James Norrington von Phantom (Ⅰ. Ankerlichtung) ================================================================================ Kapitel 20: I. Das Leutnantsexamen ---------------------------------- „Spute dich, James!“, rief Admiral Norrington und vergaß in seinem nervösen Ärger ganz, den Sohn zu siezen. Zwei junge Männer rannten in unserer überschaubaren Wohnung wie um ihr Leben, rissen die Kommoden und Schränke auf, wirbelten Papier und Stoff herum und schlitterten unter Tisch und Stühle, in ihrer Verzweiflung schließlich sogar vor die Blumentöpfe. Elizabeth und Alexia aßen zum Frühstück, ich saß ihnen verdutzt gegenüber und spähte den keuchenden Kadetten nach. „Mr Norrington!“, dröhnte die Stimme Seiner Lordschaft wutentbrannt, erwidert von einem hohen „Sir, ich…! Ich tue mein Bestes, Sir, ich bin überzeugt, dass ich sie gestern…“ „Sparen Sie sich den Atem zum Suchen!“, brüllte Norrington schließlich, ohne dass ich sicher sagen konnte, in welchem unserer drei Zimmer er sich gerade aufhielt. „Müssen Sie sie ausgerechnet heute verlieren! Ausgerechnet jetzt! Admiral Bratton hat sie Ihnen teuer bezahlt; was meinen Sie, wie er sich freuen wird, wenn Sie ausgerechnet heute ohne sie vor ihn treten!“ An unserem Tisch vorbei hüpfte James, die Strumpfbänder engziehend und in die Schnallenschuhe drängend. Theodore Groves holte ihn ein, packte nach seinen Schultern, um ihn zur Ruhe zu zwingen, und legte ihm den Gurt mit dem Degen um. Groves war ein recht stiller Zeitgenosse mit kantigem Gesicht und einem meist seriösen Blick – mich wunderte es nicht, weshalb James gerade ihm die Ehre zuteilte, sein Freund (oder das, was er unter dieser Bezeichnung verstand) zu sein. Der Lord stoppte zwischen ihnen. „Wir müssen jetzt“, sagte er grantig und presste James mit der einzigen Hand, die ihm verblieben war, den Hut auf das platte, dünne Haar. Da stieß Elizabeth einen Laut höchster Empörung aus. „Sieh dir sein Haar an! So lasse ich ihn niemals aus dem Haus!“ Er fletschte die Zähne. „Dein Sohn hat nun mal seine Perücke versetzt! Wenn wir nicht bald fahren, können wir seine Beförderung zum Lieutenant in den Wind schießen!“ „Ist mir gleich!“, parierte sie stur. „Hauptsache, man redet nicht schlecht über unsere Familie! Und unterlasse es endlich, vom Schießen zu sprechen, Lawrence, ich kann es nicht mehr hören!“ James wandte sich ab, da er auf einmal sein Interesse für die bunten Blumengemälde an der Wand entdeckt hatte, und Alexia probierte sich in der von Elizabeth derart verhassten Paradedisziplin ihres Vaters aus, indem sie Stücke des omelettes auf ihren Silberlöffel schob und sie quer durch das Zimmer feuerte. Theodore Groves stand etwas verloren zwischen uns. „Komm, James“, forderte Elizabeth den Blumenbewunderer in einem frustrierten Ton auf, „ich wasche dein Haar.“ Er wollte vermutlich widersprechen, doch sein Vater kam ihm zuvor: „Hast du nicht begriffen, Weib?! Er…“ „Habe ich mich gerade verhört?!“, blitzte die Stimme jener unberechenbaren Frau plötzlich, dass selbst Alexia auffuhr. „Weib?!“ „Ich empfehle mich dann…“ Der junge Groves schien zu sich selbst zu sprechen, denn niemand reagierte auf ihn. Auch nicht, als er aus dem Zimmer huschte. Nur James hörte die Glocke läuten. Ermutigt durch die unaufhaltbar voranschreitende Zeit, die mit sekündlichen Tritten seiner Prüfung bedrohlich nahe kam, stellte er sich vor Elizabeth. Seine Pupillen funkelten, wie man es nur selten an ihm sah – ohne Frage wog die Bedeutung des Offizierspatentes schwer für ihn, möglicherweise schwerer als für seinen Vater. „Mutter, bitte…!“, hauchte er, als halte sie den Schlüssel zur Erlösung von allen Sorgen und Ängsten in ihren Händen, und sie blickte, trotzdem er mittlerweile auf gleicher Höhe mit ihm war, auf ihn hernieder wie eine kühle Königin. Aber ich bemerkte, wie viel Leben sich allein in ihren schwarzen Augen abspielte. „Na gut“, gab sie dem Drängen der Männer mit unangetasteter Würde nach. „Geht.“ Vater und Sohn waren so rasch verschwunden wie ein durch die Zimmer fegender Windzug, mit derselben Hinterlassenschaft an Unordnung. Ich machte mich daran, sie zu beseitigen, doch noch ehe ich fertig war, standen die beiden mit blutleeren Gesichtern an der Tür. James tat mir Leid. Mutlos ließ er sich auf einen Stuhl fallen und senkte das Haupt. Darauf hatte ich gewartet. Ich hielt in meiner Hausarbeit inne und setzte mich zu ihm. „Verzweifle nicht“, flüsterte ich mit einem sanften Lächeln, das er nicht bemerkte. „Ich habe gelesen, dass es am 17. ein öffentliches Leutnantsexamen gibt, im Admiralitätsgebäude.“ Er schaute auf. Ich hatte Schwierigkeiten, seinem Blick standzuhalten, in welchen sich Verblüffung, leise Hoffnung, aber auch Scham gemischt hatten. Elizabeth wandte sich mit fragender Intention an ihren Gatten. „In der Tat“, räumte dieser widerwillig ein. „Es ist eine zusätzliche Eignungsprüfung geplant worden, der die allgemeine Öffentlichkeit beiwohnen darf.“ Er schnaubte und die Falten um seine bleichblauen Augen zogen sich enger zueinander hin. „Die Navy hält dies für eine hervorragende Idee, um klar Tisch mit etwaigen Missverständnissen und Gerüchten aus dem Volk zu machen.“ Fürwahr: Pressgänge, Unterschlagung, Gewalt, Sodomie, Alkoholismus… Ich erinnere mich an den miserablen Ruf, den die Königliche Marine zwischenzeitlich innehatte, bei allem, was sie für dieses Land riskierte und gewann. „Selbstredend meldete sich kein Offiziersanwärter freiwillig“, brummte Lord Norrington weiter. „Niemand von den jungen Leuten heutzutage hat den Mumm, sich den Menschen, denen er bedingungslos dienen soll, zu präsentieren. Und die Admiralität sollte es ihnen danken. Würden sie es wagen, wäre das für die Navy eine Blamage katastrophalen Ausmaßes.“ James’ Blick richtete sich auf das von falbem, hartem Haar umrandete Antlitz, als hätte es ihm soeben eine tödliche Krankheit diagnostiziert. Es sprach rücksichtslos weiter: „Diese Examen verlangen das Höchstmaß an Konzentration des zu Prüfenden. Leider unselten geben sie sich allein durch diese Herausforderung alle Blöße. Was wird da der Pöbel von uns halten, wenn der Kandidat sich in die Hosen scheißt, kein Wort herauskriegt und flennend vor die Tür gesetzt wird?“ Den weiteren Verlauf dieses regnerischen Tages verbrachten wir in der platzarmen Bedrückung unserer Unterkunft, hielten wir des Admirals blutende Laune aus. Bis zum Abendessen benötigte James, um das Selbstbewusstsein aufzubringen, seinem Vater zu antworten. Er legte das Messer nieder, mit welchem er bloß auf seinem spärlich gefüllten Teller herumgestochert hatte, atmete tief und schaute ihm eisern in die Augen. „Ich werde es schaffen, Sir.“ In dieser Nacht erhob ich mich noch einmal von meiner Lagerstätte, tapste mit Katzensohlen (nun ja, den Sohlen einer ziemlich gemästeten Katze) auf den Schrank zu, öffnete ihn und hob Elizabeths Stapel an Unterkleidern an. Vorbei an den Geschwistern, die sich ein Bett teilten, schlich ich zur breiten Fensterbank, schob die Töpfe darauf ein wenig zur Seite und platzierte James’ schwarze Perücke fast wie auf einem Präsentierteller der Offensichtlichkeit in deren Mitte. Ich weiß, dass es unverzeihlich von mir war. Doch nach all den Jahren, die ich hätte mit ihm verbringen können und in denen man mir James genommen hatte, wollte ich ein einziges, ein letztes besonderes Ereignis in seinem Leben für mich beanspruchen, wollte dabei sein, wollte ihn begleiten. Und so geschah es, dass die Seekadetten James Lawrence Norrington und Theodore Edward Groves vorbildlich in das Amphitheater des Admiralitätsgebäudes traten, um die gelangweilten Bürger Londons bestens zu unterhalten. Elizabeth, Alexia und ich saßen in der Galerie wie damals während der römischen Gladiatorenkämpfe, aber ich hoffte, es würde nicht ganz so blutig zugehen. Von Admiral Norrington hatten wir jede Spur verloren. Wie ich richtig vermutete, war er Teil der Prüfungskommission, die nach einer halben Stunde, da man uns Eintritt in den Saal gestattet hatte, aus einer fast versteckten Tür erschien, sich an das pompöse Pult aus rotem Mahagoni setzte und dafür sorgte, dass die quirlig plaudernden Damen und Herren mühsam verstummten. Blicke auf den linken, leeren Ärmel, welcher an die Brustpartie seines Admiralrockes genäht war, spannten die Luft. Als Grabesstille herrschte, öffnete sich die Tür auf der anderen Seite, und James Norrington, in strahlender Erscheinung (samt Perücke), schritt den Weg zum Schafott seiner Kindheit entlang. Ihn begleitete Theodore Groves, wieder mit sehr ernstem Gesichtsausdruck, doch den bemerkte ich kaum; wahrscheinlich, weil er mich wenig interessierte. Alexia schien sich in diesem Moment zum ersten Mal seit seiner Ankunft der Mitte des Saales zuzuwenden, denn sie zog prompt scharf die Luft ein und kreischte: „Jamie!“ Der Lord verzog keine Miene, James zwang sich, Haltung zu bewahren, und Elizabeth und ich taten, als würden wir das Mädchen nicht kennen, als nun alle Blicke uns galten, was sich als recht problematisch, eigentlich unmöglich herausstellte, da es nun einmal auf Elizabeths Schoß saß. Mit ihrer unschuldigen Bruderliebe hatte Alexia bewirkt, dass ich infolgedessen schon wieder in das Augenmerk der anständigen Londoner geriet, und ich spürte, wie mein Kopf glühte und ich tiefer in den Sitz rutschte, als würde ich mit ihm verschmelzen. Eventuell sollte ich, bevor ich das nächste Mal ausging, daran denken, mich in einem Fass mit Mehl zu suhlen oder in eines der blendend weißen Bettlaken aus dem Hotel einzuwickeln. Die verhasste Beteiligung an der vermeintlichen Tragik meiner Herkunft raubte mir den letzten Nerv, und schon war ich mir nicht mehr gewiss, ob es klug gewesen war, dem Leutnantsexamen beiwohnen zu wollen. Ich wollte zurück nach Suffolk. „Sirs? James Alexis Lawrence William Norrington, Midshipman zur See auf Ihrer Majestät Schiff Victory, meldet sich zum Offiziersexamen.“ Als ich aufsah, erhaschte ich gerade noch einen Blick auf mein früheres Ziehkind, wie es sich aus einer tiefen Verneigung erhob, und das Zucken eines warmen Lächelns im sympathischen Antlitz von Admiral Bratton. James richtete seinen Körper in eine Haltung, die an Steifheit grenzte; ein Eindruck, der noch unterstützt wurde von dem engen, schmucklosen Rock der Fähnriche, seine Stimme jedoch imponierte durch ihre Selbstsicherheit, ohne dabei überheblich zu wirken. Er setzte den Hut auf, erwiderte die Blicke aller drei Admirale standfest, statt auf die große Flagge Englands hinter der Richterbank auszuweichen, und flackerte nicht einmal mit den Lidern. Mit seinen laut hallenden Worten endete das Geraschel derer im Zuschauerraum wieder, und ich dankte ihm dafür. „Sirs, Theodore Edward William Groves, Midshipman zur See auf Ihrer Majestät Schiff Victory, ersucht ebenfalls das gerechte Urteilsvermögen der verehrten Herren Admirale.“ Lord Norrington nickte. „Die Zeugnisse“, forderte sie der Geschwaderführer in der Mitte auf, und sie überreichten ihm jeweils eine dünne Mappe, die grau war wie die Pflaster und Fassaden in London und die Gesichter der Prüfer. Insgesamt schienen deren Mienen wie aus Stein gemeißelt. Ich fragte mich, ob das so vorteilhaft war im Hinblick auf das Bestreben dieses öffentlichen Exempels; ob man nicht besser auf ein etwas ungezwungeneres Miteinander hätte Wert legen sollen, um die Vorwürfe und Nachreden vom Tisch zu fegen. Aber vermutlich verstand ich zu wenig davon. Und das war wahrscheinlich das Beste. Ich hatte nicht vergessen, was Elizabeth mir anvertraut hatte, da ich sie fragte, weshalb sie unbedingt mich James während seines ersten Lebensabschnittes zur Seite gestellt hatte. „Mr Norrington.“ James’ Pupillen schnellten zu seiner Linken, wo Admiral Rooke hinter dem mächtigen Pult beinahe verschwand. „Die Markierungen der Lotleine.“ „Schwarzes Leder bei zwei und drei Faden, weißes bei fünf, rotes bei sieben, schwarzes bei zehn, weiß bei dreizehn, weiß bei fünfzehn wie bei fünf, rot bei siebzehn wie bei sieben, zwei Knoten bei zwanzig Faden und so weiter. Ein zusätzlicher Knoten nach allen zehn Faden, mit einem einzigen Knoten dazwischen, um die Länge von je fünf Faden zu markieren.“ „Mr Groves.“ Die Aufmerksamkeit des Angesprochenen hechtete schlagartig von dem Austausch seines Kameraden mit Admiral Rooke hinüber zu Admiral Norrington. „Sie sind auf See und haben Ihr Ruder verloren. Wie gehen Sie vor, um das Schiff trotzdem manövrieren zu können?“ Selbst von unseren erhöhten Reihen aus konnte man Groves schlucken sehen, ehe er zum Angriff überging. „Ich nehme eine lange Spiere oder einen Teil der Maststenge und schneide sie oder ihn in die Form eines flachen Achterstevens, bohre in ausreichenden Abständen Löcher dorthin, wo das vordere Stück dieses zusätzlichen Stevens sein soll. Dann nehme ich die stärkste Planke, die ich an Bord habe, und gebe ihr, so gut wie möglich, die Form eines Ruders, bohre Löcher in das vordere Stück und in das achtere des zusätzlichen Achterstevens, um sie aufeinander abzustimmen, und schere Tauösen durch die Löcher des Ruders und die achteren des Achterstevens ein, für das Ruder zum Darauflegen. Durch den zusätzlichen Achtersteven Geie scheren, diese an Taljen festmachen und die ganze Vorrichtung über Bord werfen. Bekomme ich sie in eine gute Position oder in eine Linie mit dem Achtersteven des Schiffes, verzurre ich das obere Stück des zusätzlichen Stevens mit dem oberen Stück des Schiffstevens, pricke Taljen an oder in die unmittelbare Nähe der Großkette, talje die Geitaue straff, um ihn an das tiefe Stück des Achterstevens zu bekommen. Durch die Löcher, welche ich sowohl in den zusätzlichen als auch in den echten Achtersteven gebohrt habe, stecke ich einen Eisenbolzen – achte darauf, nicht das Ruder zu berühren – was den unechten Achtersteven am Aufsteigen oder Fallen hindert. Mittels der Geitaue am achteren Stück des Ruders und der Taljen, die an ihnen befestigt sind, mag ich das Schiff steuern können. Ich muss beachten, die Taljen des zusätzlichen Achterstevens straff zu ziehen, um ihn eng zum echten Achtersteven zu halten.“ „Mit welchem Wind würden Sie ablegen, Südost oder Süd?“ Er setzte zur Antwort an, da stellte Admiral Rooke James bereits die nächste Aufgabe: „Sie befinden sich in einem Sturm, unter gerefftem Großsegel, und wollen über Stag gehen. Wie wenden Sie in schwerer See?“ „Ich lasse das Schiff abfallen und lege das Ruder nach Luv. Wenn getan, Großschot fieren. Wenn es das nicht tut, besetze ich die Fockwanten und lasse Persenningen, Hängematten oder Ersatzsegel hinaufbringen und ausbreiten. Wenn das es nicht tut, Großschot anholen und das Ruder nach Lee legen, dann Männer mit Hängematten und Zeisings zur Sprietrahe entsenden, um das Sprietsegel im Geitaublock auf der Leeseite festzumachen und die Rahnock auf der Leeseite loszumachen. Anschließend das Schot anholen, Ruder hart Luvseite legen, Großschot fieren, aufbrassen, das andere Schot anholen, Großhals einholen. Liegt das Schiff vor dem Wind, Sprietrahe vierkant brassen, Segel aufgeien und festmachen. Ruder nach Lee bringen, Rahen aufbrassen, Großschot anholen, Bulin auftaljen, das Ruder in Lee festzurren, und das Schiff wird beiliegen wie zuvor.“ Ich brauche nicht hervorzuheben, dass ich längst den Überblick eingebüßt hatte? Um uns herum herrschte das Schweigen totaler Verwirrung. Hier schien wohl die eine oder andere Erwartung enttäuscht worden zu sein. „Das Schiff wendet nicht, nachdem Sie all das getan haben.“ James wirkte jetzt zumindest ein wenig angespannt. Bei allem, wofür ich ihn sonst bewunderte, schrieb ich ihm nie eine beflügelte Fantasie zu, doch nun schienen ihn all jene staubtrockenen Begriffe vom Fach tatsächlich unmittelbar auf das Deck eines Schiffes transportiert zu haben, das in der aufgescheuchten See tanzte, wo ihm die lärmende Gischt ins Gesicht spritzte und Entscheidungen von ihm verlangt wurden, welche über das Schicksal von hunderten Männern bestimmen würden. „Ich mache die Schmetterlingsstellung des Focks los“, erwiderte er noch immer ruhig, aber lauter als eingangs. „Wenn das es nicht tut, Focksegel setzen und es nur unter Groß, Fock und Besansegel fahren lassen oder das Großsegel hieven. Wenn das Schiff noch nicht wendet, Besanrahe herunterholen. Wenn das es nicht tut, untere Besanrahe sowie Besanmarsstenge herunterholen. Wenn das es nicht tut, Besanmast kappen.“ „Ein starker Wind, Mr Groves, und Sie führen alle Segel. Der Feind ist in Sicht; machen Sie Ihr Schiff klar zum Angriff.“ „Ich befehle alle Mann auf ihre Gefechtsstationen, der Quartiermeister soll die Hängematten in die Finknetze und die Seekisten in die Luken verstauen. Die kleinen Segel werden geborgen, die Spieren mit Kettenracks gesichert, die Fender eingezogen, dann die Marsrahen auf Halbmast gesetzt. Stopperstek an die Marsschoten, Stopperstek an die Fallen oder sie auf andere Weise vertäuen. Kanoniere erhalten Luntenfässer zwischen allen zwei Kanonen, Schwefelhölzer, Pulverhörner, Schrauben, Keile und Handspeichen, ausreichend für jede Kanone. Sind alle Mann auf Gefechtsstation, Ruhe bewahren und die weiteren Instruktionen abwarten; keinen Schuss abgeben, bevor ich das Kommando erhalten habe. In Bereitschaft sein, bis das passiert, dann: Feuer!“ „Mr Norrington: Zehn entscheidende Schlachten der Royal Navy in den letzten zwei Jahrhunderten?“ Geschichte! Ich war mir sicher, dass derlei Fragen nicht zum üblichen Repertoire dieser Prüfungen gehörten, und für andere angehende Leutnants mochte diese Frage überraschend kommen, doch James war Geschichte schon immer ein Steckenpferd gewesen. Und dies zahlte sich aus: „Fünfzehnhundertachtundachtzig: Die englische Flotte unter Graf Charles Howard von Effingham bezwingt die spanische Armada unter Herzog Alonso Pérez de Guzmán von Medina Sidonia im Englischen Kanal. Diese Niederlage eröffnet Englands Navy den Weg zur Vorherrschaft auf See, die bis heute anhält. Sechzehnhundertzweiundfünfzig: Bei den Goodwin Sands begegnen sich die englische Flotte unter Admiral Robert Blake und die niederländische Flotte unter Admiral Maarten Tromp. Da dieser das Gesetz des Flaggengrußes missachtet, kommt es zu einem Gefecht, infolgedessen Tromp zwei Schiffe einbüßt. Die Schlacht stellt den Auftakt zum ersten Krieg zwischen England und den Niederlanden dar. Sechzehnhundertdreiundfünfzig: Siebzig niederländische Schiffe…“ James, sei mir nicht böse, aber ich schalte eben mein Gehör auf Durchzug. Ich brauche ein paar Sekunden Ruhe und weiß ja, dass es richtig ist, was immer du jetzt sagst. Als ich mich der Ausfragung der beiden Noch-Fähnriche wieder öffnete, deutete Admiral Norrington auf eine Schreibtafel. „Errechnen Sie die Tonnage eines Schiffes mit einer Länge des Hauptdecks von 186 Fuß und 51 Fuß Breite, Mr Groves.“ Es war totenstill, bis auf Groves’ Schritte, da er auf sie zusteuerte. „Um die Berechnung der Tonnage eines Schiffes vorzunehmen, bedarf es der Kenntnis der Länge der extremen Breite sowie der Länge des Kieles. Um diese zu erhalten, multipliziere ich das Maß des Hauptdecks mit 0,8 und erhalte somit… 148,8 Fuß. Ich multipliziere die Länge des Kieles mit jener der extremen Breite mal der extremen Breite durch zwei und teile das Ergebnis durch 94, das ergibt… gerundet 2059 Tonnage. Ich beachte, dass mir lediglich angenäherte Werte zur Verfügung stehen, nicht die tatsächlichen, demzufolge die Ungenauigkeit des Ergebnisses.“ „Mr Norrington! Sie sind auf der Verfolgungsjagd eines feindlichen Kriegsschiffes. Es weht ein starker Wind, Sie fahren unter vollem Tuch. Ihr Ziel liegt direkt voraus; von welcher Seite aus werden Sie es angreifen?“ „Das ist ja schrecklich“, meinte Elizabeth plötzlich, ohne jede Begeisterung. „Wie lange werden sie das fortführen?“ Ich versuchte vorsichtig, ihr Verständnis zu wecken: „Du musst bedenken, dass er einmal die Zukunft ganz Englands auf seinen Schultern tragen soll. Nun, wo die Zeiten immer mehr dem Frieden entsagen, ist es nur selbstverständlich, dass die Admirale ihre Erben auf eine harte Probe stellen. Du weißt doch noch, was dein Gatte sagte, über die gegenwärtige Tauglichkeit der jungen Seekadetten?“ „Wenn man keine Soldaten ausbildet, gibt es auch keinen Krieg“, sagte sie bestimmt und sprach für die verbleibende Stunde im Inneren dieses warmen, stickigen Saales kein einziges Wort mehr. James und Theodore Groves erhielten nicht sofort das Ergebnis, und obgleich Ersterer den augenscheinlichen Vorteil genoss, einen der Prüfer früher einmal Vater genannt haben zu dürfen, hüllte dieser sich in talentiertes Schweigen. „Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen, James“, wollte ich ihn beruhigen. „Alles, was Sie antworteten, hörte sich ziemlich überzeugend an. Sie werden gewiss müde und hungrig sein, nicht wahr? Sobald wir zuhause sind, werde ich Ihnen etwas Hübsches zubereiten, ja?“ Seine Augen aber waren ganz auf die Hauptstraße gerichtet, welche in einiger Entfernung von der Nacht verschlungen wurde. „Ich weiß nicht, was Sie meinen, Ms Abda. Ich mache mir gar keine Gedanken.“ Ich fühlte mich, als hätte ich ihn aus akustischem Grund nicht verstanden, obwohl ich jedes einzelne seiner Worte ohne Anstrengung hätte wiedergeben können. Wir verabschiedeten uns von dem jungen Groves und stiegen in die Droschke ein, welche gerade vorgefahren war. Alexia hielt bereits ihren Schönheitsschlaf. Elizabeth betrachtete abwesend das vereiste Fenster. James hatte sich noch immer nicht von seinem Dienstblick getrennt. Und ich wusste nicht, ob ich etwas – und wenn ja, was – sagen sollte. Draußen segelten Abermillionen von Schneekristallen hernieder und deckten das tiefblaue London der Nacht grau zu. Dann hörte ich Rufe. Selbst Elizabeth erwachte aus ihren Gedanken. „Was ist dort geschehen?“, fragte sie in das Unwissen ihres familiären Kreises, indes der Kutscher die Pferde anhielt. Ich meinte, ganz vage einen Geräuscheteppich aus Knistern und Rauschen wahrzunehmen. Alexia rieb sich stöhnend die kleinen Augen, und James riss ohne ein Wort an uns die Tür auf und sprang hinaus. Da wurden die Rufe verständlich: „Feuer! Es brennt!“ „Was?“, stieß Elizabeth hervor, doch ihre Desorientierung wich in einem Zug der Sorge um ihren entschwundenen Sohn. „James!“ „Ich hole ihn zurück“, versprach ich ihr. „Bitte bleibe bei der Kleinen!“ Ohne die Sekunden zu vergeuden, ihr beim Nicken zuzusehen, schob ich mich ebenfalls aus der Droschke und warf den Kopf umher, auf der Suche nach meinem ehemaligen Schützling. Die Straße voraus erhellte ein gigantisches Feuer teuflisch die Nacht, und in seinen wippenden Wellen aus rotgelbem Licht erkannte ich die schmale Silhouette von Norringtons Jungen. Ich sprintete los, doch der weiche Schnee unter meinen Füßen und mein nach wie vor stattliches Volumen gestalteten es mir schwer, voranzukommen. Schreien half auch nicht, wie ich einsehen musste. James’ Schemen wandte sich hektisch an zwei hilflos herumstehende Personen, dann lief er zu meinem Entsetzen direkt auf die Brutstätte dieser höllischen Flammen zu, verschwand unter ihren gierigen Zungen. Ich kreischte mir die Seele aus dem Leib, doch er tauchte nicht wieder auf. Elizabeths Handfläche knallte mit einem peitschenden Geräusch gegen James’ Wange. „Bist du des Wahnsinns?!“, keifte sie dünn, und in ihren Augen standen Tränen, die es nicht gewohnt waren, dergestalt weit hervorzudringen. „Du könntest tot sein, James, begreifst du das?! Tot!“ Die Kombination des sehr rar gesäten Schreiens ihrer Mutter mit den Worten James und tot im selben Satz ließ Alexia laut aufschluchzen. Ich reagierte mit einer Umarmung ihres bebenden Körpers. „Ich bin lediglich meiner Pflicht nachgekommen“, meinte er ungerührt. „Bewahren jedes Lebens eines Menschen dieses Landes unter Einsatz meines eigenen.“ Sie wich zurück, getroffen von der Faust der nicht abzustreitenden Tatsache. „Korrekt“, bestätigte Lawrence Norrington die Aussage seines Nachkommen. „Das ist eine jener Aufgaben, denen er sich verschrieben hat mit dem ersten Einschreiben in eine Musterrolle.“ „Du bist auch noch stolz auf ihn…“, flüsterte die Defoe-Geborene mit tränendurchwirkter Stimme. „Dies ist das Opfer, das wir als Eltern erbringen müssen. James hat sich entschieden, für die Karriere ebenso wie für die damit einhergehenden Risiken. Du wirst wie ich lernen müssen, dich mit der ständigen Lebensgefahr von ihm abzufinden, Elizabeth, denn diese Rettung des Vermietersohnes war nicht etwa ein selbstloses Unternehmen, das man hervorheben muss, sondern nur eine von zahllosen Selbstverständlichkeiten in der Laufbahn eines Offiziers der Royal Navy. Sobald er als Lieutenant zur See fährt, wird er dem Tode zum ersten Male Auge in Auge begegnen, und es wird viele Male geschehen, öfter, als du deine Lieblingskleider wechselst. Das hier war nichts im Vergleich dazu, was ihn erwarten wird; es wäre lächerlich gewesen, wäre er bei diesem marginalen Manöver ernsthaft verletzt worden.“ Elizabeth fehlten die Worte. Jenem, um den sich die ganze Diskussion drehte, aber sah ich ein kleines, abwesendes Lächeln entweichen, weil er aus den Worten seines Vaters die Entscheidung über seine Bestallung zum Leutnant herausgehört haben musste. Es klopfte, und ohne, dass ihn jemand hinein bat, öffnete der hagere, aristokratisch ausschauende Mann, dem die Herberge gehörte, in welcher wir bisher genächtigt hatten, die Tür. Seiner Mimik gelang es, Erleichterung und Besorgnis im selben Ausdruck wiederzugeben. Er wandte sich an James. „Ich möchte Euch noch einmal danken, Mr Norrington! Wenn Ihr nicht…!“ „Zu Zwecken wie diesem wurde die Royal Navy einberufen, guter Mann“, verdeutlichte Seine Lordschaft ihm aus seiner Ecke her. „Wo kann meine Familie nun wohnen?“ Er überlegte. Auf seiner Stirn glitzerte noch der Schweiß, vielleicht wegen der Hitze, vielleicht wegen der Angst. Trotzdem sein Sohn dank James’ zügigem Einsatz mit dem Leben davongekommen war, hatte ihn das Feuer, dessen Erwähnung allein in London bereits massive Panik zu verbreiten vermochte, ärger getroffen als uns, war schließlich sein Hotel, seine finanzielle Obhut ausgebrannt wie ein Schwefelhölzchen. „Sir, ich bin mit einem Gasthausbesitzer vertraut, über den man nur Gutes spricht. Seine Unterkunft liegt außerhalb der Stadt, und es ist kein Palast, aber… aber ich versichere Euch, dieser Unterschied wird Euch gar nicht auffallen, wenn Ihr erst einmal dort eingezogen seid, Sir. U-und er wird Eure Familie ganz gewiss noch zu solch später Stunde Willkommen heißen.“ Niemand gab sich entzückt oder wenigstens die Mühe, entzückt zu erscheinen; alle hingen sekundenlang ihrer bestimmt außerordentlich fantasievollen Imagination einer verfallenen, muffigen Holzbaracke nach, in der man Acht geben muss, sich nicht gegen eine Wand zu lehnen, damit nicht alles in sich zusammenfällt. Die Familie Norrington war seit jeher einen ganz anderen Standart gewohnt. Es hatte sich bereits als umständlich herausgestellt, sich mit der nun verkohlten Übergangswohnung arrangieren zu können. „Nun. Heute Nacht werden wir so schnell nichts anderes finden“, lenkte der Lord ein. So gut wie jeder hätte gerne protestiert, doch ihnen allen war bewusst, dass er Recht hatte. Nur ich fühlte neben der leichten Furcht vor dem Ungewissen vor allem Erleichterung, endlich wieder Abstand zum Ausländer gegenüber skeptischen London zu gewinnen. Der Wirt des Gasthauses, welches sich entgegen der Norrington’schen Vorstellungen als ziemlich einladend ergab, stellte das direkte Gegenteil zum Hotelbesitzer dar. Bierbäuchig, mit kräftigen Armen und einer herzlichen Art stellte er uns beide freien Zimmer zur Verfügung, die, wie ich annahm, nur deshalb nicht belegt waren, weil der Winter durch die Ritzen drang, von dem großzügigen Kaminfeuer vertrieben wurde und infolgedessen ein ständiger Geruch nach verbranntem Holz schwer in allen Räumen hing. Und wie ich schon sagte, nahmen die Londoner vor allem, was an Feuer erinnerte, am liebsten Reißaus. Mir gefiel die vertrauliche Atmosphäre, insbesondere zur Weihnachtszeit. Allein waren die Betten ein Stück zu geräuschvoll, wenn man sich auf ihnen rührte. James störte sich mindestens heute Nacht nicht daran. Kaum hatte uns der Wirt alleingelassen, war er ins Bett gefallen und schnaufte seitdem leise vor sich hin. Ich wusste, dass er und sein Freund Groves die gesamte Nacht vor dem Leutnantsexamen mit ehrgeizigem Studium der Articles of War, des New Practical Navigator und weiteren nautischen Handbüchern zugebracht hatten. Alexia spielte noch ein wenig mit ihrer Puppe, ehe sie zwischen James’ Arme rutschte. Wir Erwachsenen nächtigten im anderen Zimmer. Wollten wir, aber das Knarren der Bettgestelle hielt uns wach, weckte uns mit strenger Sorgfalt, wenn wir bereits in ein Dösen abdrifteten. Also gaben wir uns vorerst damit zufrieden, uns tief in die dicken Decken zu verkriechen, dem spukenden Wind zu lauschen und ein wenig die Gedanken schweifen lassen. „Er sieht aus wie sein Vater, findest du nicht?“, murmelte Elizabeth auf einmal, in einem merkwürdigen, mich zum Überlegen anregenden Ton. „James?“, fragte ich vorsichtshalber nach. „Nein. Eigentlich nicht.“ „Nicht?“ Ihre Augen tauchten hellblau in der Dunkelheit auf, und eine einzige dünne, gewellte Strähne ihres Haares unterbrach das Rechte davon. „Nein“, wiederholte ich mich perplex. „Doch, ich finde schon“, wiederholte auch sie sich, und wieder tränkte jene sonderbare Verträumtheit ihre Stimme. Ich hatte sie in dieser Nacht nicht zum ersten Mal vernommen, das wusste ich. „Wann wirst du es ihm erzählen?“, fragte ich sie, nach einer knappen Pause und das Thema wechselnd, und legte mich wieder hin. Das Bett heulte auf wie die Geige, wenn James auf ihr Bibers Passacaglia spielen sollte. „Was meinst du?“ „Das liegt doch auf der Hand.“ Nun erinnerte sie sich, wenngleich sehr, sehr gemächlich, was ihrer Laune Zeit gab, auffallend zu sinken. „Ach… Davon sprichst du. Nun ja, ich werde es Lawrence überlassen, schließlich ist dieser Einfall hinter seiner Stirn entstanden.“ „Du scheinst mir nicht, als würdest du ihn unterstützen.“ Ihr Bettzeug raschelte dumpf und ihr Bettgestell ächzte. „Alle Eltern unseres Standes nehmen sich dieser Angelegenheit an, statt es der Unerfahrenheit und den Empfindungen ihrer Söhne und Töchter zu überlassen. Ich vollziehe den Anlass dafür nach, und doch halte ich es nicht für richtig. Was das Pekuniäre betrifft, so haben wir es wirklich nicht nötig, noch mehr davon anzuhäufen.“ „Geld wächst nicht im Garten. Und dein Mann wird nicht ewig für euren – mit Verlaub – nicht gerade günstigen Lebensunterhalt aufkommen können.“ Eigentlich war ich derselben Ansicht wie sie, daher war es mir schleierhaft, weshalb ich Lord Norringtons Vorhaben verteidigte. „Die Admirale müssen schon jetzt großen Argwohn ihm gegenüber hegen. Er ist weiterhin zur See gefahren, ohne dass sie es billigten. Wahrscheinlich ahnt er, dass es mit seinem beruflichen Abtritt nicht mehr so weit hin ist.“ „James wird enttäuscht von mir sein, wenn er erfährt, dass ich das einfach zugelassen habe.“ „Das wird dann sein geringstes Problem sein, denke ich.“ „Tatsächlich?“ Sie richtete ihre Lage und ihre Decke zurecht. Ich konnte es in der Dunkelheit nicht sehen, aber es war ja nicht zu überhören. „Ach, übrigens…“, fiel mir da etwas ein. Na ja, eher hatte es unverdrängt in meinem Kopf herumgespukt, seit dem gewissen Zeitpunkt, an dem ich mich dazu entschlossen hatte. Was mir gerade einfiel, war mehr das Registrieren des Augenblickes, in der Heimlichkeit der Nacht, mit Elizabeth allein und Benedict ganz, ganz, ganz weit entfernt von mir. „Was denn?“, fragte die Admiralsgattin neugierig. Mir war, als würde sie bereits wissen, was ich von ihr verlangen wollte. Mein Kopf färbte sich dunkelrot. Benedict war wirklich sehr, außerordentlich, übertrieben weit weg. Und doch schob ich mich dicht an sie heran, das Bett maulte genervt, und flüsterte ihr zu. Wenige Sekunden später übertönte Elizabeths jugendliches Lachen das Pfeifen des Sturmes. Anmerkung: Die in diesem Kapitel enthaltenen Fragen und Antworten des Leutnantsexamens sind den "Questions for Young Officers", beruhend auf dem "New Practical Navigator" von 1814, entnommen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)