Die Chroniken von Khad-Arza - Das Blut der sterbenden Welten von Linchan (Erstes Buch) ================================================================================ Kapitel 25: Verantwortung ------------------------- Die Armee aus Alymja hatte einen weiten Weg hinter sich. Alona hatte getan, was ihr Cousin verlangt hatte, und hatte anschließend die, die aufgebrochen waren mit Schiffen vom Nordreich aus, begleitet nach Vialla, gemeinsam mit der Frau ihres Cousins. Als sie die vor den südlichen Küsten von Senjo und Kisara ankernden Schiffe zerschlagen hatten, waren die Krieger aus dem Nordreich nach ihrer Reise um den halben Planeten an Land marschiert, um von der Küste aus nach Vialla zu gelangen. Als sie das Schlachtfeld im Süden der Stadtmauern erreicht hatten, waren schon alle voll dabei gewesen, aber der Überraschungseffekt hatte letztendlich gesiegt. Die Ela-Ri-Krieger hatten sich zurückgezogen – fürs erste. Aufgegeben hatten sie sicher noch nicht. Und obwohl Vialla für den Tag gerettet war, gab es schlimme Kunde, als die Telepathin gemeinsam mit den anderen Telepathen aus Alymja und Leyya an ihrer Seite zu den Führern der Verteidiger stieß. Der junge König von Intario war es, der ihnen berichtete. „Der König ist tot?!“, keuchte Alona fassungslos und die anderen Telepathen sahen sich bestürzt an, und der Herrscher von Intario senkte verwirrt und bekümmert den Kopf. „Der König aus dem Osten hat ihn erschlagen. Ich war noch nicht dort, ich kam nicht durch, die ganze Armee steht jetzt da herum; es ist ein Jammer, er war ein so guter Mann.“ Alona sah, wie Leyya neben ihr erbleichte und schluchzend die Hände vor den Mund schlug. „D-der König... w-wie lange kennen wir diesen Mann? Und jetzt soll er plötzlich... oh nein... wie schrecklich!“ „Was noch schlimmer ist, wohin denn ohne König?“, fragte der Telepath neben Alona; der Mann, der einst in Kisara gelebt hatte, der ihr Draht zum König von Alymja gewesen war. „Ich meine, er hatte doch nie eine Frau?“ „Es gibt einen, es heißt, er hat sich einen ausgesucht, der ihm folgen soll.“, meinte der Herrscher von Intario, „Es gibt schriftliche Verfügungen im Palast über den Verbleib im Fall seines Todes... davon hat er gestern noch zu mir und dem Herrn aus Senjo gesprochen. Die Minister haben die Dokumente beglaubigt, das heißt, der neue König ist schon fest.“ Alona Lyra runzelte nachdenklich die Stirn und wusste nicht recht, ob sie es instinktiv ahnte oder sich nur einbildete, Gespenster zu sehen. „Sagt mir seinen Namen, Majestät.“ „Puran!“ Leyyas gellender Schrei der Erleichterung durchfuhr die Männer im Palast durch und durch, als die kleine Heilerin gefolgt von vielen anderen ebenfalls in den Palast rannte. In der Halle am Eingang war großes Tohuwabohu, aber alles, was ihr in dem Moment wichtig war, war ihr Mann, der, mühsam auf den alten Kohdar gestützt, jetzt apathisch den Kopf drehte. Er war am Leben! Wie lange hatte sie sich gefürchtet und im Schlaf geweint auf der langen Reise mit dem Schiff zur Küste, wie lange hatte sie sich gesorgt? Er sah schlimm aus... aber er war am Leben! Und sie war Heilerin, sie würde ihn schon wieder flicken. In Anbetracht seiner offenbar schweren Verletzungen unterließ sie es, ihm stürmisch um den Hals zu fallen, als sie ihn erreichte. Stattdessen brach sie vor Freude über seine Existenz in Tränen aus und fasste vorsichtig nach seiner schmutzigen Wange. „Du lebst...“, wisperte sie aufgelöst, „I-ich hatte solche Angst! Ich habe... ich habe das alles gehört, d-das... das geht nicht in meinen Kopf! Der König... ist...?“ „Dein Mann ist jetzt König.“, erklärte Henac Emo ihr, der wie immer süffisant grinste und allem Anschein nach rundum zufrieden war, „Ist das nicht witzig? Oh, verzeiht mir, meine Königin, meine ich natürlich.“ „Halt den Rand...“, stöhnte Puran und drohte trotz Kohdars Stütze zusammenzubrechen, „Ich... kann das jetzt nicht. Nein, falsch, ich kann das überhaupt gar nicht, weder jetzt noch zu einer anderen Zeit. Das ist nicht mein Metier, das funktioniert nicht. Ich bin Senator... ich bin kein König.“ „Der alte König hat es aber so gesagt.“, beharrte Emo, „Warte, bis die Minister die Papiere bringen, du bekommst sicher schriftliche Zeugnisse darüber. Aber vielleicht sollte deine Königin dich erst mal wieder zusammenbauen, bevor du in Ohnmacht fällst.“ Puran warf Leyya einen verstörten Blick aus geröteten, apathischen Augen zu. Sie erkannte darin seinen Schmerz und die Trauer über den Verlust; sie wusste, dass ihr Mann den König sehr geschätzt hatte. Bedrückt senkte sie den Kopf, als er zu ihr sprach; sie fühlte sich schuldig, weil sie so erleichtert war, dass es nicht er war, der gestorben war... was war sie für eine garstige Person? „Bitte lass mich allein, Leyya. Ich würde... jetzt mit dir schimpfen, was du hier verloren hast... du solltest in Yiara sein. Aber ich habe... einfach keine Kraft dafür. Lass dir vom König ein Zimmer... ach... verdammt. Nimm dir ein Zimmer, irgendeins, und bleib da, bis ich mich beruhigt habe.“ Sie schauderte. Er war verwirrt... sie war es auch. War er jetzt allen Ernstes König von Kisara? War sie jetzt Königin? Das erschien alles so unrealistisch... das konnte doch nicht sein. „Tu besser, was er sagt.“, murmelte Alona hinter ihr und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. „Er wird sich beruhigen. Wir müssen... uns alle erst mal beruhigen. - Geh... du weißt ja, wie du zu den Korridoren kommst, du warst oft genug hier.“ „Was ist mit dir?“, fragte die kleine Heilerin bedrückt, „Was... tust du?“ „Keine Ahnung. Abwarten.“ Yarek war genervt. Das war er oft, aber jetzt war er es besonders, als Tayson keuchend gemeinsam mit Simu zurück in den Hof des Palastes kehrte, während Eneela, Thira Jamali und die Seherin hinter ihm standen und Neisa am Boden kauerte, den großen, zottigen Hund umarmte und herzerweichend heulte. „Und?!“, fragte der Rothaarige die beiden Männer, die nur apathisch die Köpfe schüttelten. „Nirgends. Wir haben das gesamte Schlachtfeld abgesucht, aber Karana und Iana sind einfach nirgends zu finden. Verdammt, das kann nicht sein! Sie müssen doch irgendwo sein!“, schimpfte Tayson, und Neisa schrie panisch und vergrub heulend das Gesicht in dem Fell des Hundes, der nur jaulte. „Karana!“, schrie sie aus vollem Hals, wobei sich ihre Stimme überschlug, „Ich will zu Karana! Ich will das alles nicht, ich will zu meinem Bruder... ich drehe durch hier! Ich halte das nicht mehr aus! Verdammt, die Leute behaupten, mein Vater wäre König! Ich will Karana...“ Und sie heulte und schluchzte und kriegte sich gar nicht mehr ein. Tayson setzte sich zu ihr und nahm sie tröstend in den Arm, aber sie umklammerte nur Karanas Hund und heulte noch lauter. Yarek musterte Simu, der am ganzen Körper zitterte. Sie alle hatten mehr oder minder schwere Blessuren davongetragen, aber alle waren soweit wohlauf, dass sie gehen konnten. „Das Schlachtfeld ist voller Blut und Leichen.“, murmelte der blonde Bruder von Neisa und senkte den Kopf, „Wir... haben wirklich jede einzelne, verdammte Leiche angeguckt. Wir haben nach Körperteilen gesucht oder nach Waffen, die darauf hinweisen könnten... Karana und Iana sind wie vom Erdboden verschluckt. Seherin, sag doch was! Weißt du denn nicht, wo sie sind?“ „Was?“, machte Ryanne und hob verblüfft den Kopf – nur ein Blick in ihr absolut konfuses Gesicht genügte Yarek, um zu wissen, dass sie offenbar ihr Gedächtnis verloren hatte. Dabei hatte sie erzählt, sie würde nicht vergessen, wenn er bei ihr war. Lügnerin. „Häh, wer seid ihr, zum Geier?“ „Verdammte Scheiße!“, fuhr Simu sie an, „Wir haben gerade keine Nerven dafür!“ Yarek zog eine Braue hoch beim unverhofften Zorn des kleineren Mannes vor ihm. „Mein Bruder ist verschwunden und vielleicht tot! Der König ist tot und irgendjemand erzählt, mein Vater sollte sein Nachfolger werden! Ich kann deine Spielchen gerade nicht ertragen, du verdammte, unfähige Frau! Ich drehe am Rad!“ Sich wütend die blonden, schmutzigen Haare raufend stakste er durch die anderen hindurch, um sich auf Neisas andere Seite zu setzen und sie ebenfalls zu trösten zu versuchen. Doch das blonde Heilermädchen schenkte weder ihm noch Tayson Beachtung, der einzige, an den sie sich anschmiegte, war der große Hund, der das mit sich machen ließ und stumm nach Osten sah. Yarek seufzte. Es lief doch einfach alles schief. Was für ein grausamer Tag... „Gut.“, sagte er, kehrte seinen Schützlingen den Rücken und steckte sich eine Zigarette an, „Dann warten wir, bis die dumme Seherin wieder weiß, wer wir sind.“ Oh, wie er es hasste, nicht voran zu kommen. Er verfluchte abermals Chenoa, diese verdammte Frau, die ihn zu dem gemacht hatte, was er war... Chenoa war Schuld an allem. Grundsätzlich. Sie verdiente es, verflucht zu werden... Die Verfügung war eindeutig. Puran hatte sich schwerfällig von seinem Kollegen Kohdar gelöst, um zu versuchen, einigermaßen gerade zu stehen, was ob der gebrochenen Rippe absolut unmöglich war, wenn er noch einen Moment lang sein Bewusstsein behalten wollte. Der Schmerz ließ ihn schillernde Farben vor seinen Augen tanzen sehen, und die Minister, die die Papiere in die Halle gebracht hatten, leuchteten grün, rosa und blau zugleich, während das Pergament mit der Verfügung ein blendendes Weiß hatte. Die grellen Farben schmerzten und er wünschte sich Schatten... er wartete sehnsüchtig auf den Moment, in dem er sich der nahenden Ohnmacht hingeben konnte, die er schon viel zu lange in Schach hielt, seit der Kampf vorüber war. Was erwarteten diese Mistkerle von ihm, so lange hier stramm zu stehen? Er war müde, seine Brust schmerzte wie von Dämonen verflucht und sein verwundetes Bein ließ das Stehen auch unangenehm werden. Verdrossen fragte er sich, wie er die Treppe hinauf in sein Gemach kommen sollte... hey, er war jetzt König, er könnte sich von irgendwem tragen lassen. Wie entwürdigend... „Kann der das einfach machen?“, fragte einer der anderen Senatoren um ihn herum, die alle gekommen waren, sowie die obersten Minister, Berater und der General, der auch nicht so begeistert von der Entscheidung des alten Königs zu sein schien. Puran spürte seine feindseligen, misstrauischen Blicke. „Ich meine, kann denn einfach irgendjemand zufällig ausgewähltes König sein?“ „Wenn der amtierende König das so hinterlegt hat, ja.“, behauptete der Notar mit dem Pergament, „Die Chance, dass er im Kampf fiele, war immerhin da, deswegen hat er ja seine Verfügung hinterlassen. Und wenn es nun eben Herr Lyra ist, dann ist er es. Daran besteht gar kein Zweifel, meine Herren. Sehen wir es so, egal, wer König wird, er hat immerzu Fürsprecher und Gegner. Das hätte jeder leibliche Sohn unseres verstorbenen Herrschers ebenso.“ „Aber ein Magier!“, brummte der General, „Noch nie war ein Schamane König von Kisara!“ „Aber in Janami gibt es das manchmal.“, sagte ein anderer Senator, „Die Schamanen sind fast genauso zahlreich vertreten in unserem Volk wie die Nichtmagier, es ist ihr gutes Recht.“ „Sind wir hier in Janami?!“, empörte sich der General, „Die in Janami sind ja auch barbarisch!“ „Hütet Eure Zunge in Gegenwart des Königs, mein Herr!“ Dann war es still und alle Blicke richteten sich auf Puran Lyra, der schwer keuchend mit seinem schwindenden Bewusstsein rang. Er merkte reichlich langsam, dass die Männer erwarteten, dass er etwas sagte. „Können... wir das nicht... nachher klären? Ich bin... etwas müde, ehrlich gesagt... ich glaube nicht, dass... ich jetzt fähig bin, ernsthaft zu diskutieren, meine Herren...“ „Was ist denn nun?“, fragte der General, „Nehmt Ihr denn das an, was der König Euch hinterlassen hat?“ „Habe ich... eine Wahl, es abzulehnen? Davon hat bisher kein Mensch gesprochen.“ „Sicher habt Ihr die, Ihr könntet abdanken und dann wählen wir einen neuen König.“ „Das ist doch Unsinn!“, brummte ein Senator, „Das dauert doch viel zu lange! Wir sind im Krieg, morgen könnte es gleich weitergehen! Wir haben keine Zeit für große Debatten! Ich betrachte es als diplomatische Lösung, Senator Lyra sozusagen vorübergehend dieses Amt zu gewähren und eine endgültige Entscheidung hat der gute Mann dann zu treffen, wenn Ruhe einkehrt, falls wir Ela-Ri überleben. Davon abgesehen, vielleicht macht er seine Sache doch gut, General!“ „Und was wird aus uns Nichtmagiern, wenn die Magier sich plötzlich überlegen fühlen, weil einer von ihnen König ist?“ „Fragen wir anders...“, stöhnte Puran und widerstand der Versuchung, nach seiner pochenden Brust zu fassen, „Was... war denn mit den Magiern... als der Vater des letzten Königs sie unterdrückte und ihnen keinerlei Rechte gewährte...? Die Nichtmagier sind... genauso ein Volk von Aufschneidern wie es die Schamanen auch sind... wir alle... sind Menschen und sind von Natur aus materiell veranlagt. Ich... kann jetzt wirklich nicht mehr, ich würde... wirklich lieber zuerst einen Kaffee trinken.“ „Gütiger Himmel, Ihr solltet keinen Kaffee trinken, sondern von den Heilern behandelt werden.“, machte der Notar, „Ich denke auch, dass es sinnvoller ist, wenn wir das später regeln, meine Herren.“ So sprach er und verneigte sich vor den Anwesenden, während die übrigen Männer zustimmend murmelten und einander zunickten. „Gut.“, schnaufte der General, „Ich bin gespannt, was Ihr für glorreiche Pläne habt, Majestät, die uns in dieser Situation helfen können. Wir sprechen uns dann also, wenn Ihr wieder atmen könnt, und beeilt Euch besser mit dem Genesen.“ Puran stöhnte und drehte sich herum, um in all dem Dschungel aus Farben und Schmerzen den Weg zur Treppe zu finden. Er sah seine Cousine bei der Treppe stehen, nahm aber kaum Notiz von ihr und wunderte sich nicht über ihre Anwesenheit; selbst dann nicht, als er beinahe gestürzt wäre und sie seinen Arm packte, um ihn festzuhalten. „Vollidiot.“, tadelte sie ihn, „Lass dir helfen, du verreckst doch auf dem Weg. Und dann müssen wir schon wieder einen neuen König suchen, das ist doch viel zu aktig. - Tare, Himmel, hilf mir doch mal.“ Senator Lyra, der jetzt irgendwie König war, schnappte nur nach Luft, als Kohdar wieder zurück kam und ihn abermals stützte. „Meine Kinder...“, keuchte er irgendwann, während sie zu dritt irgendwie die Treppe hinauf humpelten, „Wo sind die Kinder, Tare? Sie sind doch wohlauf... oder? Was bin ich für ein schlechter Kerl, dass ich sie vergesse...“ „Du hast jetzt andere Sorgen.“, erwiderte Kohdar ernst, „Ich suche nach deinen Kindern, sobald du im Bett liegst. Leyya wird sich um deine Wunden kümmern, alter Freund.“ „Sie ist auch da...?“, stöhnte er und hatte schon wieder vergessen, dass er doch vorhin noch mit ihr gesprochen hatte, „Was hat sie hier verloren...?“ „Himmel, du fantasierst ja schon.“, seufzte Alona neben ihm, „Jetzt halt einfach den Mund und mach ihn erst wieder auf, wenn du wieder heil bist.“ Mit etwas Mühe gelangten sie hinauf in den Korridor und zu dem Zimmer, das der alte König seinem treuesten Untergebenen überlassen hatte, wo sie der Einfachheit halber pausierten, statt irgendwen zu fragen, ob der neue König jetzt auch ein neues Zimmer bräuchte; dafür war keine Zeit. Das Bett war angenehm, und plötzlich nicht mehr stehen oder gehen zu müssen war erleichternd, und der Mann raufte sich keuchend vor Schmerzen die braunen Haare, als er voll angezogen auf dem Bett lag und seine Cousine so gütig war, ihm wenigstens die Schuhe auszuziehen. „Ich bringe dir deine Frau.“, seufzte sie dabei, „Dann soll sie dich ausziehen, ich mache dabei nur alle Wunden schlimmer. - Tare. Komm, gehen wir. Es gibt sicher genug, das zu tun ist.“ Tare Kohdar räusperte sich ebenfalls und murmelte etwas von Gute Besserung, ehe die zwei sich entfernten und die Tür ins Schloss fiel. Und endlich kam die lang ersehnte, erlösende Ohnmacht, die seine Schmerzen verjagte. Vialla war kaum beschädigt worden in der Schlacht. Asta war verblüfft, als sie gemeinsam mit vielen anderen Zivilisten die Katakomben unter dem Schloss verlassen hatte, in denen sie sich in Sicherheit gebracht hatten, und die Stadt so aussah wie immer. Rauch zog über den schattigen Himmel und eine ungewöhnliche, trostlose Stille war eingetreten. Asta hatte gehört, der König wäre ums Leben gekommen; das war keine gute Nachricht, nahm sie an. Aber sich mit Fragen zu beschäftigen, was jetzt geschehen sollte, stand ihr nicht zu; sie hätte es ohnehin nicht sagen können. Umgeben von Menschen jeden Alters, überwiegend aber Kindern, Frauen und Alten, hielt sie auf der Hauptstraße an und ließ die anderen in alle Richtungen davon ziehen zu ihren Häusern. Wohin sollte sie? Zurück in den Palast, wo sie gelebt hatte, weil sie zufällig mit den Sieben zusammen angekommen war? Oder sollte sie Vialla verlassen und irgendwo weit weg von hier ihr Glück suchen...? Irgendwie hatte sie nicht das Gefühl, dass das Glück ihr je hold werden würde... sie war und blieb eben eine hässliche Bohnenstange. Und es gab niemanden auf der Welt, den sie interessierte. Kurz fragte sie sich, ob ihr Vater und ihr Bruder wohl noch lebten. Vielleicht hatte sie einmal Glück und die beiden waren erschlagen worden, als Ela-Ri Ostsenjo überrannt hatte, wie Zoras erzählt hatte. Zoras... sie fragte sich, wie es ihm ging. Er war ihr immer unheimlich gewesen, aber gleichzeitig war er der einzige Mann in ganz Holia, der jemals freundlich zu ihr gewesen war. Wenn auch auf seine eigene, merkwürdige Art, das war mehr, als sie verlangen konnte. Sie hoffte, er war wohlauf... „Ich werd verrückt... Asta?!“ Sie fuhr herum beim Klang der vertrauten Stimme – und traute ihren Augen nicht, denn plötzlich stand Zoras vor ihr und starrte sie verblüfft an. Moment – nein, beim näheren Hinsehen erkannte die junge Frau, dass es gar nicht Zoras war, sondern sein Vater, und neben ihm war auch die hübsche Pakuna, Zoras' Mutter. „Ram... Derran und Pakuna!“, machte sie erschrocken und wunderte sich – wie waren die denn hierher gekommen? „I-ich – na, sowas...!“ „Was für ein seltsamer Tag!“, japste Pakuna, und sie tat etwas Verblüffendes, als sie Asta einfach umarmte. „Was für ein Glück, zu sehen, dass du lebst, arme, kleine Asta... dein Vater war fuchsteufelswild, als er merkte, dass du weg bist...“ Asta war so erstaunt über all das, dass sie nicht sprechen konnte. „A-aber – wieso...?“ „Wir haben Holia den Rücken gekehrt und sind nach langer Reise hier gelandet.“, erklärte die hübsche Frau mit den schwarzen Haaren strahlend, während ihr Mann brummte. „Ela-Ri hat angegriffen... wir haben es von weitem gesehen, als wir im Westen in die Stadt gekommen sind... wir haben erst überlegt, nach Norden wegzurennen, aber dann haben wir gedacht, dass es nirgendwo sicherer ist als in Vialla... und Arlon wird hier sicher nicht herkommen.“ „Mein Vater...“, stammelte Asta, und sie fing einen müden Blick von Ram Derran, „Er lebt noch?“ „Keine Ahnung.“, behauptete der Schamane und verschränkte trotzig wie ein Kind die Arme, „Ist mir auch einerlei, was mit dem ist.“ „Zoras hat gesagt, Ela-Ri wäre nach Kamien gekommen... wenn ihr durch Thalurien gekommen seid, wie seid ihr ihnen entkommen? Dem Zweig, den... sie im Hochland geschlagen haben...“ Sie erinnerte sich schaudernd an die Schlacht; weiter kam sie nicht, denn Pakuna starrte sie an. „Zoras!“, japste sie, „Zoras ist bei dir? Wir haben Holia in aller Eile verlassen und... wussten nicht, wo er ist... wie geht es ihm?“ „Ela-Ri hat Kamien geplättet?“, fand Ram fiel spannender, und er zog die Brauen hoch, „Das ist übel...“ Asta wurde unterbrochen, als sie Pakuna gerade berichtete, was ihr alles widerfahren war und wo Zoras war, als plötzlich schon wieder jemand ihren Namen rief, dieses Mal aus der anderen Richtung. Dieses Mal kam verblüffenderweise Tayson den Hügel herab. „Hier bist du!“, begrüßte der junge Mann sie verdutzt, „Und – ähm... warte, Kurzhöschens Eltern?!“ „Wer ist denn das wieder?“, fragte Ram Derran verdattert, und Tayson ließ Asta nicht erklären. „Simu und ich haben beschlossen, dich zu suchen und zurück zum Palast zu bringen; oder hast du etwas Besseres, wo du bleiben kannst? Irgendwie fühlen wir uns verantwortlich und es läuft alles aus dem Ruder... Karana und Iana sind spurlos verschwunden, Neisa hat einen Nervenzusammenbruch und ihr Vater wird jetzt König von Kisara, ich meine... das ist die Härte.“ „Wie bitte?“, keuchte Ram Derran und verlor vor Schreck seinen Speer aus der Hand, den er getragen hatte, „Neisas Vater?! Puran Lyra wird... was wird er?!“ „Äh, wollt ihr auch mitkommen...?“, wunderte Tayson sich, „Zoras ist zwar gerade weg, aber der kommt angeblich irgendwann wieder, also...?“ „Um Himmels Willen!“, keuchte Pakuna darauf und Asta wusste gar nicht, was sie mehr verblüffen sollte; dass Puran Lyra gerade König des Landes wurde oder dass sich allen Ernstes jemand um ihr Wohlergehen sorgte... sie konnte nicht weiter denken, denn Tayson griff ihre Hand und zog sie mit sich, und sie sah aus dem Augenwinkel, erfüllt von einer großen Verwirrung, dass Zoras' Eltern ihr unbeholfen folgten. Die Nacht musste schon fortgeschritten sein. Puran hatte sich nicht mit der Frage aufgehalten, wie lange er wohl bewusstlos gewesen war; als er aufgewacht war, hatte seine Frau bei ihm am Bett gesessen. Seine Wunden waren entweder verschwunden oder soweit versorgt, dass sie ihn nicht mehr belästigten; selbst der Rippenbruch verursachte nur noch einen dumpfen, erträglichen Schmerz in seiner Brust, als er sich aufsetzte und endlich dazu kam, Leyya in die Arme zu schließen. „Es passieren schlimme Dinge...“, murmelte er, während sie sich weinend an ihn drückte und mit ihren zierlichen Armen seinen Nacken umschlang. „Vergib mir, Leyya... dass ich dir dieses Theater nicht erspart habe.“ „Wie hättest du das tun sollen, mein Liebster?“, wisperte sie neben seinem Ohr und er spürte, wie sie in seiner Umarmung zitterte. „Ich bin ja so froh, dass du lebst... ich hatte wahnsinnige Angst um dich...“ „Dumme Frau...“, seufzte er, meinte den Tadel aber nicht wirklich ernst, als er das Gesicht zu ihrem Nacken drehte und sie sanft küsste, „Etwas mehr Vertrauen, Leyyachen... hältst du mich für so unfähig?“ Er wusste, dass sie errötete; es tat gut, sie bei sich zu haben. Es lenkte ihn von der Pflicht ab, die jetzt plötzlich auf ihm lastete, die er niemals gewollt oder erwartet hatte. Ihm fielen seine Kinder ein – ob Tare und seine Cousine sie gefunden hatten? Die Gedanken an das, was ihnen passiert sein könnte, verschaffte ihm Übelkeit; wie hatte er so verantwortungslos sein können, sie in die Schlacht ziehen zu lassen? Auch, wenn sie schon erwachsen waren... was war er für ein Vater, dass ihm nicht früher einfiel, nach ihnen zu sehen? Doch die Gedanken in seinem Geist waren so durcheinander und störend, dass er kaum Zeit hatte, wirklich an sie zu denken... Er war König von Kisara. Er war jetzt so ziemlich das Letzte, was er jemals hatte werden wollen... wie hatte er nur in dieses Desaster geraten können? Er verfluchte sich dafür, hier gelandet zu sein. Er hätte lieber Jäger im Dorf werden sollen, ein einfacher Mann und Familienvater, keine hohe Persönlichkeit, die auch nur den Hauch eines Einflusses außerhalb ihrer Familie hatte. Aber die Geister hatten schon vor seiner Geburt seinen Weg bestimmt... und festgelegt, dass er nie so etwas sein würde. Er war ein Sohn des mächtigen, uralten Lyra-Clans, des Clans der mächtigsten Rufer und Geisterjäger... das Schicksal hatte nie vorgehabt, ihn normal sein zu lassen. Und irgendwann hatte er gelernt, dass es am gesündesten für alle Beteiligten war, wenn er sich seinem Schicksal trotz allen Missfallens fügte. Und dennoch war es so angenehm, wenigstens für einen flüchtigen Moment dieses Schicksal, die Geister und alle Bestimmungen einfach hinter sich zu lassen, als seine Hände an Leyyas Rücken hinauf glitten und begannen, ihre Bluse hinten aufzuschnüren, wobei sie sich leise seufzend gegen ihn presste. Aber es war schwer, das zu verdrängen... darin war er noch nie gut gewesen, stellte er fest und war positiv erstaunt über sich selbst, dass sein Körper ihn ausnahmsweise Mal nicht im Stich ließ, als er seine kleine Frau auf unüblich zärtliche und ruhige Art liebte; wenn er nervös war, versagten seine männlichen Triebe sonst gerne mal... versagen tat nur seine linke Hand mal wieder, die wieder heftiger zitterte, als er keuchend im Bett lag und seine hübsche, kleine Frau über ihm tanzte, wie sie viel zu lange nicht mehr für ihn getanzt hatte. Leyya griff nach seiner Hand und küsste sie. „Deine Hand gehorcht dir schon wieder nicht... sag doch was. Ich gebe... dir die Knollen, die das bändigen...“ „Erst, wenn die Ela-Ri-Krieger zurückkommen.“, stöhnte Puran und lehnte den Kopf zurück, ehe er seine bebende Hand ihrer entzog und ihren Bauch hinauf bis zu ihren kleinen, festen Brüsten strich. „Du weißt, die Knollen zu oft zu essen macht einen verrückt... nur im nächsten... Kampf wäre es wirklich... ah... von Vorteil...“ Er schnappte nach Luft, als sie den Finger auf seine Lippen legte. In ihren Augen stand das Feuer, das sie gerade teilten; das sie so oft schon geteilt hatten, immer wieder, und ihre Erregung zu sehen steigerte auch seine eigene. „Sprich nicht mehr... ich weiß doch. Ich verfluche die Zuyyaner, die deine Hand so unheilbar geschändet haben damals... auch, wenn ich das Loch in deiner Hand habe heilen können, die Zuckungen bekomme selbst ich nicht weg.“ „Und zu mir sagst du, ich solle nicht sprechen!“, stöhnte er lauter und schloss zitternd die Augen. Seine Brust schmerzte dumpf, aber er spürte es kaum, weil es unterging in der Hitze der Vereinigung, als sie sich so leicht wie eine kleide Feder über ihm bewegte und ihn mit so geübten Berührungen stimulierte. Als der Höhepunkt kam, war es wie auf die andere Seite des Himmels zu gleiten, um dann wieder zurück auf den Boden zu kommen, wo die Schatten und alle Pflichten, die noch vor ihm lagen, mit einem mächtigen Hammerschlag plötzlich wieder da waren. Auf dem Hinterhof war es eiskalt. Yarek machte die Kälte nichts mehr aus. Er hatte lange genug auf der Zuyya gelebt, dem Planeten, auf dem es keine Sonne und keine Wärme gab. Auf Zuyya war es kälter gewesen als hier... wie lange war er jetzt schon fort von dem blauen Mond? Er hatte Zuyya nie als seine Heimat betrachtet, solange er dort gewesen war, und er hatte sich gesagt, dass er nur dafür lebte, eines Tages wieder in seine wahre Heimat kehren zu können, befreit von seiner Vergangenheit und allem, was sie mit sich gebracht hatte, um als freier, einfacher Mann in Kuyala zu leben. Vielleicht würde er eine Frau und Kinder haben, und für niemanden außer für sie würde er jemals wieder Dinge tun. Und dennoch hingen seine Gedanken jetzt, wo er auf Tharr war, oft an Zuyya und bei Chenoa, dieser Wahnsinnigen, die alles wusste, alles sah und die an allem Schuld war. Genau genommen erinnerte er sich mehr an seine Jahre bei Chenoa als an die Zeit davor in Kuyala, dem trockenen Nachbarland von Fann, in dem es genauso wenig regnete. Er war, so vermutete er, knapp zehn Sommer alt gewesen, als die zuyyanischen Krieger ihn mit vielen anderen gefangen und nach Zuyya verschleppt hatten. Genau genommen hatte er kein Recht, auf Chenoa zu fluchen, denn wäre sie nicht gekommen, säße er jetzt im Kerker des Palastes von Ahrgul, wenn er nicht längst gestorben wäre. Sie war gekommen und hatte sein Leben grundlegend verändert... Yarek war sich nicht sicher, ob er sie dafür verehren oder verabscheuen sollte. Auf dem Hof hockte Ryanne einfach so am Boden und kehrte ihm den Rücken. Er fragte sich, ob ihr nicht kalt war; immerhin stammte sie aus Fann und war im Gegensatz zu ihm sicher nicht durch einen Aufenthalt auf Zuyya abgehärtet. Aber die Seherin hatte ihn ja schon öfter überrascht, so sagte er sich, dass es nichts außergewöhnliches sein mochte. Er hatte den ganzen Palast nach ihr abgesucht, denn sie war vermutlich die Einzige, die sagen konnte, was mit Karana und Iana passiert war... und das interessierte ihn ziemlich. Er hatte bei Sonnenuntergang beobachtet, wie der General von Kisara dafür gesorgt hatte, dass die Leichen eingesammelt, aufgehäuft und verbrannt wurden. Man hatte den Feinden ebenfalls gestattet, ihre Toten zu holen und sie auf ihre Weise zu bestatten. Die Arbeit hatte bis tief in die Nacht gedauert und wenn Yarek jetzt nach Süden sah, sah er noch die Rauchschwaden des großen Feuers der Leichenverbrennung. Es hatten viele Männer beider Fronten den Tod gefunden... die Leiche des Königs hatte sie natürlich nicht auf den Haufen geworfen, er würde am folgenden Tag eine eigene, ehrenvolle Bestattung erhalten. Und nach langer Suche hatte der rothaarige Söldner die dämliche Seherin endlich gefunden. Der Morgen würde bald grauen und er hatte die ganze Nacht lang kein Auge zugetan. Jetzt musste er nur noch dafür sorgen, dass sie ihr Gedächtnis wiederfand, wenn er das vermochte. Er war nur ein einfacher Mensch, er war kein Magier und er hatte keine großartigen Mittel. Aber wenn er es nicht tat, wer würde es sonst tun? Er räusperte sich und stellte sich neben die Frau, die am Boden hockte und wie ein kleines Kind mit dem Finger auf dem Steinboden herum malte. Er fragte sich, ob sie nicht nur das Gedächtnis, sondern auch den Verstand verloren hätte. „Es war eine kluge Entscheidung.“, sagte sie prompt und er zog gelassen eine Zigarette aus seiner Manteltasche, um sie sich zwischen die Lippen zu klemmen. „Wat?“, machte er und vergaß unabsichtlich, seinen Dialekt zu verbergen. „Sie haben Puran Lyra zum König gemacht, meine ich. Das war eine kluge Entscheidung, er wird es gut machen.“ „Sagst du das, weil er gut aussieht?“, fragte er und ignorierte die Hochsprache dann; ihr Geburtsland lag neben seinem, sie sollte keine Probleme mit seinem Dialekt haben. „Er ist der Herr der Geister. Und er hat die Macht, den König zu schlagen. Er wird ihn nicht töten, weil er sich selbst verboten hat, jemals wieder einen Menschen zu töten. Als Krieg war gegen Zuyya war Puran Lyra ein großer Krieger. Er hat viele Feinde geschlachtet... nur General Ayjtana hat er nie erwischt.“ Yarek zog die Brauen hoch. General Ayjtana? Den Namen hatte er von Chenoa schon einmal gehört... er musste ein großer General des zuyyanischen Imperiums gewesen sein, Chenoa hatte gesagt, er wäre ein guter Mann gewesen. Brummend steckte der Mann sich seine Kippe an und blies den Rauch in die eisige Nachtluft. „Warum erzählst du mir das jetzt? Hast du dein Gedächtnis zurück, Ryanne? Wo sind Karana und Iana?“ „Noch sind sie am Leben.“, kicherte die Blonde und dass sie es nicht mal für nötig hielt, ihn beim Sprechen anzusehen, machte ihn wütend. Schnaubend trat er nach ihr und stieß sie damit um, ohne sie ernsthaft zu verletzen. Sie rappelte sich mit einem anzüglichen Grinsen wieder auf und schenkte ihm einen eigenartigen, diabolischen Blick aus ihren violetten Augen. „Hast du Angst um deine Schäfchen, großer Beschützer?“, raunte sie und kam ihm näher, bis sie direkt vor ihm stand und ihre schlanken, gebräunten Finger wie eine Spinne seine Brust hinab krabbelten. Er schlug ihre Hand weg. „Es ist meine Aufgabe und du weißt das, Ryanne. Ich warne dich, verarsch mich nicht.“ „Weil du für Chenoa alles tun würdest, nicht wahr?“, grinste sie und er stellte widerwillig fest, dass ihre gesenkte Stimme ihn irgendwie erregte. Diese elende Nymphomanin... „Du denkst viel an sie, ich habe es gesehen. Man wird noch denken, du seist verliebt.“ „Chenoa ist vieles für mich gewesen.“, brummte er und sah keinen Grund, ihr die Wahrheit zu verschweigen, „Sie war meine Mutter, meine Schwester, Lehrerin und Liebhaberin, aber das, was ich tue, tue ich nicht für sie. Chenoa kann man nicht beeindrucken, sie ist eine Maschine. Zum letzten Mal, wo ist Karana?“ Er sah, wie Ryanne ernst wurde. Zischend nahm er seine Zigarette aus dem Mund und warf den letzten Stummel auf den Boden, wo er ihn austrat. Die Frau hob ihre Hand wieder und strich mit einem ausgestreckten Finger über seine Stirn, seine Nase, seine Lippen und hinab zu seinem Kinn, dabei machte sie den Eindruck, als wollte sie irgendwelche Geister in ihm beschwören. Das einzige, was sie mit ihrem diabolischen, apathischen Blick und ihrer Stimme beschwor, war die Flamme in seinen Lenden, und er fragte sich, was mit dieser Frau kaputt war. „Ich sehe... Schatten.“, keuchte sie dann und ein Schauer durchfuhr ihn, „Viele Schatten... in Karanas Geist. Es ist der Schattengeist in ihm, den sie aufwecken... hast du seine Eckzähne gesehen? Er hat sie von ihm...“ „Weißt du denn, wo er ist?“, knurrte der Mann und trat unwillkürlich einen Schritt zurück, sodass er gegen die Säule stieß, sie den Balkon über dem Hof abstützte. Ryanne machte eine einladende Bewegung mit ihrer Hüfte und er ärgerte sich darüber, dass sie so offenherzig mit ihren Reizen spielte. Chenoa war mit sowas zwar dezenter gewesen, aber sie hatte auch immer genau gewusst, was sie tun musste... das Verlangen in ihm, diese verdammte Esoterikerin jetzt an die Wand zu pressen und sie wie ein Mann zu nehmen, benebelte seinen Verstand, als sie sich plötzlich gegen seine Brust drückte und das Knie anzog, um es gegen seinen bereits harten Schritt zu drücken. „Ich sehe Finsternis, die über Tharr fällt...“, wisperte sie stimmlos und er zog zischend die Luft ein, als er ihr in das apathische Gesicht starrte. „Wenn die Sonne zum dritten Mal den höchsten Stand erreicht hat, wird er kommen.“ Er hatte keine Lust mehr, sich darüber zu ärgern, dass die dumme Nuss ihm dauernd auswich und ihm seine Frage nicht beantworten wollte; vielleicht konnte sie es auch tatsächlich nicht. Mit einem Knurren packte er sie, drehte sich mit ihr herum und stieß sie gegen die Säule, um seine Hände unter ihre dürftige Kleidung zu schieben und sie ihr so weit vom Leibe zu zerren, bis sie nicht mehr im Weg waren. Vielleicht würde sie so gnädig sein, ihm zu antworten, wenn er ihr gab, was sie verlangte; und sich selbst den Gefallen tat, addierte er angewidert von seiner eigenen Erregung, als er sie ohne große Mühe an der Säule nahm und sie unter seinen Berührungen keuchte. Aber sie verschaffte ihm Erleichterung und es war etwas Gutes... es war eine ganze Weile her, dass er zum letzten Mal eine Frau genommen hatte; er fragte sich abermals, wie lange er schon von Zuyya fort war. Die Geister waren nervös und Neisa war es mit ihnen. Sie war nur Heilerin und hörte nicht viel von den Stimmen der Windgeister... aber sie spürte die Unruhe in ihrem Inneren, die mehr eine Panik war, seit ihr Bruder verschwunden war. Tayson bemühte sich rührend um sie und sie war ihm dankbar... aber sie konnte sich nicht auf seine heilsame Wirkung und die Zärtlichkeiten konzentrieren, die er ihr vermittelte, weil zu viel anderes in ihrem Kopf herum spukte. Mit Asta waren plötzlich Zoras' Eltern aufgetaucht... im ersten Moment hatte sie seinen Vater für ihn selbst gehalten, und was sie viel mehr irritierte als das – Ram Derran war wirklich absolut eindeutig der Vater von Zoras, sein Sohn war wie eine Miniaturausgabe von ihm – war das Brennen in ihrem inneren, das sie verspürt hatte in dem Moment, in dem sie an Zoras gedacht hatte. Sie hatte es oft gespürt, seit sie in den letzten Monden des Öfteren mit ihm alleine gewesen war, und sie wusste instinktiv, dass es ein Brennen war, das sich für eine Frau nicht gehörte. Und schon gar nicht für ein Mädchen, das noch nicht geblutet hatte und keine richtige Frau war. Sie fürchtete sich vor ihren eigenen Gefühlen... sie waren falsch und sie verbrannten sie auf schmerzhafte, schlechte Weise. Und dennoch konnte sie den brennenden Schmerz nicht vergessen, während sie in Taysons Armen lag und er ihr tröstende Worte ins Ohr flüsterte, um sie zu beruhigen. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, zu sprechen. „Brennst du... auch so, wenn du mich ansiehst, Tayson?“, keuchte sie tonlos und umklammerte die Decke, unter der sie gemeinsam in ihrem Bett lagen, natürlich komplett angezogen, weil sie noch ein Mädchen war. „Tut es weh?“ Tayson ließ sie abrupt los und hustete erschrocken. „W-was?!“, japste er und sie sah in sein Gesicht; ihr Instinkt sagte ihr in der Dunkelheit, dass er beschämt errötete. „Also... ich meine... natürlich tut es weh, wenn ich, ähm... zu intensiv an dich denke...“ „Karana hat gesagt, du seist besessen von mir, weil du schon immer versucht hast, mich zu beeindrucken... an meiner Seite zu sein.“, stammelte sie, „Wie fühlt es... sich an? Wenn du mich ansiehst... oder wenn du wie jetzt... so mit mir liegst? Brennt es... nicht?“ Sie musste eindeutig selbst besessen sein... vielleicht verstand sie mehr, wenn er ihr antwortete. Tayson hustete nur erneut. „Na ja, ich, ähm, beherrsche mich ja... ich meine... ich weiß ja, dass wir nicht... wie Mann und Frau... aber der Gedanke, es nicht zu können, ist schon... hart, irgendwie, ja. Ich bin geduldig, ehrlich.“ Sie blinzelte blöd. „Ich finde, es ist wie Feuer... es verbrennt mich und... es raubt mir den Schlaf.“ Er schnappte nach Luft; sie kam nicht auf die Idee, dass er sie jetzt missverstand. „Liebe Güte, Neisa! Ich, ähm, wusste nicht, dass du so denkst... ich... habe nicht geahnt, dass du auch... ich meine, du hast immer so getan, als könntest du mich nicht ausstehen...“ Sie fragte sich, was er da redete, ließ ihn aber und senkte errötend das Gesicht. „Ich bin verrückt, ich weiß es.“, sagte sie dumpf, „Ich – weiß, dass das Feuer wehtut und mich verbrennt, ich fürchte doch den Blitz, der in die Erde einschlägt und die Flammentöchter zeugt... a-aber irgendwie kann ich nicht aufhören, daran zu denken, und irgendwie gehorcht mein Körper mir nicht, wenn ich zu lange-...“ Er unterbrach sie, indem er plötzlich ungestüm ihr Kinn packte und sie mit einer Leidenschaft küsste, die ihr den Atem verschlug. Erstarrt lag sie im Bett und spürte, wie er seine Lippen gegen ihre presste. Es fühlte sich angenehm an... er war kein schlechter Küsser, und der Gedanke ließ sie wieder erröten. Sanft drückte sie ihre Lippen auch gegen seine, um den Kuss zu erwidern, bis er sie losließ und schnaufte. „Bitte sprich nicht weiter!“, keuchte er, „Bitte, Neisa, das... das macht mich verrückt, wenn du so redest! Wir werden warten und... eines Tages wird es soweit sein. Eines Tages werden die Geister dich zur Frau machen, bis dahin... bitte... sprich nie wieder davon. Sonst fällt mir meine Geduld einfach zu schwer...“ Sie starrte ihn perplex an und brauchte etwas, um ihn zu verstehen. Verhalten rückte sie ein Stück weg und entschuldigte sich bei ihm für ihre Unbesonnenheit; sie hätte besser nachdenken sollen. Dann lächelte sie verzerrt und kehrte ihm schweigend den Rücken, damit ihre Gedanken wieder zurück zu Karana kehrten, um den sie Angst hatte... und zurück zu dem Feuer, das ihr wehtat und das sie trotzdem begehrte. Die schattigen Wolken klarten auf, als der Morgen kam. Zumindest die im Himmel; im Palast von Vialla herrschte noch genügend Schatten, als der Senat, die obersten Minister und die drei Könige von Senjo, Alymja und Intario sich mit dem Notar versammelten, um zu besprechen, was jetzt mit dem neuen König werden sollte. Senator Lyra hatte sich in aller Frühe etwas schwerfällig von seiner geliebten Frau verabschiedet, die dann aber mit ihm gemeinsam hinunter gegangen war, wo sie jetzt mit den Geisterjägern, Alona, Sagal, Chitra und allen, die sonst noch anwesend und in irgendeiner weise involviert waren, bleiben musste; Puran bedauerte es, nicht wenigstens einen seiner Kollegen mit in die Sitzung nehmen zu können, aber die Geisterjäger waren letzten Endes nicht zuständig für die Politik und hatten dort nichts verloren. Auf dem Weg von seinem Zimmer hinunter zum Thronsaal hatte der Mann die ungläubigen, teils verwirrten, teils verehrenden Blicke der Angestellten und sonstigen Menschen des Palastes gespürt und es behagte ihm gar nicht, von allen Seiten so begafft zu werden, als wäre er eine besonders schicke Jagdtrophäe. Aber im Moment wäre er lieber eine Jagdtrophäe gewesen als ein König, denn eine Trophäe konnte einfach sorgenfrei an der Wand hängen. „Hals und Beinbruch, Majestät.“, feixte Neron Shai, als der Mann sich von seinen Gefolgsleuten verabschiedete, „Steh deinen Mann. Darf ich dich trotzdem noch Puran nennen?“ Tare Kohdar gab ihm einen Klaps auf den Kopf. „Idiot.“, schnaubte er dabei. Dasan Sagal betrachtete Puran Lyra kurz eingehend mit seinen scharfen, blauen Augen, ehe er würdevoll den Kopf neigte. „Wir haben keine Zeit zu verlieren, Herr. Die Armee steht noch immer vor unseren Toren und die Zeichen stehen schlecht. Ihr solltet nur wissen, dass meine Wenigkeit hinter Euch stehen wird, egal, was geschieht. Ihr habt mein Vertrauen und meine Loyalität, mein König.“ Puran seufzte. „Bitte hört doch mit diesen Anreden auf, das macht mich wahnsinnig. Ich gehe jetzt in einen Raum voller missmutiger Nichtmagier, die alle denken, ich würde jetzt die Macht an mich reißen und sie verurteilen wollen! Das ist wirklich keine schöne Sache...“ Er kratzte sich am Kopf und fuhr sich nervös durch die Haare, die zu glätten er ausnahmsweise Mal gar nicht erst versucht hatte; dafür war keine Zeit. Er sah sicher unseriös aus mit den Fransen auf seinem Kopf... und rasiert hatte er sich auch immer noch nicht, fiel ihm dabei auf, während er sich gestresst über das Kinn fuhr. Zu seiner einzigen Erleichterung machten seine Kollegen und Sagal auch keinen sonderlich herausgeputzten Eindruck. Henac Emo sprach, und er konnte sich wie immer sein Grinsen nicht verkneifen. „Ich weiß, du hörst nicht gern auf mich, Häuptling. Aber lass mich dir einen Rat geben, so als... treuer Untergebener, oder so. Drohe ihnen, Puran. Mach ihnen klar, dass du das Sagen hast, du bist jetzt König. Du trägst die Verantwortung und hast die Entscheidungsgewalt. Wenn sie dir dumm kommen... sag ihnen, dass du die Geister von Himmel und Erde auf sie hetzen wirst, denn das kannst du, und sie wissen das genau. Du bist viel zu weichherzig und willst, dass die Leute dich verehren, wie du bist, aber das werden diese Schlitzohren da nicht tun. Die warten... wie ausgehungerte Wölfe auf ein Zeichen deiner Schwäche, deiner Unentschlossenheit, um es gegen dich zu wenden. Also... zeig ihnen, dass du nicht unsicher bist.“ Der König schnaubte; das war das erste Mal, dass dieser Mann ihm etwas gesagt hatte, was definitiv wahr und vernünftig war... heute keine sexuellen Anspielungen? „Aber ich bin doch unsicher.“, behauptete er dann verdrossen, „Soll ich lügen?“ „Ja!“, kicherte der Schwarzhaarige und linste ihn an, „Du bist doch von uns der Politiker! Politiker müssen lügen, um zu überleben, und Könige müssen es erst recht! Es geht ja nicht nur um deine Haut, es geht um den Stolz des ganzen Rates oder deiner Familie oder gar unseres ganzen Volkes. Gib nicht klein bei, Puran, das wäre unser Ende hier mit dem Einfluss, den wir auf die Regierung haben.“ Der Mann schauderte. Das war wohl wahr... verdammt noch mal, warum nur immer er? „Sagal...“, murmelte er dann und sah kurz auf den Herrn des Clans, der sich auf seinen Gehstock stützte, „Sucht meine Kinder und die anderen der Sieben, wenn Ihr die Zeit findet. Der Krieg ist noch nicht vorüber und... wir werden sie vielleicht noch brauchen, auch, wenn es mir nicht passt.“ „Natürlich, Herr.“, machte der alte Telepath gehorsam und Puran war ihm dankbar für seine bloße Existenz. Sagal hatte Autorität. Sagal wäre wahrlich ein geeigneterer König als er... Die Männer im Saal warteten bereits, als er herein kam, manche verneigten sich ehrfürchtig, andere standen regungslos da. Der Notar hatte die Papiere. „Nun?“, fragte er darauf, „Ihr seht besser aus, Majestät.“ Der Herr der Geister brummte. An diese Anrede würde er sich nie gewöhnen... Autorität zeigen. Er musste tun, was Emo gesagt hatte, der Verräter hatte einfach recht. Er durfte nicht wie ein Häufchen Elend vor diesen Geiern stehen, die nur darauf warteten, dass er einknickte. Also straffte er sich räuspernd die Schultern und härtete seinen Blick. „Ja, ein wenig. Meine Herren, ich denke, wir haben alle keine Zeit für Kaffeekränzchen. Vor den Toren stehen noch immer die Bastarde aus Ela-Ri. Sie sind mächtig und viele, aber wir haben sie gestern dazu gebracht, sich zurückzuziehen. Es ist nicht unmöglich, sie zu zerschlagen, deswegen sollten wir nicht den Kopf in den Sand stecken. Wir erwarten, dass die Unterstützung aus Janami jeden Tag eintreffen könnte, abgesehen von dem, was uns die zuyyanische Beraterin vor einiger Zeit über Tejal oder die Barbaren aus Ostfann berichtete. Der alte König würde so weiter machen, wie es geplant war, und ich bin geneigt, das demzufolge auch zu tun.“ „Das heißt, Ihr nehmt die Bürde an, die unser Herrscher Euch auferlegt hat mit seiner Verfügung?“, fragte einer der Senatoren nach, „Ihr werdet... seinen Posten einnehmen, Herr?“ „Ich habe mir die vergangene Nacht damit um die Ohren geschlagen, zu überlegen, was am sinnvollsten wäre. Ich bin nicht zu dem Zweck geboren worden, einmal ein Herrscher zu sein, abgesehen von dem über die Geisterwinde. Ich habe weder damit gerechnet, noch darauf gehofft, eine derartige Position zu erlangen und bin dementsprechend ratlos; aber letzten Endes bleibe ich Vorstand des Rates der Geisterjäger und damit Herr über die Geister von Vater Himmel und Mutter Erde. Sie folgen meinem Willen, wenn ich es verlange. Ich denke, unser verstorbener Herrscher wusste sehr genau, zu was... wir Geisterjäger fähig sind. Und der König von Ela-Ri ist vermutlich auf demselben Niveau wie ich es bin, was die Magie angeht, wenn er meine nicht gar übersteigt. Demzufolge... werde ich wohl der Einzige sein, der das beenden kann, was begonnen hat. Und allein dafür... werde ich tun, was der alte König in seinem letzten Atemzug von mir verlangt hat. Wie es weitergeht, sobald Ela-Ri geschlagen ist, sehen wir dann.“ Er machte eine Pause und sah in die verblüfften Gesichter der Männer vor sich. Dann seufzte er. „Aber ich kann das... nicht alleine tun, meine Herren, ich brauche die Unterstützung meines Volkes. Eure Unterstützung... und ich möchte Euch versichern, meine Herren... dass wir zusammen diesen Krieg beenden können. Das können wir nicht, wenn Zwiespalt herrscht im Volk.“ Er sah besonders den General an, der darauf errötend brummte. „Das ist wahr gesprochen.“, sagte ein Senator nickend, „Ihr habt die Unterstützung des Senats, Majestät. Beendet diesen Krieg, und wir werden Euch Treue schwören.“ „Momentchen.“, korrigierte Puran ihn und warf ihm einen erbarmungslosen Blick zu, „Andersrum. Ihr beweist Loyalität und Königstreue, meine Herren, und dann werden wir, das vereinte Zentralreich mit allen Ländern, die beteiligt sind, Ela-Ri schlagen. Nicht ein Mann alleine kann diese Schlacht schlagen.“ „Und wenn wir Euch nicht loyal genug sind?“, fragte der General grimmig, „Was dann, Senator Lyra?“ „Dann, mein Guter, werden die Geister von Himmel und Erde Eure Torheit bemerken und Euch jagen, bis meine Würde befriedigt ist. Ist das angekommen?“ Er kam sich vor, als verriete er sich selbst, indem er solche Worte sprach... aber sie wirkten, Emo hatte nicht gelogen. Erschrocken weiteten die Anwesenden die Augen und neigten dann nahezu synchron ihre Köpfe, selbst der General. Puran Lyra rang sich dazu durch, fortzufahren, um seine Achtung vor sich selbst wieder etwas glatt zu bügeln. „Und ich würde sehr bedauern, die Geister auf meine eigenen Landsleute hetzen zu müssen, denn Ihr seid gute Männer. Und ich brauche... jeden einzelnen von euch, um das hier zu beenden. Der König repräsentiert letztlich sein Volk und sein Reich. Verratet Ihr mich... verratet ihr Kisara. Und die Geister dulden keinen Verrat.“ „Dann ist es besiegelt.“, sagte der Notar mit einer tiefen Verneigung, „Mein König; wir werden noch öfter die Ehre haben, denke ich. Ein guter Herrscher steht für sein Land ein und spricht für es... ich wünsche mir, dass auch Ihr zu Euren Worten steht, was Ihr bisher ja immer getan habt. Wenn Ihr im Namen von Kisara sprecht... dann stehen wir alle hinter Euch.“ Karana war verschwunden. Die Nachricht traf sowohl den neuen König als auch seine Frau wie ein Donnerschlag, als Sagal die anderen der Sieben, die Seherin und Yarek in die Halle gebracht hatte. Leyya machte den Eindruck, als würde sie in Ohnmacht fallen wollen, als der Telepath erzählte, dass Karana und sein Mädchen seit dem vergangenen Tag verschollen waren. Und Puran Lyra verfluchte die dummen Umstände, die es ihm jetzt nicht erlaubten, nach seinem Sohn zu suchen; es gab so vieles, um das er sich jetzt kümmern musste, sie waren mitten im Krieg und die Leute warteten darauf, dass er Befehle gab... warum musste so etwas passieren? So musste er Simu und die anderen jungen Leute suchen lassen; nicht einmal Sagal konnte er dafür entbehren, denn der Mann, der überall in der Welt Kontakte und Beziehungen hatte, war jetzt vermutlich sein wichtigster Anlaufpunkt in allem, was auf sie zukam. Die Armee musste neu formiert und gerüstet werden, sie brauchten mehr Waffen, jemand musste Botschaften nach Janami schicken und fragen, wo denn die versprochene Unterstützung blieb; Janami war immer ein Problemfall. Von allen großen, mächtigen Ländern des Zentralreiches waren Kisara und Janami immer die größten Konkurrenten um die Konzentration der Macht gewesen. Vialla war aus dem Grund die Reichshauptstadt des Zentrums, weil sie geografisch gesehen in der Mitte lag, während die Hauptstadt von Janami, Dan-morough, am äußersten nordöstlichen Zipfel des Kontinenten lag und somit nicht geeignet wäre für diese Ehre. Und dennoch hatte es immer Reibereien gegeben zwischen Kisara und Janami... Puran hoffte, die Unterstützung kam überhaupt. Sie kam; als die Streitmacht von Janami aus dem Nordosten nach Vialla kam, war Karana bereits drei Tage verschwunden. Puran hatte jeden, den er entbehren konnte, nach dem Sohn suchen gelassen, aber nicht einmal Karanas treudoofer Hund Aar hatte sein Herrchen aufspüren können. Leyya war so panisch geworden mit jedem Moment, den ihr Kind länger weg war, dass sie kaum noch aß oder gar schlief, ihr Mann verfluchte die Geister abermals, weil er keine Zeit hatte, sich um seine arme Frau zu kümmern, deren Hysterie ihn nur noch mehr besorgte... er hatte doch genau wie sie Angst um Karana, immerhin war er ihr einziger leiblicher Sohn... Karana war der einzige männliche Nachkomme des Lyra-Clans. Wenn ihm etwas zugestoßen wäre... nein, er wollte gar nicht daran denken. Ohne einen Sohn von ihm war der ganze Clan so gut wie tot; und es war nicht so, als versuchten er und Leyya nicht schon seit Neisa keine Muttermilch mehr bekommen hatte, noch weitere Kinder zu bekommen... die Launen der Geister hatten ihnen nach der Geburt ihrer hübschen Tochter jeden weiteren Kindeskeim verwehrt, mal eben so einen neuen Sohn machen wäre also keine Alternative... davon abgesehen, dass kein neuer Sohn ihm Karana ersetzen könnte. Karana war ein bockiges Kind gewesen. Er hatte seinen eigenen Kopf gehabt und hatte sich so oft mit seinem Vater überworfen, weil sie verschiedener Meinung gewesen waren... aber Puran hatte dem Kind seinen Trotz immer vergeben, weil er genau wusste, wie sehr er selbst als kleiner Junge seine Mutter erzürnt hatte, weil er genau wie Karana seinen eigenen Kopf gehabt hatte. Eine gesunde Portion Trotz hieß, man hätte einen starken, guten Geist. Und Karana hatte eine große, gefährliche Macht inne, das hatte der Vater schon gewusst, als sein Sohn noch nicht einmal hatte lesen oder schreiben können. Karana war ein Rufer und er besaß die Gaben des Sehens und des Hörens. Schon als Kind hatte er das Wetter bestimmen können und die Geister gerufen, auch, wenn er sie nicht zu bändigen oder gescheit einzusetzen wusste... er war noch kein richtiger Geisterjäger. Aber Saidah hatte ihn gelehrt, wie einst ihr Vater Karanas Vater gelehrt hatte, und Puran wusste, dass sein Sohn ihn eines Tages, wenn die Geister es bestimmten, in seinem Titel als Herrn der Geister ablösen würde, wenn er gut lernte und seine Macht zu kontrollieren wusste. Er sehnte sich nach diesem Tag, der unweigerlich kommen würde... der Tag, an dem Karana seinen eigenen Vater konfrontieren und schlagen müsste, um seinen Posten zu übernehmen. Er verstand jetzt, dass auch seine Mutter, die Königin des Geisterjägerrates und Frau des Herrn der Geister Tabari Lyra, unglaublich stolz auf ihn gewesen war an dem Tag, an dem er vor so vielen Jahren gegen sie hatte kämpfen müssen. Und nie war ihm ein Kampf schwerer gefallen als der gegen seine eigene Mutter, gegen die Frau, die er am allermeisten auf der ganzen Welt verehrt und geliebt hatte. Nalani war eine mächtige, unerschütterliche Magierin gewesen, und sie hatte es ihm schwerer als nötig gemacht, sie zu besiegen... und trotzdem hatte er es geschafft, genauso würde Karana ihn eines Tages zu Boden zwingen. Dazu war er geboren worden... dazu hatten die Geister ihn gemacht. Und auch, wenn Karanas seltsam vertraute, herrische Ader dem Vater so gar nicht in den Kram passte, so war er doch beim Anblick seines hübsch gewachsenen, mächtigen Sohnes so stolz auf ihn, wie ein Vater nur stolz auf seinen Erstgeborenen sein konnte... sein Verlust würde ihn schlimmer schmerzen als er jetzt Zeit hatte, zuzugeben, wenn er es wagte, darüber nachzudenken, was passieren würde, wenn Karana etwas zugestoßen war. Und in dem Moment, in dem Puran aufhörte, daran zu denken, tauchte Karana wieder auf – oder zumindest die Nachricht von seinem Verbleib. Zum Tor von Vialla war aus dem Süden ein vereinzelter Botschafter von Ela-Ri gekommen. Er war geschmückt und verziert, wie es offenbar Sitte war unter den östlichen Barbaren, und auf dem Kopf trug er einen Schmuck aus Federn und getrockneten Beeren. Der Herr der Geister sah keinen Grund, den Kerl in die Stadt zu lassen, so ließ er sich von Sagal, den er kaum noch von seiner Seite weichen ließ, dem General und einem Sicherheitswachmann hinaus vor das Tor begleiten, um den Botschafter anzuhören. Der Winter war gekommen; die Sonne zeigte sich nur noch kurz über dem Horizont und die ungewöhnliche Kälte für diesen Breitengrad fegte den Männern von Süden her ins Gesicht, als der Botschafter in der Einheitssprache sprach. „Seine Gnaden, der allmächtige Herrscher des Ostreiches, lässt mich verkünden, dass er dem neuen König, Puran Lyra, Sohn des Tabari Lyra und Herrn der Geister, Vorstand des obersten Rates, noch eine Chance gibt, sich zu ergeben. Ihr habt gesehen, wir sind viele und wir sind stark. Ihr seid wenige, glaubt nicht, dass der nächste Angriff in derselben, harmlosen Art wie der letzte sei.“ Sagal schnaubte missbilligend und Puran brummte. „Das haben wir nicht angenommen. Wir ergeben uns immer noch nicht, sag das deinem Herrn. Oder schicke einen Sklaven, der es ihm sagt, damit nicht du, sondern der Sklave ermordet wird durch den Jähzorn dieses Barbaren.“ Der Botschafter hörte die Worte und verzog gequält das Gesicht. „Seine Gnaden hat eine andere Nachricht für den König von Kisara.“, sagte der Bote kalt und am veränderten Klang seiner Stimme merkte der unfreiwillige König, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. „Wir haben Euren Sohn, Karana. Noch ist er am Leben... wenn Ihr aufgebt und Euch unterwerft, wird er leben und Ihr bekommt ihn zurück. Solltet Ihr, König von Kisara, aber unser Angebot ablehnen... so wird Euer Sohn sterben.“ Die Nachricht erntete eisernes Schweigen von den vier Männern aus Vialla. Puran wusste später nicht mehr, wie lange er starr auf dem gefrorenen Erdboden gestanden hatte; er wusste nicht, wann Sagal ihn unauffällig anstieß, um ihn wissen zu lassen, dass er etwas sagen sollte. In seinem Kopf wiederholte sich die Botschaft in einer Endlosschleife... Wir haben Euren Sohn. Wenn Ihr nicht aufgebt, wird er sterben. Er ballte verkrampft die Fäuste und die Panik, die in ihm aufstieg, verschaffte ihm eine ungeahnt heftige Übelkeit. Er kämpfte gegen den Würgereiz beim bloßen Gedanken an den Tod seines Sohnes... verdammt, er musste sich zusammenreißen! Er durfte nicht einknicken... vielleicht log der Mann. Vielleicht hatten sie Karana gar nicht... aber wo war er sonst? Und woher sonst kannten sie seinen Namen? Vielleicht war er schon längst tot... die Gedanken machten ihn wahnsinnig und er strauchelte, ehe ihm ein verzweifeltes Stöhnen entrann. „Herr!“, zischte Sagal neben ihm, „Sprecht und sagt, was Ihr tun werdet.“ Puran Lyra konnte nicht sprechen, weil in seinem Kopf noch immer die Botschaft kursierte... als er endlich seine Sprache wiederfand, bohrte sich der skeptische Blick des Generals in seine Seite. Es war Tadel in seinen Augen und Senator Lyra wusste genau, womit er den verdiente. Ihr habt gesagt, Ihr sprecht für Kisara. Und jetzt knickt Ihr ein, wenn es um Euer eigen Fleisch und Blut geht. Wo bleibt... da Kisara? Und Euch soll ich meine Loyalität schenken? Das Antworten war dem Herrn der Geister nie schwerer gefallen als in diesem Moment. Das einzige, an das er sich tief in seinem Inneren klammern konnte, war das Vertrauen in die Geister. Sie würden Karana nicht verraten. Sie würden ihn beschützen... sie mussten es, er würde es ihnen befehlen. Bebend schloss er die Augen und holte tief Luft; als er ausatmete, stieß er alle Zweifel und alle Panik von seinem Geist, ehe er dem Boten scharf ins Gesicht blickte. „Wir lehnen euer Angebot ab. Dann habe ich... eben keinen Sohn mehr. Ich kann einen neuen zeugen. Ich bin König des Landes Kisara. Und meine Kinder... sind alle im Volk. Sag deinem Herrn, er möge kommen, wenn der Tag anbricht! Wir werden warten, und wir werden euch zerschlagen, so sicher wie die Sonne mit jedem Morgen aufgeht... so sicher werdet ihr zu Grunde gehen an diesen Mauern. Und jetzt verschwinde, bevor mir die Hand ausrutscht und nicht dein Herr, sondern ich dir einen Speer durch den Rumpf jage.“ Sagal war starr, als der Bote umkehrte und davon rannte. Der General war zufrieden und Puran wusste, dass er sich die bedingungslose Treue des ganzen Hofstaates für einen hohen Preis erkauft hatte... und er kämpfte erneut gegen die aufkommende Übelkeit. ______________________ lohl. XD Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)