James Norrington von Phantom (Ⅰ. Ankerlichtung) ================================================================================ Kapitel 23: I. Norringtons Lächeln ---------------------------------- Denn der scharfsinnige Seelord des karibischen Gewässers Lawrence Norrington hatte mir die Notlüge des leeren Stalles keineswegs abgekauft, und Frances Farley mochte zwar über schauspielerische Begabung verfügen, nicht aber über die Geduld, ihr Theaterstück lange fortzuführen. Sechzig Minuten später war kein einziger Hauch einer Depression zu spüren, die ganz natürlich gewesen wäre, wenn man einer Vergewaltigung haarscharf entkommen ist, was mein Herz – wogegen mein Kopf ihr nach wie vor keinerlei Vorwurf machte – schier erzürnte. Lord Norrington auf seiner Seite lag nun kontinuierlich auf der Lauer, was die Beziehung der beiden jungen Menschen betraf, und verfiel zurück in den pechschwarzen Gemütszustand des Geisteradmirals. Nicht zu glauben, dass er mich vor nur einer Stunde höflich, freundlich und bewegend verabschiedet hatte. An James aber erlebte ich, da das Phantom einmal außer Reichweite war, eine ganz neue Seite. Oder nein. Ich glaube nicht, dass man diese Seite seiner wirklichen Persönlichkeit zuordnen darf. Gar wie unter dem Einfluss von Opium schwebte er mir förmlich entgegen, unerreichbar mit Worten wie Taten und locker, wie es ein Gassenbube seines Alters nur sein konnte, alle Regeln des resoluten Marinezeremoniells missachtend, selig lächelnd, mit erhobener Nase und extravertierten Augen, dass ich meinte, irgendjemand anderes hätte sich in sein Kostüm geworfen. Er bat mich zum Tisch, auf den er lässig die Arme legte, sobald wir Platz genommen hatten, und schwärmte im Plauderton und wenn auch etwas umständlich von der Liebe, obwohl sein Vorgesetzter und Vater jederzeit durch eine der entsetzlich vielen Türen hereinkommen könnte. Freilich war mir am Besten bekannt, wie gefährlich undicht die greisen Holztüren im Bezug nicht nur auf die Kälte waren. „Frauen sind das Geschenk des Herrn an die Männer“, philosophierte er, der er noch nie eine Kirche von innen gesehen hatte, „und es ist unsere Mission, diese zerbrechlichen Geschöpfe vor allem Übel zu bewahren. Ihre… Augen sind tiefer als ein… ein Eisberg, dessen Spitze aus dem Wasser ragt. Ebenso gefährlich ist es, ihnen dort hinein zu schauen. Und ihre Hände sind so… so sanft! Mit ihren Händen können die Frauen Wunder bewirken… Was sie für uns tun, das müssen wir uns erarbeiten, das muss verdient werden. Verstehen Sie, Ms Abda? Ein Mann ist ehrbar und stark, wo eine Frau zart ist und sich zurückhält. Zerbrechlich und zart, wie, wie… wie eine Blume! Wie leicht werden Blumen nicht zertreten? Ob ihrer Schönheit! Wir müssen nur Acht auf sie geben, um sie blühen zu lassen, ihnen die… die Sonne vom Himmel holen und… sie bewässern.“ Ich konnte nichts tun, meine Brauen schoben sich einfach nach oben. „Schön gesagt, James.“ Nicht Lord Norrington, aber Elizabeth war hinter ihm aufgetaucht, mit einem stolzen Leuchten in den dunklen Augen. Anscheinend gelang es ihrem Sohn, ihr sämtliche Besorgnis zu nehmen, was die Vorstellung von einem verhärteten Grobian anbelangte, dessen Blick nicht über Bug und Heck eines Schiffes hinausreichte, doch kaum hatte sie ihre Anwesenheit verraten, siechte die Liebestrunkenheit in James’ Erscheinung dahin, und er verstummte. Es gab keine einleuchtende Erklärung für sein abruptes Schrumpfen, aber es war offenkundig, dass es auf irgendeine Art mit Elizabeth zusammenhing, und deshalb sparte mir die taktlose Frage danach, obschon sie drängte, beantwortet zu werden. Mir war, als sollte irgendetwas nicht länger hinausgezögert werden und als ob ich gerade versuchte, etwas abzustreiten, das sich längst als Tatsache herausgestellt hatte, ohne dass ich wusste, was es war. Auch ich fühlte mich plötzlich unwohl, ertappte mich beim Zählen der nackten Holzplanken, aus welchen die Wände bestanden, sowie beim Schönfinden des ungestört das Gasthaus einmauernden Schnees. Jeden Winter, wenn er in stärkerem Ausmaß oder über einen längeren Zeitraum hinweg den Boden bedeckte, erinnerte ich mich des einen Jahres, in dem der kleine James zu mir ins Bett gekrabbelt war, um mir ein verschwommenes Geständnis mit auf meinen vermeintlichen Weg ins Jenseits zu geben. Mehr als mein körperliches Elend waren mir seine Zweifel erhalten geblieben, seine Zweifel an sich selbst und an der Liebe seiner Eltern… Da fiel mir auf, dass James, die Spinnenhände Elizabeths auf den Schultern, mit seinen Augen genau das gleiche Empfinden ausdrückte wie damals mit seinen Worten: "Seit ich wieder in England bin, gibt es Momente, da sagt mein Gefühl Nein zu etwas, mit dem sich mein Verstand verträgt…" „Ich glaube, ich kenne die Auslöser dieser Disharmonien, aber es sind ganz gewöhnliche Ereignisse; Dinge, die es auch schon vor der Reise gegeben hat. Alles, was sich an ihnen seitdem verändert hat, ist die Reaktion dessen, was ich spüre, wenn es wieder passiert… Soll ich mich nach meinem Gefühl richten? Oder soll ich mich damit arrangieren. Ist es ein vorübergehendes Fremdeln, vielleicht… aufgrund eines Abgewöhnens?“ Ich wusste, ich konnte nicht ewig schweigen, auch wenn mir jeder Satz wie eine Rasierklinge den Hals hinaufstieg. „Was geschieht, wenn du dich… nach deinem Gefühl richtest?“ Er wog es ab. „Es könnte jemanden verletzen. Vielleicht verstehe ich nur etwas falsch und muss mich wirklich erst wieder daran gewöhnen.“ "Lady Elizabeth liebt mich, oder?", hatte er mich gefragt. Und zweimal hatte ich es ihm bestätigen müssen, als sei es dermaßen ungewöhnlich, dass eine Mutter ihr Kind… liebt. Sollte meine Antwort etwa falsch gewesen sein? „Findest du nicht, Abda?“ Als ich aufsah, hatte sie beide Arme um ihn geschlungen, und ihr Haupt war nicht weit davon entfernt, auf dem seinen zu ruhen. Sie wirkte so keck, so rosig. Vierundvierzigmal hatte Kälte und Hitze ihre Haut angegriffen; nichtsdestotrotz stand dort eine erhabene Frau mit dem scheinbaren Geschenk Ewiger Jugend, eine in die Höhe geschossene Alexia mit nachtschwarzem Haar und schokoladenbraunen Augen, einem süßen, kirschroten Lächeln auf sandweißem Teint, unmittelbar hinter der Quelle ihrer unsterblichen Frische. „Was meinst du?“, musste ich nachfragen. „Mein Liebling hat gerade vor dir eine hinreißende Ode an die Frauen gehalten und du fragst mich, wovon ich spreche?“ Ihr Liebling wirkte auf mich, als würde er sich nur geschwind aus ihrer Umarmung winden wollen, ehe Frances Farley hereinkam, oder noch schrecklicher: Lawrence Norrington. Obwohl ich ihr gerne zugestimmt hätte, erwiderte ich nichts, denn mir war, als würde ich sie anlügen, obschon James’ ganz persönliche Erkenntnis nach dem Kosten vom Verbotenen Apfel wirklich ziemlich bezaubernd war. Es störte sie gar nicht erst. „Wir sollten einmal spazieren gehen, James, und dann erläuterst du mir deine edle Anschauung ganz genau, in Ordnung? Wenn die Nacht sich über den Winter legt, söhnt sie seine Kälte aus. Es lassen sich keine Worte finden für die romantische Magie einer klaren Nacht, wenn der sanfte Wind auf den Instrumenten der Natur spielt und die verschlafenen Himmelskörper den Schneeteppich blassblau bemalen… Hast du das einmal gesehen? Lass es mich dir zeigen. Wir zwei müssen ohnedem noch in die Stadt, ehe du uns leider Gottes verlässt. Dein Vater wünscht, dass du in der Lieutenant-Uniform gemalt wirst.“ Ein Pistolenschuss zerriss die merkwürdige Atmosphäre und ließ mich auffahren, ehe er sich als gegen die Wand krachende Haustür herausstellte und – neben einer frostigen Brise – Alexia gleich einer aufgescheuchten Katze hereinbrauste. Wieder dominierte die Wut ihr Feengesicht; wenn das so weiterging, würde sie mit 44 Jahren wie mit 88 aussehen. „Fanny ist eine eingebildete Tante!“, wetterte sie die bösesten ihr einfallenden Schimpfwörter hinaus, obwohl ich befürchtete, dass dieses ihr Repertoire bereits viel Freiraum für entsprechende Weiterbildung bot, und zerrte an dem Kleid ihrer Mutter, das lange nicht mehr vergleichend raumfressend war wie die französischen Hühnerkörbe, obzwar diese sich in der Öffentlichkeit jener Zeit noch immer größter Beliebtheit erfreuten, was ich niemals werde nachvollziehen können. „Jamie, spiel du mit mir! Wann spielst du endlich mit mir? Du hast es versprochen!“ Notgedrungen ließ Elizabeth von ihm los, um das ihren Stoff terrorisierende Mädchen von sich zu schieben. Augenblicklich konnte er sich ein Stück weit entspannen; eine Erleichterung, die stärker auf ihn wirkte, da Farleys Tochter durch die Tür kam. Vereinzelt trug sie Schneekristalle auf ihrem kupfergoldenen Haar sowie ein resigniertes Lächeln, und ich denke, sie war ein wenig enttäuscht darüber, mit Kindern nicht so umgehen zu können, wie sie es sich wünschte, ohne zu wissen, dass Alexia definitiv nicht für die Messung erzieherischer Fähigkeiten geeignet war. Weil es eigentlich niemanden gab, der wirklich mit ihr umzugehen wusste. James’ und Frances’ Augen fanden zueinander, und nur ihre Augen strahlten sich an und konnten sich nicht mehr lösen. Ich freute mich für die beiden, wahrhaftig. In dem Moment rauschte Lawrence Norrington an mir und Elizabeth vorbei, auf James zu und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Wir alle waren von dem Schmerz betäubt, während der Admiral vor seinem Jungen stand wie ein hoch aufragender Steinturm und ihn auf das Level eines bedauernswerten Straßenköters dezimierte. „Norrington!“ Ich sah James mühsam schlucken, doch seine Miene blieb starr. „Sir?“ „Habe ich dich in die Welt gesetzt, damit du der Wirtstochter schöne Augen machst?!“ Er senkte die Lider, ehe er antwortete. Die Wimpern über der anschwellenden Wange zitterten kaum merklich. „Nein, Sir.“ Wir erwarteten, er würde ein weiteres Mal zuschlagen, doch nichts dergleichen war der Fall. Norrington sah aus, als sei etwas, das er sehr gerne hatte, kaputt gegangen; seine Erscheinung mutete erbärmlich an. Niemand wagte das Wort zu erheben und James nicht, seine Augen zu öffnen, bis der verwundete Wolf das Gasthaus verlassen hatte. Als würde die Zeit aufholen wollen, was sie durch seine zumindest körperliche Anwesenheit verloren hatte, fuhr Leben in uns. Elizabeth, Frances und ich stürzten zeitgleich auf James zu, was zur Folge hatte, dass Erstere und Letztere mit ihren Sturköpfen zusammenstießen. Nur Frances erreichte das Ziel, ging neben dem Stuhl in die Knie, auf welchem James sich entkräftet niedergelassen hatte, und streckte die Hand nach seiner siedenden Wange aus. Grob schlug er sie zur Seite. Sie zeigte sich verständnisvoll, unternahm einen neuen Anlauf, doch wieder stieß er sie von sich. „Lassen Sie mich!“ „Aber warum?“, fragte sie ungläubig nach. „Sie wissen, warum! Der Admiral…!“ Niemand hatte vor, ihn zu unterbrechen, also übernahm er das eigenhändig, indem er aufsprang und mit großen Schritten flüchten wollte. „James!“, rief Elizabeth, doch sie hörte er in diesem Augenblick überhaupt nicht. „James, warten Sie!“ Er schwang zu Frances herum und erdolchte sie mit einem zornigen Blick. „Für Sie immer noch: Mr Norrington!“ Ein drittes Mal musste die arme Haustür das donnernde Schmeißen ertragen. Mich an das Fenster werfend, beobachtete ich James durch den Schnee stapfen, und der Winter drang bis in sein Herz. Sämtliche Gefühle, die er für Frances Farley – oder besser: für ihren Körper und die Chance, sich durch sie aus dem Klammergriff einer anderen zu befreien – empfunden hatte, wurden in seiner aggressiven Kälte ausgelöscht. Konsequent ging er ihr fortan aus dem Weg, ignorierte ihre Worte, behandelte er das nicht begreifende Mädchen wie eine seiner Hinwendung unwürdige Bedienstete, und wir Frauen wie auch Mister Farley, der uns für James’ scheußlich arrogantes Verhalten verantwortlich machte, waren erleichtert, als gen nächstem Abend die Droschke zum Buckingham House vor unserem Gasthaus hielt. Schwerfällig wurde sie wenige Minuten später, von denen gerade fünf Sekunden für den Abschied benötigt worden waren, der Rest für die Verstauung unseres Habs und Guts, vor allem von Elizabeths mächtiger Jupe, durch das weiße Meer in Richtung Stadt gezogen. Die Aussicht auf ein buntes Fest ermunterte niemanden von uns. Wie immer dann, wenn ich ihnen zu viel Zeit ließ, zerstreuten sich meine Gedanken, drifteten an die ungewöhnlichsten Orte meines Gedächtnisses. Inspiriert von des Admirals Ausraster, besuchten sie die staubige Kammer meiner Vergangenheit, entsannen sie sich einer Zeit vor siebenundzwanzig Jahren, die abverlangend gewesen war, so fremd und unberechenbar für mich, aber die mir Hoffnung gemacht hatte. Zum ersten Mal trat ich in ein richtiges Haus ein – und gleich so ein Enormes! – und war überwältigt von den Eindrücken gerader, kahler Wände, der Aromen nach Reinheit und Perfektion, eines kalten Lichtes. Eindrücke, die ich so weder aus meiner Heimat kannte noch aus dem Stall, in welchen ich bis dato gehaust hatte. Alles, was mir vertraut, war die verdorrte Blume, und ich umklammerte sie ungnädig wie den Faden, der mich mit dem Ausgang dieses nicht zu überblickenden Labyrinths verband, für den Fall, dass mich die Angst vor dem Neuen doch besiegen sollte. Sie hatte nicht viel Zeit, mich zu beeindrucken, denn unmittelbar nach meiner Ankunft begannen mich ein paar bittere Haushälterinnen in meine Aufgaben einzuweihen, einzuweisen. Sie konnten ihr Wissen gar nicht zu schnell auf mich abladen, als versprach ihnen das Ende meiner Ausbildung, selbst nie mehr arbeiten zu müssen, und tatsächlich sah ich sie bald danach nicht mehr wieder. Die ersten Monate jedoch waren sie um mich wie abgestumpfte Erinnyen, mich lebendig begrabend unter dem Berg der Regeln und Pflichten und Gesetze, und ich fand mich selbst wieder in rasch wechselnden emotionalen Verfassungen von Wut, Sturheit, Demut und Selbstmitleid, dass ich bald nicht mehr sagen konnte, wie ich eigentlich wirklich war. Die Herrin des Hauses, Lady Elizabeth Grace Defoe, bald Norrington, war mit meiner so bestimmt nicht kalkulierten Entwicklung überfordert und begann, an ihrer idealisierten Idee einer nichteuropäischen Amme zu zweifeln. Je stärker diese Zweifel an ihrem Vorhaben nagten, desto unwichtiger wurde ich für sie, und eines Tages fand ich mich außerhalb der Villa im Gartenhäuschen wieder. Keine Vorsätze, keine Leistungen, aber auch keine Bedeutung mehr. Es ging mir nicht elend: Ich erhielt Verpflegung, weit über die Notwendigkeit hinaus, und jemand hatte einen Angestellten beauftragt, mich mit Büchern zu versorgen, dass ich mich nicht langweilte. Im Verwenden der neuen Sprache hatten mich bereits die Haushälterinnen unterrichtet, doch erst die Fülle an Literatur berühmter Poeten und antiker Mythen eröffnete dem benachteiligten Horizont einer Weggesperrten die Chance, sich auszuweiten und zu strahlen, sichtbar und anerkannt zu werden. Selbstverständlich nahm sie sie wahr, denn niemals würde sie das Vorurteil akzeptieren, unheilbar dumm zu sein. So saugte ich die Buchstaben auf – erst stockend, bald flüssig, letztlich wie im Rutsch – las und lernte in meiner einsamen Abtei wie ein Eremit. Abend für Abend lauschte ich den ausgelassenen Veranstaltungen einer zu jungen Elizabeth innerhalb des Anwesens, ließ es dem normalen Lauf angehörig werden wie am Tage das Zwitschern der Vögel und erklärte endlich alles, was außerhalb von Bücherwelten stattfand, als nichtig. Da Hunger und Durst ärgerlicherweise nicht mehr zu ignorieren waren und ich zu eingebildet, sie zu respektieren, sie mich schließlich umwarfen und ich in meiner Jämmerlichkeit einsehen musste, dass meine Herrin mich allem Anschein nach vollkommen vergessen hatte; da ich mich also darauf einstellte, meiner geliebten Mutter zu folgen, ohne dass die Blume jemals wieder aufgeblüht war, öffnete sich die Tür zum ersten Mal seit ungezählten Tagen. Wie nahe ich mich auch der endgültigen Finsternis fühlte; auf einmal empfand ich ungläubiges Staunen. In glänzender Erscheinung stand Achilleus in der Türzarge zu meiner sehr bescheidenen Unterkunft, mit sonnenblondem Haar, eisblauen Iriden, göttlicher Statur und einem Teller Kuchen in der Hand. „Wir kennen uns nicht, werte Dame“, sprach eine tiefe, sonore Stimme zu mir Sterblichen, ohne mich die Meinung ihres Besitzers über das, was er sah, erfahren zu lassen. „Doch wir wollen aneinander vorstellen. Mein Name ist Lawrence Richard Norrington, Erster Offizier im Dienste der Flotte Seiner Majestät. Und Ihr seid…?“ Mit meiner letzten verbliebenen Kraft richtete ich mich auf, hockte zitternd und antwortete stolz: „Abda.“ Es bedeutete Knecht. „Bitte. Esst.“ Das ließ ich ihn nicht noch einmal sagen. Während ich seinem Angebot recht ungehalten nachkam, kniete er vor mir, auf meiner Höhe, und lächelte mich an. „Ich muss das Verhalten meiner Verlobten, die Euch von dem Sklavenhändler freikaufte, entschuldigen. Unsere Hochzeit steht bevor, nun, da ich zurückgekehrt bin… und auf Euch, Ms Abda, wartet eine bedeutungsschwere Aufgabe. Ich frage Euch, ob Ihr bereit seid, sich ihr mit ganzem Herzen zu verschreiben, dabei womöglich alles aufopfernd, das Euch nach der langen Zeit in Gefangenschaft unabdingbar geworden scheint.“ „Ich habe keine Wahl… Herr“, wandte ich ein. Gereizt. „Ihr versteht mich falsch. Niemals wieder sollt Ihr Euch für eine Sklavin halten, sondern Ihr werdet frei sein, Ms Abda, und alles, was Euch innerhalb unseres Hauses aufgetragen wird, ist als Arbeit zu verstehen, so wie jeder rechtschaffene Mensch arbeitet. Meine Verlobte hat manchmal eine sehr missverständliche Art, sich mitzuteilen, doch im Grunde wünscht sie ebenso wie ich, dass Euer frischer Geist Einzug in unser Domizil hält. Es ist für Euch die beste und – realistisch betrachtet – auch die einzige Möglichkeit, einen Kompromiss mit Eurem harten Los zu schließen. Auf der anderen Seite stelle ich Euch frei, unser Grundstück augenblicklich zu verlassen, ohne uns zu irgendetwas verpflichtet zu sein. Allerdings bezweifle ich ernsthaft, dass Ihr lange überleben werdet. Der Beweis Eurer Herkunft liegt in der Tönung jedes einzelnen Pigments. Ihr werdet auffallen wie ein schwarzes Schaf in der weißen Herde. Engländer mögen schwarze Wolle nicht, denn sie lässt sich schlecht färben; sie hassen sie geradezu. Nun. Überlegt es Euch.“ „Erhalte ich Lohn?“, stieß ich unhöflich hervor. Ich musste an mich selbst denken. „Freilich.“ „Wie viel?“ „Was immer Ihr braucht… sofern Ihr bescheiden bleibt wie zuvor. Pekuniär gesehen. Habt Geduld, und ich verspreche Euch, der andere Teil Eures Lohnes wird Euch mehr Mühen und Anstrengungen auszahlen als allein diese Eures Domestikendaseins.“ Mich umgab fest verschlossen die Rüstung der Skepsis. „Wie meint Ihr das?“ „Ich meine die bedeutungsschwere Aufgabe, zu welcher sie Euch ausersehen hat.“ „Welche Aufgabe?“, hakte ich nach, doch er hob nur eine einhaltende Hand zwischen uns. Erst da wurde ich mir gewahr, wie heftig und unangebracht mein Ton mittlerweile fiel. Peinlich berührt senkte sich mein Blick auf den verkrümelten Teller. Wahrlich appetitlich, der Kuchen, der vor wenigen Minuten darauf gestanden hatte. Ich hatte nicht einmal daran gedacht, meinem Herrn ein Stück davon anzubieten. Mit welchem Recht hatte ich ihn aufgegessen? „Überlegt es Euch gut“, wiederholte er sich sonderbar friedvoll, näherte seine Hand meinem Gesicht an und schob mein Kinn empor. Ich sah sodann jenes ungewöhnliche Lächeln, das seinem königlichen Antlitz kleine, ehrliche Lachfalten versetzte, und war schlagartig davon überzeugt, dass es absurd war, sich die Entscheidung überlegen zu müssen. Aus irgendeinem Grund und vor seinen Augen begann ich zu weinen. Es war gut, nicht allein sein zu müssen, als die Dämme brachen. Ich erzählte ihm alles, obwohl er mich nie dazu aufgefordert hatte, und er nahm alles so selbstverständlich in sich auf, als würden in seiner Seele Sorgen und Ängste gereinigt werden und als pure Energie zu mir zurückkehren; wie ein starker Baum, von dem man sagt, er würde die von den Menschen und den Tieren verbrauchte Luft unerschöpflich erneuern. Vielleicht habe ich ihn sogar geliebt. Doch was zählte dies noch? Lawrence Norrington war längst von uns gegangen, da wir in der Droschke nach London fuhren, und jeder von uns Vieren war irgendwie, mehr oder minder über seinen Tod hinweggekommen. Wir bemitleideten nur den einarmigen Admiral, den trotzigen und wirren Admiral, das traurige Rudiment eines Geistes, der nicht die verdiente Erlösung finden durfte, bevor Lawrences letzter Wille zumindest in die Wege geleitet worden war. James, in fescher Ausgehuniform, saß neben mir, die schlanken, in neuen, elfenbeinweißen Schuhen endenden Beine übereinandergeschlagen; eine Herausnahme, die gewisslich jeden Marinekapitän vor Empörung hätte aufschreien lassen, und schaute nachdenklich aus dem Fenster. Ich konnte nicht länger schweigen, ansonsten würde ich platzen: „Denken Sie über ihr Benehmen gegenüber Miss Farley nach?“ Er wandte sich mir zu, mit erhobenen Augenbrauen. „Wie kommen Sie darauf?“ „Finden Sie nicht, dass es… dass es vielleicht etwas inadäquat war?“ Mein Kopf hatte schon wieder Feuer gefangen. „Inadäquat?“, wiederholte er verwirrt. „Nein. Eigentlich dachte ich über meine bevorstehende Reise nach, und – zugegeben – der Gedanke, was man uns auf einer derart bedeutenden Festivität wohl servieren wird, ließ sich ebenfalls nicht aus meinem Kopf vertreiben.“ Er lächelte. Seine Lippen bildeten einen sehr schmalen Strich und streckten sich weit in die Wangen. Es wirkte falsch und ekelte mich an. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)