James Norrington von Phantom (Ⅰ. Ankerlichtung) ================================================================================ Kapitel 24: I. Galante Conduite ------------------------------- Das erst kürzlich fertig gestellte Buckingham House war umgeben von dem größten Garten, den ich jemals gesehen hatte. Das Anwesen selbst war ein hehres Monument aus hellem Stein, von drei Stockwerken und zwei kleineren Dienstflügeln. Auf dem flachen Dach spähten raumgreifende Skulpturen nach den durch das Eisentor einfahrenden Besuchern. Wie schade, dass ich es nur dieses eine Mal bewundern durfte, ausgerechnet im strebsamen Winter, der die ganze Pracht der Residenz des Ersten Herzogs zu Buckingham und Normanby in den Schlaf gelullt hatte. Im Sommer musste es hier noch viel herrlicher sein. Vor den Flügeltüren wartete bereits der Admiral. Der linke Ärmel, befestigt am Revers der Uniform, verlieh seinem nicht vorhandenen Arm eine respektable Geste. „Ihr seid spät, die Suite wird gerade gespielt. Zeige – wie sieht James aus?“ Der Gemeinte präsentierte sich in bester Offiziersmanier: Steif wie ein Brett, mit den Händen hinter dem Rücken verschränkt und einem unfreundlichen Gesichtsausdruck. „Wie einer dieser behängten Tannen aus Schlesien“, beantwortete sich der Lord die eigene Frage verärgert. „Elizabeth. Hast dich wieder ausgetobt in der Wahl der Stoffe, hm?“ „Du selbst meintest, er solle nicht unter den anderen verblassen“, parierte sie kalt. „Was soll’s. Ein Weihnachtsbaum fehlt dem Herzog noch. Auf jetzt. Ihr hättet viel früher da sein sollen. Und lasst euch die Verspätung ja nicht anmerken. Lieutenant, denken Sie an das Zeremoniell.“ Er schleifte Sohn und Gattin an der einzigen Hand durch einen hohen, weiten Korridor. Alexia und ich eilten hinterher. „Zeremoniell, Sir?“ „Keine Zeit, Ihnen die Einzelheiten zu erklären. Kommen Sie. Gerade stehen. Jetzt!“ Wir waren in einen Saal angelangt, in den gewiss ein kleines Haus gepasst hätte – wenn nicht dergestalt viele Menschen mit ihren ausschweifenden Gesten und kreisrunden Reifröcken schon so viel Raum für sich beanspruchen würden. Irgendwo weit hinten, nicht zu sehen von unserer Position aus, aber deutlich zu hören, spielte ein kleines Orchester, und darüber erklang der heitere Chor gesellschaftlicher Unterhaltungen. Geschirr klirrte und blinkte blendend im herzlichen Gold des festlich geschmückten Saales, welches wiederum das verschwenderische Licht eines Kronleuchters reflektierte, der mich sofort in seinen Bann zog. Der Duft von noch dampfendem Gebäck und süßen Soßen hieß uns Willkommen, außerdem meinte ich, bereits die saftige Hauptspeise erahnen zu können. Lord Norrington führte uns an den mit allerlei Köstlichkeiten winkenden Tischen vorbei – ein Weg, auf dem es viele Personen von Rang und Namen lapidar zu begrüßen galt – und lenkte zielstrebig auf einen hochgewachsenen Mann mit humusfarbener Allonge-Perücke zu, der uns anstrahlte, als ob wir lange vermisste Familienmitglieder wären, und so förmlich mit seinem Lüster um die Wette brillierte. Ich aber fühlte mich wie das genaue Gegenteil: Schon wieder brannte mein Körper, denn es blieb von mir keineswegs unbemerkt, wie sich wahrlich alle Gäste nach mir umdrehten. Ich war ein Tier in dieser Versammlung von Galante Conduite und gehörte eingesperrt. Was hatte mich das vergessen lassen? Was hatte mich herkommen lassen. „Seine Gnaden wollen bitte nachsehen, dass wir erst jetzt gekommen sind.“ Elizabeth machte einen tiefen, aber nicht würdelosen Knicks. Dass sie sich gegen ihren freien Willen der unpraktischen Mode unterordnete, mit Robe, Panier, Blankscheit und Papilotten, Schnürbrust, Spitzenärmel und deftigem Parfum, verbildlichte nur das unechte, aufgesetzte, gunstgeile Getue von Preziosität bei Hofe, dem man sich gefälligst unterzuordnen hatte. Etikette, Protokoll, Zeremoniell oder eben Galante Conduite… Wie man es auch nennen mag: Ein schöner Klang macht noch lange keinen schönen Inhalt. Ich wollte nur noch fort, selbst nachdem sich herausstellte, dass der Herzog zu Buckingham und Normanby ein nachsichtiger, ernsthaft kultivierter Mensch war. „Meine liebe Lady Norrington, betrachtet mich als Euren Freund, ich bitte darum. Es scheint mir wie gestern zu sein, da diente ich in der Royal Navy, zu deren großen wie gleichwohl großartigen Führern heute Euer beeindruckender Gemahl zählt. Genießt die Festlichkeit, Ihr und Eure Familie… Ah! Ich sehe, sie hat Zuwachs erhalten!“ In ganz und gar liebenswürdiger Weise beugte sich der Herr des Hauses zum Jüngsten seiner Gäste hinab und küsste ihm die kleine Hand. Alexias Wangen waren bereits scharlachrot geschminkt, und doch war ich mir sicher, dass sie darunter auf natürliche Weise errötete. „Milady? Unserem Haus ist es eine unbeschreibliche Ehre, Milady hier begrüßen zu dürfen. Wenn meine Wenigkeit sich vorstellen darf? John Edmund Sheffield, Herzog zu Buckingham und Normanby und stets zu Euren Diensten.“ „Alexia!“, rief Alexia mit einem hellen Kichern, welches normalerweise nur von oder durch James evoziert werden konnte. Auch Lord Norrington schien es an eben diesen zu erinnern, denn er schob den sich im Hintergrund der vermeintlichen Unwichtigkeit aufhaltenden Jungen nun zwischen seinen Frauen nach vorne. Der Herzog erkannte ihn auf den ersten Blick. „Das ist Euer Junge, Admiral? James Norrington? Die Augen – ja, er muss es sein. Erstaunlich! Ihr wisst noch, seine Eignung habe ich niemals hinterfragt, aber ich muss doch einräumen, dass, was seine äußere Erscheinung betrifft, er eine ungeahnte Wandlung erfahren hat. Von einem Samen fällt es freilich auch schwer zu glauben, dass ihm einst ein unumstößlicher Baum entwachsen wird. Dem guten Mr Mercer jedenfalls würden alle Locken von der Perücke fliegen, sähe er Euren Sohn heute! Ich hörte, Er hat jüngst erfolgreich sein Offiziersexamen abgelegt?“ „Das ist wahr, Euer Gnaden“, bestätigte James gleichmütig. „Eine öffentliche Vorstellung, nicht wahr? Wie bedauerlich, dass ich gegenwärtig sehr an die Pflichten meines Amtes gebunden bin. Ich hätte es sehen wollen. Sein Vater und ich unterhalten noch heute eine vortreffliche Kameradschaft; da wäre ich natürlich gerne dabeigewesen, wenn der Sohn meines Freundes in den schweren Rock eines Mannes gleitet.“ „Seine Gnaden gereichen mir zu großer Ehre“, bedankte James sich trocken. „Wann wird Er England verlassen?“ „Am 30. dieses Monats, an Bord der HMS Evidence, Euer Gnaden.“ „Ich unterbreche Euch ungerne, Herzog“, stieß Admiral Norrington da in den Wortwechsel, sich dicht an den jungen Leutnant schiebend, „aber gegenwärtige Umstände drängen mich, Euch auf die angelegentliche Sache hinzuweisen.“ Verwirrung schimmerte in James’ Blick, aber der Würdenträger schien augenblicklich zu verstehen. „Ja, selbstverständlich, Ihr habt Recht. Die Zeit ist endlich gekommen – Herr im Himmel; wer hätte gedacht, dass sie so rasch verfliegt? Wir wollen die beiden nicht länger auf die Folter spannen.“ Auch Elizabeths Haltung hatte sich verändert. Am Rande der Aufmerksamkeit stehend, hatte sie ihre Hände vor dem Schoß gefaltet und zog eine konzentrierte Schnute. Etwas Zukunftsweisendes stand kurz bevor. Das Ausschlaggebende für Norringtons Beiwohnen eines derart trivialen Festes. Probe und Ernennung zum Leutnant waren eine Hälfte des Anlasses für den Aufenthalt in London. Und zu einem Rock gehörte stets auch eine Culotte. „Mary?“, rief der Herzog, sein von braunen Locken umrahmtes Haupt herumdrehend. „Mary!“ Obgleich niemand offen ausgesprochen hatte, welche "Sache" die Erwachsenen meinten und auf wen sich "die beiden" beziehen sollte, begann James zu begreifen, wandte er allein seinen Blick abwechselnd seinen Eltern zu, als ob sie ihn betrogen hätten. Gewissermaßen hatten sie das auch, indem sie über seinen Kopf hinweg jene Entscheidungen trafen, welche die seinen hätten sein sollen. Weshalb sie dermaßen vorgingen und ihn nicht einmal früh genug in Kenntnis über die schließlich sein weiteres Leben bis hin zu dessen Ende determinierenden Kompromisse und Versprechen setzten, leuchtet mir heute ein wie damals – nämlich gar nicht. Ebenso wenig, wieso ihnen anscheinend nie bewusst wurde, aus welchen Gründen James sich am 30. Dezember nicht nur vorläufig vom Heimatland absetzte, sondern im vollen Bewusstsein und auf immerdar von seiner verzweifelten Mutter und seinem zerstörten Vater. Wer weiß? Es ist denkbar, dass James Norrington diesen Entschluss längst gefasst hatte, dem goldenen Käfig zu entsagen, schon während er im Festsaal des Buckingham House stand, auf Seine Gnadens Einlösung eines zwölf Jahre alten, dahingesagten Versprechens wartete und sich auch damit abfand; die Augen starrsinnig gen Horizont richtend, wo die grenzenlose Freiheit zu finden war, Aussicht auf Ehre und nicht zuletzt auf endliche Selbstbestimmung. Stille Wasser sind tief. Selbst weit unter der Meeresoberfläche brodeln Vulkane. „Mary, mein Kind!“ An einer Stelle der langen, mit bunten Meisterwerken der Pâtisserie drapierten Tische hatte sich der Andrang gelichtet, und zwischen den zurücktretenden Fräuleins kam ein ausgesprochen weites, rosenfarbiges Seidenkleid zum Vorschein, dessen Oberkörper sich in Richtung der Backwaren lehnte. „Mary!“, tadelte der Herzog das Mädchen darin mit eindeutig gespielter Empörung. „Schon wieder Kuchen! Wenn du weiter naschst, explodiert dir inmitten dieser feinen Gesellschaft noch das Korsett!“ Ein rundes, aber keinesfalls plumpes Antlitz war uns zugewandt, in dem sich ein Paar großer Augen erwischt fühlten. Ein volllippiger Mund versuchte leidlich, den wenig bescheidenen Happen vom Kuchen zu verbergen, während die feinen Hände, welche sich ihrer Handschuhe entledigt hatten, noch nach selbigem ausgestreckt waren. Alles in einem vertrat dieses wunderbar lieblich aussehende Mädchen, was das Benehmen betraf, nicht unbedingt eine Prinzessin, wie man sie erwartet hätte. Die rehbraunen Locken der kunstvollen Frisur wippten lustig auf seinen Schultern, da es sich in eine Haltung riss, die seinem Rang angemessener war, und man konnte die wirklich auffallend zarten Hände hinter seinem Rücken eilig über die Seide fahren hören im Versuch, sich die Krümel abzustreifen. Aus den Augenwinkeln nahm ich war, wie Alexias Miene sich schon wieder verfinsterte. „Meine Tochter, Admiral Norrington: Mary Anne Frances Evelyn Sheffield.“ Bei der Erwähnung des Namens Frances sah James auf und war just gezwungen, die ihm vorgestellte junge Frau eingehend zu studieren. „Sehr erfreut, Lord Norrington!“, schnellte es aus ihr. James schien, als hätte er ein wirklich dickes Brett vor dem Kopf. Er verstand nicht vollständig, bis Elizabeth sich zu ihm neigte und lächelnd flüsterte, als wäre ihm das schon ewig bekannt gewesen: „Mary Anne Sheffield, James. Deine Verlobte. Sprich zu ihr.“ Sein Ich wollte aufschrecken, den Kopf umherwerfen, ungläubig dreinschauen und anschließend fortrennen, doch das enge männliche Mieder eines Soldaten der Englischen Marine presste es weiterhin in seine intolerante Form, gab ihm lediglich Raum, seinen Mund leicht aufklappen zu lassen, ein paar Mal zu blinzeln und die Lippen wieder zu schließen. Noch war die Käfigtür verschlossen. Und hinter ihm bohrten sich des Vaters rigorose Blicke in seinen Leib. Er schob also ein Bein vor, verneigte sich großzügig und hauchte einen Kuss auf Lady Marys Hand, ganz wie es die Etikette vorschrieb. Wenn man sich schon nicht kannte, geschweige denn liebte, sollte man wenigstens nichts unversucht lassen, dem anderen zumindest sympathisch zu sein. Immerhin würde man, ehe man sich versah, das Bett miteinander teilen. Es war nun also heraus: James sollte die Tochter des Duke of Buckingham and Normanby ehelichen, Seine Gnaden John Sheffields bis zu jenem Zeitpunkt einzigen Erben. Dass man munkelte, sie wäre ein Bastard, interessierte niemanden gravierend; Norringtons Jungen war die beste Chance zum Greifen nahe, als Schwiegersohn des Herzogs dessen wertvolle Titel für sich beanspruchen zu können, indem er sein frisches Verbundensein mit den Sheffields rasch festigte und im Eiltempo Nachkommen zeugte, bevor der Herzog es tat. Ein paar Titel mehr machten sich auch bestimmt nett in der Musterrolle. Darüberhinaus konnte ein Name ja einfach nicht lang genug sein. Ich pustete ein resigniertes Seufzen aus. „Die Freude ist ganz meinerseits, Miss“, erwiderte James ernst. Erneut neigte sich seine Mutter an sein Ohr, woraufhin er ein hektisches „M-Milady sehen übrigens bezaubernd aus. Wie… wie eine Rose, die… in diesem eisigen Winter noch… erblüht und diese graue Stadt mit ihrer Pracht… eh, beglückt“ anschloss. Nein. James’ und Marys Beziehung stand wirklich unter keinem guten Stern. „Ich danke Ihm“, sagte die Tochter des Herzogs, deren Gesicht nun tatsächlich rosiger war denn ihr Kostüm. Elizabeth stieß ihren spitzen Ellenbogen in seine Seite. „U-und es wäre eine große Ehre, wenn Milady mir später einen Tanz gewähren würden.“ „Das wäre mir ein Vergnügen“, antwortete sie mit leuchtenden Augen. „Gut… Sehr gut. Exzellent!“ Zum Glück und zur Erleichterung eines sich einschleichenden Gefühls von der Art des Fremdschämens bemerkten die beiden Väter, dass es an der Zeit war, die einander Versprochenen für das Erste zu trennen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, die Eindrücke des beziehungsweise der Künftigen zu verarbeiten, nun, da das Wichtigste zwischen ihnen geklärt worden war. Der Admiral empfahl sich beim Herzog und justierte den jungen Leutnant in eine neue Richtung. Die gesamte Familie zog es vor, ihm zu folgen, kam sie sich doch noch etwas verloren vor inmitten der Leute, die miteinander tratschten, als seien sie sich bereits seit Jahren vertraut. Die Herren fachsimpelten über Politik, Jagd, Poker und ihre Ehefrauen; eben diese tauschten Klatsch aus über Ihre Hoheit die Königin, Kunst, Männer und mich. „Elizabeth“, flüsterte ich. „Wäre es nicht besser, wenn ich außerhalb warte? Ich bezweifle ernsthaft, hier angebracht zu sein…“ Sie aber vollzog meine Bedenken nicht nach: „Ach was. Du gehörst zu unserer Familie. Ich werde gewiss nicht zulassen, dass man dich draußen zum Warten aussetzt wie einen Hund!“ Ich wollte darum bitten, doch kam nicht dazu. Im begrüßenden Abklappern der kompletten Gästeliste waren nun Lawrence Norringtons bevorzugte Personen an der Reihe, Mariner und Soldaten, welche sich nicht damit begnügen würden, dass ihr Admiral nur eilends an ihnen vorbeihuschte. Es waren zwei Herren, zwei Söhne und eine Dame. Norringtons Gattin identifizierte sie sofort: „Mrs Hardy! Welch eine Überraschung, Euch anzutreffen!“ „Lady Elizabeth! Was eine Freude! Sieh mal, William! Erinnerst du dich noch an Norringtons?“ Einer der Söhne, unverkennbar in James’ Altersgruppe, merkte auf. Er war von krausem, nussbraunem Haar, treuen Augen und einem kleinen Schmollmund. Anfangs schaute er verspannt drein, doch da er uns erkannte, lichteten sich seine Züge, was ihn dem aufgeschlossenen Jungen von damals unwahrscheinlich ähnlich machte. „Aber selbstverständlich, Mutter! Wie könnte ich Norringtons jemals vergessen? Dieser mörderische Winter damals… Die Kutschfahrt wie auf einem Erdbeben… Das verlorene Rad… Gott weiß, es stünden heute noch immer drei erfrorene Skulpturen komisch in Suffolk herum, wenn diese engelsgleiche Lady hier uns nicht aufgenommen hätte.“ Er gab der berührten Elizabeth einen Handkuss. „Admiral Lord Norrington.“ Ein mir unbekannter Mann, vermutlich William Hardys Vater, der Reeder, trat an den Seelord heran. „Ich möchte Euch meinen tiefsten Dank aussprechen dafür, dass Ihr meiner Frau und meinem Sohn Unterkunft gewährt haben. William hat Recht – wäret Ihr nicht dermaßen großmütig gewesen, es hätte womöglich ihr Ende bedeuten können…“ „Bedankt Euch bei meiner Gattin, Mister Hardy“, wies der Angesprochene allen Dank von sich. „Ich habe seinerzeit nichts getan als die Alabasterküste der Franzmänner zu bombardieren.“ „Verzeiht, Sir, Admiral, Sir, davon habe ich gelesen!“, platzte der andere junge Mann dazwischen, welchen ich ebenfalls nicht zum ersten Mal sah, mit einem Tonfall, der von gar überbordender Inbrunst war. „Die Niederschlagung Dieppes, ein brillanter Schachzug der Admiralität! Um die elfhundert Geschosse wurden abgefeuert und setzten den gesamten Hafen in Brand! Die Franzosen wussten gar nicht, wie ihnen geschah!“ „Halte dich zurück, Andrew.“ „Natürlich, Vater…“ „Admiral, Sir?“ „Captain Gillette“, entgegnete der Lord, nicht ohne Anerkennung. „Wie ist es Euch ergangen?“ Da fiel es mir ein: Captain Robert Gillette und sein Sohn, den schon damals dieses zur Strenge verkniffene Gesicht in der Farbe eines Ferkels ausgezeichnet hatte. Sicherlich durfte er seinem Namen inzwischen ebenfalls den Lieutenant voranstellen. „Bestens, Sir, ich danke der Nachfrage. Euer Sohn, nehme ich an, Sir?“ „So ist es. Lieutenant James Norrington, beordert auf die HMS Evidence.“ „Ahh“, machte Captain Gillette wissend. „Unter Captain Bennett. Ein guter Mann. Und die Evidence… Eine ehemals in französischem Dienst stehende Fregatte, nicht wahr, Sir?“ „In der Tat.” Man konnte spüren, wie der Lord, kaum in seinem Element, energetischer wurde. Oder ich wünschte mir nur, dass es so war. „Mit Steuerrad. Hebelruder sind veraltet. 70 Kanonen auf zwei Batteriedecks. Um die 150 Fuß lang und 40 Fuß breit. Dritte Klasse. Schnell, günstig, aber dennoch feuerkräftig. Sie schneidet den Wind. Alles, was mir an diesem Schiff nicht gefällt, ist die übertriebene Verzierung des Heckspiegels.“ „Wenn ich das einwenden darf, Lord Admiral“, sagte Mister Hardy mit kaum verständlichem Stimmchen, „die erhaben gestalteten Spiegel sind zuweilen groß im Kommen. Eure hochgeschätzten Kollegen der Admiralität scheinen sie den kahlen Hecks zu bevorzugen.“ „Nur Frauenzimmer finden Gefallen an diesem bunten Kitsch, der heutzutage gar nichts mehr erspart zu bleiben scheint“, brummte er. Des Reeders Miene trug etwas zwischen Unglauben und Panik zur Schau. „Verzeihung, Mylord, sollte ich mich womöglich geirrt haben, aber darf ich die vorsichtige Nachfrage stellen, ob Ihr die verehrten Admirale soeben mit Frauen gleichgesetzt…?“ „Ich bin übrigens auf die HMS Reliance bestellt worden“, warf der Offizier Andrew Gillette, der, wenn ich mich nicht täuschte, ungefähr 22 oder 23 Jahre zählen musste, stolz wie ein König in das Gespräch der alten Generation und erwartete erstauntes Aufsehen. „Schwaches Schiff“, kommentierte Admiral Norrington nebenher. „Andrew, zügle deine Pferde! Überlass mir das Sprechen, hast du verstanden?“ „Natürlich, Vater…“ „Andrew – mein Sohn – hat sich bei Málaga als fähiger Soldat und Kamerad erwiesen. Und bei Vigo profilierte er ebenfalls.“ „Unsere Schiffe waren kaum in die Ria de Vigo eingefahren, da standen sie unter dem Beschuss der Forts“, begann der junge Gillette zu berichten, als fahre er schon seit Jahrzehnten zur See hinaus. „Eine feindliche Flotte von vermutlich 30 Fahrzeugen schützte die Schatzgaleonen, zudem galt es, nahe Redondela eine Barriere zu durchbrechen. Der Befehl für die Association lautete, die kleinere nördliche Batterie zu attackieren, und obwohl wir Verluste bezogen, gelang es uns doch, dieses Ziel zu erreichen. Als Vertrauter des Kapitäns überließ er mir kurzweilig das Kommando und – was soll ich sagen? Ich habe ihn nicht enttäuscht. Seine Worte. Wie die Schlacht ausging, darüber seid Ihr gewiss bestens informiert, Sir, Admiral, Sir.“ Es lag auf der Hand, dass Vater wie Sohn Gillette auf eine schnelle Rangeserhöhung Andrews hofften. In der Tat schien mehr hinter diesem Gesicht, welches einen geradezu frappanten Kontrast zu dem Kantigen, Grauen von Lieutenant Groves darstellte, zu stecken, als man annehmen mochte, mehr noch als nur die Eigenschaft, viel auf sich selbst zu halten, schließlich waren die zur Sprache gebrachten Schlachten zwei ziemlich Bedeutende im Verlauf des spanischen Krieges und sicherlich keine Feuerübungen gewesen. Aber Lawrence Norrington stand doch, nach meinem Wissensstand, beim Marinerat in Misskredit. Wozu wandten sie sich an ihn? Er würde den gewünschten Amtsaufstieg kaum bewirken können. Oder doch…? „Von Ihrem Einsatz bin ich tatsächlich bereits unterrichtet worden, Lieutenant…“, bestätigte er gestreckt, als denke er bereits über Gillettes weiteren Werdegang nach. Dessen Vater war ihm stets ein verlässlicher Kapitän gewesen. Um einiges später würde ich erfahren, dass er sich tatsächlich für die Beförderung einsetzte, sie allerdings nicht durchbringen konnte. Eben da sein Ansehen und sein Einfluss innerhalb der höchsten Etage der Englischen Marine genauso verkümmert war wie nun sein Körper, seine Seele. Hinter seinem Rücken spottete man ja schon über ihn. Und so würde Lawrences heimlicher kleiner Dank an seinen Freund Robert die Empfänger niemals erreichen und unbemerkt mit dem armen, alten Mann in seiner längst angelegten Grabstätte verschwinden. „He, James!“ Der Gemeinte wandte sich ab von dem fachmännischen Diskurs der alten wie jungen Seeleute, um in Erfahrung zu bringen, wessen maskuline Stimme sich erdreistete, den Lieutenant sowie das Norrington zu vergessen, und wurde kurzerhand von William Hardys Arm in die Mangel genommen, der sich als unerwartet stark herausstellte. „Du machst den Eindruck, als würde dir ein Furz quersitzen! Also scheint bei dir ja alles senkrecht zu sein, hm? Freut mich!“ „Achten Sie auf Ihre Wortwahl“, zischte James, der von diesem alten Bekannten bereits genug hatte, seit er wusste, wer er war. „Das hier ist keiner jener Orte, an denen grobe Menschen wie Sie sich normalerweise aufhalten.“ „Jaaa~, ich war auch ganz in Sorge um dich in all den Jahren… Komm! Ich denke, wir beide haben uns einiges zu erzählen!“ Mit dem Arm um die hageren Schultern des Leutnants spazierte der Sechzehnjährige davon. Ich wog ab, ob ich ihnen folgen sollte oder lieber bei Elizabeth und Misses Hardy bleiben, in deren Kreise ich mich unbetasteter von den Blicken der anderen Gäste fühlte, doch letztlich siegte das Interesse an dem, was Will in der Zwischenzeit widerfahren war. Neugierde war seit jeher eine Schwäche von mir gewesen. „Er… er wird doch nicht vor mir befördert, Vater, oder?“, hörte ich Andrew Gillette ein wenig erschrocken dem Kapitän zuflüstern, als ich mich bei Elizabeth empfahl. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)