James Norrington von Phantom (Ⅰ. Ankerlichtung) ================================================================================ Kapitel 10: I. Ein freier Vogel ------------------------------- Angesichts meines genauen Vortrages über Will Hardy und seine wundersame Wirkung auf die deprimierten Hausbewohner mag man sich bereits gedacht haben, dass der eigentlich gar nicht planmäßige Zwischenstopp der Durchreisenden von längerer Dauer war, als es für einen Aufenthalt bei Fremden üblich gewesen wäre. Es hatte durchaus seine Berechtigung. Inzwischen war es einigen starken Männern gelungen, die Kutsche auf den Hof zu transportieren und das Rad provisorisch zu ersetzen. Dennoch befand die Hausherrin, dass es unverantwortlich sei, die drei Gäste in den anhaltenden, nur sporadisch schwächelnden Sturm zu entlassen. Man richtete Zimmer für sie her und ließ sie unbeschämt teilhaben an den bedürftigen Mahlzeiten. Weder Mutter und Sohn, die gewiss besseren Standart gewohnt waren, noch der Kutscher äußerten auch nur eine Beschwerde. Für die ungedacht lange Zeit, die sie hier verbrachten, eine Zeit, in welcher der Winter regierte und jegliche Grenzen verschneien machte, verwuchsen sie mit uns, waren wir alle miteinander verästelt wie eine große Familie. Der Hunger, die Kälte… Irgendetwas zog auch den introvertiertesten Lakaien in unseren gemeinschaftlichen Kreis. Nach einer mir ewig vorkommenden Länge saß ich endlich wieder mit Benedict beieinander. Mister Smith stellte sich ungeachtet seiner äußerlichen Erscheinung als eindrucksvolle Hilfe für unsere Männer heraus, die in dem nahe gelegenen Wald neues Feuerholz beschafften. Wir fühlten innige Dankbarkeit für jede Speise, die nicht gefroren war, und einige fielen ihr fast zu den Füßen, da Lady Elizabeth uns die Schätze aus dem verschlossenen Weinkeller präsentierte. Sie sollten gegen die Kälte sein, aber letztendlich wurden sie doch gegen alles eingesetzt, was Wein so bekämpfen kann, und derlei Gründe gibt es bekanntlich genug, wenn man gerade nach welchen sucht. Diesen Abend feierten wir, vergaßen den Winter und so manche Hemmungen. Steven Smith stolperte in mein Blickfeld und ich hatte auf einmal das Gefühl, etwas Wichtiges wiedergefunden zu haben. Späße treibend rangen wir beide uns durch die großen Räume. Ich suchte Elizabeth, um mich ihr zu empfehlen für den Abend, doch ich sollte sie nicht entdecken. Will tanzte auf einem leer gefegten Tisch und spielte Pirat. Die Menge brüllte vor angetrunkenem Humor und hätte es wahrscheinlich auch dann getan, wenn der Knabe einfach nur stumm daneben gestanden hätte. Ich ließ sie. Ich ließ sie, obwohl ich es besser wusste. Der Hunger in einem intimen Bereich meines Körpers nahm überhand. Und damit stand ich nicht allein. Mit strahlendem Gesicht, fast wie zwei Kinder verließen wir nach ein paar Stunden meine Kammer. Überall brannte noch Licht, und auf dem Flur war das Grölen und Lachen aus dem Salon zu hören. Wir wollten wieder hinuntergehen, sahen einander an und lächelten verschmitzt, dann bogen wir ab und – Benedict! Mich traf der Schlag. Dieser Blick! Ich werde ihn nie vergessen. Wie Gott in einer persischen Erzählung Rose und Nachtigall voneinander trennte, riss ich mich von Steven los und bemühte mich um Selbstdisziplin. „Benedict! Ähm… Wolltest du mir irgendetwas…“ – Himmel, ich schien einen Mord verheimlichen zu wollen! – „…sagen?“, würgte ich das Satzende beinahe hervor. Der Blick des Gärtners veränderte sich nicht. Ich glaube, ich habe ihn noch nie so gesehen. Und das Schlimmste war, dass ich diesen Blick, nichts anderes – keine Verzeihung, kein Verständnis, keine Erklärung – nur diesen einen Blick verdient hatte. „Du solltest zu der Herrin gehen“, sagte er lediglich und in seinem Inneren knackte heißes Gestein. Die Hitze wurde unerträglich. Steven schaute verwirrt auf mich nieder und ich fühlte, dass er helfen wollte, doch ich schob ihn bestimmt von mir. Benedict selbst hatte mir, möglicherweise bewusst, einen Ausweg eröffnet, und ich wollte nicht, dass er sich vor mir schloss, also nickte ich knapp und eilte an ihm vorbei. „In ihrem Zimmer“, rief er mir nach. Ich hoffte, er würde mir nicht folgen. Oder diente dies alles dem Versuch, mich in eine Enge zu treiben, mich zu stellen, wo mich jetzt niemand vermuten würde? Schließlich wüsste ich nichts, das Elizabeth während dieser sorglosen Feier… oberflächlich sorglosen Feier von mir verlangen mochte. Steven! Steven Smith war bekannt, wohin ich mich begab. Oder würde Benedict ihm in seiner von Trauer erfüllten Wut – denn nichts anderes hatte ich in seinen Augen gesehen: ansteigende, schmerzhafte, gefährliche Wut – etwas antun? Er bedachte nicht, welche Folgen es nehmen würde. Aber ich konnte mich nicht umdrehen. Weil ich mich nicht traute. Um Lady Elizabeth machte ich mir keine Gedanken. Die Tür zu ihr stand offen, vielleicht durch Benedict. An der Breitkante des Bettes, die man gleich sah, wenn man vom Korridor aus hineinschaute, saß sie in dünner Batistchemise und mit angezogenen Beinen. Da ich aber ihr Gesicht zwischen dem verworrenen Haar ausmachte, erwachte die Sorge und verdrängte alles andere; ich ließ mich vor ihr nieder, legte meine Hände auf ihre Schultern und bemerkte, dass sie nur gering kräftiger waren als die ihres Sohnes. Sie hatte auf mich nie gewirkt, als würde sie das Essen vernachlässigen. Sie erwiderte meine Aufmerksamkeit nicht, so als sei sie nicht überrascht über, nicht interessiert an der angebotenen Unterstützung. Deshalb musste ich sie bestimmt dazu bewegen, mich anzusehen, und da ich so tat, zeigte sich kaum merklich diese Angst in ihren Augen, die selten, mir aber nicht unbekannt war seit jenem Tage, fünfundneunzig nach James’ Aufbruch zur ersten großen Reise. Doch was sie zu bedeuten hatte, das wusste ich nach wie vor nicht. „Schicke ihn fort“, befahl sie endlich. Wen? Niemand außer uns beiden war hier. Oder irrte ich? Ich hatte niemanden hereinkommen hören. „Fort mit ihm!“, herrschte sie mich an, dass ich heute nicht mehr sicher bin, ob mich ein Stoß von ihr oder der Schreck allein zurückgeworfen hatte. Hastig warf ich den Kopf herum. Lange suchen musste ich nicht, denn er war nie darauf aus gewesen, sich zu verstecken. Unmittelbar neben der Tür, an einer Kommode, unter einem Spiegel stand er, gepresst an das polierte Nussbaumholz, aber keine Miene verziehend. Ihm war nichts Beunruhigendes anzumerken. Ich führte aus, wonach Lady Elizabeth verlangte; widerstandslos ließ sich James aus dem Gemach geleiten. Das ganze Stockwerk lag in seltsamer Stille, als ich die Tür hinter mir schloss, obwohl die fidele Geräuschkulisse im Erdgeschoss bis hier oben hin lärmte. Ich führte James in jene Richtung, der folgend wir nicht zu seinen Räumen gelangen würden, denn ich wollte mich hüten, Benedict oder Steven allzu früh wieder zu begegnen. Stattdessen brachte ich ihn in das nicht weit entfernte Büro seines Vaters, an das dessen umfassende Bibliothek schloss. Auch hier machte ich die Tür zu, um uns vor etwaigen neugierigen Ohren zu schützen. „Sie hätten bei meiner Mutter bleiben sollen“, riet er mir erhobenen Hauptes, doch fühlte sich in Wahrheit unwohl ob dieser Gegenüberstellung. „Damit Sie nicht darüber reden müssen?“, parierte ich. Er wandte den Blick ab. „Was ist vorgefallen, James?“ „Nichts. Von dem Wert, erklärt werden zu müssen.“ Es war wohl erklärungsbedürftig genug, wenn Lady Elizabeth, die ihres Sohnes nicht überdrüssig werden konnte, ihn auf einmal aus ihrem Zimmer befahl wie einen diebischen Verführer. „Ich begehe mich zur Ruhe.“ Schon fasste er nach der Türklinke. Ich vermied dieses Mal, was auch zu meinen Aufgaben zählte, seinen kleinen Diktionsfehler zu verbessern, und korrigierte stattdessen die Hierarchie zwischen Amme und Kind, indem ich seine Hand gar herunterriss. Erstaunen war die rare Regung, mit welcher er meinen gefährlichen Mut belohnte, und endliche Beachtung. „Wenn du nicht… Sie nicht sprechen, werde ich Ihrer Mutter nicht helfen können.“ „Niemand kann ihr helfen.“ „Warum nicht?“ Seine Pupillen wanderten den Boden entlang. „Weil niemand bis zu dem, was sie belastet, vordringen kann.“ „Was ist es?“ Dann richteten sie sich wieder auf mich. „Ich kann nicht wissen, was es ist. Ich weiß ausschließlich, dass niemand daran gelangen wird.“ „Aber Sie wissen, weshalb es passiert ist“, stellte ich ihn erneut. „Nichts ist passiert.“ Jedes Wort einzeln betont. Er begann, mir drohen zu wollen, drohen auf seine indirekte, missverständliche Art. Sein Drängen zu diesem Drohen verriet mir, dass er durchaus etwas verbarg, das meinen Groll, selbst nicht zur rechten Zeit dagewesen zu sein und deswegen den Bericht aus einem rätselhaften, weit mehr Geheimnisse enthaltenden Kind ziehen zu müssen, immerhin ein Stück weit besänftigen würde. Es erschloss sich mir jedoch nicht, wie ich ihn zum Reden bewegen konnte. „Haben Sie sich mit Ihrer Mutter aussprechen wollen?“, holte ich aus, da mir unsere nächtliche Unterredung in den Sinn kam, und selbst, wenn er jetzt verneinen würde, so schien es mir unwahrscheinlich, dass beides nicht miteinander in Zusammenhang stand. Er bestätigte es mit einem langsamen Nicken, mich überraschend durch die unvermutete Einstellung zur Kooperation, wobei der Junge selbst gewiss nichts anderes wollte, als dass endlich jemand die Last des Verschwiegenen von ihm nahm. Allein er war geprägt durch einen sich immer selbst zu helfen wissenden, abverlangenden Vater, einer stolzen, sich mit der ständigen Einsamkeit arrangierenden Mutter, deren beider Anforderungen und wahrscheinlich weit mehr, von dem ich nie erfahren würde, und aus diesem Grund musste ich – unfähig, etwas zu beeinflussen – hinaufsehen zu einem Höhenängstlichen, der mit kindlicher Unsicherheit auf dem schmalen Seil der elterlichen Genugtuung balancierte und früher oder später fallen würde, weil man sich immer wieder, solange man sich vor etwas fürchtete, gezwungenermaßen mit dieser Angst auseinandersetzen müsste. Doch das ahnte man nicht. Nicht bewusst. Niemals würde er mir irgendetwas verraten. Ich ließ ihn sich an mir vorbeidrängen, ließ ihm die Zeit, in sein Zimmer zu laufen. Dann ging ich selbst. Elizabeth schlief bereits oder tat so. Was sollte ich machen? Forsch sein? Die Angelegenheit auf sich beruhen lassen? Einerseits war ich nicht mehr als eine Dienerin des Hauses. Andererseits oblag mir doch gerade deshalb eine gewisse Verantwortung für dessen Familie. Oder interpretierte ich zu viel Bedeutung in diesen dunklen Wanst? Zumindest innerhalb meiner freien, grenzenlosen Gedankenwelt durfte ich zusammenfügen, erkennen, spekulieren. Ist unser Verstand nicht das wertvollste Geschenk, der teuerste Besitz? Ich versuchte, mir die Einzelheiten des besagten Gesprächs mit James zu vergegenwärtigen. Ich war dieser Nacht sehr schwach gewesen, stets schwankend zwischen Wachheit und Schlaf, in einem Zustand der siechenden Trunkenheit schon, sodass sie mir immer wieder, wenn ich glaubte, eine von ihnen zu erfassen, entglitten wie nasse Seife. James versuchte, durch den Schlitz der schweren Holztür seines Gefängnisses namens Diskretion Stück für Stück verschlüsselte Hinweise zu schieben, und merkwürdig war, dass Lady Elizabeth dasselbe aus derselben Zelle tat. Wer war es also, der ihre Münder auf Verschluss bewachte? Admiral Lawrence Norrington? Zumindest Elizabeth musste wissen, dass sie mir alles erzählen konnte, ohne dass ich es an jemanden weitergab – auch nicht an den Lord. Nun, während dessen Abwesenheit, war der geeignete Zeitpunkt für das Geständnis da. Was also hinderte sie, die sie offensichtlich schwer litt unter jenem, von dem ich nicht einmal wusste, ob ich es je würde erschauen können, wenn ich aufmerksam war, oder ob es sich um etwas handelte, das allen physischen Augen vorenthalten blieb, am Sprechen? Ich beschloss, die Entwicklung des heutigen Abends vorerst zu verfolgen. So, wie es Elizabeth hatte vollkommen neben sich selbst stehen lassen, musste es sich auch am folgenden Morgen in irgendetwas äußern, das ich hoffentlich ausnutzen konnte. Das tat es nicht, leider. Oder erfreulicherweise? Die einsame Gemahlin entzückte sich ob des Frühstücks, welches man ihr zubereitet und selbstverständlich auf das Gemach getragen hatte, James schob abwechselnd die weißen und die schwarzen Figuren über das adäquat karierte Feld. „Darf ich bitte in Herr Vaters Bibliothek?“ Sie lächelte in der Güte eines Engels. „Nein.“ Wieder änderten die Figuren ihre Position. Ich fand nicht den Mut, das Thema anzusprechen, obwohl sich mir jetzt die anscheinend beste Möglichkeit dazu bot. Eine Weile ging es so weiter, dann legte Lady Elizabeth das Haupt schief. „Weshalb spielst du nicht mit William?“ „Er kann kein Schach.“ „Du musst ja nicht unbedingt Schach mit ihm spielen.“ Er blickte sie an, als habe sie ihm soeben eröffnet, dass er sich heute nur zwischen Lachs und Steinbutt entscheiden dürfe. „Vielleicht fällt ihm eine interessante Beschäftigung ein.“ Wie immer, wenn jemand Will etwas zutraute, verdunkelten sich James’ Augen. „Er tut den ganzen Tag nichts als herumzurennen, Laute fernab jedes Worts von sich zu geben oder sogar zu singen. Er hat seinen Körper noch nicht unter Kontrolle. …Und seinen Geist offenbar auch nicht.“ „Er ist ein Kind, James.“ „Er ist ein Jahr jünger als ich.“ „Gibt dir gerade das nicht zu denken?“ Ein Blinzeln. Es gab ihm durchaus zu denken, wie mir schien, denn gen Nachmittag suchte er selbst nach dem Kontakt mit erwähntem Kind. Ein Großteil des Personals lag immer noch in seinem Bett, und hätte Lady Elizabeth es unter diesen Umständen nicht verstanden, so würde sie ihn bestrafen für die gegönnte Weinseligkeit. Es war der Schritte ruhig innerhalb der Villa, sodass James sich ungestört zu Will begeben konnte, ohne sich durch einen fest verschlossenen Kreis vergnügter Bediensteter quetschen zu müssen. Übrigens zählte auch Benedict zu den sich vom reichen Trank Kurierenden, der sonst ausschließlich (am Liebsten frisch gepressten) Fruchtsaft und Milch (gerade von den Kühen! Sie muss noch natürlich warm sein und nuanciert süß schmecken! Und je nach Jahreszeit, Tier und Futter anders!) favorisierte. Freundlich wie er war, unterbrach Will sein Nachziehen der Marmorierung des Bodens. Zweifellos hatte er unseren Jungen sehr gern. Der diese respektvolle Zuneigung, wie ich eingestehen muss, eigentlich gar nicht verdient hatte. „Was tust du?“, verlangte James zu wissen, weil ihm keine bessere Frage in den Sinn gekommen war, wie ich erkannte. „Ich maaale.“ „Wenn du derart mit den Fingern über den Boden fährst, hinterlässt es fettige Abdrücke.“ „Ja. Toll, nich’?“ Sein Blick wurde scharf. „Nein! Du machst ihn ja schmutzig. Hardy… Schluss jetzt!“ Wills Iriden nahmen die Farbe von Bernstein an, als sie feucht wurden. Mit bebendem Mund starrte er auf seine Hand, die hart umschlossen von James seiner weg vom Untergrund gezogen worden war. Das Zittern erreichte seine Schultern, dann erfasste es den gesamten kleinen Leib. Erst jetzt begriff James, was zu passieren drohte. Flugs gab er ihn frei und Will, der die Tür zu seinem Tränenreich zuschlug, setzte seine gänzlich triviale Tätigkeit fort. „Willst du mitmachen?“, fragte er heiter. „Warum tust du das?“ James tastete sich allmählich an seiner Naivität vorbei. „Weil, es ist lustig! Komm, mach mit!“ Ehe er es realisierte, schnellte der junge Hardy vor und griff, rüttelte an James’ Ärmeln. Sicherlich bräuchte ich es nicht einmal zu erwähnen, dass der sich heftig zur Wehr setzte. Aus der Entfernung zu den beiden Jungen tönte ein Gewirr von „Nein!“ und „Lass das!“ und „Komm schooon!“ und „Ich rufe gleich!“ und „Mach mit!“ und „Es ist lustig!“ und „Gleich…!“ und „Ihihihihihihi!“ und so weiter hinüber und brachte mich zum unfreiwilligen Lachen. Will beschloss aus einem mir nicht bekannten Grund, einfach einmal über James hinüberzuklettern, und es kam, wie es kommen musste: Der Ältere stürzte unter dem nicht auszugleichenden Gewicht nach hinten um, Will kullerte kichernd von ihm herunter und blieb ein paar Fuß weiter mit ausgestreckten Gliedern liegen. Als Erster sprang er auf die Beine und – James’ Nachgeben scheinbar falsch verstehend – gleich wieder auf ihn hinauf. Ich konnte nicht einschätzen, was genau er mit seinen erneuten Fuchteleien bewirkte. Möglicherweise wollte er auch gar nichts bewirken. James nahm seine Kraft zusammen und beendete die Rangelei endlich, doch da präsentierte Will stolz sein Ass, von dem ich gar nicht wusste, dass James es mit sich führte: Den so geschätzten Kompass des Großvaters. „Ich bin Pirahaaat!“, verkündete der kleine Dieb fröhlich und rannte durch den Speisesaal, dicht gefolgt vom rechtmäßigen Besitzer. Ich wich ihnen aus, dann erreichte er ihn beinahe, doch in der letzten Sekunde rettete sich der lebhafte Junge auf den Tisch, in dessen Mitte er sich zu voller Kürze aufrichtete und in Gedanken den Anker lichten ließ. James’ schnaufende Bemühungen, ihn herunter zu befehlen, blieben ohne Wirkung. Wie jedes begeisterte Kind verstand auch Will nicht, wann ein Spiel endete. Er langte in die Porzellanteller und warf die Kleinkramdekoration, mit der ich die Leere der ehemaligen Obstschüsseln zu überdecken suchte, nach dem unten Stehenden. Der hob seine Hände über den Kopf, doch die waren so empfindlich wie sein Gesicht. Schmerzen, das kannte er nicht, davon war ich überzeugt, auch wenn man nach seines Vaters einstweiliger Obhut etwas anderes hätte vermuten können. Ich hatte erfahren, dass der Lord – ich bin mir nicht sicher, ob es mich überraschte – sehr darauf bedacht war, dass James an Bord seines Schiffes kein Haar krümmte oder gekrümmt wurde, dass er seinen Schiffsarzt Dr. Beatty eigens auf ihn angesetzt und dass ihm unverhohlene Erleichterung im Blick gestanden hatte, da sein Sohn nach dem Sturz in das Wasser wieder in Sicherheit gelangt war. Bis er nur Sekunden später auskühlte. "Verdiente Schelte" nannte James die tief treffenden verbalen Züchtigungen, die Lord Norrington zum Bedauern meisterlich zu verwenden wusste, wahrscheinlich, um den hässlichen Schmerz durch ein Kleid des positiven Nutzens erträglicher zu machen. Und viel später sollte ich erfahren, dass nicht nur Lawrence Norrington erfolgreich alles weltliche Leid von seinem Nachkommen abwendete, ihn zugleich dem unsichtbaren und sich weit unterscheidenden Leid der Seele aussetzte, was im Leben von James Norrington zu Entbehrungen führen, ihm jedoch gleichsam ein Anstoß sein würde, aus dem von seinen Eltern gesponnenen Wintermantel zu gleiten und die abertausend Nadeln der Kälte auf der bloßen Haut zu empfangen, nur um den nie gekannten körperlichen Schmerz dessen zu erleben, was ihm mental seit seiner Kindheit vertraut war. Und vielleicht war das hier der erste Schritt in jenen echten Winter. James riss an Wills Fuß, da dieser gerade den schmuckvollen Kompass zu werfen drohte, und ließ damit zu, dass der Jüngere ihm halb im Spaß, halb im Schreck den nunmehr wieder leeren Porzellanteller über die Stirn zog. Ein heiseres Klirren begleitete Wills Schrei beim Herunterfallen, dann waren die Rollen vertauscht und James stand nun siegreich und mit dem Kompass in der Hand über ihm. Er zeigte dabei sogar ein ehrliches Lächeln, genauer: ein ehrlich schadenfrohes Grinsen; etwas, das ich nie an ihm gesehen hatte. „Ich fürchte, ich muss den Piraten davon hinweisen, dass eben dieser soeben in eine aussichtslose Lage geraten ist und demzufolgend mit höchster Wahrscheinlichkeit katapultieren muss.“ Will lachte freundlich. Und ganz bestimmt würde er den körperlichen Schmerz bezwingen und ein mutiger Soldat werden. Zuvor jedoch musste ich mich um seine Kriegsverwundung sorgen, welche ihm selbst erst bewusst wurde, da ich ihm die blutfeuchte Watte vor Augen hielt, bevor ich seine Stirn verband. Mit großen Augen starrte er sie an. „Ich war so sehr in das Spiel versunken…“ Ich vermochte nicht zu sagen, ob dies eine Rechtfertigung oder eine Frage darstellen sollte. Zu denken gab, dass ich mich über die Verletzung freute. Etwas mulmig wurde mir nicht etwa wegen der Befürchtung, sie würde irgendeine Komplikation mit sich bringen, sondern aufgrund der Überlegung, wie wir sie Lady Elizabeth erklären konnten. Vor allem, weil ich schließlich dabei gewesen war und eingreifen gemusst hätte. Eben das warf sie mir vor, als es so weit war. Ich konnte keine Antwort darauf finden, die mir selbst einleuchtete; alles andere empfand ich als Lüge gegenüber meiner Herrin. Sie tobte. Und das irritierte mich. Die Elizabeth, welche mir bekannt war, die früher mit mir über James’ Unbeteiligung an alltäglichen Freuden gerätselt hatte, hätte sich natürlich beherrscht. Mitunter sogar und ganz heimlich mit mir gefreut. Doch dieses von Schminke und Wut verschmierte und fast schon zu menschliche, zu fehlerhafte Gesicht war mir fremd. Sie schickte mich hinaus und behielt James bei sich. In den nächsten Tagen begleitete sie neben dem braven Jungen der Argwohn, mit welchem sie selbst Misses Hardy bedachte. Und doch gelang es James plötzlich mit wahrlich spielerischer Leichtigkeit, sich in den verschiedensten Auseinandersetzungen mit Hardys Sohn immer wieder kleine Wehwehchen zuzuziehen. Hat der Vogel erst einmal fliegen gelernt, dann wird ihn nichts so rasch auf den Boden zurückholen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)