James Norrington von Phantom (Ⅰ. Ankerlichtung) ================================================================================ Kapitel 1: I. Der Kompass ------------------------- James‘ Großvater war ein Kompass. Jedenfalls kannte er den einen nur in Verbindung mit dem anderen. Lady Elizabeth schenkte ihm das verstaubte Kleinod, welches wir während einer Entrümpelung der Norrington’schen Erbstückekammer gefunden hatten, zum fünften Geburtstag, er bedankte sich artig und verbrachte den Rest des noch frierenden ersten Frühlingstages mit seinem Französischlehrer. „Ms Abda“, fragte er erst, als ich ihn abends für das Zubettgehen bereitete und dabei feststellte, dass der Kompass noch immer genauso in seiner Hand klemmte wie da wir ihn des Morgens damit gehen ließen. „Wofür ist der?“ Ich musste wohl an die Rückkehr seines Vaters denken und den Brief, den ich damals – neugierig, wie ich war – heimlich gelesen hatte, dass ich nicht etwa sagte: „Der zeigt den Norden an“, woraufhin er nachgefragt hätte, wie das genau funktionierte, ich ihm wiederum mit Rücksicht auf meine jämmerliche Bildung erklärte, dass die Wirkungsweise mit der magnetischen Anziehungskraft zwischen Erde und Nadel zusammenhing, wir beide vom Thema abkommen und er schließlich schlafen würde. Stattdessen machte ich den Fehler, beobachtete sein Gesicht, das nicht nur in Farbe, sondern auch in Ausdruckslosigkeit, in jener er sich oft übte, an Marmor erinnerte und antwortete letztlich, das Einlaufen der Victory in den heimischen Hafen bildlich vor mir: „Der zeigt Ihnen immer, wenn Sie sich verlaufen haben, wohin Sie gehen müssen.“ Wissend, dass nur die metaphorische Interpretation meiner zweideutigen Aussage mit meinem gar verschwörerischen Tonfall harmonierte, während sich die schlichte reale Funktion von ihm stieß, wie es zwei gleiche magnetische Pole tun würden, nahm ich so merkwürdig stolz zur Kenntnis, dass James‘ kühle Züge unter dem Bewusstwerden der vermeintlich übersinnlichen Fähigkeiten seines Erwerbs kurz dahinschmolzen, als habe ich nie zuvor eine wichtigere Antwort gegeben. Sein Großvater war Kommodore in der Marine gewesen, demzufolge hatte Lawrence den Beruf praktisch geerbt, auch wenn Charles es nie zum Admiral brachte. Zudem hatten die beiden völlig unterschiedliche Beweggründe: Während der eine vor allem nach geografischen und persönlichen Grenzen trachtete, die er gerade dort zu finden glaubte, wo Unendlichkeit sich für das menschliche Auge sichtbar manifestiert, verführte den anderen die Attraktivität der Gefahr, die Ehrsucht; der Wille, England zu dienen und eine Leistung ohne Beispiel zu erbringen, einen Obelisken der steinharten Realität in das immergrüne, aber einen über die Blätterdächer Emporstrebenden einschränkende Eden seiner Jugend zu rammen. Welche Interessen würden James leiten? Und wohin? Der Junge war anspruchslos wie schweigsam, folglich kristallisierten sich weder Vorlieben noch Abneigungen heraus, wie es normalerweise bei Kindern seines Alters geschah. Ich hoffte, er würde sich mit den Vorstellungen seines Vaters, die zwar noch immer realistisch, jedoch wenig umsichtig waren, arrangieren können. Ich hoffte, er würde auf die Kompassnadel seines Herzens achten, bevor er mit zwölf Jahren die Entscheidung traf, zu jener andere sich ihr ganzes Leben lang nicht überwinden konnten. Ein Unwetter zog auf. Ich las es in ihrem Antlitz, als Lady Elizabeth am Türspalt zum Zimmer des Sohnes erschien. Das lange, formlose Nachtkleid und ihr nur zweckmäßig geflochtenes Haar ließen ihre natürliche Grazie unbeeinträchtigt – so wie es nichts zu geben schien, das dem Stolz und der Schönheit schaden konnte, die selbst Admiral Norringtons eisblaue Augen bezaubern zu vermochten. Es schien ihre Familientradition zu sein, eine formvollendete Skulptur darzustellen, ein Musterbeispiel englischer Aristokratie, nicht der vorüberziehenden Emotionen, nicht eines irrelevanten Augenblicks, und so musste äußerst präzise geschaut werden, wollte man den oftmals unausgesprochenen Standpunkt einer Lady Elizabeth erfahren. Gerundete fünfzehn Jahre des Dienstes im Hause Norrington hatten mich zum Kunstkenner gebildet, und so registrierte ich den Sturm des Lebens hinter den jetzt völlig schwarzen Augen jener Frau, der eine niemals an das Licht der Akustik tretende Anklage formte, während der englische Regen zur Marschmusik der Nacht ansetzte. „Lawrence“, sagte sie lediglich und ich musste spontan an eine entmachtete Löwin denken, die in einem Käfig ihre ungeduldigen Kreise zog. Sie wusste, was ich ahnte, weil sie durch den Admiral und Gemahl sehen konnte, doch das wahrsagerische Wissen würde ihr nicht erlauben, das Befürchtete zu verhindern. In der Tat. Die Selbstbewusste, die Starke, die Stolze fürchtete es. Ihre Pupillen zitterten unter der vereisten Oberfläche ihres makellosen Gesichts, als sie nur deswegen ihr Haupt senkte, um einen gehauchten Kuss auf die Stirn ihres Sohnes zu geben. Dann glitt sie aus dem Raum. Ich verfolgte James‘ stillen Schlaf eine ganze Weile, als würde er verschwinden müssen, sobald ich mich von ihm wandte. Vielleicht hatte ich ihm zuvor tatsächlich keine wichtigere Antwort gegeben. Wichtig war schließlich nicht gezwungenermaßen gleichzusetzen mit richtig. Hätte ich damals ahnen können, welche Folgen meine scheinbar marginale Erklärung auf die scheinbar bedeutungslose Frage des unwissenden Jungen ziehen würde, so hätte ich ihm doch lieber gesagt, dass ein Kompass nichts weiter tat als nach Norden zu zeigen, immer nur nach Norden, weil die magnetische Nadel auf die magnetische Erde reagierte; so hätte ich mich gehütet, Erwartungen in etwas Magisches zu wecken, und James Norrington hätte, als ihm das irgendwann verloren Geglaubte ausgerechnet im schlechtesten Moment wieder in die Hände fiel, den Kompass nicht in blinder Enttäuschung gegen die Wand seines Anwesens am Rande Port Royals geschmissen, während er der klaren Wegweisung doch am Dringendsten bedurfte. 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