenn sie denn wollte. Die Nacht im Gasthaus hatten wir beiden Erwachsenen damit zugebracht, die weitere Reise zu besprechen und erste Ansätze einer gewissen Sache, von der James noch nichts wusste, von der auch ich an diesem Abend zum ersten Mal erfahren und die mich regelrecht schockiert hatte. Elizabeth selbst zeigte keinerlei Begeisterung, daher lag der Schluss nahe, dass Lord Norrington sich wieder einmal in die unsichtbare Tracht des Organisators geworfen hatte. Bei aller Bedenklichkeit über seine Vorausplanung musste man jedoch zugeben, dass er auch betreffs James Lawrence an alles dachte, um die Zukunft des Jungen sicher zu gestalten. „Myladies“, tönte eine nahezu gelangweilte Stimme noch über das Schnauben der Pferde und Krachen der Räder hinweg und ließ uns sofort erleichtert aufatmen, „wir sind angekommen.“ Unser Kutscher half Elizabeth in bester Manier auf den Straßenrand, hob Alexia behutsam wie ein Alabasterschälchen hinaus und drückte mir schließlich das schwere Gepäck in die Hände. Die Admiralsgattin legte ihm den Lohn in seine nun Freien, bedankte sich und erntete eine kalte Verbeugung. „Soll ich dir zur Hand gehen?“, fragte sie mich aufmerksam, die ich ihr unter dem Gewicht der Taschen nur noch bis zu den Ellenbogen reichte, doch ich schüttelte mit einem gequälten Lächeln den Kopf. „Das schaffe ich schon. Du passt besser darauf auf, dass du mich in London nicht ganz so behandelst wie eine in einen Schokoladentopf geplumpste Schwester.“ Ich konnte einen sarkastischen Unterton nicht vermeiden und war mir in der nächsten Sekunde selbst fremd. Elizabeth starrte mich nur mit großen Augen an. Was die Reservierung der Zimmer anbelangte, so ließ sie sich nicht lumpen. Sie hatte ein schönes, großes Haus inmitten der tüchtigen Stadt ausgewählt, ein kleiner Palast beinahe schon, dessen schlicht möblierte, große Räume sich keinen noch so winzigen Lichtstrahl entgehen ließen und die zum erholsamen Verweilen einluden. Sie bat den Jungen unseres Vermieters, dem man ziemlich deutlich ansah, dass er jenseits der scharfen Augen seines Vaters alles andere war als der im adretten Frack mit enger, roter Schleife gekleidete Mustersohn, wie er nun vor uns stand, sogleich die Herren Norrington vor dem Admiralitätsgebäude abzufangen, um ihnen ihre neue Adresse mitzuteilen, und kicherte anschließend mit Alexia im harmonischen Einklang, als sie daran dachte, wie die beiden gucken würden. „Lass uns spazieren gehen!“, schlug sie mir mit glühenden Backen vor, deren leuchtrote Färbung nur noch von der Purpurnen meiner beiden Backen weiter unten übertroffen werden konnte. „Wir haben noch Stunden bis zur Dämmerung, und davor werden sie ohnehin nicht erscheinen. Es ist lange her, seit ich zuletzt in London war!“ Im Grunde verspürte ich keine Lust, doch ich nickte ihr zuliebe. Wir hatten gemerkt, dass diese Stadt sich Zeit ließ, dem vor der Tür stehenden Winter zu öffnen, und das sollte ausgenutzt werden. Um uns in der lachenden Sonne wohl zu fühlen, tauschten wir sogar unsere Mäntel gegen dünnere aus. In der Stadt oder zumindest in dem Teil der Stadt, den wir passierten, regierte Grau. Hellgraue, dicht an dicht gedrängte Häuser, die zwei Mauern zu beiden Seiten der Kieswege bildeten, die selbst dunkelgrau und breit waren, und weißgraue, schwarzgraue umherwuselnde Umhänge der Bewohner. Eine kaum jemanden aneinanderstoßen lassende Ordnung schien zu existieren, obwohl sie für mich nicht ersichtlich war in dem zielstrebigen Chaos von Fußgängern, Pferden, Vieh und Fahrzeugen. Ein Dunst von Mist, Kaffee und Flusswasser schwebte oberhalb unserer Köpfe, und wir bewegten uns in einem Strom von unverständlichen Stimmen und Geräuschen, die nicht lange benötigten, um selbst uns Gästen von einer weitgehend unberührten Landschaft selbstverständlich zu werden. Von Elizabeth gekonnt fernab der düsteren Gegenden Londons geführt, bekamen wir nichts mit von einem Großen Feuer oder dem Schwarzen Tod, aber ich durchaus auffällige Blicke der fesch gekleideten Bürger, die sofort in eine andere Richtung schnellten, sobald ich sie erwidern wollte. Mir wurde wärmer in meinem nicht billigen, engen Kleid, das Elizabeth mir speziell für diese Reise geschenkt hatte, je länger unser Spaziergang andauerte, und ich wünschte mir, endlich wieder im Hotel zu sein, musste jedoch erkennen, dass wir noch nicht einmal auf dem Rückweg dorthin waren. Nach dem Marsch von einer Stunde nahe der Themse, wo unzählige hohe Schiffsmasten mit eingezogenen Segeln mich daran erinnerten, weshalb wir hier waren, gelangten wir zum Covent Garden, wo so viel Trubel herrschte wie sonst nur unter den Domestiken, wenn James sich das Knie angeschrammt hatte. Von allen Seiten wurden die Besucher des luftarmen Marktes von dem Kreischen der Marktschreier wie von Pfeilen attackiert, überall flüchteten haufenweise Münzen in andere Taschen und wurde um die Preise gefochten. Armeen von Schnäppchenjägern stürmten die bunten Stände, zwangen jeden Widersacher nieder, und es war nicht auszumachen, welche Partei in dieser Schlacht der Wirtschaft gewinnen würde. Als würden sie nicht breiter sein als einen Fuß, schwangen sich Norringtons Frauen durch die minimalen Lücken in der Ansammlung von Feilschern und Sammlern, doch ich konnte ihnen nicht folgen, wenn ich nicht gewalttätig werden wollte. Mein Herz begann zu rasen. Ich machte mir Sorgen, sie ganz verloren zu haben. Weniger Sorgen um ihre Sicherheit denn darum, dass ich niemals allein zurück zum Gasthaus finden würde. Ich stand nicht lange da und sah ihnen mutlos nach, da begannen die Leute mich von meinem großen Platz zu verdrängen. Ich wurde herumgeschubst, mein Ächzen ging unter im Gebrabbel dieser laufenden Striche in ihren wippenden Stoffen, bis mir das Fleisch an allen Gliedern dumpf schmerzte. Und das machte etwas mit mir, das mir fremd war. Ich wurde richtig sauer. Und dann fing ich an, einmal zurückzustoßen. Zweimal, weil es nötig war. Dreimal, weil es einfach nicht aufhörte. Viermal, weil es mir reichte, fünfmal, sechsmal und jedes Mal fester. Mein Gesicht brannte. Und nach dem soundsovielsten Male überraschte mich ein starker Rückstoß, warf mich um. Das Gerede ebbte ab, verstummte, und um mich herum bildete sich ein Maenianum von Schaulustigen, deren aufeinander treffende Blicke der Abschätzung nichts als Zustimmung fanden. Wann immer ich später über diesen Vorfall nachdenken sollte, so hätte ich mir innerhalb einer solchen Situation nur Angst zugestanden, doch stattdessen war da Wut. Wachsende Wut. „Was gibt’s da zu starren?“, schrie ich bebend in den Kreis um mich, der außer seinen Köpfen nichts bewegte. „Was macht die Schwarze hier?“, fragte schließlich irgendjemand, der sich nicht in meinem Blickfeld befand, im höchsten Grade der Verwirrung. „Seht Euch das Kleid an! Seide! Ob man da nicht besser einen Wachen informiert?“ „Ja!“, pflichtete einer ihm mit vor Elan triefendem Ton bei. „Vielleicht hat sie jemanden überfallen!“ In der ersten Reihe drehten sich alle Köpfe zu den Seiten, als würde es möglich sein, dass mein vermutetes Opfer zufällig zu ihren Füßen lag. Es stank nach affektierter Betroffenheit. Ehrlich war unter den Versammelten nur eines: Die Abscheu mir gegenüber; der Drang, einen Schandfleck aus der blütenreinen Wäsche zu entfernen, wo es doch unter dem Laken dreckig war. Ich kannte das nicht. Ich kochte. Und ich schwor mir: Würde mich nur einer ganz leicht berühren, ich würde meine Fäuste nicht an mich halten können. „Was ist das hier für eine Unruhe?“, flog eine Stimme über uns hinweg, und alle Gesichter schossen in dieselbe Richtung, wie Kinder, die befürchteten, bei etwas Verbotenem erwischt zu werden. Kurz darauf ließ ein kollektives Ausatmen die Männer und Frauen um einen Zoll zusammensacken. „Welch ein Glück!“, rief jemand erleichtert. „Sir! Treten Sie heran und sehen Sie doch bitte selbst. Es gibt allen Grund zur Annahme, dass hier ein Verbrechen vorliegt.“ Obzwar ich mir keiner Schuld bewusst war – und dies zu Recht – hatte ich jetzt Angst. Angst, dass die Wachen dieser fremden Stadt genauso einfältig dachten wie seine Zivilisten. Ich wollte James nicht durch die Gitter einer Gefängniszelle begrüßen müssen, mit Tränen in den Augen. Es durfte nicht sein, dass er nach Jahren der Trennung seiner Familie begegnete, und ich war nicht da. Die Schar lichtete sich, sodass jemand hindurchtreten konnte, und ich schaute hinauf in das von einem großen Dreispitz verschattete Antlitz eines hochgewachsenen Mannes, aus dem mich zwei schmale, dunkle Augen streng analysierten. Der Magen zog sich mir schmerzhaft zusammen, und das ungewohnte Mieder raubte mir auf einmal sämtliche Luft. Meine Miene musste blankes Entsetzen gebildet haben. Die Sanftheit der Züge dieses Herren wurde von einem Ausdruck der angeeigneten Härte überspielt, dass selbst die Grübchen, in denen sein von einem feinen Bartschatten umsäumter Mund endete, als auch die ihm den Anschein leichter Ermattung gebenden Fältchen von den Augenwinkeln und den Nasenflügeln aus seine erschreckende Wirkung auf mich nicht zähmten. Wer war dieser Mann? Und warum befand ich mich wie kurz vor dem Ausbruch in eine Hysterie? Ich wollte nicht, dass er mich gefangen nahm. Er senkte seine Brauen schwer über die schwarzen Wimperndächer seiner Augen, als benötige er eine Brille, um mich riesigen schwarzen Klecks auf dem grauen Boden ausfindig zu machen, dann blinzelte er und sah mich aus zwei bedröppelten Hundeaugen an. Seine Lippen bildeten stumm ein Wort, die untere war dabei unmerklich vorgeschoben, doch ehe sich jemand von uns beiden fasste, traten feste Stiefelschritte an uns heran. Als hätten sie ihn aus einem Dösen gerissen, korrigierte er seine Haltung wie seine Mimik und bat den Rest der Menge ungeduldig, sich aufzulösen. Gemurmel, Gerede, Gebrabbel, der Alltag kehrte zurück. „Mr Norrington?“ Ich hatte gerade die mir entgegengestreckte Hand des Mannes ergriffen, um mir aufhelfen zu lassen, da entfloh mir alle Kraft, und er musste mich fangen, zog mich in die Gerade mit einer Stärke, die ich seinen filigranen Händen gar nicht zugetraut hätte. Über seine Schulter hinweg sah ich in Lord Admiral Lawrence Richard Norringtons Gesicht, während er mich gerade loslassen wollte, und warf mich mit einem Aufschrei um seinen Hals. Unter meinem ungläubigen „James! James! James! James!“ hörte ich die leicht erhöhte Stimme nicht, die murmelte: „Bitte, Ms Abda. Nicht hier. Bitte…“ Als ich mich soweit entfernte, um ihn anschauen zu können, war mein Blick verklärt. Fünf Jahre lang hatte ich dich entbehren müssen. Fünf Jahre. Und hier stehst du, ganz anders, als ich dich in Erinnerung habe. Erwachsen. Gereift. Ich konnte mich selbst nicht davon abhalten, ihm auf offener Straße einen Kuss zwischen die Augen zu drücken, und glaubte es danach noch immer nicht. Wie habe ich die letzten fünf Jahre ohne dich nur überleben können? Ein Mädchen kreischte schrill, und ich war bemüht, James loszulassen, damit Alexia ihren großen Bruder überfallen konnte. Sie flog in seine Arme, dass er sich zweimal mit ihr um sich selbst drehen musste, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Er war sichtlich überfordert. Er konnte nicht wissen, weshalb ihn ein wildfremdes Mädchen auf diese Weise attackierte, und auch der Lord, an dessen Seite seine edle Gemahlin strahlend lächelte, äußerte seine misstrauische Irritation, bis auch Elizabeth nicht länger an sich halten konnte und ihn mit stürmischer Leidenschaft küsste. „Es ist dein Kind“, antwortete sie stolz auf seine ungestellte Annahme, und er – trotz der Tatsache ihrer Seitensprünge – glaubte ihr sofort, wenn nicht vor allem aufgrund der einzigartigen Farbe von Haar und Iris. „Deine Tochter.“ Alexia würdigte den Einarmigen keines Blickes. Sie sprang an James’ blauer Fähnrichuniform hinauf, bis er sich zögerlich zu ihr kniete. Endlich auf gleicher Höhe mit ihm, drückte sie ihre Nase an die seine und kicherte verlegen gegen seinen Kragen. Ihre Arme glitten um seinen Hals. „Trag’ mich!“, befahl sie völlig verschämt. „Entschuldigung, Miss, aber das geht nicht“, antwortete er mit rauem, mir völlig fremdem Timbre. Gemeinsam kehrten wir endlich zurück zur Herberge, aber ich achtete wenig darauf, wohin ich ging, weil es mir nicht gelang, mich lange von James abzuwenden. Alles Kindliche hatte seine Gestalt verlassen, doch es war kein Verlust. Zwar gestattete der Justeaucorps der Marine kaum einen Rückschluss auf seinen Körper, aber die engen, weißen Kniestrümpfe passten sich um zwei schlanke, feste Waden wie eine zusätzliche Haut, und sein Gang war von beeindruckender Eleganz, aber auch von Entschlossenheit. Sein Blick wandte sich nicht ab, erniedrigte sich nicht, wenn uns jemand entgegenkam, und ja, er war hübsch in der strikten Uniform, unter seinem großen Dreispitz, mit der schwarzen Perücke, all diesen fremden Dingen an ihm. Ein wenig, ein ganz kleines Bisschen beneidete ich Alexia Norrington, die im halben Schlaf auf seinen Armen vor sich hin schmunzelte. Kapitel 20: I. Das Leutnantsexamen ---------------------------------- „Spute dich, James!“, rief Admiral Norrington und vergaß in seinem nervösen Ärger ganz, den Sohn zu siezen. Zwei junge Männer rannten in unserer überschaubaren Wohnung wie um ihr Leben, rissen die Kommoden und Schränke auf, wirbelten Papier und Stoff herum und schlitterten unter Tisch und Stühle, in ihrer Verzweiflung schließlich sogar vor die Blumentöpfe. Elizabeth und Alexia aßen zum Frühstück, ich saß ihnen verdutzt gegenüber und spähte den keuchenden Kadetten nach. „Mr Norrington!“, dröhnte die Stimme Seiner Lordschaft wutentbrannt, erwidert von einem hohen „Sir, ich…! Ich tue mein Bestes, Sir, ich bin überzeugt, dass ich sie gestern…“ „Sparen Sie sich den Atem zum Suchen!“, brüllte Norrington schließlich, ohne dass ich sicher sagen konnte, in welchem unserer drei Zimmer er sich gerade aufhielt. „Müssen Sie sie ausgerechnet heute verlieren! Ausgerechnet jetzt! Admiral Bratton hat sie Ihnen teuer bezahlt; was meinen Sie, wie er sich freuen wird, wenn Sie ausgerechnet heute ohne sie vor ihn treten!“ An unserem Tisch vorbei hüpfte James, die Strumpfbänder engziehend und in die Schnallenschuhe drängend. Theodore Groves holte ihn ein, packte nach seinen Schultern, um ihn zur Ruhe zu zwingen, und legte ihm den Gurt mit dem Degen um. Groves war ein recht stiller Zeitgenosse mit kantigem Gesicht und einem meist seriösen Blick – mich wunderte es nicht, weshalb James gerade ihm die Ehre zuteilte, sein Freund (oder das, was er unter dieser Bezeichnung verstand) zu sein. Der Lord stoppte zwischen ihnen. „Wir müssen jetzt“, sagte er grantig und presste James mit der einzigen Hand, die ihm verblieben war, den Hut auf das platte, dünne Haar. Da stieß Elizabeth einen Laut höchster Empörung aus. „Sieh dir sein Haar an! So lasse ich ihn niemals aus dem Haus!“ Er fletschte die Zähne. „Dein Sohn hat nun mal seine Perücke versetzt! Wenn wir nicht bald fahren, können wir seine Beförderung zum Lieutenant in den Wind schießen!“ „Ist mir gleich!“, parierte sie stur. „Hauptsache, man redet nicht schlecht über unsere Familie! Und unterlasse es endlich, vom Schießen zu sprechen, Lawrence, ich kann es nicht mehr hören!“ James wandte sich ab, da er auf einmal sein Interesse für die bunten Blumengemälde an der Wand entdeckt hatte, und Alexia probierte sich in der von Elizabeth derart verhassten Paradedisziplin ihres Vaters aus, indem sie Stücke des omelettes auf ihren Silberlöffel schob und sie quer durch das Zimmer feuerte. Theodore Groves stand etwas verloren zwischen uns. „Komm, James“, forderte Elizabeth den Blumenbewunderer in einem frustrierten Ton auf, „ich wasche dein Haar.“ Er wollte vermutlich widersprechen, doch sein Vater kam ihm zuvor: „Hast du nicht begriffen, Weib?! Er…“ „Habe ich mich gerade verhört?!“, blitzte die Stimme jener unberechenbaren Frau plötzlich, dass selbst Alexia auffuhr. „Weib?!“ „Ich empfehle mich dann…“ Der junge Groves schien zu sich selbst zu sprechen, denn niemand reagierte auf ihn. Auch nicht, als er aus dem Zimmer huschte. Nur James hörte die Glocke läuten. Ermutigt durch die unaufhaltbar voranschreitende Zeit, die mit sekündlichen Tritten seiner Prüfung bedrohlich nahe kam, stellte er sich vor Elizabeth. Seine Pupillen funkelten, wie man es nur selten an ihm sah – ohne Frage wog die Bedeutung des Offizierspatentes schwer für ihn, möglicherweise schwerer als für seinen Vater. „Mutter, bitte…!“, hauchte er, als halte sie den Schlüssel zur Erlösung von allen Sorgen und Ängsten in ihren Händen, und sie blickte, trotzdem er mittlerweile auf gleicher Höhe mit ihm war, auf ihn hernieder wie eine kühle Königin. Aber ich bemerkte, wie viel Leben sich allein in ihren schwarzen Augen abspielte. „Na gut“, gab sie dem Drängen der Männer mit unangetasteter Würde nach. „Geht.“ Vater und Sohn waren so rasch verschwunden wie ein durch die Zimmer fegender Windzug, mit derselben Hinterlassenschaft an Unordnung. Ich machte mich daran, sie zu beseitigen, doch noch ehe ich fertig war, standen die beiden mit blutleeren Gesichtern an der Tür. James tat mir Leid. Mutlos ließ er sich auf einen Stuhl fallen und senkte das Haupt. Darauf hatte ich gewartet. Ich hielt in meiner Hausarbeit inne und setzte mich zu ihm. „Verzweifle nicht“, flüsterte ich mit einem sanften Lächeln, das er nicht bemerkte. „Ich habe gelesen, dass es am 17. ein öffentliches Leutnantsexamen gibt, im Admiralitätsgebäude.“ Er schaute auf. Ich hatte Schwierigkeiten, seinem Blick standzuhalten, in welchen sich Verblüffung, leise Hoffnung, aber auch Scham gemischt hatten. Elizabeth wandte sich mit fragender Intention an ihren Gatten. „In der Tat“, räumte dieser widerwillig ein. „Es ist eine zusätzliche Eignungsprüfung geplant worden, der die allgemeine Öffentlichkeit beiwohnen darf.“ Er schnaubte und die Falten um seine bleichblauen Augen zogen sich enger zueinander hin. „Die Navy hält dies für eine hervorragende Idee, um klar Tisch mit etwaigen Missverständnissen und Gerüchten aus dem Volk zu machen.“ Fürwahr: Pressgänge, Unterschlagung, Gewalt, Sodomie, Alkoholismus… Ich erinnere mich an den miserablen Ruf, den die Königliche Marine zwischenzeitlich innehatte, bei allem, was sie für dieses Land riskierte und gewann. „Selbstredend meldete sich kein Offiziersanwärter freiwillig“, brummte Lord Norrington weiter. „Niemand von den jungen Leuten heutzutage hat den Mumm, sich den Menschen, denen er bedingungslos dienen soll, zu präsentieren. Und die Admiralität sollte es ihnen danken. Würden sie es wagen, wäre das für die Navy eine Blamage katastrophalen Ausmaßes.“ James’ Blick richtete sich auf das von falbem, hartem Haar umrandete Antlitz, als hätte es ihm soeben eine tödliche Krankheit diagnostiziert. Es sprach rücksichtslos weiter: „Diese Examen verlangen das Höchstmaß an Konzentration des zu Prüfenden. Leider unselten geben sie sich allein durch diese Herausforderung alle Blöße. Was wird da der Pöbel von uns halten, wenn der Kandidat sich in die Hosen scheißt, kein Wort herauskriegt und flennend vor die Tür gesetzt wird?“ Den weiteren Verlauf dieses regnerischen Tages verbrachten wir in der platzarmen Bedrückung unserer Unterkunft, hielten wir des Admirals blutende Laune aus. Bis zum Abendessen benötigte James, um das Selbstbewusstsein aufzubringen, seinem Vater zu antworten. Er legte das Messer nieder, mit welchem er bloß auf seinem spärlich gefüllten Teller herumgestochert hatte, atmete tief und schaute ihm eisern in die Augen. „Ich werde es schaffen, Sir.“ In dieser Nacht erhob ich mich noch einmal von meiner Lagerstätte, tapste mit Katzensohlen (nun ja, den Sohlen einer ziemlich gemästeten Katze) auf den Schrank zu, öffnete ihn und hob Elizabeths Stapel an Unterkleidern an. Vorbei an den Geschwistern, die sich ein Bett teilten, schlich ich zur breiten Fensterbank, schob die Töpfe darauf ein wenig zur Seite und platzierte James’ schwarze Perücke fast wie auf einem Präsentierteller der Offensichtlichkeit in deren Mitte. Ich weiß, dass es unverzeihlich von mir war. Doch nach all den Jahren, die ich hätte mit ihm verbringen können und in denen man mir James genommen hatte, wollte ich ein einziges, ein letztes besonderes Ereignis in seinem Leben für mich beanspruchen, wollte dabei sein, wollte ihn begleiten. Und so geschah es, dass die Seekadetten James Lawrence Norrington und Theodore Edward Groves vorbildlich in das Amphitheater des Admiralitätsgebäudes traten, um die gelangweilten Bürger Londons bestens zu unterhalten. Elizabeth, Alexia und ich saßen in der Galerie wie damals während der römischen Gladiatorenkämpfe, aber ich hoffte, es würde nicht ganz so blutig zugehen. Von Admiral Norrington hatten wir jede Spur verloren. Wie ich richtig vermutete, war er Teil der Prüfungskommission, die nach einer halben Stunde, da man uns Eintritt in den Saal gestattet hatte, aus einer fast versteckten Tür erschien, sich an das pompöse Pult aus rotem Mahagoni setzte und dafür sorgte, dass die quirlig plaudernden Damen und Herren mühsam verstummten. Blicke auf den linken, leeren Ärmel, welcher an die Brustpartie seines Admiralrockes genäht war, spannten die Luft. Als Grabesstille herrschte, öffnete sich die Tür auf der anderen Seite, und James Norrington, in strahlender Erscheinung (samt Perücke), schritt den Weg zum Schafott seiner Kindheit entlang. Ihn begleitete Theodore Groves, wieder mit sehr ernstem Gesichtsausdruck, doch den bemerkte ich kaum; wahrscheinlich, weil er mich wenig interessierte. Alexia schien sich in diesem Moment zum ersten Mal seit seiner Ankunft der Mitte des Saales zuzuwenden, denn sie zog prompt scharf die Luft ein und kreischte: „Jamie!“ Der Lord verzog keine Miene, James zwang sich, Haltung zu bewahren, und Elizabeth und ich taten, als würden wir das Mädchen nicht kennen, als nun alle Blicke uns galten, was sich als recht problematisch, eigentlich unmöglich herausstellte, da es nun einmal auf Elizabeths Schoß saß. Mit ihrer unschuldigen Bruderliebe hatte Alexia bewirkt, dass ich infolgedessen schon wieder in das Augenmerk der anständigen Londoner geriet, und ich spürte, wie mein Kopf glühte und ich tiefer in den Sitz rutschte, als würde ich mit ihm verschmelzen. Eventuell sollte ich, bevor ich das nächste Mal ausging, daran denken, mich in einem Fass mit Mehl zu suhlen oder in eines der blendend weißen Bettlaken aus dem Hotel einzuwickeln. Die verhasste Beteiligung an der vermeintlichen Tragik meiner Herkunft raubte mir den letzten Nerv, und schon war ich mir nicht mehr gewiss, ob es klug gewesen war, dem Leutnantsexamen beiwohnen zu wollen. Ich wollte zurück nach Suffolk. „Sirs? James Alexis Lawrence William Norrington, Midshipman zur See auf Ihrer Majestät Schiff Victory, meldet sich zum Offiziersexamen.“ Als ich aufsah, erhaschte ich gerade noch einen Blick auf mein früheres Ziehkind, wie es sich aus einer tiefen Verneigung erhob, und das Zucken eines warmen Lächelns im sympathischen Antlitz von Admiral Bratton. James richtete seinen Körper in eine Haltung, die an Steifheit grenzte; ein Eindruck, der noch unterstützt wurde von dem engen, schmucklosen Rock der Fähnriche, seine Stimme jedoch imponierte durch ihre Selbstsicherheit, ohne dabei überheblich zu wirken. Er setzte den Hut auf, erwiderte die Blicke aller drei Admirale standfest, statt auf die große Flagge Englands hinter der Richterbank auszuweichen, und flackerte nicht einmal mit den Lidern. Mit seinen laut hallenden Worten endete das Geraschel derer im Zuschauerraum wieder, und ich dankte ihm dafür. „Sirs, Theodore Edward William Groves, Midshipman zur See auf Ihrer Majestät Schiff Victory, ersucht ebenfalls das gerechte Urteilsvermögen der verehrten Herren Admirale.“ Lord Norrington nickte. „Die Zeugnisse“, forderte sie der Geschwaderführer in der Mitte auf, und sie überreichten ihm jeweils eine dünne Mappe, die grau war wie die Pflaster und Fassaden in London und die Gesichter der Prüfer. Insgesamt schienen deren Mienen wie aus Stein gemeißelt. Ich fragte mich, ob das so vorteilhaft war im Hinblick auf das Bestreben dieses öffentlichen Exempels; ob man nicht besser auf ein etwas ungezwungeneres Miteinander hätte Wert legen sollen, um die Vorwürfe und Nachreden vom Tisch zu fegen. Aber vermutlich verstand ich zu wenig davon. Und das war wahrscheinlich das Beste. Ich hatte nicht vergessen, was Elizabeth mir anvertraut hatte, da ich sie fragte, weshalb sie unbedingt mich James während seines ersten Lebensabschnittes zur Seite gestellt hatte. „Mr Norrington.“ James’ Pupillen schnellten zu seiner Linken, wo Admiral Rooke hinter dem mächtigen Pult beinahe verschwand. „Die Markierungen der Lotleine.“ „Schwarzes Leder bei zwei und drei Faden, weißes bei fünf, rotes bei sieben, schwarzes bei zehn, weiß bei dreizehn, weiß bei fünfzehn wie bei fünf, rot bei siebzehn wie bei sieben, zwei Knoten bei zwanzig Faden und so weiter. Ein zusätzlicher Knoten nach allen zehn Faden, mit einem einzigen Knoten dazwischen, um die Länge von je fünf Faden zu markieren.“ „Mr Groves.“ Die Aufmerksamkeit des Angesprochenen hechtete schlagartig von dem Austausch seines Kameraden mit Admiral Rooke hinüber zu Admiral Norrington. „Sie sind auf See und haben Ihr Ruder verloren. Wie gehen Sie vor, um das Schiff trotzdem manövrieren zu können?“ Selbst von unseren erhöhten Reihen aus konnte man Groves schlucken sehen, ehe er zum Angriff überging. „Ich nehme eine lange Spiere oder einen Teil der Maststenge und schneide sie oder ihn in die Form eines flachen Achterstevens, bohre in ausreichenden Abständen Löcher dorthin, wo das vordere Stück dieses zusätzlichen Stevens sein soll. Dann nehme ich die stärkste Planke, die ich an Bord habe, und gebe ihr, so gut wie möglich, die Form eines Ruders, bohre Löcher in das vordere Stück und in das achtere des zusätzlichen Achterstevens, um sie aufeinander abzustimmen, und schere Tauösen durch die Löcher des Ruders und die achteren des Achterstevens ein, für das Ruder zum Darauflegen. Durch den zusätzlichen Achtersteven Geie scheren, diese an Taljen festmachen und die ganze Vorrichtung über Bord werfen. Bekomme ich sie in eine gute Position oder in eine Linie mit dem Achtersteven des Schiffes, verzurre ich das obere Stück des zusätzlichen Stevens mit dem oberen Stück des Schiffstevens, pricke Taljen an oder in die unmittelbare Nähe der Großkette, talje die Geitaue straff, um ihn an das tiefe Stück des Achterstevens zu bekommen. Durch die Löcher, welche ich sowohl in den zusätzlichen als auch in den echten Achtersteven gebohrt habe, stecke ich einen Eisenbolzen – achte darauf, nicht das Ruder zu berühren – was den unechten Achtersteven am Aufsteigen oder Fallen hindert. Mittels der Geitaue am achteren Stück des Ruders und der Taljen, die an ihnen befestigt sind, mag ich das Schiff steuern können. Ich muss beachten, die Taljen des zusätzlichen Achterstevens straff zu ziehen, um ihn eng zum echten Achtersteven zu halten.“ „Mit welchem Wind würden Sie ablegen, Südost oder Süd?“ Er setzte zur Antwort an, da stellte Admiral Rooke James bereits die nächste Aufgabe: „Sie befinden sich in einem Sturm, unter gerefftem Großsegel, und wollen über Stag gehen. Wie wenden Sie in schwerer See?“ „Ich lasse das Schiff abfallen und lege das Ruder nach Luv. Wenn getan, Großschot fieren. Wenn es das nicht tut, besetze ich die Fockwanten und lasse Persenningen, Hängematten oder Ersatzsegel hinaufbringen und ausbreiten. Wenn das es nicht tut, Großschot anholen und das Ruder nach Lee legen, dann Männer mit Hängematten und Zeisings zur Sprietrahe entsenden, um das Sprietsegel im Geitaublock auf der Leeseite festzumachen und die Rahnock auf der Leeseite loszumachen. Anschließend das Schot anholen, Ruder hart Luvseite legen, Großschot fieren, aufbrassen, das andere Schot anholen, Großhals einholen. Liegt das Schiff vor dem Wind, Sprietrahe vierkant brassen, Segel aufgeien und festmachen. Ruder nach Lee bringen, Rahen aufbrassen, Großschot anholen, Bulin auftaljen, das Ruder in Lee festzurren, und das Schiff wird beiliegen wie zuvor.“ Ich brauche nicht hervorzuheben, dass ich längst den Überblick eingebüßt hatte? Um uns herum herrschte das Schweigen totaler Verwirrung. Hier schien wohl die eine oder andere Erwartung enttäuscht worden zu sein. „Das Schiff wendet nicht, nachdem Sie all das getan haben.“ James wirkte jetzt zumindest ein wenig angespannt. Bei allem, wofür ich ihn sonst bewunderte, schrieb ich ihm nie eine beflügelte Fantasie zu, doch nun schienen ihn all jene staubtrockenen Begriffe vom Fach tatsächlich unmittelbar auf das Deck eines Schiffes transportiert zu haben, das in der aufgescheuchten See tanzte, wo ihm die lärmende Gischt ins Gesicht spritzte und Entscheidungen von ihm verlangt wurden, welche über das Schicksal von hunderten Männern bestimmen würden. „Ich mache die Schmetterlingsstellung des Focks los“, erwiderte er noch immer ruhig, aber lauter als eingangs. „Wenn das es nicht tut, Focksegel setzen und es nur unter Groß, Fock und Besansegel fahren lassen oder das Großsegel hieven. Wenn das Schiff noch nicht wendet, Besanrahe herunterholen. Wenn das es nicht tut, untere Besanrahe sowie Besanmarsstenge herunterholen. Wenn das es nicht tut, Besanmast kappen.“ „Ein starker Wind, Mr Groves, und Sie führen alle Segel. Der Feind ist in Sicht; machen Sie Ihr Schiff klar zum Angriff.“ „Ich befehle alle Mann auf ihre Gefechtsstationen, der Quartiermeister soll die Hängematten in die Finknetze und die Seekisten in die Luken verstauen. Die kleinen Segel werden geborgen, die Spieren mit Kettenracks gesichert, die Fender eingezogen, dann die Marsrahen auf Halbmast gesetzt. Stopperstek an die Marsschoten, Stopperstek an die Fallen oder sie auf andere Weise vertäuen. Kanoniere erhalten Luntenfässer zwischen allen zwei Kanonen, Schwefelhölzer, Pulverhörner, Schrauben, Keile und Handspeichen, ausreichend für jede Kanone. Sind alle Mann auf Gefechtsstation, Ruhe bewahren und die weiteren Instruktionen abwarten; keinen Schuss abgeben, bevor ich das Kommando erhalten habe. In Bereitschaft sein, bis das passiert, dann: Feuer!“ „Mr Norrington: Zehn entscheidende Schlachten der Royal Navy in den letzten zwei Jahrhunderten?“ Geschichte! Ich war mir sicher, dass derlei Fragen nicht zum üblichen Repertoire dieser Prüfungen gehörten, und für andere angehende Leutnants mochte diese Frage überraschend kommen, doch James war Geschichte schon immer ein Steckenpferd gewesen. Und dies zahlte sich aus: „Fünfzehnhundertachtundachtzig: Die englische Flotte unter Graf Charles Howard von Effingham bezwingt die spanische Armada unter Herzog Alonso Pérez de Guzmán von Medina Sidonia im Englischen Kanal. Diese Niederlage eröffnet Englands Navy den Weg zur Vorherrschaft auf See, die bis heute anhält. Sechzehnhundertzweiundfünfzig: Bei den Goodwin Sands begegnen sich die englische Flotte unter Admiral Robert Blake und die niederländische Flotte unter Admiral Maarten Tromp. Da dieser das Gesetz des Flaggengrußes missachtet, kommt es zu einem Gefecht, infolgedessen Tromp zwei Schiffe einbüßt. Die Schlacht stellt den Auftakt zum ersten Krieg zwischen England und den Niederlanden dar. Sechzehnhundertdreiundfünfzig: Siebzig niederländische Schiffe…“ James, sei mir nicht böse, aber ich schalte eben mein Gehör auf Durchzug. Ich brauche ein paar Sekunden Ruhe und weiß ja, dass es richtig ist, was immer du jetzt sagst. Als ich mich der Ausfragung der beiden Noch-Fähnriche wieder öffnete, deutete Admiral Norrington auf eine Schreibtafel. „Errechnen Sie die Tonnage eines Schiffes mit einer Länge des Hauptdecks von 186 Fuß und 51 Fuß Breite, Mr Groves.“ Es war totenstill, bis auf Groves’ Schritte, da er auf sie zusteuerte. „Um die Berechnung der Tonnage eines Schiffes vorzunehmen, bedarf es der Kenntnis der Länge der extremen Breite sowie der Länge des Kieles. Um diese zu erhalten, multipliziere ich das Maß des Hauptdecks mit 0,8 und erhalte somit… 148,8 Fuß. Ich multipliziere die Länge des Kieles mit jener der extremen Breite mal der extremen Breite durch zwei und teile das Ergebnis durch 94, das ergibt… gerundet 2059 Tonnage. Ich beachte, dass mir lediglich angenäherte Werte zur Verfügung stehen, nicht die tatsächlichen, demzufolge die Ungenauigkeit des Ergebnisses.“ „Mr Norrington! Sie sind auf der Verfolgungsjagd eines feindlichen Kriegsschiffes. Es weht ein starker Wind, Sie fahren unter vollem Tuch. Ihr Ziel liegt direkt voraus; von welcher Seite aus werden Sie es angreifen?“ „Das ist ja schrecklich“, meinte Elizabeth plötzlich, ohne jede Begeisterung. „Wie lange werden sie das fortführen?“ Ich versuchte vorsichtig, ihr Verständnis zu wecken: „Du musst bedenken, dass er einmal die Zukunft ganz Englands auf seinen Schultern tragen soll. Nun, wo die Zeiten immer mehr dem Frieden entsagen, ist es nur selbstverständlich, dass die Admirale ihre Erben auf eine harte Probe stellen. Du weißt doch noch, was dein Gatte sagte, über die gegenwärtige Tauglichkeit der jungen Seekadetten?“ „Wenn man keine Soldaten ausbildet, gibt es auch keinen Krieg“, sagte sie bestimmt und sprach für die verbleibende Stunde im Inneren dieses warmen, stickigen Saales kein einziges Wort mehr. James und Theodore Groves erhielten nicht sofort das Ergebnis, und obgleich Ersterer den augenscheinlichen Vorteil genoss, einen der Prüfer früher einmal Vater genannt haben zu dürfen, hüllte dieser sich in talentiertes Schweigen. „Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen, James“, wollte ich ihn beruhigen. „Alles, was Sie antworteten, hörte sich ziemlich überzeugend an. Sie werden gewiss müde und hungrig sein, nicht wahr? Sobald wir zuhause sind, werde ich Ihnen etwas Hübsches zubereiten, ja?“ Seine Augen aber waren ganz auf die Hauptstraße gerichtet, welche in einiger Entfernung von der Nacht verschlungen wurde. „Ich weiß nicht, was Sie meinen, Ms Abda. Ich mache mir gar keine Gedanken.“ Ich fühlte mich, als hätte ich ihn aus akustischem Grund nicht verstanden, obwohl ich jedes einzelne seiner Worte ohne Anstrengung hätte wiedergeben können. Wir verabschiedeten uns von dem jungen Groves und stiegen in die Droschke ein, welche gerade vorgefahren war. Alexia hielt bereits ihren Schönheitsschlaf. Elizabeth betrachtete abwesend das vereiste Fenster. James hatte sich noch immer nicht von seinem Dienstblick getrennt. Und ich wusste nicht, ob ich etwas – und wenn ja, was – sagen sollte. Draußen segelten Abermillionen von Schneekristallen hernieder und deckten das tiefblaue London der Nacht grau zu. Dann hörte ich Rufe. Selbst Elizabeth erwachte aus ihren Gedanken. „Was ist dort geschehen?“, fragte sie in das Unwissen ihres familiären Kreises, indes der Kutscher die Pferde anhielt. Ich meinte, ganz vage einen Geräuscheteppich aus Knistern und Rauschen wahrzunehmen. Alexia rieb sich stöhnend die kleinen Augen, und James riss ohne ein Wort an uns die Tür auf und sprang hinaus. Da wurden die Rufe verständlich: „Feuer! Es brennt!“ „Was?“, stieß Elizabeth hervor, doch ihre Desorientierung wich in einem Zug der Sorge um ihren entschwundenen Sohn. „James!“ „Ich hole ihn zurück“, versprach ich ihr. „Bitte bleibe bei der Kleinen!“ Ohne die Sekunden zu vergeuden, ihr beim Nicken zuzusehen, schob ich mich ebenfalls aus der Droschke und warf den Kopf umher, auf der Suche nach meinem ehemaligen Schützling. Die Straße voraus erhellte ein gigantisches Feuer teuflisch die Nacht, und in seinen wippenden Wellen aus rotgelbem Licht erkannte ich die schmale Silhouette von Norringtons Jungen. Ich sprintete los, doch der weiche Schnee unter meinen Füßen und mein nach wie vor stattliches Volumen gestalteten es mir schwer, voranzukommen. Schreien half auch nicht, wie ich einsehen musste. James’ Schemen wandte sich hektisch an zwei hilflos herumstehende Personen, dann lief er zu meinem Entsetzen direkt auf die Brutstätte dieser höllischen Flammen zu, verschwand unter ihren gierigen Zungen. Ich kreischte mir die Seele aus dem Leib, doch er tauchte nicht wieder auf. Elizabeths Handfläche knallte mit einem peitschenden Geräusch gegen James’ Wange. „Bist du des Wahnsinns?!“, keifte sie dünn, und in ihren Augen standen Tränen, die es nicht gewohnt waren, dergestalt weit hervorzudringen. „Du könntest tot sein, James, begreifst du das?! Tot!“ Die Kombination des sehr rar gesäten Schreiens ihrer Mutter mit den Worten James und tot im selben Satz ließ Alexia laut aufschluchzen. Ich reagierte mit einer Umarmung ihres bebenden Körpers. „Ich bin lediglich meiner Pflicht nachgekommen“, meinte er ungerührt. „Bewahren jedes Lebens eines Menschen dieses Landes unter Einsatz meines eigenen.“ Sie wich zurück, getroffen von der Faust der nicht abzustreitenden Tatsache. „Korrekt“, bestätigte Lawrence Norrington die Aussage seines Nachkommen. „Das ist eine jener Aufgaben, denen er sich verschrieben hat mit dem ersten Einschreiben in eine Musterrolle.“ „Du bist auch noch stolz auf ihn…“, flüsterte die Defoe-Geborene mit tränendurchwirkter Stimme. „Dies ist das Opfer, das wir als Eltern erbringen müssen. James hat sich entschieden, für die Karriere ebenso wie für die damit einhergehenden Risiken. Du wirst wie ich lernen müssen, dich mit der ständigen Lebensgefahr von ihm abzufinden, Elizabeth, denn diese Rettung des Vermietersohnes war nicht etwa ein selbstloses Unternehmen, das man hervorheben muss, sondern nur eine von zahllosen Selbstverständlichkeiten in der Laufbahn eines Offiziers der Royal Navy. Sobald er als Lieutenant zur See fährt, wird er dem Tode zum ersten Male Auge in Auge begegnen, und es wird viele Male geschehen, öfter, als du deine Lieblingskleider wechselst. Das hier war nichts im Vergleich dazu, was ihn erwarten wird; es wäre lächerlich gewesen, wäre er bei diesem marginalen Manöver ernsthaft verletzt worden.“ Elizabeth fehlten die Worte. Jenem, um den sich die ganze Diskussion drehte, aber sah ich ein kleines, abwesendes Lächeln entweichen, weil er aus den Worten seines Vaters die Entscheidung über seine Bestallung zum Leutnant herausgehört haben musste. Es klopfte, und ohne, dass ihn jemand hinein bat, öffnete der hagere, aristokratisch ausschauende Mann, dem die Herberge gehörte, in welcher wir bisher genächtigt hatten, die Tür. Seiner Mimik gelang es, Erleichterung und Besorgnis im selben Ausdruck wiederzugeben. Er wandte sich an James. „Ich möchte Euch noch einmal danken, Mr Norrington! Wenn Ihr nicht…!“ „Zu Zwecken wie diesem wurde die Royal Navy einberufen, guter Mann“, verdeutlichte Seine Lordschaft ihm aus seiner Ecke her. „Wo kann meine Familie nun wohnen?“ Er überlegte. Auf seiner Stirn glitzerte noch der Schweiß, vielleicht wegen der Hitze, vielleicht wegen der Angst. Trotzdem sein Sohn dank James’ zügigem Einsatz mit dem Leben davongekommen war, hatte ihn das Feuer, dessen Erwähnung allein in London bereits massive Panik zu verbreiten vermochte, ärger getroffen als uns, war schließlich sein Hotel, seine finanzielle Obhut ausgebrannt wie ein Schwefelhölzchen. „Sir, ich bin mit einem Gasthausbesitzer vertraut, über den man nur Gutes spricht. Seine Unterkunft liegt außerhalb der Stadt, und es ist kein Palast, aber… aber ich versichere Euch, dieser Unterschied wird Euch gar nicht auffallen, wenn Ihr erst einmal dort eingezogen seid, Sir. U-und er wird Eure Familie ganz gewiss noch zu solch später Stunde Willkommen heißen.“ Niemand gab sich entzückt oder wenigstens die Mühe, entzückt zu erscheinen; alle hingen sekundenlang ihrer bestimmt außerordentlich fantasievollen Imagination einer verfallenen, muffigen Holzbaracke nach, in der man Acht geben muss, sich nicht gegen eine Wand zu lehnen, damit nicht alles in sich zusammenfällt. Die Familie Norrington war seit jeher einen ganz anderen Standart gewohnt. Es hatte sich bereits als umständlich herausgestellt, sich mit der nun verkohlten Übergangswohnung arrangieren zu können. „Nun. Heute Nacht werden wir so schnell nichts anderes finden“, lenkte der Lord ein. So gut wie jeder hätte gerne protestiert, doch ihnen allen war bewusst, dass er Recht hatte. Nur ich fühlte neben der leichten Furcht vor dem Ungewissen vor allem Erleichterung, endlich wieder Abstand zum Ausländer gegenüber skeptischen London zu gewinnen. Der Wirt des Gasthauses, welches sich entgegen der Norrington’schen Vorstellungen als ziemlich einladend ergab, stellte das direkte Gegenteil zum Hotelbesitzer dar. Bierbäuchig, mit kräftigen Armen und einer herzlichen Art stellte er uns beide freien Zimmer zur Verfügung, die, wie ich annahm, nur deshalb nicht belegt waren, weil der Winter durch die Ritzen drang, von dem großzügigen Kaminfeuer vertrieben wurde und infolgedessen ein ständiger Geruch nach verbranntem Holz schwer in allen Räumen hing. Und wie ich schon sagte, nahmen die Londoner vor allem, was an Feuer erinnerte, am liebsten Reißaus. Mir gefiel die vertrauliche Atmosphäre, insbesondere zur Weihnachtszeit. Allein waren die Betten ein Stück zu geräuschvoll, wenn man sich auf ihnen rührte. James störte sich mindestens heute Nacht nicht daran. Kaum hatte uns der Wirt alleingelassen, war er ins Bett gefallen und schnaufte seitdem leise vor sich hin. Ich wusste, dass er und sein Freund Groves die gesamte Nacht vor dem Leutnantsexamen mit ehrgeizigem Studium der Articles of War, des New Practical Navigator und weiteren nautischen Handbüchern zugebracht hatten. Alexia spielte noch ein wenig mit ihrer Puppe, ehe sie zwischen James’ Arme rutschte. Wir Erwachsenen nächtigten im anderen Zimmer. Wollten wir, aber das Knarren der Bettgestelle hielt uns wach, weckte uns mit strenger Sorgfalt, wenn wir bereits in ein Dösen abdrifteten. Also gaben wir uns vorerst damit zufrieden, uns tief in die dicken Decken zu verkriechen, dem spukenden Wind zu lauschen und ein wenig die Gedanken schweifen lassen. „Er sieht aus wie sein Vater, findest du nicht?“, murmelte Elizabeth auf einmal, in einem merkwürdigen, mich zum Überlegen anregenden Ton. „James?“, fragte ich vorsichtshalber nach. „Nein. Eigentlich nicht.“ „Nicht?“ Ihre Augen tauchten hellblau in der Dunkelheit auf, und eine einzige dünne, gewellte Strähne ihres Haares unterbrach das Rechte davon. „Nein“, wiederholte ich mich perplex. „Doch, ich finde schon“, wiederholte auch sie sich, und wieder tränkte jene sonderbare Verträumtheit ihre Stimme. Ich hatte sie in dieser Nacht nicht zum ersten Mal vernommen, das wusste ich. „Wann wirst du es ihm erzählen?“, fragte ich sie, nach einer knappen Pause und das Thema wechselnd, und legte mich wieder hin. Das Bett heulte auf wie die Geige, wenn James auf ihr Bibers Passacaglia spielen sollte. „Was meinst du?“ „Das liegt doch auf der Hand.“ Nun erinnerte sie sich, wenngleich sehr, sehr gemächlich, was ihrer Laune Zeit gab, auffallend zu sinken. „Ach… Davon sprichst du. Nun ja, ich werde es Lawrence überlassen, schließlich ist dieser Einfall hinter seiner Stirn entstanden.“ „Du scheinst mir nicht, als würdest du ihn unterstützen.“ Ihr Bettzeug raschelte dumpf und ihr Bettgestell ächzte. „Alle Eltern unseres Standes nehmen sich dieser Angelegenheit an, statt es der Unerfahrenheit und den Empfindungen ihrer Söhne und Töchter zu überlassen. Ich vollziehe den Anlass dafür nach, und doch halte ich es nicht für richtig. Was das Pekuniäre betrifft, so haben wir es wirklich nicht nötig, noch mehr davon anzuhäufen.“ „Geld wächst nicht im Garten. Und dein Mann wird nicht ewig für euren – mit Verlaub – nicht gerade günstigen Lebensunterhalt aufkommen können.“ Eigentlich war ich derselben Ansicht wie sie, daher war es mir schleierhaft, weshalb ich Lord Norringtons Vorhaben verteidigte. „Die Admirale müssen schon jetzt großen Argwohn ihm gegenüber hegen. Er ist weiterhin zur See gefahren, ohne dass sie es billigten. Wahrscheinlich ahnt er, dass es mit seinem beruflichen Abtritt nicht mehr so weit hin ist.“ „James wird enttäuscht von mir sein, wenn er erfährt, dass ich das einfach zugelassen habe.“ „Das wird dann sein geringstes Problem sein, denke ich.“ „Tatsächlich?“ Sie richtete ihre Lage und ihre Decke zurecht. Ich konnte es in der Dunkelheit nicht sehen, aber es war ja nicht zu überhören. „Ach, übrigens…“, fiel mir da etwas ein. Na ja, eher hatte es unverdrängt in meinem Kopf herumgespukt, seit dem gewissen Zeitpunkt, an dem ich mich dazu entschlossen hatte. Was mir gerade einfiel, war mehr das Registrieren des Augenblickes, in der Heimlichkeit der Nacht, mit Elizabeth allein und Benedict ganz, ganz, ganz weit entfernt von mir. „Was denn?“, fragte die Admiralsgattin neugierig. Mir war, als würde sie bereits wissen, was ich von ihr verlangen wollte. Mein Kopf färbte sich dunkelrot. Benedict war wirklich sehr, außerordentlich, übertrieben weit weg. Und doch schob ich mich dicht an sie heran, das Bett maulte genervt, und flüsterte ihr zu. Wenige Sekunden später übertönte Elizabeths jugendliches Lachen das Pfeifen des Sturmes. Anmerkung: Die in diesem Kapitel enthaltenen Fragen und Antworten des Leutnantsexamens sind den "Questions for Young Officers", beruhend auf dem "New Practical Navigator" von 1814, entnommen. Kapitel 21: I. Wofür man lebt ----------------------------- Es war sonderbar, an dem bäuerlichen Tisch unseres Wirts zu sitzen und mit ihm und seiner Tochter gemeinsam zu frühstücken. Die aufgedeckten Speisen waren allesamt von einer den Hunger reizenden Frische und rochen nach einem unbeschwerten Landleben, in welchem man mit dem Krähen des Hahnes erwachte und in aller Frühe die Kühe fütterte und melkte. Nur, dass es uns erlaubt war zu schlafen, wie lange wir mochten, und dass wir auch keine Tiere zu verpflegen hatten. Alexia beobachtete mit unverhohlener Skepsis, wie Joseph Farley, der Wirt, mit bloßen, möglicherweise ungewaschenen Händen nach dem noch dampfenden Brotlaib griff und jedem Tischgenossen eine breite Scheibe abschnitt. „Fanny, findest du’s?“, rief er in die Richtung der Vorratskammer und erhielt ein „Ja…! Ich glaub’, ich hab’ sie gleich! Warte!“ zurück. Mit den Worten „Ich geh’ trotzdem mal gucken“, stand er von seinem Platz auf, lächelte uns vergebungsheischend zu und machte sich auf in die Küche, hinter der das winzige Vorratslager zu finden war. Als habe er nur darauf gewartet, dass unsere Gastgeber fort waren, stöhnte James leise. Alarmiert schleuderte ich meinen Kopf in seine Richtung. „Ist etwas nicht in Ordnung, James?“, war es Elizabeth, die fragte. „Ich lege Ihnen nahe, dass wir uns möglichst bald nach einem Hotel in der Stadt umsehen sollten“, gab er zur Antwort in einem mir völlig unbekannten Tonfall. „Diese Betten hier sind unnachgiebig und hart, sie stören jede Ruhe.“ „Du hast Recht“, pflichtete seine Mutter ihm schnell bei. „Ich habe ebenfalls Rückenschmerzen. Unerhört, so etwas, aber dies Volk, das hier normalerweise unterkommt, scheint es ja gewohnt zu sein.“ „In der Taaaat!“, bekräftigte die Kleinste ihre Angehörigen, dermaßen laut, dass zu befürchten war, man könne ihre Beschwerde bis in die Kammer hinter der Küche hören. Aber nichts bewegte mich mehr als James’ Anspruch an diese uns freundlicherweise noch mitten in der Nacht empfangende Gaststätte. Es passte nicht. Es passte schlichtweg nicht zu dem James, den ich kannte. Den ich vor fünf Jahren an einem Hafen verabschiedet hatte. Meine Freude war vergangen, als der Besitzer jener Herberge sowie seine Tochter sich zu uns an den Tisch setzten und ein Glas mit Erdbeermarmelade darauf abstellten. Alexia wollte in ihr unbeschmiertes Brot beißen, doch Mister Farley fasste sanft nach ihrem dünnen Handgelenk. „Wir beten erst“, erklärte er ihr warm, aber bestimmt. Aus Höflichkeit begleiteten wir dieses ihr Gebet, auch wenn niemand aus unserer Familie auch nur einen Vers daraus kannte und wir demzufolge ihre Worte nur mit undeutlichem und ziemlich leisem Genuschel untermalten. Anschließend durften wir uns endlich die Brote schmieren und belegen, aber ich kam mir eher vor wie während einer Partie Whist, in welcher ich, selbst mit geheimnisvoller Miene, verschanzt hinter einem Teller mit zwei Brotscheiben, in die Gesichter aller anderen linste, um das, was sich dahinter abspielte, zu errätseln. James zum Beispiel schien irgendetwas abzulenken. Er schenkte dem Frühstück nur ein spärliches Maß an Hinwendung. Als ich meine rechte Hand wie zufällig nach den Eiern streckte, welche in einer kleinen Schüssel links von mir und ihm nahe lagen, um ihm eigentlich einen Wink zu geben, der ihm bedeuten sollte, nicht essen zu müssen, wenn er nicht mochte, bemerkte ich, dass seine Mutter ihm im Schatten des Tisches zärtlich über den Oberschenkel fuhr. So nahm ich mir ein Ei, setzte mich wieder und pellte die Schale ab. Sicher machte ich aus einem Maulwurfshügel einen Berg. Zum Glück forderte Alexia in diesem Augenblick die gemeine Aufmerksamkeit ein. Deutlich war ihr anzusehen, wie entrüstet sie darüber war, dass ihr Kopf noch auf dem gereckten Hals keinen anständigen Überblick hatte. „Wo is’ die Milsch?“, verlangte sie zu erfahren, woraufhin James und Frances nach der Blechkanne griffen. Was geschah, war vorherzusehen: Am Henkel berührten sich ihre Hände, und das reflexartige Austauschen eines Blickes ließ James sie erstmals ordentlich betrachten, wenngleich der Kontakt nicht länger als eine Sekunde anhielt, weil beide sich plötzlich eines schmerzhaften Zwickens erinnerten, welches sie ihre Hände pfeilschnell zurückziehen machte. Anschließend nahmen sie die Tischplatte unter die Lupe, als hätten sie sich vorgenommen, jeden einzelnen vom Teller geflüchteten Krümel aufzuspüren, und machten sich damit nur noch verdächtiger. „Kann ich vielleich’ die Milsch haben?“, versetzte Alexia bedrohlich. „Milch“, verbesserte Elizabeth sie. „Es heißt Milch, Alexia.“ „Milsch“, wiederholte das blonde Mädchen griesgrämig. Ich kaute auf der Innenseite meiner Wange, um nicht zu grinsen vor Glück. Frances "Fanny" Farley war in der Tat eine hübsche junge Dame. Außergewöhnlich mit den hellen Iriden und dem kupfergoldenen Haar, das in jedem Kerzen-, jedem Kaminschein selbst wie Feuer leuchtete, während es sanft ihr weiches Antlitz umschmeichelte, welches von kühnen Zügen war. Und dann fiel mir ein, dass es wahrhaftig das erste Mal in seinem siebzehnjährigen Leben war, dass er mit einem Mädchen in seinem Alter zu tun hatte. Könnte es sein, dass…? „In sechs Tagen wird im neuen Buckingham House der Ball zu Heiligabend gegeben“, holte mich Lord Lawrence Norrington ungnädig zurück in die kalte Realität. „Mr Norrington… Sie haben hoffentlich nicht vergessen, was von Ihnen erwartet wird?“ „Mitnichten, Sir.” Wie aus einer Pistole geschossen. „Sie werden tanzen.“ Er verzog keine Miene, doch hinter seinen Augen stürzte alles zusammen, als habe man ihm mitgeteilt, jemand, den er gut kannte, sei verstorben. „Aber Sir!“, versuchte er sich zu retten. „Ich meine nicht, dass dies der Grund ist, weshalb wir dort unsere Aufwartung machen, Sir.“ Nun fühlte sich Elizabeth berufen, einzugreifen: „Der Tanz gehört zum guten Ton, mein Lieber. Alle werden es tun. Und wer sich verweigert, wird ausgegrenzt. So ist das nun einmal in unserer Gesellschaft…“ Da sie bemerkte, wie Mister Farley lächelte, fügte sie noch hinzu: „Nicht, dass ich lieber in einer anderen Schicht leben wollte…“ Allein die Tiefe ihrer Augen offenbarte den Vorwurf an den Gatten, der immerzu gegen eine Ausbildung James’ nach französischem Hofprotokoll gewesen war. Der Blick des Offiziersanwärters wanderte von seiner Mutter zurück auf seinen Vater, und die kurzen Geräusche der Mahlzubereitung übernahmen akustische Oberhand. Wieder schweiften meine Augen herum. Die junge Frances machte den Eindruck innigen Nachdenkens, Alexias Züge entspannten sich nicht ob des endlichen Füllens ihres Glases mit warmer Milsch. „Das Essen schmeckt ganz ausgezeichnet, Mr Farley“, sagte ich schließlich. Der Lord lud seine überraschte Gemahlin zu einem kleinen Spaziergang ein, und James erklärte sich bereit, beim Abtischen behilflich zu sein, derweil ich mich mit Alexia beschäftigte, deren üble Laune gar nicht mehr vergehen wollte. Während ich mit ihr zusammen auf einem alten, stoppeligen Teppich saß und sie durch amateurhaft gestickte Puppen zu animieren suchte, welche ich in einer Schublade gefunden hatte, spähte ich immer wieder hinüber zu den beiden Jugendlichen, die vom Speisezimmer zur Küche und wieder zurück marschierten. Leerer wurde der reichlich gedeckte Tisch, und als die letzte Schüssel mitgenommen wurde, schlug ich Alexia vor, draußen weiterzuspielen. „Wir klettern auf die höchsten Bäume“, spornte ich sie enthusiastisch an, „und bauen ein paar Dinge aus dem Schnee, ja?“ Endlich löste sich ihr Verdruss, von dem ich bereits befürchtet hatte, er habe sich in ihrem hübschen Gesicht manifestiert, und sie tapste los, sich dick einzukleiden. Ich jedoch erhob mich, trat leise an dem großen Tisch vorbei zur Tür, die noch nicht lange geschlossen gewesen war, und reckte meinen Kopf, sodass gerade das Ohr an das glatte Holz reichte. Das Erste, was ich vernahm, war ein Lachen, klar wie eine Kuhschelle. Dann seine Stimme: „Das ist lächerlich! Wie kommen Sie darauf?“ „Lächerlich finde ich nur Ihren Versuch, es zu verheimlichen, Mr Norrington.“ „Sie mokieren sich über mich?“ „Ach, kommen Sie! Da ist doch überhaupt nichts dabei!“ Wieder ein helles Gelächter. „Was… was tun Sie?!“ Mittlerweile hatte ich mich bereits ganz an die Tür gedrängt. Nun wagte ich, sie einen minimalen Spalt weit zu öffnen. Er bot mir die Sicht auf eine Theke und einen Schrank darüber. Und auf ein paar Töpfe. Und auf den Rand einen der Teller, die wir verwendet hatten. Doch immerhin waren die Stimmen nun nicht mehr dumpf. Ansonsten hätte ich das, was sich nun auf die Lautstärke von Geflüster limitierte, wahrscheinlich nicht hören können. „Die Arme zu den Seiten gestreckt. Die Hände lockern… Lockern. Na, kommen Sie schon. …Ja, gut. Achten Sie auf unsere Füße. Achten Sie darauf, dass Sie dieselben Schritte setzen wie Ihr Tanzpartner, nur halt spiegelverkehrt, wenn Sie sich im Kreis bewegen. Es ist eigentlich ein stetiger Wechsel von Indiekniegehen und Aufdenzehenstehen, dazwischen leichtfüßige Schritte wie beim Ballett. Sehen Sie…? Sie werden selten fest auf beiden Beinen stehen dürfen. Verlagern Sie das Gewicht sehr rasch von einem Bein auf das andere, das erweckt den Eindruck von Leichtigkeit. So… Wir beginnen langsam… Tanzen Sie um mich herum... Mit den Händen nicht so steif… Mr Norrington, Ihre Hände! …Ja, besser. Dada – dadamm… Wie kommt es eigentlich, dass ein Mann von vornehmer Herkunft wie Sie nicht tanzen kann? …Strecken Sie die Knie durch! Sie hatten nie Ballettunterricht, oder?“ Etwas zupfte an meinem Kleid und ich fuhr hoch. Mit hämmerndem Herzen drehte ich mich um und sah niemanden vor mir stehen – doch: Alexia, als ich meinen Kopf neigte. Der ihre schaute aus dem mit Fuchspelz gerahmten Kapuzenumhang heraus wie aus einer sehr flauschigen Höhle. „Gehen wir, Ab’a? Du hast es versprochen!“ Ein Stein fiel mir vom Herzen, denn sie interessierte sich nicht dafür, weshalb ihre dicke Amme an der Tür gehangen hatte, als sei diese das letzte rettende Stück Holz in stürmischer See, und warum sie aufgeschreckt war, als habe sie unvermittelt erkannt, dass sie zu schwer für es ist. „Natürlich“, antwortete ich wohl gelaunt. „Lassen Sie uns gehen, ehe der schöne Schnee schmilzt. Wenn Ihre Eltern zurückkehren, wird sie eine Familie aus Schneemenschen empfangen.“ „Nein, ich weiß! Wir bauen alle unsere Diener nach! Und wenn sie zurückkommen, begrüßt sie eine Schar aus Schneedienern, wie zuhause!“ Ich strengte mich an, mein Lächeln aufrecht zu erhalten. „Na fein.“ Am nächsten Tag verließ uns James früh, um in die Stadt zu fahren. Nur wegen des herannahenden Weihnachtsballes war er nicht von seinen dienstlichen Verpflichtungen entbunden, welche ihn an die Themse befahlen. Ich befürchtete, eben diese dienstlichen Verpflichtungen würden ihn, sobald er am Flussufer stand, mit sich reißen, fort, auf die offene See hinaus, oder ein listiger Windstoß würde die Segel des Schiffes füllen, auf dem er gerade die Fracht zählte, und ihn in die Nordsee treiben, und hielt die schlurfenden Stunden seiner Abwesenheit kaum aus. Selbstredend war es unvorstellbar, dass eine meiner Befürchtungen sich bewahrheiten könnte, und ich schloss daraus, dass ich zwar eingesehen hatte, dass die Zeit des Abschieds – des endgültigen Abschieds – bevorstand, aber noch nicht bereit dafür war und es vermutlich niemals sein würde. Ich selbst hatte mit meinem Antrag gegenüber Elizabeth den ersten Steinbrocken zwischen mir und James gelegt, ich selbst hatte ihm, ihnen allen beweisen wollen, dass es in Ordnung war. Ich versuchte, der Zukunft entgegenzublicken, versuchte, sie mir einzubilden. Aber da war nichts. Es gab kein Leben für mich ohne James, nur für ihn hatte ich gelebt, und mit dieser Tatsache hätte ich umgehen können, wenn ich nicht gezwungen wäre, meine Existenz nach dem Ende meines Lebens fortzuführen. Nein, ich dachte nicht ein Mal darüber nach, meinem physischen Dasein ebenfalls ein Ende zu setzen; diese beleidigende, skrupellose Tat im Hinblick auf all jene, die nicht in den Genuss des Glückes gekommen waren, wie ich leben zu dürfen, leuchtete mir gar nicht erst ein. Jedoch ahnte ich, dass der weitere Verlauf meines Wandelns auf dieser Erde, wie sehr ich Benedict inzwischen auch mochte, erdrückend trostlos werden würde. Ich hatte kein Ziel mehr. Entgegen jenen Zeiten, da ich den kleinen James auf ein Schiff steigen sah oder in eine Kutsche auf dem Weg nach Norfolk, gab mir dieses Mal keine Aussicht Hoffnung, ihn irgendwann – ganz gleich, wie viele Stunden, Tage, Wochen, Monate, Quartale, Jahre, Jahrfünfte, Jahrzehnte sich dazwischenschieben würden – wieder begrüßen zu können wie Alexias Diener aus Schnee ihre Eltern. Der heutige Tag war ausgesprochen sonnig für den späten Herbst, und die Schneemänner schmolzen mit traurigen Gesichtern dahin, während ich allein in einem Zimmer saß und weinte. Die bis zur Unheimlichkeit stille Dämmerung wurde von Pferdeschnauben und Kutschengepolter durchbrochen, und der männliche Teil der Familie Norrington, welcher sich ganz und gar der Seefahrt verschrieben hatte, stand an der Tür. „Du darfst deinen Sohn fortan offiziell Lieutenant nennen“, war das Erste, womit sich der Lord an seine Frau wandte, doch die drehte den Kopf sehr langsam hin und her, ihn dabei fest fixierend. „Das ist großartig, Lawrence, wirklich ganz großartig, aber ich denke, ich bleibe doch lieber beim bewährten James.“ Herzliche Glückwünsche erwarteten den neuen Leutnant Ihrer Englischen Majestät auf seinem hoheitlichen Weg zum einsturzgefährdeten Holztisch, und Mister Farley wollte eine Runde Wein ausschenken, bevor der Admiral ihm die Flaschen eines edlen Italienischen in die Hände drückte, deren Inhalt funkelte und glänzte wie die Unkosten, welche er sehr wahrscheinlich verursacht hatte. Theodore Groves hatte, wie uns mitgeteilt wurde, sein Leutnantsexamen ebenfalls bestanden, doch anders als bei James, dessen Vater immerhin den Titel eines Seelords innehatte und damit in der Nahrungskette der Königlichen Marine ganz oben zu finden war, hatte sich für ihn noch keine Anstellung auf einem Schiff finden lassen, was seiner weiteren Karriere gar nicht gut kommen würde. „Ich werde auf der HMS Evidence dienen, ein ursprünglich französisches Schiff“, erzählte James in die Runde. „Unter dem Kommando von Captain Samuel Bennett.“ Bennett, wollte ich fragen, war er nicht Erster Offizier auf der Victory, während deiner Jahre als Midshipman? Und die Evidence, handelt es sich dabei vielleicht um die Petite Gloire, von der du geschrieben hast? Aber noch rechtzeitig fiel mir ein, dass es nicht unbedingt angebracht war, im Kreise der gesamten Familie über unsere Korrespondenz zu sprechen, die ich als etwas erachtete, das mir und James allein gehörte. Und darüber hinaus, dass ich ihn fast schon wieder geduzt hätte. „Am 30. Dezember brechen wir zu unserer Reise auf.“ „Wo führt sie hin?“, hakte Elizabeth nach, die zu spüren schien, dass James sich vor dieser Auskunft drücken wollte. „Doch nicht in den Krieg?“ „Man darf nicht immer nur an den Krieg denken“, mischte sich Seine Lordschaft ein. „Englands glorreicher Triumph zu Gibraltar war ein bedeutender Schritt auf dem Weg zur Vormachtstellung dieses Landes, doch es wäre fatal, allein auf die Siege von Schlachten zu setzen. Während die Spanier und Franzosen all ihre peinlichen Anstrengungen in den Krieg wettern, denkt unsereins bereits an das Danach.“ „Die Spanier können an nichts anderes denken. Es geht schließlich um ihren Thron.“ „Interessierst du dich für sie, Elizabeth? Denke an das Land, in dem du geboren bist, das dich aufgezogen und genährt hat. Die Probleme anderer Nationen sollen nicht die deine sein. Sie haben England auch nie bemitleidet. Mitleid ist fehl am Platze, wenn man nicht getötet werden will. Du willst doch nicht getötet werden, Elizabeth?“ „Ich hatte es mir zumindest nicht vorgenommen, Lawrence.“ Sie ließ uns ihren Sarkasmus hören, ihre Resignation über den Mann, der lange nicht mehr er selbst war, und drehte sich von ihm fort, James zu. „Verzeih mir, mein Lieber. Hast du mir geantwortet auf die Frage, wohin die Reise führt?“ „Marlborough ist mir nicht geheuer“, murmelte der Lord in seinen drahthaarigen Bart. „Ein Mann, glitschig wie ein Aal. Ich finde es nicht gut, dass Ihre Majestät ihm so viel Einfluss zugesteht…“ „Um Afrika herum bis nach Indien. Von dort aus weiter nach China.“ Elizabeths Augen erstarrten. „So weit?“, hauchte sie. „Es handelt sich lediglich um Staatsbesuche. Der Orient soll erfahren, dass England ihm gegenüber keiner bösen Gesinnung ist. Wir werden die Sitten des anderen kopieren, ein paar Souvenirs austauschen, Pläne für die Zukunft schmieden, an die sich niemand mehr erinnern wird, sobald wir uns verabschiedet haben, und wieder unserer eigenen Wege gehen, das ist alles.“ „Ich will auch mit nach Indien und Chinien!“, rief Alexia empört, und ich strich über ihre strahlende Lockenmähne. „Da ist es aber gefährlich. Da gibt es Tiere, die sind viel größer als Sie, und die haben gar keine Ahnung, wie man sich einer Dame gegenüber zu benehmen hat.“ „Das fehlt noch, dass du auch in die Marine möchtest“, meinte Elizabeth. Alexia erwiderte ihren grimmigen Blick entschlossen, und ich fühlte, wie der schmale Strich ihrer Kontaktaufnahme von schmerzhaften Blitzen durchzuckt wurde. Sie war noch so jung, und doch nahm ich in diesem Augenblick zur Kenntnis, wie sehr Alexia die grundsätzlich wohlwollende Bevormundung durch ihre Mutter, die sich in den letzten Jahren kaum weniger verändert hatte als Lawrence Norrington, verabscheute. Hasste. „Ich bin jedenfalls recht gespannt auf das, was uns jenseits des Kaps der Guten Hoffnung erwarten wird“, teilte James uns mit, und ich wunderte mich ein wenig über sein Bedürfnis, dergleichen zu tun. „Man erzählt sich ja allerhand. Ich bin der Ansicht, man solle mit jeglichen Vorurteilen aufräumen. Um Platz für die eigene Meinung zu schaffen.“ Täuschte ich mich? Oder begannen viele seiner Sätze neuerdings mit einem Ich. „Es ist schon spät“, erinnerte uns Elizabeth bald darauf mit einem Blick aus dem Fenster, dessen schwarzer Hintergrund ihr Antlitz spiegelte. „Wir sollten zu Bett gehen. Morgen möchte ich gerne Vanbrughs The Confederacy im neuen Queen’s Theatre sehen. Alexia, kommst du?“ Widerwillig ließ sich die Kleine abführen. Und da waren wir, James und ich alleine. Viel hatte sich angesammelt in den letzten Jahren; ich hätte ihn zuplaudern können, bis er sich wünschte, taub zu sein, aber nichts, was ich in der vergangenen Zeit getan, erlebt oder gefühlt hatte, verließ tatsächlich meinen Mund. Eine Erklärung dafür war nicht zu finden. Beinahe schien mir bange zu sein. Vor ihm. Und dann senkte er seinen Blick auf mich. Und wirkte seltsam traurig. „Was haben Sie vor, Ms Abda, nun, da ich Sie nicht mehr mit wechselbedürftigen Windeln und allabendlichen Diskursen mit einem siebenjährigen Erwachsenen beschäftigen kann?“ Ein kurzes, freudloses Lachen kam über mich. „Ich glaube, ich werde niemals irgendetwas finden, das mich von diesen schrecklichen Verlusten ablenken wird.“ Wie wahr, diese so entspannt klingende Antwort. „Anfangs werde ich mich damit begnügen müssen, meine nie gekannte Freizeit mit der Umschau nach einer eigenen kleinen, netten Behausung zu vergeuden.“ Seine im Regelfall nahezu dünkelhaft über die Augen gesenkten Lider erhoben sich. „Sie bleiben also nicht auf dem Landsitz und kümmern sich um Alexia?“ „Nein, James. Ich habe beschlossen, mit Benedict ein neues Leben anzufangen… es wenigstens zu versuchen. Die Einwilligung Ihrer Mutter zu unserer Absetzung habe ich bereits erhalten, auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob ich wirklich mit ihm gemeinsam glücklich werde.“ „Ich wünsche Ihnen in beiden Fällen alles Gute“, sagte er ehrlich. Ich wollte mich bedanken, doch auf einmal bekam ich gar kein Wort mehr hervor. „Sie haben viel für mich getan“, flüsterte er. „Sagen Sie, habe ich Ihnen eigentlich je dafür gedankt…?“ Seine strengen Konturen verschwammen plötzlich, und es ärgerte mich. Wir hatten nicht mehr viel Zeit… Ich sollte jetzt jede Sekunde, die man uns schenkte, nutzen, auskosten, bevor wir auseinandergingen. Doch was ich auch tat – blinzeln, die Augen zusammenkneifen, den Kopf schütteln, mit den Händen über die geschlossenen Lider wischen – meine Sicht klärte sich nicht. Es war auf einmal auch nicht mehr ganz so wichtig. Vielleicht war es sogar ganz gut. Denn so konzentrierte ich mich auf andere Sinne… und zwar auf genau die Richtigen, als ich unerwartet seine Hände an meinem Rücken spürte, dann seinen Körper nahe dem meinen und schließlich seinen Kopf auf meiner Schulter. Allmählich sank er zusammen, gemächlich genug, dass ich ihm sein Gewicht mühelos abnehmen konnte. Es würde das letzte Mal sein. „Ja, James… Jeden Tag, den du mich ansahst, mit mir sprachst, mich brauchtest und mir gabst, hast du mir gedankt…“ Ich habe für dich gelebt. Und mit dir in meinem Herzen werde ich sterben. Kapitel 22: I. Die Bitte zum Tanz --------------------------------- Einen Tag vor dem großen Weihnachtsball im Buckingham House passierte es. Das, was eigentlich jedem früher oder später passierte – weil ein Bestandteil des menschlichen Lebens, dafür von nicht zu leugnender Unentbehrlichkeit – manchmal als glückliche Erinnerung hinterbleibend, manchmal jedoch als fürchterliche; ansonsten als eine, die mit Worten nicht zu definieren war. Es passierte etwas, über das man nicht offen sprach. Und über das man sich doch ausgelassen unterhielt. Das den eleganten Adel in äußerste Empörung versetzte, weil es absonderlich war, und nach dem es ihm permanent und in immensen Mengen dürstete, weil es so wundervoll war. Wofür man andere brauchte, ohne jemanden zu benötigen. Das viele verschiedene Formen annehmen konnte und doch immer das eine und selbe blieb. Das alle Stände, alle Länder, alle Wesen auf diesem Planeten vereinte. Niemand wusste, wo es hergekommen war. Das, was einfach existierte. In jedem reifte und blühte es – in manchen mehr, in anderen weniger. Das, was verschiedenste Bedeutungen hatte. Das, was eigentlich jedem früher oder später passierte, manchmal glücklich, manchmal fürchterlich… Das passierte am dreiundzwanzigsten Dezember dem siebzehnjährigen Lieutenant James Alexis Lawrence William Norrington. Hinter den Fenstern tanzten grazil die Schneeflocken, und ich freute mich auf weiß bedeckte Tage des Herrn. Man muss nicht gläubig sein, kein Christ, um Weihnachten etwas ganz Besonderes abzugewinnen. War es früher vielleicht nur der vermeintliche Zeitpunkt der Geburt des christlichen Messias, so hatten die Menschen, die es feiern, ihm inzwischen zu einer Atmosphäre verholfen, die weder Hass noch Traurigkeit duldet, höchstens Melancholie. Sie ist wie eine gemütliche Wärme, die aus unserem tiefsten Inneren zu gedeihen beginnt, und auf diese Weise zuerst uns selbst in völligen Einklang bringt, ehe wir unser Empfinden – wie wir es oft tun, angeregt durch unser eigenes Wohlgefühl – an andere auslassen und weitergeben können. Mit den Augen in die eine Richtung und den Ohren in die andere lehnte ich mich an die Küchentür. „Sehen Sie mir in die Augen.“ „Aber Sie sagten doch, ich solle auf die Schritte achten!“ Wieder das Lachen einer klaren Kuhglocke. „Ja, aber doch nicht, wenn es ernst wird.“ „Wenn es ernst wird?“ Diding, diding, diding… Sie kicherte. „Nun hören Sie mal: Der Tanz besteht nicht nur aus möglichst rhythmischem Hin- und Herhoppsen zur Musik. Es gibt, wie überall, wo sich der Hof vom "einfachen Volk" abheben will, bestimmte und strikt vorgegebene Verhaltensweisen zu beachten. So sollte man seinen Tanzpartner nie aus den Augen lassen und immer ein leichtes Lächeln tragen – aber nicht grinsen! Ein sanft geneigter Kopf schmeichelt der Eleganz. In einer geraden Körperhaltung macht Ihnen ja sowieso niemand etwas vor…“ „Eine gerade Körperhaltung versteht sich wohl auch von selbst!“, verteidigte er sich. „Die Dame steht rechts. Manchmal kann es passieren, dass man es vergisst, wenn man auf die Tanzfläche tritt und ein Anfänger ist. Dann bloß nichts anmerken lassen! Aber Sie werden dieses Problem wohl nicht haben. Immerhin werden Sie fast ausschließlich von geübten Tänzerinnen umgeben sein.“ „Ich verbitte mir diese Anspielungen!“ „Haben Sie es etwa schon wieder vergessen, Mr Norrington? Immer lächeln!“ Es wurde still, und selbst ich hinter der Tür musste grinsen, als ich mir vorstellte, wie James’ Mundwinkel verkrampft nach oben stiegen, bereit, in den Krieg des nonchalanten Gesichtsausdruckes zu ziehen. „Gut so. Und jetzt: Noch einmal von vorne. Reverenz?“ Es wurde Zeit. Ich schob mich von der Tür, drehte mich fort von den Fenstern, hinter denen der Schnee rieselte, und drückte noch einmal mein Ohr gegen das Holz. Meine Hand umschloss bereits die Klinke. Würde mich nun wieder jemand von hinten überraschen, so würde ich sie mit der Achtsamkeit eines gestressten Elefanten hinunterdrücken und mit derselben Grazie in die heimliche Zweisamkeit stolpern. „Den Höhepunkt eines Tanzes bildet das Halten beider Hände des Partners. Halten Sie Ihre Handflächen nach oben, damit die Dame ihre Hände nur hineinzulegen braucht… Strecken Sie die Arme, Mr Norrington. Stellen Sie sich vor, Sie und Ihre Begleiterin würden einen großen Flechtkorb umgreifen wollen.“ Ich drückte sie hinunter. Was mochte James in den fünf Tagen der Übung unter den Fittichen dieses Mädchens gelernt haben? „Kurz hinab, dann rasch zwei Schritte. …Setzen Sie sie leichter, Mr Norrington! Als würden Sie auf Glatteis gehen… Hinab, das vordere Bein heben. Auf den Zehenspitzen. …Leichter, Mr Norrington… Aus den Knien. Denken Sie auch an die Hände. Dada – dadamm… Langsam… Sie sind mit der Hüfte viel zu steif. Das sieht nicht gut aus. Wiegen Sie sie ein wenig… Sehen Sie? So… Stellen Sie sich die Musik vor: Dada – dadamm… Hinab. Strecken… Ihre Hände, James… Und fühlen Sie sich einfach frei… Genau… Das… ist tanzen…“ Die Tür öffnete sich einen Spalt weit, der großzügiger war als beim letzten Mal. Ich konnte die Theke und den Schrank sehen. Sowie ein paar Töpfe. Und unsere Teller, die sie eben vom Tisch geräumt hatten. Und unser Besteck. Das Marmeladenglas. Und Alexias angeknabbertes Brötchen. Die frischen Eier, die Blechkanne mit Milch. Und James und Frances, in einem innigen Kuss versunken. Ihre Lippen tasteten sich schüchtern ab, wie Schmetterlinge, die nach langer Suche zueinander gefunden hatten, und doch entfaltete sich in dieser Zärtlichkeit all das, was James sehr lange hatte aufstauen müssen. Unsichtbar explodierten zwischen ihnen die fremden Gefühle, und die Unschuld begann, im gnadenlosen Sonnenlicht der sündigen Leidenschaft zu schmelzen. Es ist immer wieder erstaunlich festzustellen, dass ein Mensch genau weiß, was er in diesen Augenblicken, in denen zwei sich zueinander hingezogen haben, zu tun hat, ohne jemals darin unterrichtet worden zu sein. James, im Tanzen so ungeschickt wie ich beim Springen, übernahm in dieser Angelegenheit, in der er unmöglich Erfahrung haben konnte, kurzerhand die Führung, als habe er die letzten fünf Jahre allein damit vertan, Frauen um den kleinen Finger zu wickeln, sich in seiner Handhabung dergleichen zu perfektionieren, nicht etwa zwischen schweißgebadeten Muskelpaketen Anweisungen zu brüllen, Segel und Anker zu bedienen, Gefechte zu bestreiten. Mit geschlossenen Lidern drängte sich seine Unterlippe anschmiegsam gegen den Mund dieses Mädchens, und es öffnete ihm tatsächlich. Die Köpfe sanft in entgegengesetzte Richtungen geneigt, genauso wie Frances es ihm erklärt hatte, wagten sie sich in ganz neue Bereiche vor. Dann löste sie sich von ihm, und die beiden starrten sich an, als hätten sie just vergessen, wie ihre eigenen Namen lauteten. „Was habe ich gerade getan?“, hauchte er verwirrt. „Ich habe Sie geküsst…“, antwortete sie verwirrt. „Ich… ich habe Sie auch geküsst…“ „Meinen Sie…? ...Ja. Das kann sein…“ „Ich bitte vielmals um Entschuldigung, dass… dass ich so unverschämt war, Ihren Kuss zu erwidern, Miss…“ „Verzieh’n!“, fiel sie ihm mit dünner Stimme ins Wort und um den Hals, drängte sich ängstlich an seinen Mund, als würde ihr den jemand wegnehmen wollen. Ihre Hände suchten lediglich nach Halt auf seinen Schultern, aber aus Versehen lösten sie dabei die Batistcravate seiner neuen Uniform und dann auch noch den obersten Knopf des Gilets. Er atmete mit sehr schwacher Entrüstung ein. „Was tun Sie…?“ So, wie sie aussah, konnte sie sich das selbst nicht erklären. „Ich… ich dachte, Ihnen könnte vielleicht warm sein…“, murmelte sie nervös daher. „Merkwürdigerweise ist es mir das auch…“ Die Erkenntnis war ihm gerade eben gekommen, sie war förmlich von hinten an ihn herangeschlichen und überrumpelte ihn folglich sehr. „Ähh… Ja?“ Sie offenbar auch. Um nicht weiterhin der Verlegenheit gedankenverlorener Äußerungen ausgesetzt zu sein, verschloss er ihren Mund nach exakt drei Sekunden beidseitiger Statik für einen Kuss, der alle Vorhergehenden in den Schatten stellte. Keine Sekunde zu spät registrierte ich, dass sie nach der Klinke auf ihrer Seite langte. In der nächsten nämlich schwang die Tür auf, und ich war noch rechtzeitig zurückgewichen, um sie nicht gegen die Stirn geknallt zu bekommen, was mich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit hätte auffliegen lassen. „Wo gehen wir hin?“, flüsterte er, betrunken von dem neuartigen Empfinden und diesem auch gleich komplett untertan. „Tanzen“, hauchte sie mit einem koketten Grinsen und verschleierten Augen, ihn an den Armen zur Haustür führend. „Im Schnee?“, fragte er weiter, und ich meinte, eine Prise Belustigung herauszuhören. Ehe sie die Tür zum hochverschneiten Vorgarten öffnete, hatte sie ihm versehentlich den Justeaucorps von den Oberarmen gestreift, und in einem plötzlichen Anflug puren Unglaubens fragte ich mich, weshalb sie ihn der Kleider entledigte, wenn sie doch nach draußen wollten. Ich konnte nicht zulassen, dass er sich erkältete. Also wartete ich, bis die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, hob dann James’ Surtout vom Haken und musste ihnen unbedingt folgen. Direkt an das Gasthaus grenzte ein aus düsterem Holz zusammengebauter Stall oder Schuppen, und des Rätsels Lösung, wohin sie entschwunden waren, lag auf der Hand. Auf meinem Weg von der Tür des Hauses zu jener des Stalles, der einen flachen Bogen beschrieb, sammelte ich die Halsbinde auf und presste sie fest gegen den Stoff des Umhangs. Ich war gespannt wie ein Bogen... Nein, wie der Pfeil darin, der darauf wartete, abgeschossen zu werden! Bei alledem war mir sehr wohl bewusst, dass ich das, was ich tat, nicht hätte tun dürfen. Aber sollte ich mir diese einmalige Gelegenheit denn wirklich entgehen lassen? Ja. Vermutlich. Denn das hier war James’ Sache. Aber ich konnte es nicht. Wieder spionierten meine Ohren an der Wand, doch als sie mir versicherten, nichts hören zu werden, fasste ich meinen Mut zusammen und schob das Scheunentor auf, dessen Riegel bereits geöffnet gewesen war. Staubiger Heugeruch flüchtete sogleich durch die schmale Öffnung, der sich im Inneren der warmen, dunklen Tenne gut über den schneefreundlichen Spätherbst gehalten hatte. Am anderen Ende des Raumes machte ein mageres Laternenlicht einige Strohballen sichtbar. James saß darauf, sein Antlitz von dem Flämmchen in ein unruhiges Bronze getaucht, und starrte mit offenem Mund und verhältnismäßig großen Augen auf etwas, das noch hinter der Schuppentür verborgen war. Es konnte nur Frances sein. Und seiner untypischen Miene nach schien sie derzeit etwas durch und durch Raffiniertes zu tun. Ich vernahm das Rauschen von Stoffen, das dumpfe Aufkommen von Stoffen am Boden. Das Herz klopfte mir bis in meinen Gehörgang, als ob ich es wäre, die dort saß und wartete, was passieren würde. Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich ihm das wünschte oder ob es mir lieber wäre, es würde nicht passieren. Nun beugte sich die Tochter des Wirtes schwungvoll in mein Sichtfeld und traf seine Lippen. Ihr feuerrotes Haar suchte sich seinen Weg über ihre ockerfarbenen Schultern, ihre jungen Brüste. Das Kleid hing an ihrer Taille und machte den Anschein, nur noch fallen zu wollen. In einem Rutsch zog sie die übrigen neun Knöpfe seiner Weste auf. Es gab keinen Halt, kein Zurück. Ihre Finger klammerten sich in sein Hemd, zogen dessen lange Schöße ausgesprochen langwierig aus der Hose. Ein wehleidiges Seufzen, die Wohltat quälte ihn. „Hören Sie zu, Miss Farley… Wenn der Admiral dies hier sieht, er wird…“ Entschieden drückte sie ihn nieder. Er stöhnte leise; ob aus Lust, ob aus Anstrengung oder Resignation, vermochte ich nicht mehr zu sagen. „Ihr werter Herr Vater wird das hier aber nicht sehen“, erwiderte sie heiter und beugte sich zu ihm herab. Da ihr bloßer Oberkörper den seinen streifte, begann er, ziemlich heftig zu atmen. „Ehe er oder irgendjemand sonst vermutet, wo wir uns aufhalten, sind wir doch schon längst fertig. Sie machen jedenfalls sehr den Eindruck, als würden Sie es ein wenig eilig haben…“ Sie wirkte unheimlich selbstsicher und überlegen, aber ihre Augen verrieten mir, wie sehr ihre Erwartungsfreude durchwirkt war von der Furcht vor dem, was ihr – daran bestand kein Zweifel – zum ersten Mal bevorstand. „Geben Sie es doch zu… Selbst, wenn ich Sie ließe, würden Sie jetzt nicht mehr aufhören wollen, ist es nicht so?“ „Männer der Navy lernen früh, sich zu beherrschen.“ Sie hatten ihre Distanz auf die Breite einer Feder gebracht, sprachen leise und herausfordernd direkt gegen des anderen Lippen. „Sie werden bald genug Zeit haben, dies zu demonstrieren. Bis dahin sollten Sie jede Sekunde Ihrer Freiheit genießen. Jetzt… lieben Sie mich endlich…“ Ihre Hände schleiften durch sein Haar, die schwarze Perücke fiel. „Ich mache mir Gedanken, ob das Stroh nicht ein wenig zu rau…“ „Ich pass’ schon auf Sie auf. Jetzt… sparen Sie sich Ihren Atem, Sie werden ihn noch brauchen. Lieben Sie mich, James. Sofort.“ Sie setzte sich auf ihn, als ob sie auf ein Pferd stieg, und dämonisches Vergnügen zog ihre Mundwinkel weit nach oben. Nun kamen ihre Hände erst richtig zum Einsatz – James war hoffnungslos verloren. „Ms Abda?“ Augenblicklich verkrampfte sich alles in mir. Ich schleuderte mich herum, das Tor hinter mich zuziehend, noch ehe ich die Stimme einem Namen hätte zuordnen können, wäre sie nicht die verflucht Unverwechselbare Admiral Lawrence Richard Norringtons gewesen. Seiner sich noch immer ehrfurchtgebietend vor mir aufragenden Konstitution zum Trotz hatte ich ihn überhaupt nicht herantreten bemerkt. „Ein leerer Schuppen!“, entfuhr es mir erstickt und überaus unglaubhaft. Was fand ich schlimmer? Den Gedanken, der Lord würde seinen Sohn in flagrante amore ertappen oder mich, wie ich ihn dabei unverfroren beobachtete? Mir wurde schwindelig vor Hitze in der Eiseskälte des jungen Winters. Weder das eine noch das andere würde ich erklären können. Worauf durfte ich also hoffen? Dass die beiden dort drinnen tunlichst schnell zum Ende kommen würden? Und tunlichst lautlos? Und wenn sie ahnungslos herauskämen? Mich sahen? Was dann? Wie sollte ich jemals irgendwem irgendetwas erklären können? Wieso war ich zu weit gegangen? „Sind Sie unpässlich, meine Gute?“, fragte mich der einarmige Admiral in seiner kennzeichnenden Ausdrucksform von Umsicht, für welche ich ihm oft dankbar gewesen war. „Sie wirken fiebrig.“ „Nein! Alles in bester Ordnung, Mylord! Ich danke Euch, Mylord!“ Ich presste mich noch immer gegen das Stalltor, als ob es eine knurrende Bestie wäre, die ich davon abhalten musste, sich auf meinen Vorgesetzten zu stürzen. Dabei stand die wahre Bedrohung doch direkt vor mir. Er schaute an mir vorbei. „Ich denke nicht, dass dies ein Schuppen ist. Ich meine, es ist eine Scheune oder ein Stall.“ „Auf jeden Fall ist es leer!“, kam ich nicht herum, es noch einmal zu betonen. Meine Lider flackerten, meine Lippen bebten, meine Arme vibrierten und meine Beine zitterten, aber ich hoffte, er würde nichts davon mitbekommen. Es war seltsam. Durchschaute er, was hier passierte, dann würde er, was immer es in ihm auslösen mochte, niemals an mir entladen, und dennoch hatte ich lange nicht mehr eine solche Todesangst verspürt. „Hören Sie, meine Liebe“, sagte er und klang dabei etwas müde. „Meine Frau setzte mich über Ihr Vorhaben in Kunde, eine Lebenspartnerschaft mit einem Gärtner aus unserem Personal einzugehen und unseren Wohnsitz folglich zu verlassen.“ „Natürlich“, entgegnete ich mit unfester Stimme, „ich hätte Euch ebenfalls fragen sollen, Mylord. Das war unvertretbar von mir.“ Doch er schüttelte gemächlich den Kopf. „Aufrichtig, Abda, das sind Sie. Wie viele Monate von den siebenundzwanzig Jahren, in denen Sie bei uns wohnten und arbeiteten, kennen wir uns? Es war richtig von Ihnen, nach dem Einverständnis meiner Frau zu fragen, denn ich habe, wie Sie sicher einsehen können, nicht das Recht, über die Gesuche von Domestiken zu urteilen, die ich zwar beim Namen kennen mag, nicht jedoch bei ihrem individuellen Wesen. Nie waren Sie frei, Sie und die anderen, die sich für ihr Überleben anderen Personen subordinieren, aber das nimmt Ihnen nicht das endliche Anrecht, Mensch zu sein. …Ja, das sind Sie: Menschen.“ „Nicht jeder sieht das in uns, schon gar nicht in Leuten wie mich, deren Hautfarbe sich so sehr von jener der Europäer unterscheidet“, musste ich endlich einmal zur Aussprache bringen, ohne meinen Vorwurf an mein ungewöhnliches Gegenüber zu richten. Nein. Lawrence Norringtons Worte berührten mich, ziemlich tief. „Wissen Sie, gute Frau? Ich habe in meinem Alter so vielen Menschen das Recht auf Leben genommen, dass ich es schon vor sehr langer Zeit aufgab, all ihre Namen herauszufinden und mich bei jedem einzelnen persönlich zu entschuldigen, ohne jemals damit zu rechnen, Entschuldigung zu erhalten, die ich nicht verdient hätte. Ganz gleich, gegen wen ich im Namen Ihrer Majestäten kämpfte; ganz gleich, welche Grausamkeit man mir und meinem Degen nachsagte; ich habe es mir niemals, nicht ein einziges Mal herausgenommen, den Menschen in meinen Feinden zu missachten. Wer dies tut, der verdient es nicht, Soldat zu sein, denn er hat eine der höchsten Regeln des Soldaten – des Verteidigers, nicht des Mörders – nicht begriffen und wird ergo niemals in der Lage sein, zu kämpfen für andere, nicht für sich selbst.“ „Das weiß ich“, flüsterte ich, zu meiner Verwunderung so, als wollte ich ihn beschwichtigen, ihm endgültig darlegen, dass wir alle, die wir ihn kannten, uns durchaus bewusst waren, dass an den Märchen über sein vereistes Herz sowie seine Unfähigkeit zu fühlen nicht das kleinste Körnchen Wahrheit war. „Diese Regel gilt nicht nur in den Reihen von uns Verteidigern“, sprach er belehrend fort. „Leider erfährt nur ein Bruchteil der Menschen von ihr, und ein Satz der übrigen Menschen ist entschlossen, ihr ob der Kenntnis keinerlei Beachtung zu zollen. Dabei ist es doch offensichtlich, finden Sie nicht? Jeder Franzose, jeder Spanier, jeder Engländer und jeder Pirat; jeder Weiße, jeder Schwarze, jeder Gelbe und jeder Rote muss atmen, essen, trinken, sterben und austreten. Jeder liebt, jeder möchte geliebt werden, und vielleicht lachen wir alle sogar über denselben Witz. Diese vermeintlichen Kleinigkeiten machen uns zu Menschen, den einen wie den anderen. Nicht jeden müssen wir mögen, und wir dürfen auch hassen. Aber über allem dürfen wir nicht vergessen, dass wir es stets mit einem Menschen zu tun haben.“ Stumm hing ich an seinem wie die Rinde eines Baumes gezeichneten Gesicht. „Ich habe es auch im Hinblick auf Sie, Abda, nicht vergessen, und wenn ich Sie auch als Dienerin bezeichnete, so wollte ich niemals über Ihre Bedürfnisse richten. Auch meiner Frau war das klar. Sie hätte Ihre Bitte nicht einmal abgelehnt, wenn Sie nicht mit dergestalt löblichem Eifer, solch bemerkenswerter Ehrlichkeit und Innigkeit Ihre Ihnen von uns übertragene Aufgabe jedem persönlichen Interesse und Ziel vorangestellt und zu Ende gebracht hätten. Nun ist der Junge erwachsen, er wird nicht wieder zurückkehren, und so bleibt mir nur noch, Sie um Entschuldigung zu bitten für die lange Inanspruchnahme wie auch für das oftmals unangemessene Gehaben meinerseits Ihnen gegenüber…“ Und dann neigte er das Haupt wie ein stolzer Mustang, der seinen Herrn anerkannte. „Meine Frau und ich wünschen Ihnen das Beste für Ihre Zukunft, Yewande.“ Er drehte sich um und schritt davon. „Mylord!“, rief ich, doch er schien mich nicht zu hören, was in Anbetracht des Umstandes unseres Draußenseins schwer zu glauben war. „Mylord!“, rief ich ein erneutes Mal, denn ich musste ihm gegenüber unbedingt noch etwas loswerden, aber noch immer tat er, als würde ich fortan nicht mehr in seiner Welt existieren. „Mylord!“ Größer und größer wurde die Entfernung zwischen uns, sodass es bald tatsächlich des Rufens nötig war, damit er mich verstand, und sie wuchs unaufhörlich wie ein Spalt im Erdboden, bis ich schrie: „Lawrence!“ Er blieb stehen und drehte sich um. „Ohne Euch…!“ Dann versagte meine Stimme. Mit festen Schritten stapfte er zurück, bis auf die ursprüngliche Position. Nichts in seinen Zügen, an seinem körperlichen Zustand unterschied ihn von dem verkrüppelten Geisteradmiral, und doch würde ich meine Hand dafür ins Feuer legen, dass ich zuweilen dem verschollenen strahlenden Seehelden von damals gegenüberstand. „Ohne Euch würde ich nicht leben. Mir wäre so vieles entgangen, das mit keiner Freiheit dieser Welt zu bezahlen wäre…“ Ich wollte nun alles, was ich ihm immer schon zu offenbaren wünschte, aus mir herauslassen, ihm erklären, was ich fühlte, ihm danken und sagen, was für ein großartiger Mensch er war, weil mich der nahe Abschied ermutigte, es jetzt zu tun – "ehe sich der letzte Moment in die verpasste Chance verwandelte…" – allerdings musste ich gerade da erkennen, dass es keine Worte gab, um diesen Gedanken, diesen Emotionen wirklich Ausdruck zu verleihen. „Ich bin Euch vom ganzen Herzen dankbar, Lawrence“, brachte ich lediglich hervor. „Von ganzem Herzen, für jeden Tag.“ Er lächelte und platzierte sanft die übrige Hand auf meiner Schulter. Dann wendete er sich ab, dieses Mal mit der tatsächlichen Intention, zu gehen. Ich glaubte, vom Boden abzuheben vor lauter Erleichterung. Doch da hörte ich die schweren Scharniere knirschen und spürte den warmen und trockenen Dampf des Heus gegen meine Wirbelsäule drücken. Mechanisch machte ich auf der Stelle kehrt, auch, um nicht Lord Norringtons Antlitz ausgesetzt zu sein. Kaum einen Fuß weit von mir entfernt stand Frances Farley im Futter des Schuppen-, Scheunen- oder Stalltores, mit glühenden Wangen, abstehendem Haar und dem Leutnantsrock über dem bedürftig gerichteten Kleid. Da sie den Vater ihres Liebhabers ins Auge fasste, wurde sie sehr bleich, nahezu durchsichtig. „Ich… ich…“, stammelte sie mit einem starren Blick, „ich… ich bin fast vergewaltigt worden…“ Meine Brauen schossen in die Höhe, und mein Kinn zog es gen Tiefe. Was gab sie da Wirres von sich?! James tauchte hinter ihr aus dem sepiafarbenen Dunkel, mit dem Ausdruck eines Abschiedsworte für einen Toten deklamierenden Pfarrers und der akkurat auf dem Kopf drapierten Perücke. Was würde er sagen? Nichts ließ mich zweifeln an der Überzeugung, dass die junge Frances gelogen hatte; ich hatte sie schließlich beim Tanzen erlebt, Scherze treibend und lachend; und die Möglichkeit, dass James sie… So wahrscheinlich wie diese, dass eine Fliege jemanden erschlagen kann. Ausgeschlossen. Aber er respektierte und verehrte seinen Erzeuger sehr, wenn es auch nicht auf den ersten Blick auffiel, und ich fragte mich gespannt, ob er dazu imstande war, ihm in seiner derzeitigen Situation ins Gesicht zu lügen. Dies zu tun, bedeutete, einen Schritt zu wagen, den ich dem kleinen James ebenso wenig zutraute wie dem, der nun vor mir stand, sexuellen Missbrauch: Einen Schritt in die niemals gelernte Unabhängigkeit. Voller Erwartung standen wir ihm gegenüber. „Sir? Es gelang mir, die Angreifer zu vertreiben, doch den Schaden auf die Psyche von Miss Farley konnte ich nicht mehr abwenden.“ Dann wandte sich seine eherne Miene dem väterlichen Admiral zu. „Ich brachte sie her in der Überzeugung, dass sie einiger Abgeschiedenheit bedurfte, und ließ sie frei sprechen. Ich…“ „Er tröstete mich“, warf sie dazwischen. „Ich bin ihm sehr dankbar dafür. Wenn Mr Norrington nicht so rasch gekommen wäre, dann hätten mich diese Scheusale sicherlich…!“ Sie ließ den Kopf in ihre Handflächen fallen und schluchzte. Wenn Mister Norrington nicht so rasch gekommen wäre, glaubte ich eher, hätte ich mir einen gewaltigen Schock ersparen und Lord Norrington suggerieren können, die Scheune sei tatsächlich leer gewesen. Aber es war ja noch einmal gutgegangen. Dachte ich. Kapitel 23: I. Norringtons Lächeln ---------------------------------- Denn der scharfsinnige Seelord des karibischen Gewässers Lawrence Norrington hatte mir die Notlüge des leeren Stalles keineswegs abgekauft, und Frances Farley mochte zwar über schauspielerische Begabung verfügen, nicht aber über die Geduld, ihr Theaterstück lange fortzuführen. Sechzig Minuten später war kein einziger Hauch einer Depression zu spüren, die ganz natürlich gewesen wäre, wenn man einer Vergewaltigung haarscharf entkommen ist, was mein Herz – wogegen mein Kopf ihr nach wie vor keinerlei Vorwurf machte – schier erzürnte. Lord Norrington auf seiner Seite lag nun kontinuierlich auf der Lauer, was die Beziehung der beiden jungen Menschen betraf, und verfiel zurück in den pechschwarzen Gemütszustand des Geisteradmirals. Nicht zu glauben, dass er mich vor nur einer Stunde höflich, freundlich und bewegend verabschiedet hatte. An James aber erlebte ich, da das Phantom einmal außer Reichweite war, eine ganz neue Seite. Oder nein. Ich glaube nicht, dass man diese Seite seiner wirklichen Persönlichkeit zuordnen darf. Gar wie unter dem Einfluss von Opium schwebte er mir förmlich entgegen, unerreichbar mit Worten wie Taten und locker, wie es ein Gassenbube seines Alters nur sein konnte, alle Regeln des resoluten Marinezeremoniells missachtend, selig lächelnd, mit erhobener Nase und extravertierten Augen, dass ich meinte, irgendjemand anderes hätte sich in sein Kostüm geworfen. Er bat mich zum Tisch, auf den er lässig die Arme legte, sobald wir Platz genommen hatten, und schwärmte im Plauderton und wenn auch etwas umständlich von der Liebe, obwohl sein Vorgesetzter und Vater jederzeit durch eine der entsetzlich vielen Türen hereinkommen könnte. Freilich war mir am Besten bekannt, wie gefährlich undicht die greisen Holztüren im Bezug nicht nur auf die Kälte waren. „Frauen sind das Geschenk des Herrn an die Männer“, philosophierte er, der er noch nie eine Kirche von innen gesehen hatte, „und es ist unsere Mission, diese zerbrechlichen Geschöpfe vor allem Übel zu bewahren. Ihre… Augen sind tiefer als ein… ein Eisberg, dessen Spitze aus dem Wasser ragt. Ebenso gefährlich ist es, ihnen dort hinein zu schauen. Und ihre Hände sind so… so sanft! Mit ihren Händen können die Frauen Wunder bewirken… Was sie für uns tun, das müssen wir uns erarbeiten, das muss verdient werden. Verstehen Sie, Ms Abda? Ein Mann ist ehrbar und stark, wo eine Frau zart ist und sich zurückhält. Zerbrechlich und zart, wie, wie… wie eine Blume! Wie leicht werden Blumen nicht zertreten? Ob ihrer Schönheit! Wir müssen nur Acht auf sie geben, um sie blühen zu lassen, ihnen die… die Sonne vom Himmel holen und… sie bewässern.“ Ich konnte nichts tun, meine Brauen schoben sich einfach nach oben. „Schön gesagt, James.“ Nicht Lord Norrington, aber Elizabeth war hinter ihm aufgetaucht, mit einem stolzen Leuchten in den dunklen Augen. Anscheinend gelang es ihrem Sohn, ihr sämtliche Besorgnis zu nehmen, was die Vorstellung von einem verhärteten Grobian anbelangte, dessen Blick nicht über Bug und Heck eines Schiffes hinausreichte, doch kaum hatte sie ihre Anwesenheit verraten, siechte die Liebestrunkenheit in James’ Erscheinung dahin, und er verstummte. Es gab keine einleuchtende Erklärung für sein abruptes Schrumpfen, aber es war offenkundig, dass es auf irgendeine Art mit Elizabeth zusammenhing, und deshalb sparte mir die taktlose Frage danach, obschon sie drängte, beantwortet zu werden. Mir war, als sollte irgendetwas nicht länger hinausgezögert werden und als ob ich gerade versuchte, etwas abzustreiten, das sich längst als Tatsache herausgestellt hatte, ohne dass ich wusste, was es war. Auch ich fühlte mich plötzlich unwohl, ertappte mich beim Zählen der nackten Holzplanken, aus welchen die Wände bestanden, sowie beim Schönfinden des ungestört das Gasthaus einmauernden Schnees. Jeden Winter, wenn er in stärkerem Ausmaß oder über einen längeren Zeitraum hinweg den Boden bedeckte, erinnerte ich mich des einen Jahres, in dem der kleine James zu mir ins Bett gekrabbelt war, um mir ein verschwommenes Geständnis mit auf meinen vermeintlichen Weg ins Jenseits zu geben. Mehr als mein körperliches Elend waren mir seine Zweifel erhalten geblieben, seine Zweifel an sich selbst und an der Liebe seiner Eltern… Da fiel mir auf, dass James, die Spinnenhände Elizabeths auf den Schultern, mit seinen Augen genau das gleiche Empfinden ausdrückte wie damals mit seinen Worten: "Seit ich wieder in England bin, gibt es Momente, da sagt mein Gefühl Nein zu etwas, mit dem sich mein Verstand verträgt…" „Ich glaube, ich kenne die Auslöser dieser Disharmonien, aber es sind ganz gewöhnliche Ereignisse; Dinge, die es auch schon vor der Reise gegeben hat. Alles, was sich an ihnen seitdem verändert hat, ist die Reaktion dessen, was ich spüre, wenn es wieder passiert… Soll ich mich nach meinem Gefühl richten? Oder soll ich mich damit arrangieren. Ist es ein vorübergehendes Fremdeln, vielleicht… aufgrund eines Abgewöhnens?“ Ich wusste, ich konnte nicht ewig schweigen, auch wenn mir jeder Satz wie eine Rasierklinge den Hals hinaufstieg. „Was geschieht, wenn du dich… nach deinem Gefühl richtest?“ Er wog es ab. „Es könnte jemanden verletzen. Vielleicht verstehe ich nur etwas falsch und muss mich wirklich erst wieder daran gewöhnen.“ "Lady Elizabeth liebt mich, oder?", hatte er mich gefragt. Und zweimal hatte ich es ihm bestätigen müssen, als sei es dermaßen ungewöhnlich, dass eine Mutter ihr Kind… liebt. Sollte meine Antwort etwa falsch gewesen sein? „Findest du nicht, Abda?“ Als ich aufsah, hatte sie beide Arme um ihn geschlungen, und ihr Haupt war nicht weit davon entfernt, auf dem seinen zu ruhen. Sie wirkte so keck, so rosig. Vierundvierzigmal hatte Kälte und Hitze ihre Haut angegriffen; nichtsdestotrotz stand dort eine erhabene Frau mit dem scheinbaren Geschenk Ewiger Jugend, eine in die Höhe geschossene Alexia mit nachtschwarzem Haar und schokoladenbraunen Augen, einem süßen, kirschroten Lächeln auf sandweißem Teint, unmittelbar hinter der Quelle ihrer unsterblichen Frische. „Was meinst du?“, musste ich nachfragen. „Mein Liebling hat gerade vor dir eine hinreißende Ode an die Frauen gehalten und du fragst mich, wovon ich spreche?“ Ihr Liebling wirkte auf mich, als würde er sich nur geschwind aus ihrer Umarmung winden wollen, ehe Frances Farley hereinkam, oder noch schrecklicher: Lawrence Norrington. Obwohl ich ihr gerne zugestimmt hätte, erwiderte ich nichts, denn mir war, als würde ich sie anlügen, obschon James’ ganz persönliche Erkenntnis nach dem Kosten vom Verbotenen Apfel wirklich ziemlich bezaubernd war. Es störte sie gar nicht erst. „Wir sollten einmal spazieren gehen, James, und dann erläuterst du mir deine edle Anschauung ganz genau, in Ordnung? Wenn die Nacht sich über den Winter legt, söhnt sie seine Kälte aus. Es lassen sich keine Worte finden für die romantische Magie einer klaren Nacht, wenn der sanfte Wind auf den Instrumenten der Natur spielt und die verschlafenen Himmelskörper den Schneeteppich blassblau bemalen… Hast du das einmal gesehen? Lass es mich dir zeigen. Wir zwei müssen ohnedem noch in die Stadt, ehe du uns leider Gottes verlässt. Dein Vater wünscht, dass du in der Lieutenant-Uniform gemalt wirst.“ Ein Pistolenschuss zerriss die merkwürdige Atmosphäre und ließ mich auffahren, ehe er sich als gegen die Wand krachende Haustür herausstellte und – neben einer frostigen Brise – Alexia gleich einer aufgescheuchten Katze hereinbrauste. Wieder dominierte die Wut ihr Feengesicht; wenn das so weiterging, würde sie mit 44 Jahren wie mit 88 aussehen. „Fanny ist eine eingebildete Tante!“, wetterte sie die bösesten ihr einfallenden Schimpfwörter hinaus, obwohl ich befürchtete, dass dieses ihr Repertoire bereits viel Freiraum für entsprechende Weiterbildung bot, und zerrte an dem Kleid ihrer Mutter, das lange nicht mehr vergleichend raumfressend war wie die französischen Hühnerkörbe, obzwar diese sich in der Öffentlichkeit jener Zeit noch immer größter Beliebtheit erfreuten, was ich niemals werde nachvollziehen können. „Jamie, spiel du mit mir! Wann spielst du endlich mit mir? Du hast es versprochen!“ Notgedrungen ließ Elizabeth von ihm los, um das ihren Stoff terrorisierende Mädchen von sich zu schieben. Augenblicklich konnte er sich ein Stück weit entspannen; eine Erleichterung, die stärker auf ihn wirkte, da Farleys Tochter durch die Tür kam. Vereinzelt trug sie Schneekristalle auf ihrem kupfergoldenen Haar sowie ein resigniertes Lächeln, und ich denke, sie war ein wenig enttäuscht darüber, mit Kindern nicht so umgehen zu können, wie sie es sich wünschte, ohne zu wissen, dass Alexia definitiv nicht für die Messung erzieherischer Fähigkeiten geeignet war. Weil es eigentlich niemanden gab, der wirklich mit ihr umzugehen wusste. James’ und Frances’ Augen fanden zueinander, und nur ihre Augen strahlten sich an und konnten sich nicht mehr lösen. Ich freute mich für die beiden, wahrhaftig. In dem Moment rauschte Lawrence Norrington an mir und Elizabeth vorbei, auf James zu und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Wir alle waren von dem Schmerz betäubt, während der Admiral vor seinem Jungen stand wie ein hoch aufragender Steinturm und ihn auf das Level eines bedauernswerten Straßenköters dezimierte. „Norrington!“ Ich sah James mühsam schlucken, doch seine Miene blieb starr. „Sir?“ „Habe ich dich in die Welt gesetzt, damit du der Wirtstochter schöne Augen machst?!“ Er senkte die Lider, ehe er antwortete. Die Wimpern über der anschwellenden Wange zitterten kaum merklich. „Nein, Sir.“ Wir erwarteten, er würde ein weiteres Mal zuschlagen, doch nichts dergleichen war der Fall. Norrington sah aus, als sei etwas, das er sehr gerne hatte, kaputt gegangen; seine Erscheinung mutete erbärmlich an. Niemand wagte das Wort zu erheben und James nicht, seine Augen zu öffnen, bis der verwundete Wolf das Gasthaus verlassen hatte. Als würde die Zeit aufholen wollen, was sie durch seine zumindest körperliche Anwesenheit verloren hatte, fuhr Leben in uns. Elizabeth, Frances und ich stürzten zeitgleich auf James zu, was zur Folge hatte, dass Erstere und Letztere mit ihren Sturköpfen zusammenstießen. Nur Frances erreichte das Ziel, ging neben dem Stuhl in die Knie, auf welchem James sich entkräftet niedergelassen hatte, und streckte die Hand nach seiner siedenden Wange aus. Grob schlug er sie zur Seite. Sie zeigte sich verständnisvoll, unternahm einen neuen Anlauf, doch wieder stieß er sie von sich. „Lassen Sie mich!“ „Aber warum?“, fragte sie ungläubig nach. „Sie wissen, warum! Der Admiral…!“ Niemand hatte vor, ihn zu unterbrechen, also übernahm er das eigenhändig, indem er aufsprang und mit großen Schritten flüchten wollte. „James!“, rief Elizabeth, doch sie hörte er in diesem Augenblick überhaupt nicht. „James, warten Sie!“ Er schwang zu Frances herum und erdolchte sie mit einem zornigen Blick. „Für Sie immer noch: Mr Norrington!“ Ein drittes Mal musste die arme Haustür das donnernde Schmeißen ertragen. Mich an das Fenster werfend, beobachtete ich James durch den Schnee stapfen, und der Winter drang bis in sein Herz. Sämtliche Gefühle, die er für Frances Farley – oder besser: für ihren Körper und die Chance, sich durch sie aus dem Klammergriff einer anderen zu befreien – empfunden hatte, wurden in seiner aggressiven Kälte ausgelöscht. Konsequent ging er ihr fortan aus dem Weg, ignorierte ihre Worte, behandelte er das nicht begreifende Mädchen wie eine seiner Hinwendung unwürdige Bedienstete, und wir Frauen wie auch Mister Farley, der uns für James’ scheußlich arrogantes Verhalten verantwortlich machte, waren erleichtert, als gen nächstem Abend die Droschke zum Buckingham House vor unserem Gasthaus hielt. Schwerfällig wurde sie wenige Minuten später, von denen gerade fünf Sekunden für den Abschied benötigt worden waren, der Rest für die Verstauung unseres Habs und Guts, vor allem von Elizabeths mächtiger Jupe, durch das weiße Meer in Richtung Stadt gezogen. Die Aussicht auf ein buntes Fest ermunterte niemanden von uns. Wie immer dann, wenn ich ihnen zu viel Zeit ließ, zerstreuten sich meine Gedanken, drifteten an die ungewöhnlichsten Orte meines Gedächtnisses. Inspiriert von des Admirals Ausraster, besuchten sie die staubige Kammer meiner Vergangenheit, entsannen sie sich einer Zeit vor siebenundzwanzig Jahren, die abverlangend gewesen war, so fremd und unberechenbar für mich, aber die mir Hoffnung gemacht hatte. Zum ersten Mal trat ich in ein richtiges Haus ein – und gleich so ein Enormes! – und war überwältigt von den Eindrücken gerader, kahler Wände, der Aromen nach Reinheit und Perfektion, eines kalten Lichtes. Eindrücke, die ich so weder aus meiner Heimat kannte noch aus dem Stall, in welchen ich bis dato gehaust hatte. Alles, was mir vertraut, war die verdorrte Blume, und ich umklammerte sie ungnädig wie den Faden, der mich mit dem Ausgang dieses nicht zu überblickenden Labyrinths verband, für den Fall, dass mich die Angst vor dem Neuen doch besiegen sollte. Sie hatte nicht viel Zeit, mich zu beeindrucken, denn unmittelbar nach meiner Ankunft begannen mich ein paar bittere Haushälterinnen in meine Aufgaben einzuweihen, einzuweisen. Sie konnten ihr Wissen gar nicht zu schnell auf mich abladen, als versprach ihnen das Ende meiner Ausbildung, selbst nie mehr arbeiten zu müssen, und tatsächlich sah ich sie bald danach nicht mehr wieder. Die ersten Monate jedoch waren sie um mich wie abgestumpfte Erinnyen, mich lebendig begrabend unter dem Berg der Regeln und Pflichten und Gesetze, und ich fand mich selbst wieder in rasch wechselnden emotionalen Verfassungen von Wut, Sturheit, Demut und Selbstmitleid, dass ich bald nicht mehr sagen konnte, wie ich eigentlich wirklich war. Die Herrin des Hauses, Lady Elizabeth Grace Defoe, bald Norrington, war mit meiner so bestimmt nicht kalkulierten Entwicklung überfordert und begann, an ihrer idealisierten Idee einer nichteuropäischen Amme zu zweifeln. Je stärker diese Zweifel an ihrem Vorhaben nagten, desto unwichtiger wurde ich für sie, und eines Tages fand ich mich außerhalb der Villa im Gartenhäuschen wieder. Keine Vorsätze, keine Leistungen, aber auch keine Bedeutung mehr. Es ging mir nicht elend: Ich erhielt Verpflegung, weit über die Notwendigkeit hinaus, und jemand hatte einen Angestellten beauftragt, mich mit Büchern zu versorgen, dass ich mich nicht langweilte. Im Verwenden der neuen Sprache hatten mich bereits die Haushälterinnen unterrichtet, doch erst die Fülle an Literatur berühmter Poeten und antiker Mythen eröffnete dem benachteiligten Horizont einer Weggesperrten die Chance, sich auszuweiten und zu strahlen, sichtbar und anerkannt zu werden. Selbstverständlich nahm sie sie wahr, denn niemals würde sie das Vorurteil akzeptieren, unheilbar dumm zu sein. So saugte ich die Buchstaben auf – erst stockend, bald flüssig, letztlich wie im Rutsch – las und lernte in meiner einsamen Abtei wie ein Eremit. Abend für Abend lauschte ich den ausgelassenen Veranstaltungen einer zu jungen Elizabeth innerhalb des Anwesens, ließ es dem normalen Lauf angehörig werden wie am Tage das Zwitschern der Vögel und erklärte endlich alles, was außerhalb von Bücherwelten stattfand, als nichtig. Da Hunger und Durst ärgerlicherweise nicht mehr zu ignorieren waren und ich zu eingebildet, sie zu respektieren, sie mich schließlich umwarfen und ich in meiner Jämmerlichkeit einsehen musste, dass meine Herrin mich allem Anschein nach vollkommen vergessen hatte; da ich mich also darauf einstellte, meiner geliebten Mutter zu folgen, ohne dass die Blume jemals wieder aufgeblüht war, öffnete sich die Tür zum ersten Mal seit ungezählten Tagen. Wie nahe ich mich auch der endgültigen Finsternis fühlte; auf einmal empfand ich ungläubiges Staunen. In glänzender Erscheinung stand Achilleus in der Türzarge zu meiner sehr bescheidenen Unterkunft, mit sonnenblondem Haar, eisblauen Iriden, göttlicher Statur und einem Teller Kuchen in der Hand. „Wir kennen uns nicht, werte Dame“, sprach eine tiefe, sonore Stimme zu mir Sterblichen, ohne mich die Meinung ihres Besitzers über das, was er sah, erfahren zu lassen. „Doch wir wollen aneinander vorstellen. Mein Name ist Lawrence Richard Norrington, Erster Offizier im Dienste der Flotte Seiner Majestät. Und Ihr seid…?“ Mit meiner letzten verbliebenen Kraft richtete ich mich auf, hockte zitternd und antwortete stolz: „Abda.“ Es bedeutete Knecht. „Bitte. Esst.“ Das ließ ich ihn nicht noch einmal sagen. Während ich seinem Angebot recht ungehalten nachkam, kniete er vor mir, auf meiner Höhe, und lächelte mich an. „Ich muss das Verhalten meiner Verlobten, die Euch von dem Sklavenhändler freikaufte, entschuldigen. Unsere Hochzeit steht bevor, nun, da ich zurückgekehrt bin… und auf Euch, Ms Abda, wartet eine bedeutungsschwere Aufgabe. Ich frage Euch, ob Ihr bereit seid, sich ihr mit ganzem Herzen zu verschreiben, dabei womöglich alles aufopfernd, das Euch nach der langen Zeit in Gefangenschaft unabdingbar geworden scheint.“ „Ich habe keine Wahl… Herr“, wandte ich ein. Gereizt. „Ihr versteht mich falsch. Niemals wieder sollt Ihr Euch für eine Sklavin halten, sondern Ihr werdet frei sein, Ms Abda, und alles, was Euch innerhalb unseres Hauses aufgetragen wird, ist als Arbeit zu verstehen, so wie jeder rechtschaffene Mensch arbeitet. Meine Verlobte hat manchmal eine sehr missverständliche Art, sich mitzuteilen, doch im Grunde wünscht sie ebenso wie ich, dass Euer frischer Geist Einzug in unser Domizil hält. Es ist für Euch die beste und – realistisch betrachtet – auch die einzige Möglichkeit, einen Kompromiss mit Eurem harten Los zu schließen. Auf der anderen Seite stelle ich Euch frei, unser Grundstück augenblicklich zu verlassen, ohne uns zu irgendetwas verpflichtet zu sein. Allerdings bezweifle ich ernsthaft, dass Ihr lange überleben werdet. Der Beweis Eurer Herkunft liegt in der Tönung jedes einzelnen Pigments. Ihr werdet auffallen wie ein schwarzes Schaf in der weißen Herde. Engländer mögen schwarze Wolle nicht, denn sie lässt sich schlecht färben; sie hassen sie geradezu. Nun. Überlegt es Euch.“ „Erhalte ich Lohn?“, stieß ich unhöflich hervor. Ich musste an mich selbst denken. „Freilich.“ „Wie viel?“ „Was immer Ihr braucht… sofern Ihr bescheiden bleibt wie zuvor. Pekuniär gesehen. Habt Geduld, und ich verspreche Euch, der andere Teil Eures Lohnes wird Euch mehr Mühen und Anstrengungen auszahlen als allein diese Eures Domestikendaseins.“ Mich umgab fest verschlossen die Rüstung der Skepsis. „Wie meint Ihr das?“ „Ich meine die bedeutungsschwere Aufgabe, zu welcher sie Euch ausersehen hat.“ „Welche Aufgabe?“, hakte ich nach, doch er hob nur eine einhaltende Hand zwischen uns. Erst da wurde ich mir gewahr, wie heftig und unangebracht mein Ton mittlerweile fiel. Peinlich berührt senkte sich mein Blick auf den verkrümelten Teller. Wahrlich appetitlich, der Kuchen, der vor wenigen Minuten darauf gestanden hatte. Ich hatte nicht einmal daran gedacht, meinem Herrn ein Stück davon anzubieten. Mit welchem Recht hatte ich ihn aufgegessen? „Überlegt es Euch gut“, wiederholte er sich sonderbar friedvoll, näherte seine Hand meinem Gesicht an und schob mein Kinn empor. Ich sah sodann jenes ungewöhnliche Lächeln, das seinem königlichen Antlitz kleine, ehrliche Lachfalten versetzte, und war schlagartig davon überzeugt, dass es absurd war, sich die Entscheidung überlegen zu müssen. Aus irgendeinem Grund und vor seinen Augen begann ich zu weinen. Es war gut, nicht allein sein zu müssen, als die Dämme brachen. Ich erzählte ihm alles, obwohl er mich nie dazu aufgefordert hatte, und er nahm alles so selbstverständlich in sich auf, als würden in seiner Seele Sorgen und Ängste gereinigt werden und als pure Energie zu mir zurückkehren; wie ein starker Baum, von dem man sagt, er würde die von den Menschen und den Tieren verbrauchte Luft unerschöpflich erneuern. Vielleicht habe ich ihn sogar geliebt. Doch was zählte dies noch? Lawrence Norrington war längst von uns gegangen, da wir in der Droschke nach London fuhren, und jeder von uns Vieren war irgendwie, mehr oder minder über seinen Tod hinweggekommen. Wir bemitleideten nur den einarmigen Admiral, den trotzigen und wirren Admiral, das traurige Rudiment eines Geistes, der nicht die verdiente Erlösung finden durfte, bevor Lawrences letzter Wille zumindest in die Wege geleitet worden war. James, in fescher Ausgehuniform, saß neben mir, die schlanken, in neuen, elfenbeinweißen Schuhen endenden Beine übereinandergeschlagen; eine Herausnahme, die gewisslich jeden Marinekapitän vor Empörung hätte aufschreien lassen, und schaute nachdenklich aus dem Fenster. Ich konnte nicht länger schweigen, ansonsten würde ich platzen: „Denken Sie über ihr Benehmen gegenüber Miss Farley nach?“ Er wandte sich mir zu, mit erhobenen Augenbrauen. „Wie kommen Sie darauf?“ „Finden Sie nicht, dass es… dass es vielleicht etwas inadäquat war?“ Mein Kopf hatte schon wieder Feuer gefangen. „Inadäquat?“, wiederholte er verwirrt. „Nein. Eigentlich dachte ich über meine bevorstehende Reise nach, und – zugegeben – der Gedanke, was man uns auf einer derart bedeutenden Festivität wohl servieren wird, ließ sich ebenfalls nicht aus meinem Kopf vertreiben.“ Er lächelte. Seine Lippen bildeten einen sehr schmalen Strich und streckten sich weit in die Wangen. Es wirkte falsch und ekelte mich an. Kapitel 24: I. Galante Conduite ------------------------------- Das erst kürzlich fertig gestellte Buckingham House war umgeben von dem größten Garten, den ich jemals gesehen hatte. Das Anwesen selbst war ein hehres Monument aus hellem Stein, von drei Stockwerken und zwei kleineren Dienstflügeln. Auf dem flachen Dach spähten raumgreifende Skulpturen nach den durch das Eisentor einfahrenden Besuchern. Wie schade, dass ich es nur dieses eine Mal bewundern durfte, ausgerechnet im strebsamen Winter, der die ganze Pracht der Residenz des Ersten Herzogs zu Buckingham und Normanby in den Schlaf gelullt hatte. Im Sommer musste es hier noch viel herrlicher sein. Vor den Flügeltüren wartete bereits der Admiral. Der linke Ärmel, befestigt am Revers der Uniform, verlieh seinem nicht vorhandenen Arm eine respektable Geste. „Ihr seid spät, die Suite wird gerade gespielt. Zeige – wie sieht James aus?“ Der Gemeinte präsentierte sich in bester Offiziersmanier: Steif wie ein Brett, mit den Händen hinter dem Rücken verschränkt und einem unfreundlichen Gesichtsausdruck. „Wie einer dieser behängten Tannen aus Schlesien“, beantwortete sich der Lord die eigene Frage verärgert. „Elizabeth. Hast dich wieder ausgetobt in der Wahl der Stoffe, hm?“ „Du selbst meintest, er solle nicht unter den anderen verblassen“, parierte sie kalt. „Was soll’s. Ein Weihnachtsbaum fehlt dem Herzog noch. Auf jetzt. Ihr hättet viel früher da sein sollen. Und lasst euch die Verspätung ja nicht anmerken. Lieutenant, denken Sie an das Zeremoniell.“ Er schleifte Sohn und Gattin an der einzigen Hand durch einen hohen, weiten Korridor. Alexia und ich eilten hinterher. „Zeremoniell, Sir?“ „Keine Zeit, Ihnen die Einzelheiten zu erklären. Kommen Sie. Gerade stehen. Jetzt!“ Wir waren in einen Saal angelangt, in den gewiss ein kleines Haus gepasst hätte – wenn nicht dergestalt viele Menschen mit ihren ausschweifenden Gesten und kreisrunden Reifröcken schon so viel Raum für sich beanspruchen würden. Irgendwo weit hinten, nicht zu sehen von unserer Position aus, aber deutlich zu hören, spielte ein kleines Orchester, und darüber erklang der heitere Chor gesellschaftlicher Unterhaltungen. Geschirr klirrte und blinkte blendend im herzlichen Gold des festlich geschmückten Saales, welches wiederum das verschwenderische Licht eines Kronleuchters reflektierte, der mich sofort in seinen Bann zog. Der Duft von noch dampfendem Gebäck und süßen Soßen hieß uns Willkommen, außerdem meinte ich, bereits die saftige Hauptspeise erahnen zu können. Lord Norrington führte uns an den mit allerlei Köstlichkeiten winkenden Tischen vorbei – ein Weg, auf dem es viele Personen von Rang und Namen lapidar zu begrüßen galt – und lenkte zielstrebig auf einen hochgewachsenen Mann mit humusfarbener Allonge-Perücke zu, der uns anstrahlte, als ob wir lange vermisste Familienmitglieder wären, und so förmlich mit seinem Lüster um die Wette brillierte. Ich aber fühlte mich wie das genaue Gegenteil: Schon wieder brannte mein Körper, denn es blieb von mir keineswegs unbemerkt, wie sich wahrlich alle Gäste nach mir umdrehten. Ich war ein Tier in dieser Versammlung von Galante Conduite und gehörte eingesperrt. Was hatte mich das vergessen lassen? Was hatte mich herkommen lassen. „Seine Gnaden wollen bitte nachsehen, dass wir erst jetzt gekommen sind.“ Elizabeth machte einen tiefen, aber nicht würdelosen Knicks. Dass sie sich gegen ihren freien Willen der unpraktischen Mode unterordnete, mit Robe, Panier, Blankscheit und Papilotten, Schnürbrust, Spitzenärmel und deftigem Parfum, verbildlichte nur das unechte, aufgesetzte, gunstgeile Getue von Preziosität bei Hofe, dem man sich gefälligst unterzuordnen hatte. Etikette, Protokoll, Zeremoniell oder eben Galante Conduite… Wie man es auch nennen mag: Ein schöner Klang macht noch lange keinen schönen Inhalt. Ich wollte nur noch fort, selbst nachdem sich herausstellte, dass der Herzog zu Buckingham und Normanby ein nachsichtiger, ernsthaft kultivierter Mensch war. „Meine liebe Lady Norrington, betrachtet mich als Euren Freund, ich bitte darum. Es scheint mir wie gestern zu sein, da diente ich in der Royal Navy, zu deren großen wie gleichwohl großartigen Führern heute Euer beeindruckender Gemahl zählt. Genießt die Festlichkeit, Ihr und Eure Familie… Ah! Ich sehe, sie hat Zuwachs erhalten!“ In ganz und gar liebenswürdiger Weise beugte sich der Herr des Hauses zum Jüngsten seiner Gäste hinab und küsste ihm die kleine Hand. Alexias Wangen waren bereits scharlachrot geschminkt, und doch war ich mir sicher, dass sie darunter auf natürliche Weise errötete. „Milady? Unserem Haus ist es eine unbeschreibliche Ehre, Milady hier begrüßen zu dürfen. Wenn meine Wenigkeit sich vorstellen darf? John Edmund Sheffield, Herzog zu Buckingham und Normanby und stets zu Euren Diensten.“ „Alexia!“, rief Alexia mit einem hellen Kichern, welches normalerweise nur von oder durch James evoziert werden konnte. Auch Lord Norrington schien es an eben diesen zu erinnern, denn er schob den sich im Hintergrund der vermeintlichen Unwichtigkeit aufhaltenden Jungen nun zwischen seinen Frauen nach vorne. Der Herzog erkannte ihn auf den ersten Blick. „Das ist Euer Junge, Admiral? James Norrington? Die Augen – ja, er muss es sein. Erstaunlich! Ihr wisst noch, seine Eignung habe ich niemals hinterfragt, aber ich muss doch einräumen, dass, was seine äußere Erscheinung betrifft, er eine ungeahnte Wandlung erfahren hat. Von einem Samen fällt es freilich auch schwer zu glauben, dass ihm einst ein unumstößlicher Baum entwachsen wird. Dem guten Mr Mercer jedenfalls würden alle Locken von der Perücke fliegen, sähe er Euren Sohn heute! Ich hörte, Er hat jüngst erfolgreich sein Offiziersexamen abgelegt?“ „Das ist wahr, Euer Gnaden“, bestätigte James gleichmütig. „Eine öffentliche Vorstellung, nicht wahr? Wie bedauerlich, dass ich gegenwärtig sehr an die Pflichten meines Amtes gebunden bin. Ich hätte es sehen wollen. Sein Vater und ich unterhalten noch heute eine vortreffliche Kameradschaft; da wäre ich natürlich gerne dabeigewesen, wenn der Sohn meines Freundes in den schweren Rock eines Mannes gleitet.“ „Seine Gnaden gereichen mir zu großer Ehre“, bedankte James sich trocken. „Wann wird Er England verlassen?“ „Am 30. dieses Monats, an Bord der HMS Evidence, Euer Gnaden.“ „Ich unterbreche Euch ungerne, Herzog“, stieß Admiral Norrington da in den Wortwechsel, sich dicht an den jungen Leutnant schiebend, „aber gegenwärtige Umstände drängen mich, Euch auf die angelegentliche Sache hinzuweisen.“ Verwirrung schimmerte in James’ Blick, aber der Würdenträger schien augenblicklich zu verstehen. „Ja, selbstverständlich, Ihr habt Recht. Die Zeit ist endlich gekommen – Herr im Himmel; wer hätte gedacht, dass sie so rasch verfliegt? Wir wollen die beiden nicht länger auf die Folter spannen.“ Auch Elizabeths Haltung hatte sich verändert. Am Rande der Aufmerksamkeit stehend, hatte sie ihre Hände vor dem Schoß gefaltet und zog eine konzentrierte Schnute. Etwas Zukunftsweisendes stand kurz bevor. Das Ausschlaggebende für Norringtons Beiwohnen eines derart trivialen Festes. Probe und Ernennung zum Leutnant waren eine Hälfte des Anlasses für den Aufenthalt in London. Und zu einem Rock gehörte stets auch eine Culotte. „Mary?“, rief der Herzog, sein von braunen Locken umrahmtes Haupt herumdrehend. „Mary!“ Obgleich niemand offen ausgesprochen hatte, welche "Sache" die Erwachsenen meinten und auf wen sich "die beiden" beziehen sollte, begann James zu begreifen, wandte er allein seinen Blick abwechselnd seinen Eltern zu, als ob sie ihn betrogen hätten. Gewissermaßen hatten sie das auch, indem sie über seinen Kopf hinweg jene Entscheidungen trafen, welche die seinen hätten sein sollen. Weshalb sie dermaßen vorgingen und ihn nicht einmal früh genug in Kenntnis über die schließlich sein weiteres Leben bis hin zu dessen Ende determinierenden Kompromisse und Versprechen setzten, leuchtet mir heute ein wie damals – nämlich gar nicht. Ebenso wenig, wieso ihnen anscheinend nie bewusst wurde, aus welchen Gründen James sich am 30. Dezember nicht nur vorläufig vom Heimatland absetzte, sondern im vollen Bewusstsein und auf immerdar von seiner verzweifelten Mutter und seinem zerstörten Vater. Wer weiß? Es ist denkbar, dass James Norrington diesen Entschluss längst gefasst hatte, dem goldenen Käfig zu entsagen, schon während er im Festsaal des Buckingham House stand, auf Seine Gnadens Einlösung eines zwölf Jahre alten, dahingesagten Versprechens wartete und sich auch damit abfand; die Augen starrsinnig gen Horizont richtend, wo die grenzenlose Freiheit zu finden war, Aussicht auf Ehre und nicht zuletzt auf endliche Selbstbestimmung. Stille Wasser sind tief. Selbst weit unter der Meeresoberfläche brodeln Vulkane. „Mary, mein Kind!“ An einer Stelle der langen, mit bunten Meisterwerken der Pâtisserie drapierten Tische hatte sich der Andrang gelichtet, und zwischen den zurücktretenden Fräuleins kam ein ausgesprochen weites, rosenfarbiges Seidenkleid zum Vorschein, dessen Oberkörper sich in Richtung der Backwaren lehnte. „Mary!“, tadelte der Herzog das Mädchen darin mit eindeutig gespielter Empörung. „Schon wieder Kuchen! Wenn du weiter naschst, explodiert dir inmitten dieser feinen Gesellschaft noch das Korsett!“ Ein rundes, aber keinesfalls plumpes Antlitz war uns zugewandt, in dem sich ein Paar großer Augen erwischt fühlten. Ein volllippiger Mund versuchte leidlich, den wenig bescheidenen Happen vom Kuchen zu verbergen, während die feinen Hände, welche sich ihrer Handschuhe entledigt hatten, noch nach selbigem ausgestreckt waren. Alles in einem vertrat dieses wunderbar lieblich aussehende Mädchen, was das Benehmen betraf, nicht unbedingt eine Prinzessin, wie man sie erwartet hätte. Die rehbraunen Locken der kunstvollen Frisur wippten lustig auf seinen Schultern, da es sich in eine Haltung riss, die seinem Rang angemessener war, und man konnte die wirklich auffallend zarten Hände hinter seinem Rücken eilig über die Seide fahren hören im Versuch, sich die Krümel abzustreifen. Aus den Augenwinkeln nahm ich war, wie Alexias Miene sich schon wieder verfinsterte. „Meine Tochter, Admiral Norrington: Mary Anne Frances Evelyn Sheffield.“ Bei der Erwähnung des Namens Frances sah James auf und war just gezwungen, die ihm vorgestellte junge Frau eingehend zu studieren. „Sehr erfreut, Lord Norrington!“, schnellte es aus ihr. James schien, als hätte er ein wirklich dickes Brett vor dem Kopf. Er verstand nicht vollständig, bis Elizabeth sich zu ihm neigte und lächelnd flüsterte, als wäre ihm das schon ewig bekannt gewesen: „Mary Anne Sheffield, James. Deine Verlobte. Sprich zu ihr.“ Sein Ich wollte aufschrecken, den Kopf umherwerfen, ungläubig dreinschauen und anschließend fortrennen, doch das enge männliche Mieder eines Soldaten der Englischen Marine presste es weiterhin in seine intolerante Form, gab ihm lediglich Raum, seinen Mund leicht aufklappen zu lassen, ein paar Mal zu blinzeln und die Lippen wieder zu schließen. Noch war die Käfigtür verschlossen. Und hinter ihm bohrten sich des Vaters rigorose Blicke in seinen Leib. Er schob also ein Bein vor, verneigte sich großzügig und hauchte einen Kuss auf Lady Marys Hand, ganz wie es die Etikette vorschrieb. Wenn man sich schon nicht kannte, geschweige denn liebte, sollte man wenigstens nichts unversucht lassen, dem anderen zumindest sympathisch zu sein. Immerhin würde man, ehe man sich versah, das Bett miteinander teilen. Es war nun also heraus: James sollte die Tochter des Duke of Buckingham and Normanby ehelichen, Seine Gnaden John Sheffields bis zu jenem Zeitpunkt einzigen Erben. Dass man munkelte, sie wäre ein Bastard, interessierte niemanden gravierend; Norringtons Jungen war die beste Chance zum Greifen nahe, als Schwiegersohn des Herzogs dessen wertvolle Titel für sich beanspruchen zu können, indem er sein frisches Verbundensein mit den Sheffields rasch festigte und im Eiltempo Nachkommen zeugte, bevor der Herzog es tat. Ein paar Titel mehr machten sich auch bestimmt nett in der Musterrolle. Darüberhinaus konnte ein Name ja einfach nicht lang genug sein. Ich pustete ein resigniertes Seufzen aus. „Die Freude ist ganz meinerseits, Miss“, erwiderte James ernst. Erneut neigte sich seine Mutter an sein Ohr, woraufhin er ein hektisches „M-Milady sehen übrigens bezaubernd aus. Wie… wie eine Rose, die… in diesem eisigen Winter noch… erblüht und diese graue Stadt mit ihrer Pracht… eh, beglückt“ anschloss. Nein. James’ und Marys Beziehung stand wirklich unter keinem guten Stern. „Ich danke Ihm“, sagte die Tochter des Herzogs, deren Gesicht nun tatsächlich rosiger war denn ihr Kostüm. Elizabeth stieß ihren spitzen Ellenbogen in seine Seite. „U-und es wäre eine große Ehre, wenn Milady mir später einen Tanz gewähren würden.“ „Das wäre mir ein Vergnügen“, antwortete sie mit leuchtenden Augen. „Gut… Sehr gut. Exzellent!“ Zum Glück und zur Erleichterung eines sich einschleichenden Gefühls von der Art des Fremdschämens bemerkten die beiden Väter, dass es an der Zeit war, die einander Versprochenen für das Erste zu trennen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, die Eindrücke des beziehungsweise der Künftigen zu verarbeiten, nun, da das Wichtigste zwischen ihnen geklärt worden war. Der Admiral empfahl sich beim Herzog und justierte den jungen Leutnant in eine neue Richtung. Die gesamte Familie zog es vor, ihm zu folgen, kam sie sich doch noch etwas verloren vor inmitten der Leute, die miteinander tratschten, als seien sie sich bereits seit Jahren vertraut. Die Herren fachsimpelten über Politik, Jagd, Poker und ihre Ehefrauen; eben diese tauschten Klatsch aus über Ihre Hoheit die Königin, Kunst, Männer und mich. „Elizabeth“, flüsterte ich. „Wäre es nicht besser, wenn ich außerhalb warte? Ich bezweifle ernsthaft, hier angebracht zu sein…“ Sie aber vollzog meine Bedenken nicht nach: „Ach was. Du gehörst zu unserer Familie. Ich werde gewiss nicht zulassen, dass man dich draußen zum Warten aussetzt wie einen Hund!“ Ich wollte darum bitten, doch kam nicht dazu. Im begrüßenden Abklappern der kompletten Gästeliste waren nun Lawrence Norringtons bevorzugte Personen an der Reihe, Mariner und Soldaten, welche sich nicht damit begnügen würden, dass ihr Admiral nur eilends an ihnen vorbeihuschte. Es waren zwei Herren, zwei Söhne und eine Dame. Norringtons Gattin identifizierte sie sofort: „Mrs Hardy! Welch eine Überraschung, Euch anzutreffen!“ „Lady Elizabeth! Was eine Freude! Sieh mal, William! Erinnerst du dich noch an Norringtons?“ Einer der Söhne, unverkennbar in James’ Altersgruppe, merkte auf. Er war von krausem, nussbraunem Haar, treuen Augen und einem kleinen Schmollmund. Anfangs schaute er verspannt drein, doch da er uns erkannte, lichteten sich seine Züge, was ihn dem aufgeschlossenen Jungen von damals unwahrscheinlich ähnlich machte. „Aber selbstverständlich, Mutter! Wie könnte ich Norringtons jemals vergessen? Dieser mörderische Winter damals… Die Kutschfahrt wie auf einem Erdbeben… Das verlorene Rad… Gott weiß, es stünden heute noch immer drei erfrorene Skulpturen komisch in Suffolk herum, wenn diese engelsgleiche Lady hier uns nicht aufgenommen hätte.“ Er gab der berührten Elizabeth einen Handkuss. „Admiral Lord Norrington.“ Ein mir unbekannter Mann, vermutlich William Hardys Vater, der Reeder, trat an den Seelord heran. „Ich möchte Euch meinen tiefsten Dank aussprechen dafür, dass Ihr meiner Frau und meinem Sohn Unterkunft gewährt haben. William hat Recht – wäret Ihr nicht dermaßen großmütig gewesen, es hätte womöglich ihr Ende bedeuten können…“ „Bedankt Euch bei meiner Gattin, Mister Hardy“, wies der Angesprochene allen Dank von sich. „Ich habe seinerzeit nichts getan als die Alabasterküste der Franzmänner zu bombardieren.“ „Verzeiht, Sir, Admiral, Sir, davon habe ich gelesen!“, platzte der andere junge Mann dazwischen, welchen ich ebenfalls nicht zum ersten Mal sah, mit einem Tonfall, der von gar überbordender Inbrunst war. „Die Niederschlagung Dieppes, ein brillanter Schachzug der Admiralität! Um die elfhundert Geschosse wurden abgefeuert und setzten den gesamten Hafen in Brand! Die Franzosen wussten gar nicht, wie ihnen geschah!“ „Halte dich zurück, Andrew.“ „Natürlich, Vater…“ „Admiral, Sir?“ „Captain Gillette“, entgegnete der Lord, nicht ohne Anerkennung. „Wie ist es Euch ergangen?“ Da fiel es mir ein: Captain Robert Gillette und sein Sohn, den schon damals dieses zur Strenge verkniffene Gesicht in der Farbe eines Ferkels ausgezeichnet hatte. Sicherlich durfte er seinem Namen inzwischen ebenfalls den Lieutenant voranstellen. „Bestens, Sir, ich danke der Nachfrage. Euer Sohn, nehme ich an, Sir?“ „So ist es. Lieutenant James Norrington, beordert auf die HMS Evidence.“ „Ahh“, machte Captain Gillette wissend. „Unter Captain Bennett. Ein guter Mann. Und die Evidence… Eine ehemals in französischem Dienst stehende Fregatte, nicht wahr, Sir?“ „In der Tat.” Man konnte spüren, wie der Lord, kaum in seinem Element, energetischer wurde. Oder ich wünschte mir nur, dass es so war. „Mit Steuerrad. Hebelruder sind veraltet. 70 Kanonen auf zwei Batteriedecks. Um die 150 Fuß lang und 40 Fuß breit. Dritte Klasse. Schnell, günstig, aber dennoch feuerkräftig. Sie schneidet den Wind. Alles, was mir an diesem Schiff nicht gefällt, ist die übertriebene Verzierung des Heckspiegels.“ „Wenn ich das einwenden darf, Lord Admiral“, sagte Mister Hardy mit kaum verständlichem Stimmchen, „die erhaben gestalteten Spiegel sind zuweilen groß im Kommen. Eure hochgeschätzten Kollegen der Admiralität scheinen sie den kahlen Hecks zu bevorzugen.“ „Nur Frauenzimmer finden Gefallen an diesem bunten Kitsch, der heutzutage gar nichts mehr erspart zu bleiben scheint“, brummte er. Des Reeders Miene trug etwas zwischen Unglauben und Panik zur Schau. „Verzeihung, Mylord, sollte ich mich womöglich geirrt haben, aber darf ich die vorsichtige Nachfrage stellen, ob Ihr die verehrten Admirale soeben mit Frauen gleichgesetzt…?“ „Ich bin übrigens auf die HMS Reliance bestellt worden“, warf der Offizier Andrew Gillette, der, wenn ich mich nicht täuschte, ungefähr 22 oder 23 Jahre zählen musste, stolz wie ein König in das Gespräch der alten Generation und erwartete erstauntes Aufsehen. „Schwaches Schiff“, kommentierte Admiral Norrington nebenher. „Andrew, zügle deine Pferde! Überlass mir das Sprechen, hast du verstanden?“ „Natürlich, Vater…“ „Andrew – mein Sohn – hat sich bei Málaga als fähiger Soldat und Kamerad erwiesen. Und bei Vigo profilierte er ebenfalls.“ „Unsere Schiffe waren kaum in die Ria de Vigo eingefahren, da standen sie unter dem Beschuss der Forts“, begann der junge Gillette zu berichten, als fahre er schon seit Jahrzehnten zur See hinaus. „Eine feindliche Flotte von vermutlich 30 Fahrzeugen schützte die Schatzgaleonen, zudem galt es, nahe Redondela eine Barriere zu durchbrechen. Der Befehl für die Association lautete, die kleinere nördliche Batterie zu attackieren, und obwohl wir Verluste bezogen, gelang es uns doch, dieses Ziel zu erreichen. Als Vertrauter des Kapitäns überließ er mir kurzweilig das Kommando und – was soll ich sagen? Ich habe ihn nicht enttäuscht. Seine Worte. Wie die Schlacht ausging, darüber seid Ihr gewiss bestens informiert, Sir, Admiral, Sir.“ Es lag auf der Hand, dass Vater wie Sohn Gillette auf eine schnelle Rangeserhöhung Andrews hofften. In der Tat schien mehr hinter diesem Gesicht, welches einen geradezu frappanten Kontrast zu dem Kantigen, Grauen von Lieutenant Groves darstellte, zu stecken, als man annehmen mochte, mehr noch als nur die Eigenschaft, viel auf sich selbst zu halten, schließlich waren die zur Sprache gebrachten Schlachten zwei ziemlich Bedeutende im Verlauf des spanischen Krieges und sicherlich keine Feuerübungen gewesen. Aber Lawrence Norrington stand doch, nach meinem Wissensstand, beim Marinerat in Misskredit. Wozu wandten sie sich an ihn? Er würde den gewünschten Amtsaufstieg kaum bewirken können. Oder doch…? „Von Ihrem Einsatz bin ich tatsächlich bereits unterrichtet worden, Lieutenant…“, bestätigte er gestreckt, als denke er bereits über Gillettes weiteren Werdegang nach. Dessen Vater war ihm stets ein verlässlicher Kapitän gewesen. Um einiges später würde ich erfahren, dass er sich tatsächlich für die Beförderung einsetzte, sie allerdings nicht durchbringen konnte. Eben da sein Ansehen und sein Einfluss innerhalb der höchsten Etage der Englischen Marine genauso verkümmert war wie nun sein Körper, seine Seele. Hinter seinem Rücken spottete man ja schon über ihn. Und so würde Lawrences heimlicher kleiner Dank an seinen Freund Robert die Empfänger niemals erreichen und unbemerkt mit dem armen, alten Mann in seiner längst angelegten Grabstätte verschwinden. „He, James!“ Der Gemeinte wandte sich ab von dem fachmännischen Diskurs der alten wie jungen Seeleute, um in Erfahrung zu bringen, wessen maskuline Stimme sich erdreistete, den Lieutenant sowie das Norrington zu vergessen, und wurde kurzerhand von William Hardys Arm in die Mangel genommen, der sich als unerwartet stark herausstellte. „Du machst den Eindruck, als würde dir ein Furz quersitzen! Also scheint bei dir ja alles senkrecht zu sein, hm? Freut mich!“ „Achten Sie auf Ihre Wortwahl“, zischte James, der von diesem alten Bekannten bereits genug hatte, seit er wusste, wer er war. „Das hier ist keiner jener Orte, an denen grobe Menschen wie Sie sich normalerweise aufhalten.“ „Jaaa~, ich war auch ganz in Sorge um dich in all den Jahren… Komm! Ich denke, wir beide haben uns einiges zu erzählen!“ Mit dem Arm um die hageren Schultern des Leutnants spazierte der Sechzehnjährige davon. Ich wog ab, ob ich ihnen folgen sollte oder lieber bei Elizabeth und Misses Hardy bleiben, in deren Kreise ich mich unbetasteter von den Blicken der anderen Gäste fühlte, doch letztlich siegte das Interesse an dem, was Will in der Zwischenzeit widerfahren war. Neugierde war seit jeher eine Schwäche von mir gewesen. „Er… er wird doch nicht vor mir befördert, Vater, oder?“, hörte ich Andrew Gillette ein wenig erschrocken dem Kapitän zuflüstern, als ich mich bei Elizabeth empfahl. Kapitel 25: I. Mouches und Desserts ----------------------------------- Als Erstes stibitzte William Hardy zwei Gläser Bordeaux und bestand darauf, dass sie auf ihre Freundschaft anstießen. James schien schließlich doch einzulenken. Vielleicht dachte er sich auch, dass, wenn er das nötigste Gerede zügig hinter sich brachte, umso schneller zurück zu seinem Vater kehren konnte. „Wenn ich mich recht erinnere, wolltest du doch Soldat werden. Was ist aus deinem Plan geworden?“ „Funktioniert. Niemand hielt mich damals auf, und heute bin ich Lieutenant. Obwohl man mich viel lieber in der Navy gesehen hätte, wie dich.“ „Dein Vater?“ James hob zwar die Augenbrauen, schien aber nicht wirklich anteilig zu sein. Will ließ die Schultern zucken. „So jedenfalls interpretiere ich die Verwirrung des Colonels, als ich fröhlich grinsender und um 200 Pfund leichterer Ensign mich bei ihm vorstellte. Die Army scheint es dieser Tage nicht gewohnt zu sein, Zuwachs zu bekommen.“ „Natürlich nicht“, antwortete James. „Im Gegensatz zu Frankreich, Spanien, dem römischen Reich und vielen weiteren Staaten liegt und herrscht England nahezu allein auf dieser Insel, sodass der einzige Weg, uns anzugreifen, über Wasser führt, dem Verantwortungsbereich der Royal Navy. Innenpolitisch ist die Army lediglich für kleine Bürgeraufstände zu gebrauchen sowie für die Rebellionen der schottischen Clans, aber weder vom einen noch vom anderen geht eine wirkliche Gefahr aus, nachdem Schottland durch Darién und schließlich den Alien Act ruiniert wurde und auf Englands Hilfsbereitschaft angewiesen ist. Alle angehenden Soldaten sehen ihre Zukunft zuweilen in den englischen Kolonien oder im spanischen Krieg, und beides erreicht man ausschließlich per Schiff, wo die Qualifikation eines Mannes noch über dem Gewicht seines Geldbeutels gehandelt wird. Entschuldige, dir das sagen zu müssen, aber deine Entscheidung für die Streitkräfte zu Lande war abenteuerlich.“ „Ich bin zufrieden!“, verteidigte sich Will beleidigt. „Auf Schiffen wird mir immer übel.“ Dann machte er sich daran, ihnen nachzuschenken. „Mir wird übel, wenn ich an die Kosten denke, die das stehende Heer verursacht“, erwähnte James leise und setzte das Glas an die Lippen. „Monate auf so einer Holzkiste! Nein, das würde ich nicht aushalten. Und die Weiber! Wenn ich mal Abhilfe brauche, dann rase ich einfach ins nächstgelegene Dorf und schnappe mir eine, aber was macht ihr denn? Oder nehmt ihr euch Weiber mit auf das Boot? Sag bloß!“ „Diese Abhilfe, von der du sprichst, ist nichts weiter als eine Schwäche, die es auszumerzen gilt. Es zählt zu den frühesten Lektionen eines Angehörigen der Navy, über den Genuss der Gesellschaft einer Dame hinwegzukommen.“ Will klappte die Kinnlade hinunter. „Ihr treibt es untereinander?!“ James verschluckte sich am Wein; Will aber, da er verstanden hatte, warum, lachte genau wie damals. „Na ja“, gluckste er, sobald der erste Schwall unschuldiger Vergnügung vorübergezogen war. „Das ist es jedenfalls, was man so hört.“ „Alles Gerüchte und sie entsprechen nicht der Wahrheit!“, beeilte sich Norringtons Sohn klarzustellen und versuchte, mit reibenden Handbewegungen den roten Fleck aus seinem leuchtend weißen Ärmel zu scheuchen. Vergeblich. „Wenn du das sagst…? Aber halte mir trotzdem deinen After warm und feucht – ja? – wenn wir uns mal wiedersehen.“ Erneut prustete James aus, musste Will aus tiefster Seele lachen. „Ich liebe diesen geschockten Gesichtsausdruck, den du machst, Jimmy, wann immer ich so prägnant werde!“, hechelte er, bereits mit Tränen in den Augenwinkeln. Sein Gelächter hatte entrüstete, aber auch neugierige Blicke auf sich gezogen. Dieser Junge besaß ganz ohne Frage eine einzigartige Ausstrahlung. „Das Erste Mal werde ich mir für die wahre Liebe aufheben“, versicherte James ihm würdevoll, und ich stellte mir die Frage, ob er das auch ohne Alkohol im Blut je ausgesprochen hätte. Zumal es eine Lüge war. „Aber ist das denn nicht etwas zu riskant?“, wandte Will ein, dessen Mund sich offenbar zu einem Dauergrinsen verrenkt hatte. „Mit 60 wirst du kaum noch Manneskraft genug haben, um ein Weib glücklich zu machen.“ „Anders als dir ist mir bereits eine Verlobung angehängt worden.“ Die Entgegnung war getränkt von Bitterkeit, aber der junge Gardist überhörte sie, nahm schwungvoll den letzten Schluck aus seinem Glas, warf seinem Freund den Arm um die Schultern und hielt nach der Bordeaux-Flasche Ausschau, die zwischenzeitlich von einem dienenden Mohren abtransportiert worden war. „Wenn es hier nicht so gut und gratis zu speisen gäbe, hätte ich dich jetzt in ein Freudenhaus entführt. Weißt du, James? Es gehört zum natürlichen Verlauf des Erwachsenwerdens jedes Mannes, dass sich irgendwann, eines stillen Nachts, ein winziger Teil deines Gehirns abspaltet, durch den Kopf geschleudert wird, durch deinen Körper und am Ende vorne zwischen deinen Hüftknochen landet, nach dieser rasanten Abfahrt erst einmal in dein Bett bricht, sich aber schließlich gut einlebt und ab diesem Moment manchmal zu dir spricht. Wenn also einst eine Frau zu dir sagt, du würdest ja nur mit dem Schwanz denken, dann weißt du, dass du erwachsen geworden bist…“ „Welch lächerlicher Unfug“, schnaubte James. „Du wirst mir nicht erzählen können, dass es dir nicht auch schon einmal passiert ist.“ „Ich denke nicht, dass dieses Thema hierher gehört.“ „Ach nein? Dann sieh dich doch um!“ „Auf was wartest du, das ich dort erblicke, damit du dein Fehlverhalten rechtfertigen kannst?“ Der junge Mann aus der Gentry, dem Landadel, schob ihre beiden Köpfe dicht aneinander, senkte den seinen tiefer in Richtung der Brust und hob einen weit ausgestreckten Zeigefinger. Dieser wackelte ein wenig, fand jedoch sein Ziel. Von meinem Standpunkt aus konnte ich nicht erkennen, worauf er deutete. Es schien mir, als würde er völlig willkürlich in die Mengen von Gästen weisen, welche sich zusammenfanden, trennten, neu bildeten und wieder auseinandergingen. Elizabeth hielt nach wie vor ein Schwätzchen mit Misses Hardy, die Gillettes waren vom Gastgeber, dem Herzog, konfrontiert worden und Mister Hardy wanderte auf einen Tisch mit Kuchen und Torten zu, die den Eindruck machten, als hätte es über ihnen tagelang Obst, Schokolade, Mandelmasse, Sahne und weitere Lagen Teig geschneit. Alexia trippelte neben der Rockkuppel ihrer Mutter auf der Stelle, stampfte mit ihren winzigen Absatzschuhen auf das Parkett und blieb ignoriert. „Siehst du jene junge Dame dort in dem himmelblauen Kleid, mit den roten Absätzen und dem tiefen Ausschnitt?“ „Ich sehe die junge Dame in dem himmelblauen Kleid mit den roten Absätzen, ja…“ „Sie ist vergeben.“ James betrachtete ihn, als habe er sich ihm soeben als das Orakel von Delphi entlarvt. Wieder schwenkte der Hardy-Finger herum. „Und diese da? In Giftgrün, mit dem zerknautschten Gesicht?“ „Noch nicht vergeben…?“, riet er lustlos und ein wenig verärgert. „Sie würde ohne Umschweife alle Hüllen fallen lassen“, gab Will die Lösung preis und erfreute sich über James’ zu Schlitzen verengte Augen. „Das weißt du, indem du sie anschaust? Oder möchtest du mir sagen, dass du mit all diesen Damen bereits einmal dein Vergnügen hattest?“ „Schau doch genauer hin! Mouches!“ Ein gewisses Aufmerken überwältigte die Züge meines Schützlings, das sich nur zeigte, wenn man ihm Englische Creme in Aussicht stellte. Allerdings stieß er es im Sekundenbruchteil wieder von dannen. „Hast du dich nicht gefragt, weshalb auf diesem Ball förmlich jede Frau mindestens ein Muttermal im Gesicht hat? Das sind Pflaster! Die kleben sie sich auf, um versteckte Botschaften zu übermitteln! "Bringe mich zum Lachen", "Versuche, mich zu küssen", "Behandle mich wie eine Königin und ich überlege es mir mit dir"… Ein lustige Koketterie in der Öde des Adels!“ „Verstehe“, antwortete James leise. „Welches muss ich mir aufkleben, das "Verschone mich mit deinem wertlosen Wissen" bedeutet?“ Der freche Frauenheld grunzte. „Ich sah nie einen Mann, der ein mouche trug. Die Damenwelt versucht, durch den schwarzen Punkt im Gesicht einen deutlichen Kontrast zur hellen Haut darzustellen. Eure Sklavin jedoch hätte dafür gar keine Verwendung.“ Plötzlich zuckte ich zusammen, als habe mich ein ellenlanger Dorn aus Eis durchbohrt. William Hardy sah zu mir und lächelte, nicht aber mich an. Ich ging nicht davon aus, dass er sich über mein Lauschen bewusst war. „Unsere Sklavin?“, fragte James. „Ja“, gab er zurück, auf einmal selbst nicht weniger verdutzt. „Abda heißt sie doch, oder?“ „Sie ist Gouvernante im Hause meiner Familie“, korrigierte er ihn streng. „Wie kommst du darauf? Sie ist ein Neger! Sie hat doch gar nicht die Ausbildung und das Wissen einer Gouvernante!“ Er grinste. „Oder schämst du dich etwa, zuzugeben, dass deine Familie Sklaven unterhält?“ „Wir unterhalten keine… Sklaven.“ „Dafür bezahlen wir die Neger doch“, wunderte sich Will, doch da hatte mein Junge bereits das Glas geleert, es ihm in die Hand gezwungen und das Gespräch damit beendet. Ich musste mich setzen. Mit solch einer Aussage hatte ich niemals gerechnet, nicht von William Hardy. Wieso ergriff sie mich so? Wieso ließ sie in mir die Tränen aufsteigen? Lange hatte ich mich mit meiner Stellung im fortschrittlichen England abgefunden. Es war nur normal, dass der lebenslustige, unterhaltsame Bube in mir nichts weiter als eine Sklavin sah. Abda… Knecht. Stolz hatte ich mich der Familie Norrington mit diesem Namen vorgestellt. Stets hatte ich alle wissen lassen wollen, wer ich war und was, woher ich kam… Wieso fiel es mir nun so schwer zu akzeptieren, dass es auch für einen derart couragierten und aufrichtigen jungen Mann nichts Ungerechtes hatte, einen schwarzen Menschen mit einem Sklaven gleichzusetzen? Nein. Ich hatte mich nie mit meiner Stellung abgefunden. Es war der Umgang der Norringtons, der mich verwöhnt hatte. Keinem anderen meiner Rasse wurde nur eine ähnlich freundliche Behandlung zuteil. Sie litten. Meine Anverwandten, meine Brüder, meine Schwestern, meinesgleichen müssen leiden. Und ich spioniere hier auf einem Ball des Herzogs zu Buckingham und Normanby, umgeben von himmlischen Düften und Klängen meinem Amming nach und entsetze mich über die scharfen Blicke und Worte der Gesellschaft, die nicht einmal in erster Linie mir gelten. Da ich James das nächste Mal traf, stand er unentschlossen vor einem der Tische und ließ den Blick über dessen gesamte Länge schweifen. Um ihn wuselte ein nervöser Aufwärter mit antrainiertem Lächeln herum, faselte enervierend ausgiebig über jede einzelne Zutat der sich ständig dezimierenden süßen Köstlichkeiten, ohne dass jemand ihn gefragt hätte, und bedrängte den jungen Herrn, doch endlich zuzulangen: „...Oder hier: Diese niedlichen Esel, Ochsen und Ziegen sind ganz aus Marzipan geformt, einem gar exotischen Erlebnis aus karamellisierten, dann abgerösteten Mandeln mit Zucker und Rosenwasser! Sie schmeicheln den Geschmackssinnen von der Zunge über den Gaumen bis in den Rachen. Nicht zu verachten sind auch diese Delikatessen: Lasst Euch verführen von der unmoralischen Übereinkunft saurer Kirschen und Trauben mit heißer, schmelzender Schokolade – ihr Bad in dem Eurem Gesellschaftsstand vorbehaltenen, undenkbar teuren Likör wird Euch den Verzehr nur noch versüßen! Und was das hier anbelangt, so mögen auf dem Ozean die Franzosen unsere Feinde sein; was sie allerdings ihrem Sonnenkönig an Konfekt darbieten, dem sollte sich auch Ihre Majestät nicht zu schade sein, meiner Meinung nach. Zum Beispiel diese mit Schokolade ummantelten Praslins aus Nüssen und Nougat oder kennt Ihr bereits die Calissons? Zwischen ihrer feinen Zuckerschicht überrascht eine traumhafte Harmonie von Bittermandelmasse und unaufdringlicher, aber erfrischender Nuance von kandierten Früchten! Vorzüglich, sage ich Euch, einmalig vorzüglich! Solltet Ihr jedoch die süßen Sünden unseres lieben Vaterlandes bevorzugen, so haben wir hier einfache Crumpets mit aber einer raffinierten Soße aus Milch, Zucker und Vanille, die für Stunden gekocht werden muss, jede Minute davon allerdings durchaus wert ist! Zweifelt ruhig an meinen Worten und probiert nur! Makronen, Trüffel, Toffee, Lebkuchen, gezuckertes Obst und Türkischer Honig; wir haben alles da, was den Mund so richtig schön verklebt! Und habt Ihr die Zähne dann erst einmal überbeansprucht – hier: Buntes, fruchtiges Eis! Ein wahres Geheimnis dieses Hauses! Seine Vielfalt an kalten, nichtsdestotrotz saftigen Aromen wird Euch den Winter lieben lassen! Die noch warmen Waffeln besänftigen die Kühle des Eises, wenn sie Euch zu bezwingen droht. Greift zu, Sir, solange es noch zu haben ist! Der Herzog setzt bereits zum Befehl an, die Hauptspeisen zu servieren! Und ist Euch bereits unser Custard aufgefallen? Nichts Ungewöhnliches, mögt Ihr vielleicht denken, doch mit Verlaub: Ihr irrt! Zunächst verrühre man Eigelb und Zucker mit kräftiger Hand, dann gebe man dem die Milch hinzu. In Wasser wird sie abgeschlagen, bis sie ihre berühmte Konsistenz erhält. Man muss viel Feingefühl aufbringen, damit sie gelingt. Eine Delikatesse wie eine gute Dame, anspruchsvoll und betörend – fürwahr – ich spreche aus eigener, unbereuter Erfahrung! Unsere Englische Creme wird nach einem seit Generationen über Generationen in der Familie des Herzogs überlieferten Rezept hergestellt! Durch Vanille und Honig verfeinert, mit Kirschen und besonders viel Zucker! Kostet nur, lasst Euch das nicht entgehen! Rasch!“ Ich beschloss, James mit seinen Süßigkeiten allein zu lassen. Unter dem Druck schwermütiger Gedanken, welche weder den Ball, seine Verlobung noch die mich ansonsten verzückende Christnacht beinhalteten, schlich ich zurück zu Elizabeth, die momentan all ihre Kraft aufbringen musste, um Alexia zu beruhigen, ihr die Hand auf den erdbeerroten Mund zu drücken, damit sie nicht aus vollem Halse quengeln konnte. „Sie möchte nach Hause“, erklärte sie mir und krümmte sich verhalten unter einem Schlag des Kinderfäustchens, der eine ungeahnte Wucht entwickeln konnte, welche die Göre gewiss aus denselben Anlagen bezog wie auch das goldene Haar und die hellen Augen. Und die stetige Unruhe. Wir mussten mit ihr kämpfen, bis das Orchester ein Menuett anstimmte, die Tische zu den Seiten von ihren zuckerüberladenen Gerichten befreit wurden und sich die Paare zusammenfanden. „Ich tanze mit Jamie!“, rief sie da nämlich, tauschte ihr Dämonengesicht schnurstracks mit dem eines Engels aus und brauste davon. „Der sollte nun eigentlich mit der Tochter des Herzogs tanzen“, murmelte Elizabeth. „Wo hält er sich überhaupt auf? Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen.“ Da erschien der Admiral in dem sich auflösenden Gemenge von Kleidern und Köpfen wie zwischen einem sich teilenden Meer, die Schöße der gewichtigen Uniform schleppten sich träge und mit geneigtem Hochmut zu seinen Flanken, wie das Kielwasser einem Schiff folgte, und fuhr den Hafen seiner Heimat an, den Hafen seiner Ruhe, seines Loslassenkönnens. Könnens, wenn er nur gewollt hätte. Elizabeth Grace Norrington hätte ihre Arme ausgestreckt und ihn aufgefangen, jederzeit, ungeachtet allem anderen; sie wäre auch jetzt noch dazu bereit gewesen, aber Lawrence würde bis zum Schluss von Stolz und Angst in andere Richtungen geweht werden, wieder und wieder auf den unüberschaubar großen, unvorstellbar tiefen Ozean hinaus, weit, sehr weit weg von ihr. Keine Blumen würden auf seinem Grab wachsen können, doch sie würde ihm immer wieder so nahe kommen, wie sie nur konnte, würde am Rande des Hafens stehen und jedes Mal eine Blume auf die abweisende Wasseroberfläche werfen, auch wenn sie ihn niemals erreichen würde, so wie zu seinen Lebzeiten ihn zu erreichen schon nichts imstande war. Sie war sich dessen gewahr, umso stärker war ihr Glück über jede zärtliche Geste, welche ihr dieser unantastbare Halbgott zukommen ließ. Er fragte nicht – ein Admiral musste nicht fragen – nahm mit seiner einzigen, lädierten Hand die ihre und führte die Überwältigte in die Mitte von allen Paaren, wo sie zwei Schwäne in der Schar grauer Tauben waren. Ihnen nachsehend, wünschte ich mir, wünschte ich mir wirklich, betete ich beinahe, dass alles wie früher werden konnte… und nie enden müsste. Gleichzeitig war ich im vollen Bewusstsein darüber, dass es nichts weiter als Träumerei war, der ich nachgeben wollte. Wir können die Zeit nicht aufhalten. Alles geht irgendwann zu Ende und findet vielleicht seinen Frieden. Wann wird es mir gelingen, nicht mehr über das zu weinen, was wir nicht halten können, sondern anzufangen, meine Freude zu genießen über das, was uns erhalten bleibt? „Ms Abda?“ Müde schaute ich herum. Will Hardy stand da, mit seinem losgelösten Lächeln und den freundlichen Augen. Justament entsann ich mich seiner diskriminierenden Worte, und möglicherweise hätte ich mich abwenden sollen, doch ich tat es nicht. Stattdessen erwiderte ich seinen Blick – ausdruckslos, denke ich – und war unfähig, mir die Hoffnung eines Menschen einzugestehen, der partout nicht ausgeschlossen werden will, aber auch, sie abzustreiten. Ich stellte mir vor, es sei vielleicht ein Missverständnis gewesen, ich hätte mich verhört oder sonst irgendetwas sei schuld daran, dass ich zu Unrecht der Annahme war, William Hardy erachtete mich als wertlose Arbeitskraft, nicht als Individuum. Aber ich konnte es mir nicht einreden. „Auf!“, sagte er, und nichts mehr wies auf seine Ansicht gegenüber Farbigen hin. „Lass uns tanzen!“ Es war meinem traurigen Geist nicht möglich, die Bedeutung seiner Worte gleich zu ergründen. Er hingegen nutzte eben diesen Augenblick schamlos aus, packte meine Hand und zerrte mich in das Schweben von bunten Stoffen um Lawrence und Elizabeth Norrington. Ich konnte nicht, was er von mir verlangte, und führte ihm dies auch gleich eindrucksvoll vor, doch er machte mein nicht vorhandenes Talent mit seinem genialen Können wett wie ein Kissen, das einen Sturz abfederte. Wir tanzten kein Menuett; er drehte mich nur im Kreise, bis ich es nicht länger vollbrachte, auf beiden Füßen sicher stehen zu können, fing mich in seinen widerstandsfähigen Armen auf und wirbelte mich nochmals herum. Ich bemerkte nicht, wie er mich von der einen Seite des Saales zur anderen tanzte, aber einmal, da er mein unbeholfenes Taumeln beendete, wurde ich für die Dauer von einer Sekunde zufriedener Zeuge, dass sich Miss Farleys Unterrichtsstunden in der Küche gelohnt hatten. Will drückte mich versteiften Elefanten an die Wand, dass ich nicht umfiel, und versuchte herauszufinden, wen oder was mein Blick betraf. „Dein Herr wird dich nicht gesehen haben“, wollte er mich besänftigen, ihn falsch deutend. „Der hängt mit all seinen Sinnen an deiner Herrin. Ich sehe ihn heute zum ersten Mal in Fleisch und Blut, doch für so liebevoll hätte ich ihn, wenn ich an die imposanten Gemälde von ihm denke, gar nicht gehalten.“ An einer Stelle stießen einige Tänzer einen hohen Laut aus, was mich in meiner Suche nach James stutzen ließ. Sie stoben auseinander wie erschreckte Vögel, während der Großteil der über das Parkett fegenden Paare, davon unbeeindruckt, weiterhin zur Musik glänzte, und gaben mir ziemlich enge Spalten zum Spähen frei. Auf sehr merkwürdige Weise hielt dort Lady Mary James an seinen Armen aufrecht. Die Tochter des Gastgebers, welche, wie ich nebenbei feststellte, einen Schönheitsfleck auf ihrer linken Wange trug, machte ein bemitleidenswertes Gesicht. „Er ist nur gestolpert! Es ist alles in Ordnung! Ihr mögt bitte weitertanzen, er ist nur gestolpert!“ Gerade wollte ich losrennen, weil mir war, als lehnte er seltsam andauernd gegen ihre Hände, da stieß er in die Senkrechte, putzte seinen Rock oberflächlich und räusperte sich, ehe er darauf bestand, das Menuett fortzuführen, obwohl seiner jungen Dame das große Fragezeichen deutlich abzulesen war. Neben mir flatterten schallend Wills Lachmuskeln wie die Flügel eines Kolibris. „Über die eigenen Füße! Entweder sind ihm die Schuhe zu groß oder ich hätte ihm vorhin nicht so viel Wein einschenken sollen!“ Ein furchtsamer Blick in die Richtung der Eheleute Norrington tröstete mich damit, dass niemand von beiden den Zwischenfall zur Notiz genommen hatte. James blieb noch für zwei weitere Musikeinlagen auf der Tanzfläche. Das nächste Mal beanspruchte ihn natürlich Alexia, welche zuhause zwar Unterricht nicht allein im Menuett genoss, heute jedoch wenig auf die vielen Lektionen achtete und im Zusammensein mit ihrem Bruder lieber das sich frei entfaltende Kind gab, das sie im Allgemeinen war. Elizabeth hob eine Braue. Ihr gefiel nicht, was sie dort sah. Ihr Gatte hatte sie stehen lassen für einen kollegialen Meinungsaustausch mit dem Herzog zu Buckingham und Normanby. Ganz plötzlich. So, als gäbe es nichts Existenzielleres auf der Welt denn die Seeschlacht von Solebay. „Meinst du“, fragte sie in meine Richtung, „er würde seine alte Mutter auch einmal bitten?“ „Ich denke nicht, dass er auf diesen Gedanken kommt.“ „Ist er dermaßen abwegig?“ „Sagen wir: Er ist nicht gerade einleuchtend.“ „James wird uns in wenigen Tagen verlassen und denkt nicht einmal daran, seiner eigenen Mutter den Abschied zu erleichtern. Habe ich denn überhaupt keine Rolle in seinem bisherigen Leben gespielt?“ „Elizabeth… Erlaube mir die Frage, aber… Bist du etwa eifersüchtig auf deine Tochter?“ Schon zornig durchstieß sie meinen stöbernden Blick. „Auf Alexia? Bestimmt nicht!“ „Auf wen dann…?“, fragte ich sehr sorgsam, als würde ich es mit einer gewissenlosen Mörderin zu tun haben. Ihre Pupillen flackerten. Sie biss sich auf die Unterlippe. Für einen Moment glaubte ich, sie würde es nun endlich einräumen. Ich wollte die Gelegenheit greifen, wollte sie ermutigen, herauszurücken mit der Wahrheit. Vor mir hätte sie nichts zu befürchten. Sie wusste, ich würde sie niemals als schlechte Mutter bezeichnen, nicht deshalb. Nur – sage es, Elizabeth! Bestätige, was ich zu wissen glaube. Ich werde dir helfen. Und er wird verzeihen, wenn du es zugibst. „Ich habe Appetit“, sagte sie auf einmal und schulterte den dicken, schweren Mantel des Schweigens. „Die Reichhalt der Auswahl wird deine Entscheidung nicht leicht machen“, erwiderte ich eintönig und war komisch beruhigt, dass sie das Thema gewechselt hatte. „Aber er sieht wirklich wie sein Vater aus“, versetzte Elizabeth verbohrt, gestattete mir jedoch keinen Raum zum darauf Eingehen. Damit endete auch dieses musikalische Stück, aber die tanzfreudigen Leute baten sofort nach dem nächsten. Die Paare dezimierten sich ein weiteres Mal in der Zahl, was uns ermöglichte, wieder bis zu den gegenüberliegenden Tischen sehen zu können. Von dort aus stach jemand gleich in Elizabeths Auge. Mich behandelnd, als sei ich nicht einmal mehr vorhanden, huschte sie um die Bühne herum. Ich folgte ihr nur mit dem Blick und endete bei dem Antlitz einer Frau, die ich kannte. Es war Lady Amalia Swann, Elizabeths Freundin seit Kindertagen, so engelsgleich noch wie vor fünf Jahren. Neben ihr ein Mann unter dunkler Allonge-Perücke wie der Herzog. Sein Blick galt den Tanzenden. Da er sich selbst einmal mit einem bestickten Taschentuch über Stirn und Wangen tupfte, hatten er und die karamellblonde Schönheit neben ihm sich wohl ebenfalls bereits ein Stelldichein gegeben. Mir fiel auf, dass er an James haftete, der nun seinen dritten Tanz bestritt – seinen zweiten an diesem Abend, schenkte man der Beurteilung Zustimmung, dass Alexias von Kicherschüben begleitetes Ringelreihen ihm eher die Chance gegeben hatte, sich von seinem komplizierten ersten zu erholen – an der Seite eines Mädchens, das nicht älter sein konnte als seine Schwester, aber mit wesentlich mehr Seriosität über die eigenen wie auch auf die Schritte ihres Partners wachte: „Du tretest mir auf das Kleid, James!“ „O-oh! Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Miss Swann.“ Lady Amalia auf der anderen Seite des Saales strahlte goldig zu mir hinüber und winkte mir zu. Die endliche Freundlichkeit eines Mensches hier mir gegenüber bewog mich ohne Umschweife, ihrer Einladung zu folgen, mich ringsum der Tanzfläche an den Gästen vorbeizuschieben und zu meiner Familie zu gesellen. Während der Mann an ihrer Seite verblüfft den Kopf reckte, trat Lady Amalia gleich vor, nahm meine beiden Hände und drückte sie beherzt. „Wie schön, Sie wiederzusehen, Ms Abda!“ „Ich freue mich ebenfalls, Mylady.“ Sie machte den Schritt wieder rückwärts und deutete auf den Herrn unter der Allonge-Perücke. Erst jetzt musterte ich ihn genauer. Er hatte friedvolle, unauffällige, von vielen winzigen Fältchen umrahmte Augen, kleine, breite Brauen und eine runde Nase. Nachdem er eingangs definitiv nicht mit meiner Hautfarbe gerechnet hatte, formte sein Mund nun ein schmales Lächeln, und er nickte mir zu. „Das ist mein Gatte, Weatherby. Weatherby? Dies ist Abda, das Kindermädchen von James und Alexia.“ Ich erwiderte es, beugte mich jedoch tiefer, schließlich hatte ich einen Lord vor mir stehen. Zwar hatte er nie im Heer oder in der Marine gedient, doch vor fünf Jahren lobte Elizabeth die herausragenden kommunikativen und administrativen Fähigkeiten des Mannes ihrer Freundin. Es würde sich herausstellen, dass Lord Weatherby Swann einer Gattung Mensch – und Führer – angliederte, die in jener Zeit sehr selten geworden war. „Dieser James…“, erkundigte er sich, seiner Angetrauten hingewandt. „Ist das etwa der junge, dunkelhaarige Mann, der, seit er in London zugegen ist, in unseren Kreisen von sich reden macht, des Nachts seine Runden zu ziehen am Ufer der Themse und jedes Mal einem anderen Mädchen dort einen Kuss zu stehlen?“ Elizabeth und ich starrten uns geschockt an. Lady Amalia lachte. „Nicht doch, Weatherby! Zwar ist auch von ihm zu hören, dass er manch unseltene Nacht nahe der Themse anzutreffen ist, doch der James, von dem wir sprechen – James Norrington – das ist der junge Mann, der zuweilen mit unserer Tochter tanzt.“ Lord Swann warf den Kopf herum, dass die schwarzbraunen Locken mir buchstäblich um ein Haar gegen das Gesicht schlugen. „Ah!“, machte er, und aus der Stimme sprach ein väterliches Lächeln. „Nun sehe ich ihn! Sonderbar! Ich nahm an, dieser junge Herr sei ein wenig bekannter Snob aus London. Für einen Befehlshaber und Soldaten ist er von einem ausgesprochen weichen Antlitz, und für den Erben des berüchtigten Admiral Norrington scheint er mir ein gutes Stück ungeschickt zu sein. Oder ist das heute so Brauch, dass die Männer der Navy nicht tanzen können?“ „Ich finde, er hält sich wacker“, gab Lady Amalia ihre Meinung kund. „Unsere kleine Liz kann schwierig werden, wenn es um das Tanzen geht. Sie ist sehr streng mit ihren Partnern und duldet keinerlei Fehltritte. Sieh nur, wie er sie um Entschuldigung bittet! Sie scheint ihn fest im Griff zu haben.“ „Eine Tochter?“, warf ich ein. „Mylady, das ist ja fantastisch, wenn ich so offen sein darf! Lady Elizabeth hat mich damals sofort in Kunde gesetzt, als die Nachricht von Euch kam. Auch sie war damals guter Hoffnung gewesen. Was ein überraschender Zufall, nicht wahr? Ich freue mich für Euch, Mylady, diese kurze Dame sieht schon so hübsch aus!“ Lord Swann räusperte sich laut. „Sie kann noch viel hübscher sein, wenn sie nicht derart ärgerlich dreinschauen würde“, überlegte sie mit Blick auf die Tanzenden. In dem Moment brach James ab. Was sie sprachen, konnte ich nicht verstehen, aber ich sah, dass er auf eine Frage des Mädchens den Kopf schüttelte und sich danach am nächstgelegenen Rand niedersetzte. Mich überkam der Drang, nach ihm zu schauen, doch da war sein Vater längst unterwegs. Diesem schien es nur recht zu sein, dass er für den heutigen Abend offensichtlich genug von dem Herumgehüpfe hatte, schließlich hatte er es bisher versäumt, sich dem Lord und der Lady aus London vorzustellen. Ohne die kleine Elizabeth Sophia kamen sie an uns heran. „Lord Swann?“ Lawrence Norrington neigte das Haupt. „Aaah, Admiral, da seid Ihr ja!“ Lord Swann gab sein Bestes, um die natürliche Freundlichkeit aufrechtzuerhalten, und dennoch war es nicht zu übersehen, dass ihm in der Gesellschaft der mächtigen Gestalt überaus unwohl war. Ich bemerkte gar einzelne Schweißperlen auf seiner Nase. Auch James machte keinen glücklichen Eindruck. „Lieutenant James Norrington?“, fragte Lady Amalias Gemahl, beruhigt, sich legal in eine andere Richtung wenden zu dürfen. „Ich habe von Euch gehört. Ihr wart einer jener tapferen“ – dieses Wort stieß er mit solcher Kraft aus, dass seine Mähne erbebte – „Männer, die ihr Examen vor der Londoner Öffentlichkeit ablegten, ist es nicht so? Meinen Respekt, Junge, meinen Respekt!“ James nickte nur und schluckte. „Als Sohn eines Admirals dieser Größe, Fähigkeiten und Bedeutsamkeit“ – ein schreckhafter Blick zu jenem, über den er redete – „für Englands Historie, aber auch für seine Zukunft wird es für Euch selbstverständlich nicht leicht sein, alle Erwartungen, die man an Euch stellen wird, sobald man nur Euren wertträchtigen Namen erfährt, zu erfüllen. Wisst Ihr, die Söhne solcher Väter haben und werden es immer schwer haben, aus dem gewaltigen Schatten zu treten und nicht etwa als belächelter Epigone zu enden. Aber ich glaube, Ihr werdet das schaffen. Hinter Eurer hohen und… bleichen Erscheinung eines… eines wahrhaftigen Gentleman – ja! – verbergen sich die Talente Eurer unvergessenen Vorfahren!“ Wieder wollte James nur nicken, aber stattdessen stieß er auf, schlug die Hand vor seinen Mund und erbrach sich im nächsten Augenblick mit alarmierender Heftigkeit über den breiten Topf einer exotischen Zuchtpflanze. Wir Umstehenden verfolgten die Szene wie eine besonders überraschende Kehrtwendung im Theater, während das Orchester im Hintergrund geradewegs auf den musikalischen Höhepunkt zustrebte, und würden uns nicht eher einmischen, da es zu Ende war. Wollte ich fantasievoll sein, erkannte ich in dem, womit mein armer Junge das Gewächs ausgiebig düngte, sowohl allerlei Arten von Desserts als auch die Übermengen an Alkohol, welche Will ihm angedreht hatte, wieder, vor allem jedoch erkannte ich wirklich, wirklich schreckliche Nervosität als den hierfür verantwortlichen Grund. Lord Norrington stand da wie eine abstrakte Skulptur des Teufels, Alexia versteckte ihre Augen mit einem Ausruf des Ekels hinter den Händen, Lady Amalia hatte die Luft angehalten. Nur Weatherby Swann machte eine fröhliche Miene, klatschte in die Hände und bekundete sein Entzücken darüber, wie offen der junge Leutnant zeige, was von all diesem gestellten Gehabe, von Galante Conduite zu halten sei. Die Mutter war es, welche einen seiner Arme ergriff und ihn aus dem Saal brachte. Wir beiden übrigen Frauen rannten ihr nach. Sie führte James, dessen Gedanken nicht zu erraten waren, in ein unbenutztes Nebenzimmer. Die Düfte des Mahls, die Musik der Instrumente und Stimmen, der Glanz wie die Pracht des Raumes und Lawrence Norrington reichten hier nicht her. Die Stille war seltsam. „Lege dich hin“, befahl Elizabeth und drückte ihn auf ein Sofa nieder. „Ist dir noch schlecht?“ Er bestand sogar darauf, dass er wieder in Ordnung sei, doch die Besorgte ließ ihn nicht aufstehen. „Es war der Wein… und das Essen. Und meine Schuld, ich hätte mich in Bescheidenheit üben sollen.“ „Dein Vater verlangt zu viel von dir“, beschwerte sie sich. „Du musst unter einem immensen Erwartungsdruck gestanden haben. Gib es zu, James: Du warst aufgeregt.“ „Denken Sie, er wird mir das nachtragen?“ Er starrte sie flehentlich an, als hoffte er, sie würde verneinen; ein aussichtsloses Hoffen, denn längst war ihm bewusst, was sein resoluter Vater von seinem kleinen "Missgeschick" halten würde. Natürlich würde er es ihm nachtragen. „Ich glaube, außer uns und den Swanns hat es gar niemand zu Bewusstsein genommen“, versuchte sie ihm die Bedenken zu nehmen. „Dein Vater übertreibt, mein Liebling. Seine Augen sind starr auf Horizonte gerichtet, die er selbst nicht mehr erreichen kann, und die dort aufgehende Sonne macht ihn blind für jene Menschen, die neben ihm stehen und sich nicht etwa nach Ruhm oder Macht sehnen, sondern schlichtweg nach seiner Aufmerksamkeit und Liebe.“ Liebe. Da war dieses Wort, welches im Zusammenhang mit Lawrence Norrington eine sehr eigentümliche Bedeutung erhielt. „Ich wünsche mir seit Jahren, er würde dies endlich wahrnehmen, würde sich uns zuwenden und statt einem kleinen Haufen Soldaten endlich seine Familie erkennen, aber ich wünsche vergebens. James, höre mich an: Inwiefern du dir dessen bewusst bist, ist mir nicht bekannt, aber ich war von Anfang an gegen deinen Eintritt in die Royal Navy. Du darfst es mir nicht übel nehmen. Ich leide unter einem ihrer Offiziere, seit uns ein Priester vor beinahe drei Jahrzehnten zur Untrennbarkeit verdammt hat. Gewiss – er ist stark, er ist gescheit, er ist reich an Geld und Einfluss. Doch die wichtigste Fähigkeit eines Menschen scheint er verloren zu haben: Die Fähigkeit zu lieben. Ich wollte nicht, dass du wie er wirst. Es hätte mich zerrissen, wenn das Einzige, was mir von dem Lawrence, den ich liebte, weil er mich liebte, geblieben war, wenn du mich eines Tages angesehen hättest, ohne etwas für mich zu empfinden, ohne mich oder das, was ich früher für dich gewesen bin, wiederzuerkennen. Ich wollte dich nicht auch noch an den Krieg verlieren.“ Lady Amalia zupfte an meinem Ärmel. Sie musste sechsmal zupfen, bis ich ihr endlich meine Aufmerksamkeit schenkte. „Lassen Sie uns etwas Wasser für den Jungen besorgen gehen, Ms Abda“, schlug sie mir laut und mit einem merkwürdigen Ausdruck vor. Ich willigte ein, doch fiel es mir schwer, mich von dem Türrahmen zu lösen. „Werden Sie mich also nicht gehen lassen?“, fragte James ernst. „Wäre dies zu entscheiden mein gutes Recht, würde ich dich nicht gehen lassen“, bestätigte sie hinter dem Vorhang ihres gelösten schwarzen Haares. „Aber ich kann dich nicht einsperren, das steht mir auch als deine Mutter nicht zu. Am 30. Dezember werde ich am Hafen stehen, James, und dich mit einem aufrichtigen Lachen verabschieden, weil ich weiß, dass es das Beste für dich ist, und mir die Hoffnung bleibt, dass du mich immer lieben wirst, wohin dich dein Weg auch führt.“ „Sie lieben ihn nicht mehr, oder? Sie lieben Lawrence nicht.“ Elizabeth seufzte wie eine alte Witwe. „Ach, James… Bitte bestehe nicht darauf, dass ich mich der unwirklich schönen Zeit erinnere, da die Beziehung zwischen mir und deinem Vater in ihrer Blüte war. Ich habe ihn geliebt. Vielleicht wie einen künftigen Ehemann, vielleicht nur wie einen Helden, in dessen Nähe nichts unmöglich schien. Diese Zeit liegt lange in der Vergangenheit zurück. Wenn du mich fragst, wie es heute ist, so wage ich nicht, dir darauf eine Antwort zu geben, denn die Wahrheit kenne ich selbst nicht. Eines kann ich dir mit aller Sicherheit verraten: Ich bereue es nicht, ihn geheiratet zu haben. Ich werde es niemals bereuen…“ Mit vibrierenden Spinnenfingern strich sie über die Kontur von James’ Gesicht. „Hat dir eigentlich jemals jemand mitgeteilt, wie ähnlich du ihm siehst…?“ In diesem Augenblick zog mich Lady Amalia mit einer Kraft, welche man von ihr kaum erwartet hätte, hinaus auf den Flur. „Kommen Sie doch bitte“, sagte sie mit Nachdruck. „Ich glaube wirklich, dass James etwas Wasser vertragen kann.“ Mir war nicht wohl dabei, Mutter und Sohn ausgerechnet jetzt allein zu lassen, doch da ich noch nicht wusste, weshalb eigentlich, folgte ich Elizabeths Freundin gehorsam den Korridor entlang. Hier stand bereits der herrliche Duft von fettspritzenden Braten, saftigen Soßen und bunten Beilagen in der Luft. Sofort reagierte mein Magen mit einem Knurren, aber obwohl die Musik aus dem Saal hier so leise war wie das Fiepen von Mäusen, schien sie es nicht zu hören, denn sie eilte unentwegt weiter, als würde das Wasser aus der Küche vertrocknen können, wenn wir uns nicht sputeten. „Könnten wir wohl ein Glas frisches Wasser bekommen?“, fragte sie in die Runde der wenigen dort Angestellten, die nicht den Gästen des Herzogs das Festmahl auftischten, und während sich das Glas mit klarer, wippender Flüssigkeit füllte, fügten sich auf einmal alle über Jahre angeeigneten Puzzleteile zusammen. Der Anblick des sich ergebenden Bildes traf mich wie ein Donnerschlag, ich begann zu zittern und zweifelte nicht daran, dass irgendetwas an meiner Entdeckung falsch sein könnte. Die Galle blanken Entsetzens stieg in mir auf. Ich wandte mich an Lady Amalia, welche gerade das Glas entgegennahm, aber keinerlei Anstalten machte, es zu seinem Empfänger zu bringen. „Wir müssen zurück“, drängte ich sie, und meine Stimme schien mir selbst fremd. Sie sah mich nicht an. „Ms Abda, ich stelle nicht in Frage, dass Sie es gut meinen, mit James wie mit Elizabeth. Aber ich bin der Ansicht, dass wir den beiden etwas Zeit für sich einräumen sollten. Elizabeth leidet stark unter der Einsamkeit, selbst wenn sie es nicht anmerken lässt.“ „Ist Euch das denn nicht klar?“, herrschte ich sie an, ohne dass es geplant war, meine Wut, meine Angst gegen sie zu lenken. „Elizabeth steht im Begriff, einen Fehler zu…! Nein, was sage ich? Sie droht, den Fehler, den sie bereits gemacht hat, zu verschlimmern! Wir müssen etwas unternehmen!“ Jetzt drehte sie sich zu mir um. „Fehler? Tut mir Leid, wovon sprechen Sie?“ „Die Anzeichen, all die Hinweise!“ Ich war vollkommen außer mir. „Ich begreife! Ich begreife endlich! Oh, wie blind und taub war ich! Ich, die ich meinte, ihnen am nächsten zu sein!“ „Ms Abda!“, rief Lady Amalia, schob mich aus der Küche, weil sie ahnte, dass die großen Ohren des Herzogs Personals nicht die geeignete Kulisse waren für das, was mir jeden Moment über die Lippen entschlüpfen würde. „Bitte, so werden Sie doch deutlich! Was haben Sie?“ „Elizabeth!“, keuchte ich. „James! Wir müssen zu James!“ Sie versuchte mich aufzuhalten, doch nun entfaltete sich die Kraft einer dicken, schwarzen Amme, die drei Kinder aufgezogen, Stapel schwerer Bücher transportiert und viel Liebe in sich hatte, sodass höchstens ein Orkan, eine Flutwelle, ein französisches Heer oder Lawrence Norrington sie hätten verhindern können. Ich fand das Nebenzimmer allein dank meiner Intuition, ohne mich hier im Geringsten auszukennen, pfefferte die Tür aus der Zarge und erwischte eine Mutter, die zwischen den Beinen ihres Sohnes saß, mit den Armen um seinen Hals und der Zunge in seinem Mund. Sie zog sich zurück – ganz langsam – und sah mich mit solchem Elend an, wie mich nie zuvor jemand angesehen hatte, nicht einmal eine der Sklavinnen in dem Stall, aus dem sie mich seinerzeit befreite. Kapitel 26: I. Elizabeths Geheimnis ----------------------------------- Ich hätte dir verzeihen können. Du warst meine Freundin. Ich habe dich längst verstanden. Du warst einsam und du hattest Angst. Du wolltest niemanden mehr verlieren. Du wolltest geliebt werden. Ich hätte dir verzeihen können. Doch jemand anderes würde es nicht. „Es tut mir so Leid“, flüsterte Elizabeth erstickt, die Arme noch immer um den Sohn, den ihr niemand rauben sollte, im vollen Bewusstsein ihrer Schuld, aber nicht imstande, der Untat abzusagen. James saß auf dem Sofa, verspannt, mit gesenkten Lidern und aufeinandergepressten Lippen, unfähig, sich der Verführung durch diese attraktive Frau, die seine Mutter war, zu erwehren; unfähig, die Wirkung des reizvollen Leibes auf den seinen zu ignorieren. Ich wagte nicht zu fragen, wie lange das schon so ging, wusste aber auch nicht, was ich sonst hervorbringen sollte. Tatsache war, dass James es seit jeher geahnt hatte. Er hatte mich gefragt. Und jetzt erst wurde ich mir dem Ausmaß meiner Antwort im Vollen gewahr. „Du wirst es doch nicht Lawrence sagen?“, fragte sie mich, und in ihren Augen brodelte Todesangst. „Niemals!“, versprach ich sofort. Admiral Norrington würde James bestrafen wie Amyntor den Phoinix, und was er mit Elizabeth anstellen würde, darüber wollte ich gar nicht erst sinnieren. Dabei war er selbst nicht frei von der Schuld, welche zu diesem Sündenfall geführt hatte. „Wenn es doch nur möglich wäre…“, wisperte sie, drückte die Augen zu und entließ damit zwei Tränen, die rasch über ihre Wangen flohen. „Aber das ist es nicht“, wollte ich ihr klarmachen, wie sehr es auch mich schmerzte. „Und du weißt das. Lass deinen Sohn gehen, Elizabeth, und trauere nicht dem Mann, den du geheiratet hast, nach. Denke doch an James! Wenn du nun einen Schlussstrich setzt und bereit bist, es hiermit enden zu lassen, dann wird die Angelegenheit unter uns dreien bleiben und deinen Gatten niemals erreichen. Ich verspreche dir das. Elizabeth! Bitte!“ Meine Fäuste verkrampften sich, weil mir bewusst war, dass sie nicht schlichtweg aufhören könnte, James zu lieben über die Zuneigung, welche man seinem Sohn entgegenbrachte, hinaus. Stattdessen würde es ein langwieriger, von Rückschlägen geplagter Weg werden, aber ich wollte ihre Hand nehmen und ihn gemeinsam mit ihr gehen. „Trinken wir vom Wasser der Lethe! Noch ist es nicht zu spät! Wenn Lawrence hiervon erfährt, er wird…!“ „Es ist zu spät.“ Bei allen guten Geistern, da stand er! Lawrence Norrington! Oh Graus! Mir blieb das Herz stehen, ich wollte an die Decke springen oder in den Boden stürzen, provisorisch schoss ich an eine Wand und wünschte, mit ihr verschmelzen zu können. Elizabeth riss sich mit einem klagenden Schrei von James los, fiel zu Boden und stierte ihren Gemahl an wie die personifizierte Verkündung von Tod und Fegefeuer. Dem Leutnant half keine Selbstbeherrschung der Offizierswelt darüber hinweg, haltlos zittern zu müssen. „Ich ahnte es…“ Lord Norrington wirkte auf uns wie ein Vulkan. Der Anblick seiner kolossalen Gestalt in der Tür zerschmetterte jeden Gedanken der Flucht, während die von ihm ausgehende Hitze den Aufenthalt in seiner Nähe zur höllischen Qual machte. Mit leidvoller Spannung warteten wir auf die Sekunde, in welcher er über uns herfallen würde wie ein ausgehungertes Monster aus der Wildnis, uns zerfleischen und nichts mehr übrig lassen würde. „Elizabeth…“ Seine leeren, hellgrauen, fast weißen Iriden bewegten sich in die Richtung seiner Angebeteten. Man konnte deutlich das hässliche Geräusch ihrer sich aufeinanderschiebenden Zähne vernehmen. Der Lord trieb uns an den Rand des Wahnsinns, indem er uns der nicht einzuordnenden Gemächlichkeit seiner Aktionen aussetzte. Wir wünschten nur, es wäre endlich vorbei, egal wie. Und er wünschte sich vermutlich, in einem einzigen Bereich seines Lebens und Sterbens naiver gewesen zu sein. „Norrington!“ James schoss auf, das Gesicht feucht vor Angst, die Stimme befremdlich hoch und dünn. „Sir?!“ Mit linkischen Händen schloss er die Knöpfe der Weste, straffte den Rock, zog er das Jabot so eng, dass er sich selbst beinahe die Luft abschnürte, und rückte die Hose zurecht. Seine Augen waren fest geschlossen, und so konnte er nicht reagieren, ehe sein Vater ihn packte und aus dem Zimmer schleifte. Ich hörte, dass James wieder und wieder an ihm appellierte, dass er bat, losgelassen zu werden, dass er bereit war, alles zu tun, um es wieder gut zu machen. „Folge ihm“, schluchzte Elizabeth hinter mir. „Bitte, Abda. Folge ihm!“ Und auf Beinen, so matschig wie schottischer Haggis, hetzte ich ihnen nach. Ich widmete mich kaum noch meinen Gedanken oder Gefühlen. Womöglich hätten sie versucht, mich einmal davon abzuhalten, Beobachterin zu sein, vielleicht hätte meine Neugier einmal geschwiegen. Denn ich wollte plötzlich nicht mehr erfahren, wie es weiterging, was im Büro des Herzogs geschehen würde. Viel lieber wollte ich längst bei Benedict sein und genießen, was mir mein Alter noch zu genießen erlaubte, bevor ich mit einem Lächeln, der verblühten Blume zwischen meinen gefalteten Händen und der Erinnerung an James Lawrence Norrington in die Erde gesenkt werden würde. Stattdessen jedoch lugte ich abermals durch eine Tür, die zwar geschlossen, jedoch mit einem wenig sparsamen Schlüsselloch ausgestattet war, und wurde Zeuge, wie der Admiral den Jungen gegen den wuchtigen Arbeitstisch fallen ließ. James stand nicht auf. „Auf… auf ein Wort… Vater…“ Lord Norringtons Blick spießte ihn auf. „Jetzt beschwörst du meine Liebe als Vater? Jetzt? Du hattest offenbar kein Bedürfnis mehr dafür, mein Sohn zu sein, als du eben im Begriff warst, mein Weib und deine Mutter zu verführen! Hast du das schon verdrängt?! Hast du schon vergessen, was ich alles für dich getan und auf mich genommen habe?! Was ich durch dich verloren habe?! Das alles weißt du mir zu danken mit Blutschande und damit, meine Frau zu vögeln?! Nein, James, so nicht! Nicht mit mir! Nun wird mir klar, aus welchem Grund Elizabeth mich verachtet! Weshalb sie mich nicht einmal mehr mit ihrem Arsch ansieht! Stück für Stück hast du sie mir genommen! Aber ich lasse das nicht weiter zu. Du willst unabhängig sein, also werde ich dich nicht länger schonen! Du hast Lawrence Norrington herausgefordert, also wirst du es nun mit Lawrence Norrington zu tun kriegen!“ Er riss eine Steinschlosspistole aus dem Gürtel. „Wollen wir doch mal sehen, wie viel Mann du bist. Steig auf den Tisch, James!“ Der erblasste, worauf Lord Norrington mit einem abwertenden Grinsen reagierte. Er kannte ihn zu gut, kannte ihn in allen Details oder glaubte immerhin, es zu tun. In Spaziergeschwindigkeit stapfte er auf den Schrank zu, James überheblich den ungeschützten Rücken zuwendend, und langte nach einem Glas sowie einer Flasche schottischen Whiskys. Es war jener Moment, in dem ich feststellte, dass ich an meinem Platz außerhalb des Zimmers wie festgefroren war. „Steig. Auf. Den. Tisch, James.“ Der rührte sich noch immer nicht. Norringtons Haupt lehnte sich in den Nacken, als er sich den Scotch genehmigte. Anschließend drehte er sich herum und stopfte vor den Augen seines entsetzten Nachkommen Schusspflaster und Kugel mit dem Ladestock zwischen den hämisch verzogenen Lippen in den Pistolenlauf. „…Ich vergaß: Der Galan meiner Frau neigt bekanntlich zu einer gewissen Angst vor der Höhe. Sollte es ihn etwa überfordern, auf einen Tisch zu klettern, wo er doch offensichtlich keinerlei Schwierigkeit darin sieht, eine mehr als zweimal ältere Dame zu besteigen?“ James bebte, starrte in das schwarze Loch der Waffe und schien darauf zu hoffen, dass seine Mutter, Alexia und ich ins Zimmer gesprungen kamen und seine ganze Familie im lachenden Chor verlautete, dies alles sei nichts weiter als ein grausamer Scherz gewesen. „Norrington… Mach der Navy nicht so viel Schande… Widerspenstige Menschen bringen es in ihr nicht sehr weit, das habe ich dir schon immer gesagt. Widerspenstige Menschen haben im Allgemeinen auch keine besonders lange Lebenserwartung aufzuweisen. Du solltest immer im Kopf behalten, inwiefern du dein Offizierspatent deinem Vater und dein Leben einem Verbrecher zu verdanken hast.“ Voll innerer Schmerzen presste der Leutnant die Augen zusammen in Gedenken an die ihn so entehrende Errettung vor zwölf Jahren. „Und dann sieh dich selbst an“, fuhr des Admirals raues Timbre fort. „Was ist dein eigener Verdienst? Kannst du dein Verhalten rechtfertigen im Verhältnis zu deinen dich auszeichnenden Taten? Auf einem Schiff, Norrington, existiert kein Unterschied zwischen Adel und Pöbel. Wenn du glaubst, du als Lieutenant oder Bennett als Captain würdet dort herrschen wie der Kaiser in China, dann sei hiermit eines Besseren belehrt, ehe ich erfahren muss, dass mein Sohn durch eine meuternde Crew ermordet, durchgefickt und wie eine Wildgans ausgenommen wurde.“ James wandte das Haupt ab. „Jeder Offizier der Navy hat sich in einem gewissen Grad unterzuordnen. Matrosen können so unberechenbar sein wie das Meer selbst. Nur Respekt vermag sie zu führen! Echter Respekt, den man nicht durch Geld und Glanz erreicht, sondern durch einen eisernen Willen, stahlharte Disziplin sowie der genauen Kenntnis, dass ein Soldat Seiner Majestät niemals sich selbst dient!“ Der Boden erzitterte unter dem Aufstampfen des schwarzen Stiefels. Ein Minutenteil verstrich, bevor der Lord seinen Atem wieder gedrosselt hatte und zum Weitersprechen bereit war: „Also… Sei ein braver Junge und steige auf den Tisch, wie es dir dein Vater und Admiral befiehlt, Norrington. …Norrington. James!“ Nun gehorchte er. Die ganze Situation nach wie vor nicht wahrhaben wollend, zog er sich an dem Pult bis auf die Beine hoch, schlurfte mit gebeugtem Rücken um es herum, stieg unter der eiskalten Aufsicht des Vaters und dessen Pistole auf den Stuhl und von dort auf die breite Platte, welche von solcher Sauberkeit war, dass sich seine Umrisse, der helle Ton seines Rockes darin spiegelten. Seine Haut entbehrte jeder Farbe, war grau geworden, als er dort kniete und sich ausmalte, wie es wäre, irgendwo anders zu sein, irgendwo, nur nicht hier. „Aufstehen, Lieutenant.“ Auf Beinen, schwach wie zwei trockene Äste, mühte er sich, dem Befehl Folge zu leisten. Ich konnte spüren, wie sehr ihn die für andere Menschen bedeutungslose Größe des Tisches mit der seiner eigenen Statur völlig überforderte, wie ihm schwarz vor den Augen wurde, wie extrem er sich vor dem Fall fürchtete. Dass seine Höhenphobie solcherlei horrendes Ausmaß angenommen hatte, war mir nicht bekannt gewesen. Verkrampft stand er dort oben, die kleinen Pupillen in Richtung der mit wertvollen Ringen und alten Narben versehenen Hand Norringtons verbohrt und am Ende seiner Kräfte. „Sieh einer an“, sagte der unter ihm und doch stets über ihm Stehende mit wissenschaftlichem Interesse. „Schon sind die Rollen wieder richtig verteilt. Der Sohn und Lieutenant verschwendet keinen Gedanken mehr an die Rebellion gegen den Vater und Admiral. Er bereut, es jemals in Erwägung gezogen zu haben. Die ursprüngliche Besetzung ist wieder hergestellt. Der Admiral befiehlt, der Lieutenant folgt. Er erinnert sich, dass blinder Gehorsam allein ihn eines Tages über den alten Herrn erheben wird, derweil aufrührerisches Getue nichts weiter als nutzlose Verschwendung seiner Kraft ist. Er erkennt seinen Meister und ist bereit, sich seiner zu unterstellen, um selbst davon zu profitieren. Die Zeit ist noch nicht gekommen, in der er sein Schweigen brechen sollte. Es ist nicht klug, schon jetzt zu sprechen. Den Mund zu öffnen bedeutet, einem anderen die Möglichkeit zu geben, dir den Lauf einer Pistole in den Rachen zu schieben und…“ Er trat ganz nahe an den Tisch heran, zog mit dem Daumen den Pistolenhahn zurück und hob die Waffe, dass sie fast James’ Kinn berührte, der die Augen zukniff. Ich konnte nicht glauben, dass er wirklich schießen würde… Doch was überzeugte mich davon noch? Lawrence Norrington war zweifellos gestört, wenn er seinen eigenen Sohn dessen großer Angst aussetzte, wenn er daherredete, als würde er die Panik und das zerfressende Schuldbewusstsein nicht riechen können, während sie mich um den Verstand zu bringen drohten, wenn er seinem eigenen Sohn eine geladene Waffe an den Kopf hielt, um… „…abzudrücken…“ Er schoss. Ich schrie. Oh nein. Das darf doch nicht…! Mehr dachte ich nicht. Gleichzeitig donnerte ein Blitz gewalttätig durch meinen Köper, wirbelte meine Eingeweide herum und hinterließ ein Gefühl totaler Leere. James. James… Tot. Die Dauer des Registrierens zog sich hin, aber gleich würde ich meine Pein herausbrüllen, mich fallen lassen, weinen und schreien und wissen, dass der Tod nichts war, das man rückgängig machen oder korrigieren konnte, und trotzdem würde ich seinen Namen kreischen und "Nein!" und "Das darf doch nicht…!" und wieder, wieder, wieder seinen Namen und lange Vokale und all meine Trauer, Wut, meinen Hass, Schmerz, mein Nichtwahrhabenwollen, mein Wissen, dass es so geschehen war, herausschreien, aus mir quetschen und pressen wie eine Fehlgeburt. Ich hämmerte meinen Kopf gegen die Tür, weil mir auf den Schlag alles egal wurde, rappelte an der Klinke und erkannte, dass sie abgeschlossen war. Ich wollte rennen, irgendwohin, einfach nur rennen und niemals wieder stehen bleiben müssen, oder auf der Stelle sterben. Ein dicker Teppich aus Pech ergoss sich über mir und ließ mich noch japsen. Ich rüttelte an der verfluchten Klinke, weniger um sie zu öffnen denn um mich abzureagieren, schleuderte meinen Kopf hin und her, schluchzte; ich fiel schwer auf die Knie und gestand mir schließlich meine Machtlosigkeit ein. Wer – verdammt noch einmal, zum Teufel! – hat sich dieses Ende ausgedacht?! Man nimmt vielleicht an, in solchen Situationen, und wenn man wirklich liebt, könne man einfach den Helden heraushängen lassen. Dazwischengehen. Eingreifen. Retten, was einem alles bedeutet. Ich konnte es nicht. Ja. Vielleicht bin ich zu schwach. Ich bin schließlich eine dicke, schwarze Sklavin, ich kann mich herausreden. Und trotzdem bin ich nicht von meiner Anschauung abzubringen, dass es nur wenige Menschen gibt, die – gerade dann, wenn sie den Lebensgefährdeten lieben – wirklich in der Lage sind, etwas zu tun. Ich gehöre nicht zu ihnen. Ausgelaugt wartete ich auf meinen Zusammenbruch, meinen Wein- und Schreikampf. Das mag anmaßend klingen, aber in der Tat hatte ich nichts Besseres zu tun. Was denn auch? Lawrence hassen? Ging nicht. Meine intensive Ermattung hatte Trauer wie Hass schon überschwemmt. Ich hielt mich daran fest, dass ein Zusammenbruch mir helfen würde, wenngleich selbst ich mir nicht im Klaren darüber war, wie er mir helfen sollte. Lawrence Norrington hatte unseren Sohn erschossen und nichts und niemand würde ihn wieder lebendig machen. Ausgelaugt erwartete ich meinen Zusammenbruch, meinen Wein- und Schreikampf… aber er kam nicht. Konnte es damit zu tun haben, dass mir der Gedanke des finalen Abschieds von James Norrington seit Tagen nicht mehr neu war? Doch hegte ich nicht dennoch fürderhin die tief vergrabene Hoffnung, James irgendwann einmal wiederzusehen, weil die Welt niemals groß genug sein würde, um den Faden meiner Liebe und Treue zu ihm zu zerreißen, wie sehr er sich auch um sie würde spannen müssen? Was sollte ich eigentlich Elizabeth erzählen? Kam die junge Mary ohne mich zurecht? Mich ereilte das Bedürfnis, untertänigst in das blutige Zimmer zu marschieren und dem Lord zwischen James’ Überresten irgendeine sehr banale Frage zu stellen. …Machte mich das kaltherzig? Warum ertrank ich nicht in meinen Tränen und erstickte vor Schluchzern? Warum lächelte ich? James, tot? Ich grinste. Siebzehn Jahre, umsonst? Ich wollte tanzen. Tanzen vor Wut. Lachen vor Wut. Nicht, um etwas zu überspielen. Weinen, Schreien? Nein, ich lache lieber und tanze. Womöglich, weil ich so mehr machen konnte. Dinge kaputt, zum Beispiel, denn wenn ich alte, fette Frau tanze, dann wie der Elefant im Porzellanladen. Elizabeth, was soll ich Elizabeth erzählen? Soll ich ihr erzählen von dem Aroma des Whiskys, von dem Bild der Angst, von dem bitteren Geschmack, dem Gefühl des Holzes unter meinen Fingernägeln, dem Lärm des Schusses…? Und dann wusste ich, dass ich nicht über James’ Tod lachte und tanzte, sondern ich belachte und betanzte wie die seltsamen Gestalten in meinem Traum das Überleben. Ich nahm mir das Recht heraus, seinen Tod mit meinem Unglauben zu konfrontieren. Zur Hölle mit dem Wahrhaben, der Akzeptanz, dem schweigenden Hinnehmen! Zerfleischt durch die seelische Folter der letzten fünf Sekunden feuerte ich meinen Kopf gegen die Türklinke und stierte durch das Schlüsselloch, um das Leben süffisant herauszufordern. Mir genügte es nicht zu wissen, dass der Schuss ganz bestimmt ausgelöst worden war und der Lauf in dem Moment zielsicher auf das Kinn meines Jungen gerichtet. Ich verlangte Beweise für seinen Tod; Beweise, welche mir zu liefern die Realität außerstande war. Denn da war Norrington, den Finger noch auf dem betätigten Abzug, in selber Haltung wie da er geschossen hatte, und James – James, dem Himmel sei Dank! – steif stehend auf der Tischplatte. Da war ein Klick gewesen, und die Zeit war wie angehalten. Kein Rauch. Kein Knall. Keine Explosion. Kein Schuss. Nur ein Klick. Das Gewicht des Teppichs aus Pech rutschte von mir ab und klatschte zu Boden. Einen Lidschlag lang glaubte ich, abzuheben, während das Herz in meiner Brust wild und schmerzhaft hin- und hersprang. Die Tränen, welche ich schließlich doch verloren hatte, verdampften auf meinem erhitzten Kinn. Meine Augen klebten am Schlüsselloch. „…und dir das Hirn zu perforieren“, vollendete der Lord seinen Satz, als wäre das alles ganz alltäglich für ihn. „Aber sein Schießpulver wird nicht nass sein. Verstanden? Solange dir also ein Tisch noch Angst bereitet, Norrington, und die Erinnerung an einen Piraten, der dich aus dem Wasser rettete – Gott verfluche ihn – dich und deine Entscheidungen beherrscht, hältst du besser daran zu schweigen.“ Er steckte die Waffe fort, ließ seinen Sohn in die Knie gehen und hob ihn mit nur dem einen Arm hinunter. James klammerte sich in die glänzenden Epauletten an seinen Schultern. Er konnte nicht mehr stehen, sank auf den Boden und war vollkommen neben sich. Ich notierte gar nicht, dass Lawrence Norrington auf die Tür und damit direkt auf mich zuschritt. Erst, als es bereits zu spät war, fuhr endlich wieder Bewegung in mich. Der Lord hatte bereits die Klinke umfasst. „Vater!“ Er streifte von ihr ab und drehte sich herum. „Was willst du noch, Norrington?“ Seine Stimme aus dieser Nähe war angsteinflößend wie eine Erderschütterung. „Mutter und ich haben Euch etwas zu sagen...“ „Deine Mutter? Ich lache!“ Er tat nichts dergleichen. „Habt ihr euch während des Küssens darüber ausgetauscht?“ „Ihr habt Euch dies selbst zuzuschreiben!“ James’ Hand schmetterte geballt auf die Tischplatte. „Auf Eurer ewig währenden Jagd nach Vergötterung und der Möglichkeit zur Erniedrigung anderer habt Ihr vergessen, dass irgendwo auf einem von der Zivilisation abgegrenzten Landgut eine Familie auf Euch gewartet hat! Doch Ihr habt sie niemals mit der Hingabe bedacht, die ihr zustand! Wir haben geschwiegen, Admiral, wir akzeptierten zu schweigen und erfreuten uns an den knapp bemessenen Stunden, welche Ihr uns gönntet, wo wir doch weitaus mehr hätten verlangen dürfen! Ihr mögt wissen, wie viele Schiffe die Royal Navy befehligt, wie viele davon allein unter Eurem Kommando stehen, wie jeder einzelne Eurer Offiziere mit Vornamen heißt und wen davon Ihr demnächst über Bord gehen lasst, Sir, aber wie stark Eure Frau unter Eurer Abwesenheit und Abweisung gelitten hat, dass Eure Tochter Euch für einen Onkel hält, der in der Neuen Welt wohnt, und Euer Sohn – gestattet bitte! – nicht bereit ist und es niemals sein wird, für Euch den idealisierten Ersatz Eures Erstgeborenen oder Eurerselbst zu geben, das wusstet Ihr nicht! Ihr behauptet, Eure Feinde mit Respekt zu behandeln, Sir! Entbindet Euch dieses vortreffliche Verhalten etwa von der Selbstverständlichkeit, Eure Familie zu respektieren?! Ihr fordert und fordert – nicht wie ein Admiral von einem Lieutenant, sondern wie ein Puppenspieler von seinen Marionetten! Ihr macht uns verantwortlich für das, was Euch stört, doch wenn Ihr einmal nur Euren Blick senken würdet, Sir, wenn Ihr einmal nicht nach vorne schaut, Sir, sondern an Euch selbst hinab, dann würdet Ihr erkennen, dann müsstet Ihr Euch eingestehen, dass Ihr selbst der Grund seid, weshalb sich Frau und Kinder von Euch abwenden, weshalb sie Euch verachten, weshalb wir Euch hassen! Ihr habt Euch zu einem psychischen Invaliden machen lassen und lasst Eure Geisteskrankheit nun an den Menschen aus, denen Ihr unersetzbar ward, denen Ihr all die Jahre gefehlt habt, die Euch einst geliebt haben! Und deshalb – mit Verlaub! – seid Ihr selbst an allem schuld, Sir, Ihr selbst, Ihr selbst, Ihr selbst!“ Ich bedauerte, dass der Lord mit dem Rücken zu mir stand und ich in diesem Augenblick nicht in sein Antlitz sehen konnte. „Schwachsinn“, urteilte er schließlich. „Der Tag war wohl eindeutig zu viel für dich, Norrington. Lege dich hin und schlafe, damit du wieder zur Vernunft gelangst. Ich werde deiner Amme sagen, dass du keinen Tropfen Alkohol mehr bekommst, bis du zu deiner Reise aufbrichst und in den guten Händen von Captain Bennett bist. Das Zeug bekommt dir nicht.“ „Zu Befehl, Sir“, grollte James; der Wein hatte seinen Zorn bis hinauf in seine Augen gedrängt. „Inzwischen brauchen wir Euch nicht mehr. Wir haben uns der Präsenz eines Vaters und Gatten entwöhnt. Ja, Sir. Für uns seid Ihr bereits gestorben. Nur eines haben wir zwei nunmehr gemeinsam: Was immer ich auch tue, geschieht aus meinem eigenen Willen heraus. Nicht, weil mich irgendjemand oder irgendetwas dazu bestimmt oder gezwungen hat. Sondern weil ich es so will…“ Er war so leise geworden, dass Admiral Lawrence Norrington ihn nicht mehr verstand. Es war das Letzte, was er zu seinem Vater sprach. Denn von nun an ging er seinen eigenen Weg. F i n . Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)