James Norrington von Phantom (Ⅰ. Ankerlichtung) ================================================================================ Kapitel 22: I. Die Bitte zum Tanz --------------------------------- Einen Tag vor dem großen Weihnachtsball im Buckingham House passierte es. Das, was eigentlich jedem früher oder später passierte – weil ein Bestandteil des menschlichen Lebens, dafür von nicht zu leugnender Unentbehrlichkeit – manchmal als glückliche Erinnerung hinterbleibend, manchmal jedoch als fürchterliche; ansonsten als eine, die mit Worten nicht zu definieren war. Es passierte etwas, über das man nicht offen sprach. Und über das man sich doch ausgelassen unterhielt. Das den eleganten Adel in äußerste Empörung versetzte, weil es absonderlich war, und nach dem es ihm permanent und in immensen Mengen dürstete, weil es so wundervoll war. Wofür man andere brauchte, ohne jemanden zu benötigen. Das viele verschiedene Formen annehmen konnte und doch immer das eine und selbe blieb. Das alle Stände, alle Länder, alle Wesen auf diesem Planeten vereinte. Niemand wusste, wo es hergekommen war. Das, was einfach existierte. In jedem reifte und blühte es – in manchen mehr, in anderen weniger. Das, was verschiedenste Bedeutungen hatte. Das, was eigentlich jedem früher oder später passierte, manchmal glücklich, manchmal fürchterlich… Das passierte am dreiundzwanzigsten Dezember dem siebzehnjährigen Lieutenant James Alexis Lawrence William Norrington. Hinter den Fenstern tanzten grazil die Schneeflocken, und ich freute mich auf weiß bedeckte Tage des Herrn. Man muss nicht gläubig sein, kein Christ, um Weihnachten etwas ganz Besonderes abzugewinnen. War es früher vielleicht nur der vermeintliche Zeitpunkt der Geburt des christlichen Messias, so hatten die Menschen, die es feiern, ihm inzwischen zu einer Atmosphäre verholfen, die weder Hass noch Traurigkeit duldet, höchstens Melancholie. Sie ist wie eine gemütliche Wärme, die aus unserem tiefsten Inneren zu gedeihen beginnt, und auf diese Weise zuerst uns selbst in völligen Einklang bringt, ehe wir unser Empfinden – wie wir es oft tun, angeregt durch unser eigenes Wohlgefühl – an andere auslassen und weitergeben können. Mit den Augen in die eine Richtung und den Ohren in die andere lehnte ich mich an die Küchentür. „Sehen Sie mir in die Augen.“ „Aber Sie sagten doch, ich solle auf die Schritte achten!“ Wieder das Lachen einer klaren Kuhglocke. „Ja, aber doch nicht, wenn es ernst wird.“ „Wenn es ernst wird?“ Diding, diding, diding… Sie kicherte. „Nun hören Sie mal: Der Tanz besteht nicht nur aus möglichst rhythmischem Hin- und Herhoppsen zur Musik. Es gibt, wie überall, wo sich der Hof vom "einfachen Volk" abheben will, bestimmte und strikt vorgegebene Verhaltensweisen zu beachten. So sollte man seinen Tanzpartner nie aus den Augen lassen und immer ein leichtes Lächeln tragen – aber nicht grinsen! Ein sanft geneigter Kopf schmeichelt der Eleganz. In einer geraden Körperhaltung macht Ihnen ja sowieso niemand etwas vor…“ „Eine gerade Körperhaltung versteht sich wohl auch von selbst!“, verteidigte er sich. „Die Dame steht rechts. Manchmal kann es passieren, dass man es vergisst, wenn man auf die Tanzfläche tritt und ein Anfänger ist. Dann bloß nichts anmerken lassen! Aber Sie werden dieses Problem wohl nicht haben. Immerhin werden Sie fast ausschließlich von geübten Tänzerinnen umgeben sein.“ „Ich verbitte mir diese Anspielungen!“ „Haben Sie es etwa schon wieder vergessen, Mr Norrington? Immer lächeln!“ Es wurde still, und selbst ich hinter der Tür musste grinsen, als ich mir vorstellte, wie James’ Mundwinkel verkrampft nach oben stiegen, bereit, in den Krieg des nonchalanten Gesichtsausdruckes zu ziehen. „Gut so. Und jetzt: Noch einmal von vorne. Reverenz?“ Es wurde Zeit. Ich schob mich von der Tür, drehte mich fort von den Fenstern, hinter denen der Schnee rieselte, und drückte noch einmal mein Ohr gegen das Holz. Meine Hand umschloss bereits die Klinke. Würde mich nun wieder jemand von hinten überraschen, so würde ich sie mit der Achtsamkeit eines gestressten Elefanten hinunterdrücken und mit derselben Grazie in die heimliche Zweisamkeit stolpern. „Den Höhepunkt eines Tanzes bildet das Halten beider Hände des Partners. Halten Sie Ihre Handflächen nach oben, damit die Dame ihre Hände nur hineinzulegen braucht… Strecken Sie die Arme, Mr Norrington. Stellen Sie sich vor, Sie und Ihre Begleiterin würden einen großen Flechtkorb umgreifen wollen.“ Ich drückte sie hinunter. Was mochte James in den fünf Tagen der Übung unter den Fittichen dieses Mädchens gelernt haben? „Kurz hinab, dann rasch zwei Schritte. …Setzen Sie sie leichter, Mr Norrington! Als würden Sie auf Glatteis gehen… Hinab, das vordere Bein heben. Auf den Zehenspitzen. …Leichter, Mr Norrington… Aus den Knien. Denken Sie auch an die Hände. Dada – dadamm… Langsam… Sie sind mit der Hüfte viel zu steif. Das sieht nicht gut aus. Wiegen Sie sie ein wenig… Sehen Sie? So… Stellen Sie sich die Musik vor: Dada – dadamm… Hinab. Strecken… Ihre Hände, James… Und fühlen Sie sich einfach frei… Genau… Das… ist tanzen…“ Die Tür öffnete sich einen Spalt weit, der großzügiger war als beim letzten Mal. Ich konnte die Theke und den Schrank sehen. Sowie ein paar Töpfe. Und unsere Teller, die sie eben vom Tisch geräumt hatten. Und unser Besteck. Das Marmeladenglas. Und Alexias angeknabbertes Brötchen. Die frischen Eier, die Blechkanne mit Milch. Und James und Frances, in einem innigen Kuss versunken. Ihre Lippen tasteten sich schüchtern ab, wie Schmetterlinge, die nach langer Suche zueinander gefunden hatten, und doch entfaltete sich in dieser Zärtlichkeit all das, was James sehr lange hatte aufstauen müssen. Unsichtbar explodierten zwischen ihnen die fremden Gefühle, und die Unschuld begann, im gnadenlosen Sonnenlicht der sündigen Leidenschaft zu schmelzen. Es ist immer wieder erstaunlich festzustellen, dass ein Mensch genau weiß, was er in diesen Augenblicken, in denen zwei sich zueinander hingezogen haben, zu tun hat, ohne jemals darin unterrichtet worden zu sein. James, im Tanzen so ungeschickt wie ich beim Springen, übernahm in dieser Angelegenheit, in der er unmöglich Erfahrung haben konnte, kurzerhand die Führung, als habe er die letzten fünf Jahre allein damit vertan, Frauen um den kleinen Finger zu wickeln, sich in seiner Handhabung dergleichen zu perfektionieren, nicht etwa zwischen schweißgebadeten Muskelpaketen Anweisungen zu brüllen, Segel und Anker zu bedienen, Gefechte zu bestreiten. Mit geschlossenen Lidern drängte sich seine Unterlippe anschmiegsam gegen den Mund dieses Mädchens, und es öffnete ihm tatsächlich. Die Köpfe sanft in entgegengesetzte Richtungen geneigt, genauso wie Frances es ihm erklärt hatte, wagten sie sich in ganz neue Bereiche vor. Dann löste sie sich von ihm, und die beiden starrten sich an, als hätten sie just vergessen, wie ihre eigenen Namen lauteten. „Was habe ich gerade getan?“, hauchte er verwirrt. „Ich habe Sie geküsst…“, antwortete sie verwirrt. „Ich… ich habe Sie auch geküsst…“ „Meinen Sie…? ...Ja. Das kann sein…“ „Ich bitte vielmals um Entschuldigung, dass… dass ich so unverschämt war, Ihren Kuss zu erwidern, Miss…“ „Verzieh’n!“, fiel sie ihm mit dünner Stimme ins Wort und um den Hals, drängte sich ängstlich an seinen Mund, als würde ihr den jemand wegnehmen wollen. Ihre Hände suchten lediglich nach Halt auf seinen Schultern, aber aus Versehen lösten sie dabei die Batistcravate seiner neuen Uniform und dann auch noch den obersten Knopf des Gilets. Er atmete mit sehr schwacher Entrüstung ein. „Was tun Sie…?“ So, wie sie aussah, konnte sie sich das selbst nicht erklären. „Ich… ich dachte, Ihnen könnte vielleicht warm sein…“, murmelte sie nervös daher. „Merkwürdigerweise ist es mir das auch…“ Die Erkenntnis war ihm gerade eben gekommen, sie war förmlich von hinten an ihn herangeschlichen und überrumpelte ihn folglich sehr. „Ähh… Ja?“ Sie offenbar auch. Um nicht weiterhin der Verlegenheit gedankenverlorener Äußerungen ausgesetzt zu sein, verschloss er ihren Mund nach exakt drei Sekunden beidseitiger Statik für einen Kuss, der alle Vorhergehenden in den Schatten stellte. Keine Sekunde zu spät registrierte ich, dass sie nach der Klinke auf ihrer Seite langte. In der nächsten nämlich schwang die Tür auf, und ich war noch rechtzeitig zurückgewichen, um sie nicht gegen die Stirn geknallt zu bekommen, was mich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit hätte auffliegen lassen. „Wo gehen wir hin?“, flüsterte er, betrunken von dem neuartigen Empfinden und diesem auch gleich komplett untertan. „Tanzen“, hauchte sie mit einem koketten Grinsen und verschleierten Augen, ihn an den Armen zur Haustür führend. „Im Schnee?“, fragte er weiter, und ich meinte, eine Prise Belustigung herauszuhören. Ehe sie die Tür zum hochverschneiten Vorgarten öffnete, hatte sie ihm versehentlich den Justeaucorps von den Oberarmen gestreift, und in einem plötzlichen Anflug puren Unglaubens fragte ich mich, weshalb sie ihn der Kleider entledigte, wenn sie doch nach draußen wollten. Ich konnte nicht zulassen, dass er sich erkältete. Also wartete ich, bis die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, hob dann James’ Surtout vom Haken und musste ihnen unbedingt folgen. Direkt an das Gasthaus grenzte ein aus düsterem Holz zusammengebauter Stall oder Schuppen, und des Rätsels Lösung, wohin sie entschwunden waren, lag auf der Hand. Auf meinem Weg von der Tür des Hauses zu jener des Stalles, der einen flachen Bogen beschrieb, sammelte ich die Halsbinde auf und presste sie fest gegen den Stoff des Umhangs. Ich war gespannt wie ein Bogen... Nein, wie der Pfeil darin, der darauf wartete, abgeschossen zu werden! Bei alledem war mir sehr wohl bewusst, dass ich das, was ich tat, nicht hätte tun dürfen. Aber sollte ich mir diese einmalige Gelegenheit denn wirklich entgehen lassen? Ja. Vermutlich. Denn das hier war James’ Sache. Aber ich konnte es nicht. Wieder spionierten meine Ohren an der Wand, doch als sie mir versicherten, nichts hören zu werden, fasste ich meinen Mut zusammen und schob das Scheunentor auf, dessen Riegel bereits geöffnet gewesen war. Staubiger Heugeruch flüchtete sogleich durch die schmale Öffnung, der sich im Inneren der warmen, dunklen Tenne gut über den schneefreundlichen Spätherbst gehalten hatte. Am anderen Ende des Raumes machte ein mageres Laternenlicht einige Strohballen sichtbar. James saß darauf, sein Antlitz von dem Flämmchen in ein unruhiges Bronze getaucht, und starrte mit offenem Mund und verhältnismäßig großen Augen auf etwas, das noch hinter der Schuppentür verborgen war. Es konnte nur Frances sein. Und seiner untypischen Miene nach schien sie derzeit etwas durch und durch Raffiniertes zu tun. Ich vernahm das Rauschen von Stoffen, das dumpfe Aufkommen von Stoffen am Boden. Das Herz klopfte mir bis in meinen Gehörgang, als ob ich es wäre, die dort saß und wartete, was passieren würde. Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich ihm das wünschte oder ob es mir lieber wäre, es würde nicht passieren. Nun beugte sich die Tochter des Wirtes schwungvoll in mein Sichtfeld und traf seine Lippen. Ihr feuerrotes Haar suchte sich seinen Weg über ihre ockerfarbenen Schultern, ihre jungen Brüste. Das Kleid hing an ihrer Taille und machte den Anschein, nur noch fallen zu wollen. In einem Rutsch zog sie die übrigen neun Knöpfe seiner Weste auf. Es gab keinen Halt, kein Zurück. Ihre Finger klammerten sich in sein Hemd, zogen dessen lange Schöße ausgesprochen langwierig aus der Hose. Ein wehleidiges Seufzen, die Wohltat quälte ihn. „Hören Sie zu, Miss Farley… Wenn der Admiral dies hier sieht, er wird…“ Entschieden drückte sie ihn nieder. Er stöhnte leise; ob aus Lust, ob aus Anstrengung oder Resignation, vermochte ich nicht mehr zu sagen. „Ihr werter Herr Vater wird das hier aber nicht sehen“, erwiderte sie heiter und beugte sich zu ihm herab. Da ihr bloßer Oberkörper den seinen streifte, begann er, ziemlich heftig zu atmen. „Ehe er oder irgendjemand sonst vermutet, wo wir uns aufhalten, sind wir doch schon längst fertig. Sie machen jedenfalls sehr den Eindruck, als würden Sie es ein wenig eilig haben…“ Sie wirkte unheimlich selbstsicher und überlegen, aber ihre Augen verrieten mir, wie sehr ihre Erwartungsfreude durchwirkt war von der Furcht vor dem, was ihr – daran bestand kein Zweifel – zum ersten Mal bevorstand. „Geben Sie es doch zu… Selbst, wenn ich Sie ließe, würden Sie jetzt nicht mehr aufhören wollen, ist es nicht so?“ „Männer der Navy lernen früh, sich zu beherrschen.“ Sie hatten ihre Distanz auf die Breite einer Feder gebracht, sprachen leise und herausfordernd direkt gegen des anderen Lippen. „Sie werden bald genug Zeit haben, dies zu demonstrieren. Bis dahin sollten Sie jede Sekunde Ihrer Freiheit genießen. Jetzt… lieben Sie mich endlich…“ Ihre Hände schleiften durch sein Haar, die schwarze Perücke fiel. „Ich mache mir Gedanken, ob das Stroh nicht ein wenig zu rau…“ „Ich pass’ schon auf Sie auf. Jetzt… sparen Sie sich Ihren Atem, Sie werden ihn noch brauchen. Lieben Sie mich, James. Sofort.“ Sie setzte sich auf ihn, als ob sie auf ein Pferd stieg, und dämonisches Vergnügen zog ihre Mundwinkel weit nach oben. Nun kamen ihre Hände erst richtig zum Einsatz – James war hoffnungslos verloren. „Ms Abda?“ Augenblicklich verkrampfte sich alles in mir. Ich schleuderte mich herum, das Tor hinter mich zuziehend, noch ehe ich die Stimme einem Namen hätte zuordnen können, wäre sie nicht die verflucht Unverwechselbare Admiral Lawrence Richard Norringtons gewesen. Seiner sich noch immer ehrfurchtgebietend vor mir aufragenden Konstitution zum Trotz hatte ich ihn überhaupt nicht herantreten bemerkt. „Ein leerer Schuppen!“, entfuhr es mir erstickt und überaus unglaubhaft. Was fand ich schlimmer? Den Gedanken, der Lord würde seinen Sohn in flagrante amore ertappen oder mich, wie ich ihn dabei unverfroren beobachtete? Mir wurde schwindelig vor Hitze in der Eiseskälte des jungen Winters. Weder das eine noch das andere würde ich erklären können. Worauf durfte ich also hoffen? Dass die beiden dort drinnen tunlichst schnell zum Ende kommen würden? Und tunlichst lautlos? Und wenn sie ahnungslos herauskämen? Mich sahen? Was dann? Wie sollte ich jemals irgendwem irgendetwas erklären können? Wieso war ich zu weit gegangen? „Sind Sie unpässlich, meine Gute?“, fragte mich der einarmige Admiral in seiner kennzeichnenden Ausdrucksform von Umsicht, für welche ich ihm oft dankbar gewesen war. „Sie wirken fiebrig.“ „Nein! Alles in bester Ordnung, Mylord! Ich danke Euch, Mylord!“ Ich presste mich noch immer gegen das Stalltor, als ob es eine knurrende Bestie wäre, die ich davon abhalten musste, sich auf meinen Vorgesetzten zu stürzen. Dabei stand die wahre Bedrohung doch direkt vor mir. Er schaute an mir vorbei. „Ich denke nicht, dass dies ein Schuppen ist. Ich meine, es ist eine Scheune oder ein Stall.“ „Auf jeden Fall ist es leer!“, kam ich nicht herum, es noch einmal zu betonen. Meine Lider flackerten, meine Lippen bebten, meine Arme vibrierten und meine Beine zitterten, aber ich hoffte, er würde nichts davon mitbekommen. Es war seltsam. Durchschaute er, was hier passierte, dann würde er, was immer es in ihm auslösen mochte, niemals an mir entladen, und dennoch hatte ich lange nicht mehr eine solche Todesangst verspürt. „Hören Sie, meine Liebe“, sagte er und klang dabei etwas müde. „Meine Frau setzte mich über Ihr Vorhaben in Kunde, eine Lebenspartnerschaft mit einem Gärtner aus unserem Personal einzugehen und unseren Wohnsitz folglich zu verlassen.“ „Natürlich“, entgegnete ich mit unfester Stimme, „ich hätte Euch ebenfalls fragen sollen, Mylord. Das war unvertretbar von mir.“ Doch er schüttelte gemächlich den Kopf. „Aufrichtig, Abda, das sind Sie. Wie viele Monate von den siebenundzwanzig Jahren, in denen Sie bei uns wohnten und arbeiteten, kennen wir uns? Es war richtig von Ihnen, nach dem Einverständnis meiner Frau zu fragen, denn ich habe, wie Sie sicher einsehen können, nicht das Recht, über die Gesuche von Domestiken zu urteilen, die ich zwar beim Namen kennen mag, nicht jedoch bei ihrem individuellen Wesen. Nie waren Sie frei, Sie und die anderen, die sich für ihr Überleben anderen Personen subordinieren, aber das nimmt Ihnen nicht das endliche Anrecht, Mensch zu sein. …Ja, das sind Sie: Menschen.“ „Nicht jeder sieht das in uns, schon gar nicht in Leuten wie mich, deren Hautfarbe sich so sehr von jener der Europäer unterscheidet“, musste ich endlich einmal zur Aussprache bringen, ohne meinen Vorwurf an mein ungewöhnliches Gegenüber zu richten. Nein. Lawrence Norringtons Worte berührten mich, ziemlich tief. „Wissen Sie, gute Frau? Ich habe in meinem Alter so vielen Menschen das Recht auf Leben genommen, dass ich es schon vor sehr langer Zeit aufgab, all ihre Namen herauszufinden und mich bei jedem einzelnen persönlich zu entschuldigen, ohne jemals damit zu rechnen, Entschuldigung zu erhalten, die ich nicht verdient hätte. Ganz gleich, gegen wen ich im Namen Ihrer Majestäten kämpfte; ganz gleich, welche Grausamkeit man mir und meinem Degen nachsagte; ich habe es mir niemals, nicht ein einziges Mal herausgenommen, den Menschen in meinen Feinden zu missachten. Wer dies tut, der verdient es nicht, Soldat zu sein, denn er hat eine der höchsten Regeln des Soldaten – des Verteidigers, nicht des Mörders – nicht begriffen und wird ergo niemals in der Lage sein, zu kämpfen für andere, nicht für sich selbst.“ „Das weiß ich“, flüsterte ich, zu meiner Verwunderung so, als wollte ich ihn beschwichtigen, ihm endgültig darlegen, dass wir alle, die wir ihn kannten, uns durchaus bewusst waren, dass an den Märchen über sein vereistes Herz sowie seine Unfähigkeit zu fühlen nicht das kleinste Körnchen Wahrheit war. „Diese Regel gilt nicht nur in den Reihen von uns Verteidigern“, sprach er belehrend fort. „Leider erfährt nur ein Bruchteil der Menschen von ihr, und ein Satz der übrigen Menschen ist entschlossen, ihr ob der Kenntnis keinerlei Beachtung zu zollen. Dabei ist es doch offensichtlich, finden Sie nicht? Jeder Franzose, jeder Spanier, jeder Engländer und jeder Pirat; jeder Weiße, jeder Schwarze, jeder Gelbe und jeder Rote muss atmen, essen, trinken, sterben und austreten. Jeder liebt, jeder möchte geliebt werden, und vielleicht lachen wir alle sogar über denselben Witz. Diese vermeintlichen Kleinigkeiten machen uns zu Menschen, den einen wie den anderen. Nicht jeden müssen wir mögen, und wir dürfen auch hassen. Aber über allem dürfen wir nicht vergessen, dass wir es stets mit einem Menschen zu tun haben.“ Stumm hing ich an seinem wie die Rinde eines Baumes gezeichneten Gesicht. „Ich habe es auch im Hinblick auf Sie, Abda, nicht vergessen, und wenn ich Sie auch als Dienerin bezeichnete, so wollte ich niemals über Ihre Bedürfnisse richten. Auch meiner Frau war das klar. Sie hätte Ihre Bitte nicht einmal abgelehnt, wenn Sie nicht mit dergestalt löblichem Eifer, solch bemerkenswerter Ehrlichkeit und Innigkeit Ihre Ihnen von uns übertragene Aufgabe jedem persönlichen Interesse und Ziel vorangestellt und zu Ende gebracht hätten. Nun ist der Junge erwachsen, er wird nicht wieder zurückkehren, und so bleibt mir nur noch, Sie um Entschuldigung zu bitten für die lange Inanspruchnahme wie auch für das oftmals unangemessene Gehaben meinerseits Ihnen gegenüber…“ Und dann neigte er das Haupt wie ein stolzer Mustang, der seinen Herrn anerkannte. „Meine Frau und ich wünschen Ihnen das Beste für Ihre Zukunft, Yewande.“ Er drehte sich um und schritt davon. „Mylord!“, rief ich, doch er schien mich nicht zu hören, was in Anbetracht des Umstandes unseres Draußenseins schwer zu glauben war. „Mylord!“, rief ich ein erneutes Mal, denn ich musste ihm gegenüber unbedingt noch etwas loswerden, aber noch immer tat er, als würde ich fortan nicht mehr in seiner Welt existieren. „Mylord!“ Größer und größer wurde die Entfernung zwischen uns, sodass es bald tatsächlich des Rufens nötig war, damit er mich verstand, und sie wuchs unaufhörlich wie ein Spalt im Erdboden, bis ich schrie: „Lawrence!“ Er blieb stehen und drehte sich um. „Ohne Euch…!“ Dann versagte meine Stimme. Mit festen Schritten stapfte er zurück, bis auf die ursprüngliche Position. Nichts in seinen Zügen, an seinem körperlichen Zustand unterschied ihn von dem verkrüppelten Geisteradmiral, und doch würde ich meine Hand dafür ins Feuer legen, dass ich zuweilen dem verschollenen strahlenden Seehelden von damals gegenüberstand. „Ohne Euch würde ich nicht leben. Mir wäre so vieles entgangen, das mit keiner Freiheit dieser Welt zu bezahlen wäre…“ Ich wollte nun alles, was ich ihm immer schon zu offenbaren wünschte, aus mir herauslassen, ihm erklären, was ich fühlte, ihm danken und sagen, was für ein großartiger Mensch er war, weil mich der nahe Abschied ermutigte, es jetzt zu tun – "ehe sich der letzte Moment in die verpasste Chance verwandelte…" – allerdings musste ich gerade da erkennen, dass es keine Worte gab, um diesen Gedanken, diesen Emotionen wirklich Ausdruck zu verleihen. „Ich bin Euch vom ganzen Herzen dankbar, Lawrence“, brachte ich lediglich hervor. „Von ganzem Herzen, für jeden Tag.“ Er lächelte und platzierte sanft die übrige Hand auf meiner Schulter. Dann wendete er sich ab, dieses Mal mit der tatsächlichen Intention, zu gehen. Ich glaubte, vom Boden abzuheben vor lauter Erleichterung. Doch da hörte ich die schweren Scharniere knirschen und spürte den warmen und trockenen Dampf des Heus gegen meine Wirbelsäule drücken. Mechanisch machte ich auf der Stelle kehrt, auch, um nicht Lord Norringtons Antlitz ausgesetzt zu sein. Kaum einen Fuß weit von mir entfernt stand Frances Farley im Futter des Schuppen-, Scheunen- oder Stalltores, mit glühenden Wangen, abstehendem Haar und dem Leutnantsrock über dem bedürftig gerichteten Kleid. Da sie den Vater ihres Liebhabers ins Auge fasste, wurde sie sehr bleich, nahezu durchsichtig. „Ich… ich…“, stammelte sie mit einem starren Blick, „ich… ich bin fast vergewaltigt worden…“ Meine Brauen schossen in die Höhe, und mein Kinn zog es gen Tiefe. Was gab sie da Wirres von sich?! James tauchte hinter ihr aus dem sepiafarbenen Dunkel, mit dem Ausdruck eines Abschiedsworte für einen Toten deklamierenden Pfarrers und der akkurat auf dem Kopf drapierten Perücke. Was würde er sagen? Nichts ließ mich zweifeln an der Überzeugung, dass die junge Frances gelogen hatte; ich hatte sie schließlich beim Tanzen erlebt, Scherze treibend und lachend; und die Möglichkeit, dass James sie… So wahrscheinlich wie diese, dass eine Fliege jemanden erschlagen kann. Ausgeschlossen. Aber er respektierte und verehrte seinen Erzeuger sehr, wenn es auch nicht auf den ersten Blick auffiel, und ich fragte mich gespannt, ob er dazu imstande war, ihm in seiner derzeitigen Situation ins Gesicht zu lügen. Dies zu tun, bedeutete, einen Schritt zu wagen, den ich dem kleinen James ebenso wenig zutraute wie dem, der nun vor mir stand, sexuellen Missbrauch: Einen Schritt in die niemals gelernte Unabhängigkeit. Voller Erwartung standen wir ihm gegenüber. „Sir? Es gelang mir, die Angreifer zu vertreiben, doch den Schaden auf die Psyche von Miss Farley konnte ich nicht mehr abwenden.“ Dann wandte sich seine eherne Miene dem väterlichen Admiral zu. „Ich brachte sie her in der Überzeugung, dass sie einiger Abgeschiedenheit bedurfte, und ließ sie frei sprechen. Ich…“ „Er tröstete mich“, warf sie dazwischen. „Ich bin ihm sehr dankbar dafür. Wenn Mr Norrington nicht so rasch gekommen wäre, dann hätten mich diese Scheusale sicherlich…!“ Sie ließ den Kopf in ihre Handflächen fallen und schluchzte. Wenn Mister Norrington nicht so rasch gekommen wäre, glaubte ich eher, hätte ich mir einen gewaltigen Schock ersparen und Lord Norrington suggerieren können, die Scheune sei tatsächlich leer gewesen. Aber es war ja noch einmal gutgegangen. Dachte ich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)