Mnemonic Abyss von Mismar (She is calling my Name) ================================================================================ Kapitel 1: Without a Trace -------------------------- Wie kannst du in einer Welt noch leben wollen, in der du übersinnlichen Mächten zum Opfer gefallen bist? Tagtäglich wirst du von der Angst begleitet, die dir ins Ohr flüstert, das augenblicklich der Spuk von vorne losgehen könnte. Du wirst sehen, wie weitere und neue Freunde ihr Leben lassen müssen, nur weil du nicht bereit bist, loszulassen. Lasse von ihm los und ich schwöre dir, diesem Spuk ein Ende zu setzen. Sie hatte ihre heutige Verabredung fast verschlafen. Hektisch kam sie aus dem Bett heraus und traf alle Vorbereitungen, um das Treffen ansatzweise pünktlich erreichen zu können. Normalerweise klingelte ihr Handy zur gegebenen Zeit, aber dieses hatte sie seit jenem Vorfall nicht mehr angeschaltet. Sogar beim Haustelefon hatte sie das Kabel durchgeschnitten und war für den Großteil ihrer Freunde und Verwandten unerreichbar. Wenn es um Kommunikation ging, war Rin Kagura ein ganz anderer Mensch geworden. Erleichtert darüber, dass ihre Freundin nicht allzu hart mit ihr wegen der Verspätung war, machten sie den geplanten, gemeinsamen Spaziergang durch die Stadt. „Ich möchte mir ein neues Handy kaufen.“ Rin erstarrte zu einer Salzsäure. Musste das denn sein? Sie wollte keine Abteilung betreten, wo überall Handys in verschiedenen Formen und Farben lagen. Sie könnten womöglich… „Was ist los, Rin? Du benimmst dich in letzter Zeit so komisch.“ „Nein, alles in Ordnung.“ Sie konnte ihr unmöglich die Wahrheit erzählen. Letztendlich hätte man sie für verrückt erklärt und einen Termin beim Therapeuten vereinbart. Aber hier kam schon der nächste springende Punkt: Sie versuchte Krankenhäusern aus dem Weg zu gehen. „Aber musst du dir schon wieder ein neues Handy kaufen? Ich kann die Dinger langsam nicht mehr sehen.“ „Ich dachte, dir würde es nichts ausmachen, mich beim Einkaufen zu begleiten.“ Ja, da hatte Rin noch gedacht, sie würde sich mit dem Geld ihrer Eltern Klamotten kaufen, aber kein neues Handy. Nun hatte sie sich selbst in diese Misere gebracht und musste zwischen zwei Entscheidungen abwägen: Entweder, sie überwand ihre Angst und begleitete ihre Freundin oder sie würde draußen warten. „Vergiss das einfach. Lass uns weiter.“ Sie konnte keinen Neuanfang machen, wenn sie ihre Freundinnen nach und nach mit ihrer Art verängstigte. Das zwanzigste Jahrhundert stand bevor, moderne Kommunikation gehörte zur Tagesordnung, es gab einfach keinen Weg daran vorbei. Außerdem würde Rin ihre Ruhe im Einkaufszentrum finden. Solange sie auf den Straßen Japans waren, klingelte hier und da ein mobiles Telefon in der überfüllten Menschenmenge. Sie hasste dieses Geräusch, es versetzte sie nahezu in Panik. Obwohl sie ihre Freundin ins Innere begleitetet hatte, hielt sie sich von der Handy verkaufenden Abteilung fern; sie tat einfach so, als würde sie in irgendwelchen Magazinen blättern, die sie angeblich brennend interessierten. Wie der Zufall es so wollte, durchstöberte Rin genau die Seiten, die sie vermutlich nicht mehr aus dem Gedächtnis bekommen würde: Es waren News über das Samsara-Magazin, ein Okkultheft über geisterhafte Erscheinungen. Der Verleger, Makoto Shirae, sei spurlos verschwunden und bislang würde es keine richtiggehenden Fakten über seinen Verbleib geben. Es wird anständig darum gebeten, Nachsicht zu zeigen. Die Fans dieser Serie sollen sich noch etwas gedulden. Rin seufzte laut auf, wie konnte sie nur mit der Gewissheit leben, als Einzige zu wissen, dass Makoto nicht mehr unter den Lebenden wandelte? Sollte sie zur Polizei gehen und berichten, ihn vor paar Tagen als Geist gesehen zu haben? Sicherlich würden sie Rin auslachen und dann dieses verflixte Telefon benutzen, um ihren Eltern Bescheid zu sagen, dass sie am besten ihre Tochter abholen und danach in die psychische Klinik einweisen sollten. Diese Schuldgefühle machten sie fertig, raubten ihr nahezu die ganze Luft zum Atmen. „Seit wann interessierst du dich für ältere Männer?“ Sie hörte die kichernde Stimme ihrer Freundin hinter sich ertönen. Unbewusst hatte sie über Makotos Portraitfoto gestrichen, deswegen war ihre Freundin auf diese eigenartige Frage gekommen, die Rin erröten ließ. Makoto Shirae war über ein Jahrzehnt älter als sie und dennoch: Er besaß einen drahtigen, großen Körper. Der dunkle Teint stimmte harmonisch mit seinem schwarzen Haar überein, das er stilistisch zu frisieren wusste. Die Stimme, seine Art… er als Mensch. Rin konnte nicht abstreiten, diesen Menschen nicht geliebt zu haben. Es waren vielleicht nur kurze Augenblicke, wo sie sich sahen. Kurze Gespräche, die sie per Handy wechselten. Und dennoch: Er war es gewesen, dem sie ihr jetziges Leben verdankte. Er hatte seine letzte Kraft aufgeopfert, um ihr den endgültigen Hinweis zu geben, den sie so dringend gebraucht hatte. Kaum vorstellbar was passiert wäre, wenn sie seinem Ratschlag nicht gefolgt wäre. „Hmhm. Wenigstens kann ich dir guten Geschmack zusprechen. Der Kerl sieht wirklich nicht übel aus.“ Sie stieß mit ihren Ellbogen gegen Rins Hüftseite. „Aber für dich unerreichbar.“ Geknickt senkte Rin das Magazin. Wie stand sie nur da? Hatte ihre Freundin keine besseren Sorgen, als ihr zu sagen, dass sie keine Chance bei einem Verleger wie Makoto Shirae hatte? Letztendlich war er ihr unerreichbar: Er war immerhin tot. „Hast du das Handy bekommen, was du gesucht hast?“ Die braunhaarige Studentin legte das Magazin beiseite, sie wollte sich wegen Makoto keine weiteren Gedanken machen. „Ja, es ist total schick. Vielleicht solltest du es dir auch holen.“ Rin nickte bejahend, denn sie wollte keine unnötigen Diskussionen starten. Außerdem hatte sie Zuhause ein funktionsfähiges Handy; sie benutzte es einfach nur nicht mehr. Den restlichen Tag verbrachten sie so, wie es normale Mädchen in ihrem Alter taten. Das ganze Hin und Her hatte Rin total ermüdet, erschöpft würde sie sich ins Bett fallen lassen, sobald sie daheim war. Sie war froh, dass ihre Freundin sie nachhause begleitet hatte. Die Freundinnen verabschiedeten sich an der Wohnungstür und Rin sah ihr nach, als sich die andere auf den Weg in ihr eigenes Heim machte. Ein flüchtiger Blick in den Briefkasten, aber bis auf Rechnungen und unnötige Werbungen fand sich nichts darin wieder. Wie versprochen ließ sie sich auf das Bett fallen, erstmal bäuchlings. Nachdem sie einige Minuten in dieser Position verweilt hatte, drehte sie auf den Rücken. Während der Umdrehung tastete sie nach dem Plüschtier, das die Züge einer Katze zeigte. Diese Plüschkatze trug den Namen Kuro Neko und war ein Geschenk des Mädchens, welches den mnemonischen Abgrund erschaffen hatte. Es war eine Art Geisterwelt, so wirklich beschreiben konnte es Rin nicht. Auf jeden Fall wurden alle in diese mysteriöse Welt gezogen, die einen Blick auf eine Webside namens „Schwarze Seite“ geworfen hatten. Aber dieser Spuk hatte ein Ende gefunden, indem Rin den Rachegeist Reiko besänftigte. Doch jenes hatte sie nur mit Makotos Hilfe geschafft: Er hatte ihr die Nummer von Reikos mobiles Telefon besorgt. Man konnte nur mithilfe eines Telefons mit Geistern kommunizieren... Rin schrak auf, als sie ein verdächtiges Vibrieren, gefolgt von einer Melodie, auf ihrem Schreibtisch vernehmen konnte. Rasch setzte sie sich auf, schnappte ihr eigenes Handy, wo sie sicher war, dass dieses abgeschaltet sein musste. Sie hatte vor lauter Panik sogar die Sim-Karte entfernt, weil in gruseligen Horrorfilmen die Handys trotzdem ansprangen. In einem hatte sie auch gesehen, dass das Telefon von seinem Besitzer vollkommen zerstückelt wurde und trotzdem SMS und Anrufe angenommen hatte. So lachhaft und kindisch sich das auch anhörte, sie hoffte, so etwas würde nie der Wahrheit entsprechen. Sie wagte sich kaum, auf den Display ihres Handys zu schauen: Tatsächlich war es angeschaltet und sie konnte die Nachricht lesen, eine SMS empfangen zu haben. Schluckend rang sie mit sich selbst, ob sie diese Kurzmitteilung lesen sollte. Aber es war nicht ihr Charakter, es war nicht sie, wenn sie sich jetzt ihrer Angst hingeben würde. Genau das hatte Makoto an ihr bewundert: Ihren Mut. Rin klickte die Mitteilung an und ihre Augen vergrößerten sich: Makoto hatte ihr geschrieben. Aber wie konnte das sein? Makoto war tot! Sie hatte seinen Geist gesehen! Oder war das alles nur ein Trugbild ihrer Träume gewesen? Immerhin war sie in ihrem eigenen Bett aufgewacht. Egal was es war, sie musste sich jetzt zusammenreißen! „Ich muss dich sehen. Ich erwarte dich morgen Abend dort, wo wir uns zum ersten Mal gesehen haben.“ Stark grübelte sie nach. Es war der Kunstraum einer Schule gewesen, wo drei Schülerinnen leblos im Computerraum aufgefunden wurden. Diese Schule war seit dieser Ereignisse geschlossen, wieso war er dort? Sie konnte nicht einfach diesen verlassenden Ort aufsuchen, erstmal brauchte sie Gewissheit. Wie in Zeitlupe betätigte sie den Kontakt, um Makoto telefonisch erreichen zu können. Rin sah schockiert auf, als eine verzerrte Stimme sich zu Wort meldete. Es war eindeutig die Stimme von Makoto! Kapitel 2: The Trap snaps shut ------------------------------ Sie hatte die gesamte Nacht nicht schlafen können. Ihre Gedanken kreisten sich um Makoto; aber nicht nur um ihn: Horrorerlebnisse der Vergangenheit ließen sie nicht einschlafen. Oftmals hatte sie Gesichter verstorbener Personen im Kopf gehabt, die von jetzt auf gleich aufgetaucht waren. Momente, wo sie zum Beispiel eingeschlossen in der Toilette von einem schwarzhaarigen Mädchen beobachtet wurde. Dabei wollte sie nur nach Hinweisen suchen, stattdessen hatte man ihr immer wieder Schockzustände der übelsten Art verpasst. In ihrer Welt fühlte sie sich sicher, solche Situationen hatte es hier nie gegeben, sie verspürte nur vor dem mnemonischen Abgrund Angst. Rin war so dankbar, als sich der Tag mit den ersten Sonnenstrahlen ankündigte. Zum Glück waren Ferien, ansonsten wäre sie nicht zur Universität gegangen, weil sie übermüdet dem Unterricht nicht folgen konnte. Außerdem würden dort ihre Gedanken abdriften, sie würde wieder an die drei verstorbenen Mädchen denken, die sie in der anderen Welt schikaniert hatten. Um sich auf andere Gedanken zu bringen, würde sie den ganzen Tag im Internet surfen. Die Schwarze Seite existierte nicht mehr, sie war genauso spurlos verschwunden wie Makoto. Sie ging solchen Websides bewusst aus dem Weg, wer wusste schon, ob sie sich damit nicht ins nächste Unglück stürzen würde. Vor lauter Langeweile besuchte sie die offizielle Seite des Samsara-Magazines. Dort waren sogar Fotos der Mitarbeiter angezeigt, worunter sich natürlich auch der Verleger und der Journalist Sadao befanden. Diesem Mann war sie ebenfalls begegnet, nur im Gegensatz zu den anderen Geistern hatte er ihr kein Leid zugefügt, sondern sie und Makoto auf schleierhafte Art und Weise zusammengeführt. „Ich sollte mich langsam fertig machen, wenn ich zum vereinbarten Ort kommen möchte…“ Nachdenklich fuhr sie den PC herunter, der Bildschirm zeigte sich schwarz. Wollte sie überhaupt kommen? Es war ihre reale Welt, das wusste sie. Wie sollte sie überhaupt in das Innere der Schule kommen? Seit dem unerklärlichen Tod der drei Mädchen hatte man die Schule schließen müssen. Sie würde schon einen Weg hinein finden! Seufzend schob sie sich samt Drehstuhl zurück, warf einen flüchtigen Blick auf den Monitor. Etwas Rotes spiegelte sich darin wieder. Mit einem entsetzten Laut fuhr sie panisch herum, aber es war nichts Verdächtiges zu sehen. Vielleicht war das durch ein Farbspiel gekommen, das die Sonne an warmen Tagen produzierte. Das Handy hatte sie seit dem gestrigen Tag an gelassen. Rin nahm es zur Hand und überprüfte es genau; viele verpasste Anrufe und Kurzmitteilungen hatte sie nachzuschauen. Aber das könnte sie in der Bahn tun, die Schule war nicht gerade um die Ecke. Es hatte sie wirklich viel Überwindung gekostet, diesen Weg zu gehen. Alles in ihr sträubte sich dagegen, aber die Tatsache, jemanden an der Seite zu wissen, der ihre Gefühle bestens nachvollziehen konnte, weil er es genauso hautnah erlebt hatte, beflügelte sie zu dieser Entscheidung. Sie wollte Makoto unbedingt wiedersehen. Das Schulgebäude war in ihren Erinnerungen wesentlich schlimmer, grotesker, abscheulicher. Jetzt wirkte es einfach wie jedes herunter gekommene Gebäude. Die Braunhaarige suchte eine geeignete Stelle, wo sie einbrechen konnte. Um Gottes willen! So etwas war gar nicht ihre Art, aber gerade verfiel sie in Euphorie; oder es war die reine Angst, die blanke Panik. Im Erdgeschoss hatte es genügend Fenster gegeben, die bereits eingeschlagen waren - Vandalismus eben. Normalerweise verstieß das gegen ihre Prinzipien, aber nach einem Schlüssel zu fragen, wäre seltsam und Zeit auftreibend gewesen. Das Glas gab mit Leichtigkeit nach, die Scherben klirrten unter ihren Füßen. Schlagartig dachte sie an die andere Seite, wo sie keine Schuhe getragen hatte. Barfuss war sie durch die Gegenden geschliddert, nur da wäre es nicht in Frage gekommen, in oder aus einem Gebäude zu flüchten, weil eine mysteriöse Barriere sie eingesperrt hatte. Aus Erfahrung hatte sie eine Taschenlampe mitgenommen, sie konnte sich unschwer vorstellen, das Glück zu haben, ein weiteres Mal eine zu finden. Das war damals sicherlich kein Zufall gewesen, nur eine weitere böse Absicht. Mit der Lampe suchte sie die Gegend ab. Sie musste sich neu orientieren, weil die Schule ein ganz anderes Bild zeigte als das, was sie auf der anderen Seite gesehen hatte. Immerhin stammte dieses Gebilde aus den Erinnerungen der verstorbenen Personen. Zuversichtlich schritt sie aus dem Klassenraum hinaus, in den Flur des ersten Stockwerkes. „Der Kunstraum…“ Sie war damals im oberen Musikraum aufgewacht. Der Kunstraum dürfte ein Stockwerk drunter sein; aber so genau wusste sie das nicht mehr. Da war sie einfach dem Geist von Sadao gefolgt. Somit würde sie die Räume alle einzeln absuchen müssen. Sie hasste es zu suchen. Wenigstens musste sie nicht jeden Raum, jede Ecke akribisch untersuchen. Immerhin suchte Rin einen Kunstraum und keine Hinweise. Sie musste nicht einmal kurze Blicke in die Räume riskieren, weil sie alle namentlich benannt wurden. Nur starr nach oben musste sie schauen. Trotzdem schien sie wieder im falschen Flur zu sein und seufzend näherte sie sich einer Sackgasse. „Super gemacht, Rin.“ Plötzlich lief etwas kleines Schwarzes an ihr vorbei, zwängte sich durch einen Spalt in der Wand. Eine Maus! Und sie hatte sich tatsächlich erschrocken und war bei diesem Anblick zusammengefahren. Vor Nagertieren verspürte sie keine Angst, sie bekam nur bei Situationen Panik, die plötzlich und unerwartet in Erscheinung traten. Kopfschüttelnd sprach sie sich aufmunternde Worte zu, schaute dabei auf die vor ihr liegende Wand. Ein kleines Graffiti hatte man drauf gekritzelt, es sollte scheinbar ein menschliches Auge darstellen. Aber diese rote Farbe… Eine plötzliche, grausame Vorahnung nahm von ihr Besitz. Dieses strenge Gefühl, beobachtet zu werden, lastete auf ihren Schultern. Es war so vertraut, trotzdem so beängstigend. Rin wollte sich nicht umdrehen, denn sie wollte nicht wissen, was sich hinter ihrem Rücken befand. Unruhestifter hätten sie längst angepöbelt, irgendwelche dummen Sprüche geklopft. Das Gefühl wollte nicht schwinden und äußere, menschliche Anzeichen gaben sich auch nicht zu erkennen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als langsam herumzufahren und ihren Ängsten ins Auge zu blicken. Die Taschenlampe hielt sie dabei fest umklammert, zeigte damit geradeaus. Weiter hinten konnte man eine Person erkennen. Sie trug ein rotes, kurzes Kleid. Solch einer Person war sie damals im mnemonischen Abgrund begegnet. Allerdings hatte diese Gestalt ihr nie geschadet, seelisch ja, aber nicht körperlich, sondern war augenblicklich wieder verschwunden. Nur dieses Mal kehrte sie ihr nicht den Rücken oder die Seite zu, dieses Mal schaute sie eisern in ihre Richtung. Zumindest wirkte es so, immerhin wurde das Gesicht dieser Frau von schwarzen Haaren verdeckt. Das Unheimliche an der Sache war, dass die Frau im roten Kleid einen Schatten warf. War sie menschlich? Aber sie hatten sich doch im mnemonischen Abgrund getroffen, auch wenn eines dieser Treffen wirklich verstörend war. Rin war immer in der Überzeugung gewesen, es handelte sich hierbei um ein Opfer Reikos. Aber schon damals war dieses farbintensive Kleid aufgefallen, obwohl die meisten Geister trostlose mehr farblose Farben trugen. Die ganze Erscheinung war anders gewesen, sie wirkten alle so durchsichtig, aber sie? Die Frau in Rot verschwand nicht wie sie es sonst tat. Stattdessen machte sie zaghafte Schritte auf Rin zu. „Bitte, bitte! Lass sie einfach nur verschwinden!“ Es war zuviel für sie, es war die reale Welt und zu wissen, dass vielleicht Geister ins Diesseits passieren konnten, brachte sie schier um den Verstand. Was sollte Rin nur tun? Sie saß in der Sackgasse, ansonsten hätte sie einen anderen Weg eingeschlagen. Panisch presste sich die Studentin an die hinter ihr liegende Wand, spürte das kalte Gestein auf ihrer Haut. Plötzlich hörte sie ein Klicken, als würde jemand Tasten betätigen. Ja, es waren die Tasten ihres Handys, die wie durch Geisterhand eine Nummer wählten. Als sie einen schnellen Blick auf das Display warf, sah sie, dass eine Verbindung hergestellt wurde. Abrupt schaute sie wieder zu dem Mädchen rüber, das näher herantrat. Sie streckte einen Arm nach Rin aus, wollte sie zu fassen kriegen. Mit jedem Zentimeter, den sie näher kam, spürte Rin ihren Herzschlag immer heftiger schlagen. Doch dann erstarrte die fremde Frau, weil sich die Umgebung in einem dunklen Nichts einhüllte und Rin zu verschlucken drohte. Kapitel 3: Afterlife -------------------- Nachdem das Handy sie auf die andere Seite geschickt hatte, wachte sie aus einen Ohnmacht ähnlichem Zustand wieder auf. Es hatte sie tatsächlich telepotiert, dort, wo sich das Handy befand, dem die gewählte Nummer gehörte. Ihr mobiles Telefon musste sie in der anderen Welt zurücklassen, wenn sich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten, würde sie in diese nicht mehr so schnell zurückkehren können. Anderseits stellte sie sich ohnehin die Frage, wie das Ganze nur möglich war: Sie hatte doch Reikos Geist besänftigt, den mnemonischen Abgrund dürfte es nicht mehr geben! Rin richtete sich auf, sie befand sich in dem Kunstraum des Schulgebäudes wieder. Nur dieses Mal war es die Umgebung, die durch die Vorstellung der drei verstorbenen Mädchen produziert wurde. Es war stockdunkel hier, sie tastete nach der Taschenlampe, die sich beim Sturz ausgeschaltet hatte. Aber bevor sie die Leuchte fand, entdeckte sie das Handy, welches sie in diese Welt gebracht hatte. Vielleicht fand sie auf dem Display Hinweise, das des Öfteren die Eigenschaften seines Besitzers widerspiegelte. „Das gruselige Handy…“ So hatte sie es damals auch tituliert, weil es eine comicartige Darstellung eines strangulierten Bäres zeigte. Beides hielt sie fest umklammert, jetzt, wo sie auf der mnemonischen Seite war, dachte sie nicht daran, eines der Geräte aus der Hand zu geben. Vermutlich waren die gepeinigten Seelen dieser Mädchen immer noch vor Ort und würden sie wieder durch das ganze Gebäude hetzen. Wieso war sie nicht einfach daheim geblieben? Die Tür öffnete sich mit einem schrillen Quietschen. Rins Atem stockte, sie befürchtete das Schlimmste. Doch ihr Herz machte einen freudigen Hüpfer, als sie die geisterhafte Erscheinung erkannte. „Makoto…?“ All ihre Hoffnungen waren umsonst gewesen. Wie stark hatte sie auf sein Überleben gehofft oder zumindest gedacht, er würde bei seiner Hartnäckigkeit einen Weg zurück finden. Der Geist von Makoto war anders als die anderen verstorbenen Seelen: Im Gegensatz zu ihnen verspürte er keine Art Rachegefühl, die er lebenden Menschen mitteilen wollte. Er trat einen Schritt auf sie zu, hatte bislang keine Worte gesprochen. So wie das Mädchen davor streckte auch er seinen Arm nach Rin aus, aber dieser glitt durch sie hindurch. Obwohl sie ihm in jeder Hinsicht vertraute, hatte ihr Herz rasant zu schlagen begonnen. Vielleicht war es üblich, dass es in der Gegenwart eines Geistes völlig überreagierte. Oder hatte ihr Herz aus anderen Gründen so heftig gepocht? Womöglich hatte sie sich im Inneren nach seinen Berührungen gesehnt, gewünscht, er könne sie doch berühren. Rin wollte seine warme Haut auf ihrer spüren, stattdessen konnte er nur Eisenskälte aussenden. Seine verzerrte Stimme meldete sich zu Wort: „Ich habe auf dich gewartet.“ Er wandte sich von ihr ab und wie auch bei dem ersten Treffen, nahm er auf einem der Stühle Platz, die am Tisch gerückt standen. Auch sie folgte dem ersten Treffen, daher setzte sie sich nicht hin, sondern brachte das Gespräch sofort ins Rollen: „Wie komme ich hier her… ich dachte, die mnemonische Seite würde nicht mehr existieren.“ Makotos Geist setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Sie hat immer existiert. Reiko Asagiri hat es nur geschafft, dass die Menschen im Diesseits mit den Geistern des Jenseits kommunizieren können.“ Hatte Makoto das davor schon gewusst oder ging er seiner Arbeit sogar nach dem Leben nach? Wahrscheinlich würde es ein längeres Gespräch werden, deswegen setzte sie sich ihm gegenüber. „Wieso hast du mich hierher geführt?“ Sicherlich hatte er sie nicht nur hergeholt, um ihr das zu sagen. Scheinbar steckte wesentlich mehr dahinter. Jetzt hatte sie sich umsonst gesetzt. Der Verleger setzte sich auf, ging an ihr vorbei. „Komm mit, ich werde es dir zeigen.“ „Was? Wohin?“ Obwohl er ihr darauf keine zufriedenstellende Antwort gab, eilte sie ihm hinterher. Jedes Mal, wenn sie seine verlorene Seele erreichte, löste sich diese im Nichts auf und tauchte paar Meter weiter vorne auf. Rin fühlte sich in seiner Gegenwart sicher, dennoch hatte sie ein schwerwiegendes Problem. „Was ist, wenn die drei Schülerinnen hier auftauchen?“ „Keine Sorge.“ Er dachte nicht daran, stehen zu bleiben und zu warten. „Sie wissen nicht, dass sie Geister sind. Daher leben sie ihren gewohnten Alltag.“ „Na super… zu deren Alltag gehörte auch das Tyrannisieren von Schülern…“ murmelte Rin relativ leise, weil sie den anderen auf gar keinen Fall verärgern wollte. Anderseits machte das Gesagte Sinn. „Aber wieso bist du dir sicher, dass du ein Geist bist?“ Sie erreichten den Computerraum. Makoto setzte seinen Weg zielstrebig fort, ging auf jenen PC zu, der auch in den vergangenen Tagen angeschaltet war. „Ich habe ein besseres Gespür für so etwas, weil ich mein halbes Leben übersinnlichen Kräften gewidmet habe.“ Er stoppte kurz, scheinbar war das nur eine Art Witz gewesen, denn auf seinem fast durchsichtigen Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab. „Ich bin mir nicht sicher, vielleicht weil mich ein Geist getötet hat.“ Rin beobachtete, wie er schnell tippend auf seiner eigenen Homepage forschte, auf der Suche nach dem Postfach des E-Mail-Bereichs. „Schau dir das an.“ bat er sie, rückte mit dem Stuhl ein Stückchen weiter weg, damit sie einen genauen Blick auf den Monitor werfen konnte. Seine E-Mails waren lustig an einer Pinnwand angeordnet, wurden von sämtlichen Briefen geschmückt. Am meisten traten rote Briefe zur Geltung und einer davon wurde angeklickt. Auf einem schmierigen Blatt konnte man ein gemaltes Auge sehen, ähnlich wie das Graffiti von vorhin. Daneben standen die Worte: „Ich habe dich gesehen.“ „Was hat das zu bedeuten?“ Makoto öffnete die restlichen roten Briefe. Auf einem der Zettel konnte man Makoto als Kindergartenzeichnung erkennen. Etwas Rotes berührte seinen Körper und die Worte „Wir bleiben für immer zusammen“ waren zu lesen. Rin verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Das… das klingt ja sehr verliebt.“ Hatte Makoto sie hierher geholt, nur um die Briefe seiner Freundin zu zeigen? Wie geschmack- und herzlos, sogar für einen Geist. „Verliebt? Wohl eher übertrieben.“ Er hatte sie nicht aus diesem Grund hierher geholt, deswegen öffnete er die nächsten Briefe: Dieses Mal waren sie nicht mit Herzchen versehen, sondern wirkten blutig, bestialisch, hasserfüllt. Diese Mitteilungen waren nicht an Makoto sondern an sie adressiert. „Er gehört mir!“ oder „Ich kann es nicht ertragen, dich bei ihm zu sehen!“ war in einer unleserlichen, verschmierten Schrift geschrieben. Manchmal konnte man eine schlecht gemalte Rin erkennen, die von einem roten Etwas erstochen wurde. Rin sog die Luft bei dieser Erkenntnis ein; jetzt hatte sie verstanden, was das alles zu bedeuten hatte. Diese Frau in Rot war eifersüchtig. Aber warum? Rin und Makoto existierten auf zwei unterschiedlichen Seiten, sie waren nicht in der Lage, zusammen zu kommen, selbst wenn sie es gewollt hätten. „Damals habe ich gedacht, sie sei ein weiteres Opfer von Reiko gewesen.“ Er legte wieder eine nachdenkliche Miene auf, so wie er es damals immer getan hatte. Unvorstellbar, aber dieser Mann hatte sich keineswegs verändert: Mit Leidenschaft ging er seinen Pflichten, seinem Job nach, wollte mehr über die gespensterhafte Seite wissen, an die ein Großteil der Menschen nicht glaubte. „Aber sie ist in der Lage, die Seiten jederzeit zu wechseln.“ „Was soll das heißen? Sie kann auf beiden Seiten gleichzeitig existieren?“ Der Gedanke, ein eifersüchtiger Geist würde sie sogar in ihrer Welt verfolgen, löste in ihr ein atypisches Gefühl aus. „Ganz einfach: Lebende und Tote existieren in einer Welt, jedoch ist sie in zwei Parallelen gespaltet. Die Menschen sind nicht in der Lage, die Toten zu sehen. Umgekehrt schon, aber sie haben nicht die Fähigkeit, Großes im Diesseits zu leisten.“ Sie existierten in einer Welt? War er vielleicht immer an ihrer Seite gewesen, auch vorhin, als das Mädchen sie angegriffen hatte? Als wenn er ihre Gedanken lesen könnte, wisperte er leise: „Ich war mir nicht sicher, ob du wirklich hierher kommen wirst; daher habe ich dich in der Schule gesucht. Erst als ich bemerkt habe, dass sie mich wieder verfolgt hat, war ich leider schon an deiner Seite. Scheinbar hat es in ihr einen Hass ausgelöst.“ Jetzt zeigte er ein siegessicheres Lächeln. „Ich habe die Nummer zu dem Handy betätigt, dass ich absichtlich am Treffpunkt liegen gelassen hatte.“ Rin bemerkte nicht, wie sie in seiner Gegenwart errötete. Erneut hatte er ihr das Leben gerettet, obwohl es mehr oder weniger sein Fehler war; warum mussten weibliche Geister ihn auch so anziehend finden? Aber sie würde ihn deswegen nicht bezichtigen, im Fall Reiko Asagiri war es immerhin ihre Schuld gewesen und trotzdem hatte er ihr bis zum bitteren Ende geholfen. Kapitel 4: Last to Know ----------------------- Sie zog einen Drehstuhl heran, vielleicht würde dieser Aufenthalt etwas länger dauern. „Aber… wenn sie mich deinetwegen töten will, muss ich mich doch nur von dir fern halten, nicht wahr, Makoto?“ Diese Tatsache erdolchte ihr Herz, sie fasste sich schwer an die Brust, war nicht in der Lage, ihm in die leblosen Augen zu blicken. „Wohl wahr... aber es geht nicht nur um dein Leben.“ Er lenkte das Thema in eine andere Richtung, ehe er zur Sache kommen würde. „Ist dir etwas Merkwürdiges an ihr aufgefallen?“ Welcher Geist war auf seine Art nicht paranormal? Doch Rin wühlte in ihren Erinnerungen, wollte ihm von jeder Begegnung berichten. „Ich bin mir nicht so sicher, aber zuerst habe ich sie – ich glaube, dass sie es war – in der Mädchentoilette gesehen. Ich wurde eingesperrt und von der anderen Seite schaute mich eine schwarzhaarige Frau mit roten Augen an.“ „Gut möglich, dass sie es war. Aber zähl am besten nur die Treffs auf, wo du das rote Kleid sehen konntest.“ Damit würde es sich nur auf zwei Begegnungen beschränken. „Im Krankenhaus… sie hangelte im mnemonischen Abgrund kopfwärts herunter, als ich den Fahrstuhl schließen wollte.“ Das war so furchteinflößend gewesen, andere Menschen hätten definitiv den Fahrstuhl ein weiteres Mal geöffnet und wären in den Abgrund gesprungen. „Ja, ich habe sie im Keller gesehen. Wo noch?“ „In dem Haus von Chiyo Kishibe… scheinbar hat sie mich beobachtet, als ich mir einen bunten Fächer angeschaut habe.“ Makoto wirkte überrascht, scheinbar hatte sie ihm etwas erzählt, wovon er nichts wusste. „Das Haus von Chiyo Kishibe?“ Jetzt kamen ihm neue Fragen auf. Die Geister konnten doch nur Orte betreten, die sie aus ihren Erinnerungen kannten. Ihm war es möglich, mehrere Orte zu passieren, weil er sie bei seinen Nachforschungen untersucht hatte. Also musste es eine Verbindung zwischen dem Mädchen und der Kishibes geben, es sei denn, es existierte eine weitere, ihm fremde Möglichkeit. Rin seufzte hörbar, sie wusste sich aus dieser misslichen Lage nicht zu befreien. „Du sagtest, dass es nicht nur um mein Leben geht, Makoto. Was meinst du damit?“ „Es ist nur eine Theorie. Aber ich glaube nicht, dass sie weder menschlich noch geistlich ist. Sie ist anders, benimmt sich anders. Und ihr ist es möglich, sichtbar für lebende Personen außerhalb der mnemonischen Seite zu existieren.“ Nachdenkend malte er unsichtbare Kreise auf dem Tisch. „Stell dir vor, alle Geister wären in der Lage, die Seiten zu wechseln. Kaum vorstellbar, was mit der Menschheit dann passieren würde.“ „Aber… sie wirkt auf beiden Seiten so gleich. Wie ein Geist in einem menschlichen Körper.“ Scheinbar hatte Rin einen wichtigen Punkt erwischt, denn Makoto sah ihr anerkennend in die Augen. „Genau. Vielleicht ist sie der erste Geist, der weiß, wie man seinen eigenen menschlichen Körper wieder besitzen kann. Das würde dann erklären, wieso ihre Haut dem einer Leiche ähnelt. Und wenn man erst ein Geist ist, bringt man neue Fähigkeiten in Erfahrung. Bei einem Wechsel ins menschliche Leben könnten diese Erfahrungen möglicherweise erhalten bleiben.“ Damals hätte sie sicherlich gelacht, wenn sie einen Artikel mit solch blühender Fantasie hätte. Wie stark sich ein Mensch wegen solchen Begebenheiten verändern konnte, war unbeschreiblich gigantisch. Doch schien Makoto an das zu glauben, was er ihr gerade erzählt hatte – und sie glaubte es langsam auch. „Aber was können wir dagegen tun, Makoto?“ „Die Wahrheit herausfinden, zumindest ist das der Anfang.“ Dieses Mädchen in Rot hatte ihm etliche Male aufgelauert, trotzdem war sie ihm fremd wie eh und je. In seinem Leben war er keiner Dame begegnet, die ihr in irgendeiner Hinsicht geähnelt hatte. Das Rätsel war wesentlich schwieriger als der Fall Reiko Asagiri. Bei ihr hieß es nur, ein Missverständnis aufdecken. „Also müssen wir herausfinden, wer sie in Wirklichkeit ist?“ Ob es Kreaturen aus dem Jenseits gab, die nie im Diesseits gewesen waren? Das würde die Sache nur unnötig kompliziert machen. „Genau. Wenn wir erst den Namen haben, können wir ihre Vergangenheit untersuchen, erfahren, woran sie gestorben ist. Kannst du einen Bewohner der Kishibes kontaktieren?“ Er selbst war in diesem Haus nie gewesen, seine Wege haben ihn noch nie dorthin geführt. Sollte sie aber eine Freundin von Reiko gewesen sein, wieso hatte sie dann ihr Leben nicht verschont? Es war alles so kompliziert, dass er sich imaginäre Kopfschmerzen einbildete. „Ja, das dürfte gehen.“ Sie hatte persönlich nichts mit denen am Hut gehabt, wollte sie nicht einmal in diese eigenartige Lage hineinziehen. „Glaubst du, der Enkel Take könnte sie vielleicht aus vergangenen Tagen kennen?“ Erneut warf Makoto ihr einen fragenden Blick zu. „Wie alt ist dieser Enkel?“ „Er dürfte ungefähr in meinem Alter sein. Soviel ich weiß, studiert er auch.“ Rin musterte ihn nachdenklich. „Wie soll ich das machen? Ich komme nicht mehr zurück, oder?“ Seltsamerweise konnte er in diesem Zustand herzhaft lachen. „Doch, Reiko hat damals die Verbindung unterbrochen, die mnemonische Barriere hat es verhindert, sich zu transportieren. Aber jetzt dürfte der Weg frei sein, du musst nur dein eigenes Handy anrufen.“ Das war ja leichter gesagt als getan. Vermutlich wartete das Miststück in Rot auf der anderen Seite, um ihr den Garaus zu machen. „Und wenn…“ „Wird sie nicht. Keine Sorge, ich passe auf dich auf.“ Er ließ einen verheißungsvollen Blick umherschweifen, starrte genauso wie Rin zur Tür. Sie war einen Spaltbreit offen, aber Rin hatte sie mit hoher Wahrscheinlich geschlossen. Man konnte das Gesicht eines Mädchens sehen, das die beiden aufdringlich beobachtete. Ihr Name war Mai Kokura und in der Mädchengang war sie die Jüngste. Sie gab sich nur mit ihren beiden Mitschülerinnen Mika Hosokawa und Kum Ota ab, weil sie in der Klasse schikaniert und gehänselt wurde; seitdem hatten die Schikanierungen aufgehört, obwohl sie von ihren angeblichen Freundinnen nur ausgenutzt wurde. „Was sollen wir tun?“ wisperte Rin leise zu den Schwarzhaarigen rüber, der sich keinerlei Sorgen machte. Zumindest sah es nach seiner Haltung und Mimik zu urteilen so aus. „Nichts, sie beobachtet uns nur. Du weißt doch: Man wird nur schikaniert, wenn man alleine ist. Und da wir zu zweit sind…“ Das würde bedeuten, sobald sie ihn auf dieser Seite zurücklassen würde, dass er sich mit diesen drei Gespenstern herumplagen müsste. Aber anderseits war er ein Geist, was sollte ihm schon großartig zustoßen? Mai stand immer noch wie verankert an der Tür, sie beäugte das mobile Telefon in Rins Hand. „Das ist mein Handy…“ Makoto seufzte laut: „Auch das noch.“ Sofort wandte er sich zu der Braunhaarigen um, die das Handy fest umklammert hielt. Scheinbar wollte sie es nicht ganz so freiwillig hergeben. „Du musst dich transportieren. Ich werde dir eine Kurzmittelung schicken, wenn du dich wieder auf die mnemonische Seite befördern kannst.“ Schnell richtete er sich auf, versuchte sie mit einer misslungenen Berührung zu beruhigen. „Sei unbesorgt. Dir wird nichts passieren.“ Rin nickte verstehend, wenn auch nicht überzeugt. Langsam klappte sie das Handy auf, wählte ihre eigene Nummer und wartete darauf, von der Dunkelheit verschluckt zu werden. Kapitel 5: Someone who cares ---------------------------- Der Geist von Makoto nahm das zurückgelassene Handy an sich, schritt damit zu Mai herüber. „Wo sind die anderen beiden?“ Sie nahm es recht zögernd an, schaute ihm nur misstrauisch entgegen. Das scheue Mädchen hatte nicht vor, ihre Freundinnen zu verraten. Skeptisch suchte sie die Gegend ab, da sie es brennend interessierte, wo die braunhaarige Studentin verschwunden war. „War das… war das deine feste Freundin?“ Diese Vertrautheit war so ungewöhnlich, aber Mai sprach gerne in der Abwesenheit der anderen. „Ich dachte immer…“ Makoto hob eine Braue, sie würde ihm sicherlich etwas sagen, wovon er selbst nichts wusste. „Was dachtest du?“ Hektisch schaute sie sich um, überprüfte, ob niemand das Gespräch belauschte. „Naja… in der Oberstufe gab es eine Schülerin, die behauptet hat, mit dir zusammen zu sein.“ Seufzend massierte er seine Stirn. Diese Kopfschmerzen wollten einfach kein Ende nehmen. War das überhaupt wichtig? Er war mit vierunddreißig gestorben, in seinem Leben hatte es viele Frauen gegeben – und sie waren eines Tages aus Beziehungsgründen alle gegangen. Mai wollte das Handy gerade in die Rocktasche verstauen, als sie die Stimmen ihrer beiden Mitstreiterinnen in der Ferne hörte. Erschrocken ließ sie es auf den Boden fallen und eilte von dannen. Makoto hob ihr mobiles Telefon ein weiteres Mal auf, entweder er würde es ihr zurückgeben oder er benutzte es, um Rin zu sich zu holen. Eines konnte er sich allerdings nicht verkneifen: Einen Blick in den Flur zu werfen, wo Kum und Mika ihrer kleinen Freundin eine Standpauke hielten. Die dominante Stimme der athletischen Frau bellte laut: „Verdammt, wo treibst du dich ständig rum? Hast du dein Handy gefunden?“ Eingeschüchtert wie sie war, schüttelte Mai den Kopf. Sie hätte auch sagen können, dass sie es in Makotos Gegenwart fallen gelassen hatte. „Wir haben wen zum Spielen gefunden.“ Grinsend schaute Kum in die Richtung von Makoto. Der Verleger verdrehte die Augen. Wieso musste auch er immer das Pech haben? Dann wurde ihm aber klar, dass sie ihn doch nicht gesehen hatten. „Ja, du weißt doch. Dieses Miststück, was auf deinem Tisch gemalt hat. Dieses Mal schnappen wir sie!“ Mika dirigierte die Mädchenbande wie ein Mannschaftskapitän in die Gegenrichtung, dort, wo die beiden hergekommen waren. „Hier muss jemand gefangen gehalten werden… oder…“ Ihm wurde bewusst, was er zu tun hatte. Erstmal musste er sich davon selbst überzeugen. Rin war auf der anderen Seite aufgewacht, genau an der Stelle, wo sie auch verschwunden war. Verwirrt sah sie sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Sie wollte einfach von hier verschwinden, kein weiteres Mal über das Mädchen in Rot zu stolpern. Makoto sagte, er würde sie beschützen. Doch sicherlich konnte auch kein Geist immer und überall über einen wachen. Die Taschenlampe brauchte sie nicht mehr, denn Sonnenstrahlen brachen in die dreckigen, brüchigen Fensterscheiben ein. War sie etwa so lange auf der anderen Seite gewesen oder hatte sie eine Zeitlang ohnmächtig gelegen? Es nützte nichts, sich darüber Gedanken zu machen; sie würde ohnehin keine Antwort bekommen und außerdem war sie beschäftigt: Sie musste das Haus von Chiyo Kishibe suchen. Die Adresse hatte sie mit der richtigen Hilfe schnell gefunden. Zum Glück fuhr ein Bus in diese Richtung, in den sie bereits eingestiegen war. Oftmals guckte sie panisch umher, hoffte, kein Mädchen im roten Kleid zu sehen. Manchmal stockte ihr sogar der Atem, wenn sich eine menschliche Frau rot angekleidet hatte. Im Westen würde es solche Probleme nicht geben, weil die Vielzahl der unterschiedlichen Haarfarben weitaus größer war als hier. Als sie an der Haltestelle angekommen war, musste sie noch ein kleines Stückchen laufen. Rin hatte das Gefühl, sich immer langsamer fortzubewegen, bis sie sogar an einem Punkt stehen blieb. Alles in ihr sträubte sich dagegen, sie wollte nicht das Haus betreten, wo sie ihre erste richtige Bekanntschaft mit ihr gemacht hatte. Schluckend warf sie ihren Kopf in den Nacken, starrte in den wolkenlosen Himmel. Wieso musste alles so schief laufen? Nachdem sie sich vollständig beruhigt hatte, blickte sie geradeaus: Genau auf das vor ihr liegende Gebäude von Chiyo Kishibe. Es war genau die richtige Uhrzeit, um einer älteren Dame einen Besuch abzustatten. Rin klingelte zögernd, hoffte irgendwo, dass ihr niemand die Tür öffnen würde, weil sie dann einen guten Grund gehabt hätte, nachhause zu gehen. Ein schwarzhaariger, junger Mann trat in die Türschwelle, lächelte sie an. Es war dieses gewöhnliche Lächeln, dieser fragende Blick, wenn man sich zum ersten Mal im Leben sah. „Ja, Sie wünschen?“ fragte der Mann, der nur Chiyos Enkel Taskeshi – abgekürzt Take – Kishibe sein konnte. Es sei denn, die alte Frau hatte mehrere Kinder, von denen sie nichts wusste. Eigentlich wusste sie über diese Familie so gut wie gar nichts, nur das, was ihr die Geister zugeflüstert hatten. Rin warf einen knappen Blick über seine Schulter. „Ist… ist Frau Kishibe zu sprechen?“ „Oh ja, sie ist in der Küche. Kommen Sie doch rein.“ Er trat einen Schritt beiseite, um ihr den Eintritt ins Haus zu gewähren. Take war wirklich freundlich, sie wollte diesen Jungen ungern in das Geheimnis einweihen. Aber vielleicht brauchte sie das auch nicht. Es wäre unfreundlich gewesen so zu tun, als kenne man das Haus bereits aus einem Albtraum. Daher ließ sich Rin unwissentlich von Take in die Küche bringen, dort, wo die alte Frau an dem kleinen Tisch einen warmen Tee trank. Verblüfft beäugte sie das fremde Mädchen, grub lange in ihren Erinnerungen rum. „Du wirkst so vertraut…“ In diesem Alter hatte man wirklich ein schlechtes Gedächtnis, obwohl sie sich ein zweites Mal begegnet waren. „Jetzt fällt es mir wieder ein.“ Chiyo strahlte, selbst wenn es eine Zeit gewesen war, die mehr schrecklich als schön war. Scheinbar hatte diese alte Dame eine wundervolle Zeit in der mnemonischen Seite verbracht; kein Wunder, im Gegensatz zu ihr hatte Reiko Chiyo nicht gehasst. „Setz dich doch, mein Liebes.“ sagte sie geflissentlich aber mit heiserer Stimme und deutete auf den Stuhl ihr gegenüber. Rin wollte ihr diese Bitte nicht abschlagen. „Wie geht es Ihnen? Haben sie sich erholt?“ Sie wirkte tatsächlich gesund und zufrieden, kaum zu glauben, dass die mnemonische Seite einen positiven Effekt erzielen konnte. Jetzt musste sie nur noch warten, dass Take die Küche verließ. Er würde sie sonst beide für verrückt halten und Rin wusste nicht, ob sie ihm irgendwas von der Begebenheit erzählt hatte. „Du bist eine Freundin von Reiko Asagiri gewesen. Was führt dich hierhin?“ Erleichtert seufzte sie auf. Es war gut, dass sie das Gespräch in die richtige Richtung lenkte, sie hatte absolut keine Ahnung gehabt, wie sie hätte anfangen sollen. „Das stimmt. Damals haben wir uns in einem Chatroom kennengelernt. Leider… habe ich das Treffen verpasst, weil ich an diesem Tag einen Unfall hatte und ins Krankenhaus eingeliefert wurde.“ „Reiko hat immer sehr gut über dich gesprochen. Schade, was mit ihr passiert ist.“ Obwohl das Mädchen ihr verziehen hatte, trug Rin immer noch dieses schlechte Gewissen mit sich. „Ja, das ist es. Ich bin aber nicht deswegen hier, Frau Kishibe. Darf ich fragen, ob Sie eine schwarzhaarige Frau in einem roten Kleid kennen?“ Zu ihrer Enttäuschung schüttelte Chiyo den Kopf, versuchte angestrengt sich zu erinnern. „Nein, aber damals hat uns ein schwarzhaariges Mädchen öfters besucht. Sie war eine Nachbarstochter, aber wenn es um junge Mädchen geht, solltest du besser meinen Enkel Take fragen.“ Rin nickte verstehend, vielleicht waren Makoto und sie auf der falschen Spur; aber fragen kostete nichts. „Er ist bestimmt oben, die Treppe befindet sich neben dem Eingang.“ Sie trat aus der Küche, blicke erst nach links, dann nach rechts. Erstmal wollte sie etwas anderes suchen. Fast schleichend ging sie den rechten Gang entlang, erreichte das Flurende, wo ein wunderschöner großer Fächer die Wand schmückte. Wie beim letzten Mal starrte sie ihn lange und ausgiebig an, doch auch wie zuvor nahm sie eine fremde Aura wahr und vereiste in ihrer Position. Kapitel 6: Lost Letters ----------------------- Wie Rin dieses Gefühl hasste, dieses Mal würde sie sich nicht umdrehen. Sollte sie doch zu ihr kommen! Schritte näherten sich, zaghaft, leise. Seltsamerweise zitterte Rin am Leibe, ihre Hände waren nass und schwitzig. Hysterisch ließ sie einen Laut von sich, als eine Hand an ihrer Schulter rüttelte. „Beruhigen Sie sich doch bitte!“ hörte sie Take verzweifelt sagen, der gegen ihre Lautstärke anzusprechen versuchte. Schnell fuhr sie herum, zeigte ihr leichenbleiches Gesicht. Schlagartig wurde es rot, so peinlich war das Verhalten ihrerseits gewesen. „Es tut mir leid!“ „Oh, das geht schon in Ordnung.“ Kopfschüttelend wehrte er mit beiden Händen ab, ihm war es zwar unangenehm, sie erschreckt zu haben, aber dafür musste sie sich doch nicht entschuldigen. „Sie wirken, als hättet Sie einen Geist gesehen.“ So in der Art konnte man das auch sagen. Zumindest war sich Rin sicher, dass Chiyo ihrem Enkel von dem Ausflug nichts erzählt hatte. „Könnt Ihr mich duzen?“ „Kann ich, aber nur, wenn Ihr mich ebenfalls duzt.“ Somit war es abgemacht; diese steife Art hatte nicht einmal zwischen Makoto und ihr geherrscht, obwohl die Altersspanne der beiden noch weiter auseinander gegangen war. Rin drehte sich in Habachtstellung wieder dem Fächer zu. Ob sie sich den beiden freiwillig nähern würde? „Das ist ein altes Geschenk von einer Nachbarin.“ Take lächelte das Andenken zufrieden an; scheinbar waren schöne Erinnerungen damit verbunden. Vielleicht waren sie doch auf der richtigen Spur; erwartungsvoll schaute Rin dem anderen in die Augen. „Kannst du mir den Namen dieser Person sagen?“ Makoto war auf dem Weg in die zweite Etage. Die drei Mädchen waren ja zurzeit mit ihrem neuen Spielgefährten beschäftigt; daher hatte er vorerst freie Laufbahn. Als Geist standen ihm viele Fähigkeiten zur Verfügung, zum Beispiel musste er sich keine Gedanken über Gravitation machen. Kein Wunder, die Gravitationskraft wurde immerhin aus Masse und Gewicht berechnet oder wie man so schön sagte: Aus Dichte und Wichte. Doch bevor er sich in weiteren, absurden Gedanken verstrickte, für die er den Rest des menschlichen Daseins Zeit hatte, ließ er sie einfach fallen und betrat das Klassenzimmer 2-4. Ihm war ein Gedanke gekommen, ein ziemlich seltsamer, aber er musste nachforschen, überprüfen, ob sich seine Theorie eventuell bestätigte. Mais Tisch mit den hässlichen Worten stand in der hinteren Ecke. Sie musste wirklich verzweifelt gewesen sein, sich dieser Mädchen-Gang anzuschließen. Irgendwo tat ihm dieses Mädchen leid, besonders jetzt, wo er den Tisch genauer unter die Lupe nehmen konnte. Beleidigungen jeglicher Art waren eingeritzt, sogar welche, die er in seinem Leben noch nicht gehört hatte. Er seufzte schwer; warum taten Erwachsene nichts dagegen, ließen solche Geschehnisse einfach an sich vorbeiziehen? Aber Mai spielte in diesem Augenblick keine wichtige Rolle, nur ihr Tisch. Wie erwartet hatte er etwas gefunden, was ihm wortwörtlich ins Auge fiel: Ein gemaltes schwarzes Auge. „Das Miststück, das auf deinem Tisch gemalt hat…“ Ja, sie musste also auf dieser Schule gewesen sein. Warum war ihm dieser Gedanke nicht schon früher eingefallen? Er hasste solche späten Erkenntnisse. Nun, da er nicht wusste, ob Rin ihrerseits fündig werden würde, nähme er einige Nachforschungen selbst in die Hand. Vermutlich hatte dieses Mädchen in ihrer Schulzeit auf diesem Tisch gemalt, und da es Mais Tisch sein musste, stammte diese Malerei von einer Klasse, die den Raum beim bestimmten Fächer wechselte. Zielstrebig suchte Makoto das Klassenbuch auf dem Lehrerpult, suchte in Schubladen danach. Triumphierend klappte er das Buch auf, jetzt musste er nur herausfinden, wann und mit wem diese Klasse getauscht hatte. Tatsächlich, sein Zeigefinger berührte den Eintrag: Klassenraum 3-2. Grübelnd dachte er nach, in welcher Etage sich diese Klasse befand. In der letzten, in die würde er jetzt gehen. Womöglich konnte er dort weitere Hinweise finden, er hoffe es zumindest. Makoto eilte zu der dritten Etage. Im realen Leben hätte er wieder seinen schweren Atem gehört, welches ihm jetzt noch in den Ohren dröhnte. Das Leben als Redakteur und Verleger war so verdammt einseitig gewesen: Meistens hatte er seine Arbeit vom Computer aus verrichtet, abends, wenn er bereits die zweite Packung Zigaretten rauchte. Laufen war nicht sein Ding gewesen und ein solch verantwortungsvoller Beruf hatte kaum Freizeit für Sport gelassen. Ihm blieb die imaginäre Luft weg, als er das Klassenzimmer 3-2 erreichte. Als er das kaputte Fenster erblickte, war ihm sofort klar gewesen, dass er einst Nachforschungen in diesem Raum betrieben hatte. Er hatte das Zimmer nach Hinweisen überprüft und als er fertig gewesen war, durch das zerbrochene Glas geschaut: Auf der rechten Seite war das Mädchen in Rot gewesen. Hatte das etwas zu bedeuten? War es ihre Klasse? Um das herauszufinden musste er schon die Klasse betreten, was er allerdings recht zögernd tat. Drinnen schweifte sein Blick einmal umher, versuchte sich an Gegebenheiten aus der Vergangenheit zu erinnern. Was hatte er hier gefunden? Sein Notizbuch und ein Samsara-Magazine. Das Heft lag auf eines der Schreibtische, irgendwo in der Mitte. Reiner Instinkt lenkte ihn, trieb ihn dazu, den Tisch zu überprüfen, wo er das Heft damals gefunden hatte. Makoto untersuchte den Tisch genau, schaute in das untere Fach, wo Schüler und Schülerinnen ihre Schulsachen verstauen. Gottlob, er wurde fündig! Ein ganzer Stapel Samsara-Magazine befand sich darin. Nette Schulbücher, das hätte glatt sein Schreibtisch sein können. Bei ihm lagen allerdings die Hefte in der Wohnung wild verstreut. Die Ausgaben waren etwas älter, aber relativ komplett. Makoto hatte wohl seinen größten Fan entdeckt, vielleicht sollte er die Hefte mit Autogrammen versehen. Zwar war das, was er jetzt tat reine Zeitverschwendung, aber er sehnte sich nach dem, was er in Lebzeiten mit Leidenschaft betrieben hatte. Neugierig blätterte er in den Zeitschriften; einige Stellen waren rot markiert, andere waren mit Kommentaren beschmiert. „Hm?“ In jeder Ausgabe wurden auch die Mitarbeiter mit Foto, Name und Beitrag erwähnt, an seinem Foto waren viele Herzblätter gemalt. Aber auch niedliche Bemerkungen hatte die anonyme Person geschrieben. Seufzend wollte Makoto die Hefte beiseite legen, bis plötzlich viele rote Briefe daraus fielen. Rote Briefe! Es musste ihr Schülerpult, ihre Magazine und ihre Umschläge sein. Wollte er dieses Briefgeheimnis tatsächlich lösen? Vermutlich waren sie so oder so an ihn adressiert, zumindest war er sich da sicher. Makoto seufzte tief durch, runzelte mit geschlossenen Augen die Stirn. Wer war dieses Mädchen, konnte sie so stark in ihn verliebt sein, dass sie sogar nach ihrem Tod an ihn denken konnte? Noch nie waren sie sich über den Weg gelaufen, oder? Hier auf der mnemonischen Seite hatte er ihr Gesicht nur bedingt gesehen, nur ein einziges Mal… Wie konnte er das nur übersehen haben? So ein eindeutiger Hinweis, das war, als würde man gegen eine Mauer rennen, obwohl man ununterbrochen geradeaus geblickt hatte. Makoto steckte die Briefe ein, die würde er zur gegebenen Zeit lesen; es war jetzt wichtiger den Ort aufzusuchen, wo vermutlich alles begonnen hatte. Rasant machte er kehrt vom Tisch, wollte zur Tür gehen. Doch da stand sie, in ihrem roten Kleid. Sie richtete ihre knochenartigen Finger auf ihn. Zum ersten Mal hörte Makoto sie sagen: „Ich habe dich gefunden.“ Kapitel 7: Without you ---------------------- Wie aus heiterem Himmel hatte es plötzlich gewittert. Damit hatte Rin Kagura nicht gerechnet, obwohl sie keine Angst gegenüber Donner und Blitz verspürte. Die Familie Kishibe war so freundlich gewesen und hatte ihr ein Zimmer im oberen Stockwerk angeboten, eine Art Gästezimmer. Trotz dieses mulmigen Gefühls hatte sie das Angebot dankend angenommen, besonders weil sie neben Take schlafen würde. Zwar war es ungewohnt, neben einen fast fremden Mann zu schlafen, aber die Tatsache, nicht in einem Zimmer allein sein zu müssen, beruhigte sie. Die Angst vor dem Mädchen in Rot war wesentlich größer als die Angst, Take könnte über sie gewaltsam herfallen – außerdem passte es nicht zu ihm. Auf einem Futon zu liegen war so seltsam anders gewesen, aber Chiyo bevorzugte den alten Stil Japans. Seufzend starrte sie die Decke an, wo eine viereckige Lampe schwaches Licht spendete, dennoch genug, um kleinere Insekten anzulocken. Während sie auf Take wartete, der zurzeit duschte, drehte sie sich auf die Seite, um den freien Futon neben ihr betrachten zu können. Makoto sagte, er würde bei ihr sein. Jetzt auch? War sie in diesen einsamen Nächten gar nicht allein gewesen? Unbewusst strich sie über den feinen Bezug, seufzte leise. „Makoto…“ Eine lange Zeit verging, aber Take schien sich beim Duschen richtig Zeit zu lassen. Das Telefon klingelte aufdringlich. War Chiyo bereits schlafen gegangen? Sie wollte die ältere Dame nicht wecken, aber vielleicht war dieser Anruf wichtig. Hastig richtete sich Rin auf, eilte die Treppen hinunter. Fast schon stolpernd erreichte sie das Telefon, nahm den Hörer in die Hand. „Ja hallo, hier bei der Familie Kishibe.“ Ein Rauschen auf der anderen Leitung war zu vernehmen, es dauerte ein kleines bisschen, ehe sich eine kindliche Stimme meldete. „Rin…? Rin, hörst du mich?“ Die Augen der braunhaarigen Studentin gewannen an Größe. Es war die Stimme von Reiko Asagiri! Wie konnte das nur möglich sein? „Rin, bitte sag doch was!“ forderte Reiko sie mehrmals auf. „Reiko…? Bist du das wirklich? Wie… wie kann das sein?“ Obwohl es auf der einen Seite erfreulich war, machten sich kalte Schauer auf ihren Rücken breit. Konnten die Geister sie nun in dieser Welt erreichen? „Du musst das Haus verlassen, du bist dort nicht sicher. Noch kannst du fliehen…“ Bruchstücke des Gesprächs wurden durch ein Rauschen unterbrochen. Rin bemerkte, wie ihre Hände zu zittern begannen. Panisch sah sie hin und her. Wo sollte sie hingehen? Das Mädchen in Rot würde sie überall verfolgen können! „Sie ist abgelenkt… such einen Ort auf, den sie nicht kennt. Dort wirst du sicher sein. Ich werde dir eine Adresse schicken…“ Jetzt wurde das gesamte Gespräch beendet, Reiko hatte aufgelegt. Seufzend legte sie den Hörer auf, sah in Richtung Treppe. Ihr Klingelton summte in dem Zimmer, in dem sie ursprünglich schlafen wollte. Obwohl leichte Panik sie beim Treppenaufsteigen überkam, ging sie zurück in das Zimmer. Die Melodie war erklungen, da sie nur eine Kurzmitteilung erhalten hatte. Noch bevor sie das Handy richtig in Händen hielt, öffnete sie auch die SMS von Reiko. Wie versprochen war eine Adresse angegeben, nicht sehr weit weg von hier. Was hatte Reiko nochmal gesagt? Diese in Rot gekleidete Frau war zurzeit abgelenkt? Hoffentlich war Makoto in Sicherheit! Rin richtete sich auf, packte ihre Sachen zusammen. Take betrat in diesem Augenblick den Raum, sah sie verwundert an. „Wo willst du um diese späte Stunde nur hin?“ „Ich muss weg! Ich wurde gerade angerufen!“ Sie hatte keine Zeit für Erklärungen. Letztendlich hätte sie ihn nur verwirrt und das konnte sie gerade nicht brauchen. Gerade als Rin an ihm vorbei huschen wollte, sprach er mit fragender Stimme: „Soll ich dich vielleicht fahren?“ Verlegen blieb sie stehen, starrte ihn mit großen Augen an. „Das würdest du tun?“ Sie wusste nicht einmal, dass er im Besitz eines Autos war. „Natürlich, um diese Uhrzeit kann ich doch eine junge Frau nicht alleine umher spazieren lassen.“ Makoto konnte die Augen nicht von ihr lassen. Vermutlich würde sich die scheue Frau noch zurückziehen – so hatte sie es immer getan. Er wusste nichts zu sagen, vielleicht sollte er ein Gespräch beginnen. „Ähm… hallo, wie geht es dir eigentlich?“ Obwohl ihr Kopf in seine Richtung geneigt war, konnte er ihren Blick nicht deuten, der sich unter dem haarigen Vorhang verborgen hielt. Sie sagte kein Wort. Stattdessen kam sie näher. Der Schwarzhaarige wich die gleiche Distanz an Schritten aus, stieß sogar so fest gegen ihren Tisch, dass ihre gesammelten Hefte zu Boden flatterten. „Mir wäre es ganz lieb, wenn wir die Sache langsam angehen würden.“ Wollte sich dieser Geist verführerisch annähern? Was würde dann passieren, wenn er ihrem Körper nicht gewahr wurde? Solche Gedanken hatte er sich als Geist niemals gemacht, aber jetzt beherrschten sie seinen Verstand. „Da ist sie!“ Die drei Schülerinnen standen im Türrahmen, zeigten mit wilder Entschlossenheit auf das Mädchen, welches sie gesucht und gejagt hatten. „Dieses Mal entkommst du nicht!“ Verdutzt beobachtete Makoto das Szenario: Sie kamen ins Klassenzimmer gestürmt, versuchten sie zu erwischen. Jedoch löste sie sich auf, verschwand aus seinem Sichtfeld vollkommen. Was wäre wohl passiert, wenn sie unter sich geblieben wären? „Verdammt! Sie ist weg!“ sagte Mika unzufrieden, stemmte die Arme in die Hüften. „Das ist alles deine Schuld! Wieso musstest du unterwegs auch essen, Kum?“ Kum zuckte mit den Schultern, scheinbar fand sie diese Beschuldigung nicht gerechtfertigt. „Ich hatte eben Hunger! Du bist doch die Sportskanone hier! Jemand wie du hätte die locker schnappen können!“ Makoto wollte diesem Streit aus dem Weg gehen. Zum Glück hatten japanische Klassenräume zwei Türen zum Betreten und Hinausgehen. Er versuchte schleichend durch die Hintertür zu gelangen, denn er sah sich schon als nächstes Opfer. Diese Mika war zu allem fähig, sie war es auch gewesen, die keine Probleme damit gehabt hatte, ihn allein zu verfolgen. Es grenzte an ein Wunder, dass sie seine Abwesenheit nicht bemerkten. Erleichtert atmete er aus, als er das Klassenzimmer hinter sich gelassen hatte. „Verdammt…!“ Leise fluchend stellte er fest, dass er etwas Wichtiges vergessen hatte. Er war doch hier gewesen, um den Namen dieses Mädchen in Erfahrung zu bringen. War alles umsonst gewesen? Hoffentlich würden sie sich nicht eine Ewigkeit drinnen streiten. Makoto wartete. Wie lange er wartete, war ihm nicht klar. Zwar schaute er regelmäßig und ungeduldig auf seine Armbanduhr – die durch seinen Tod stehengeblieben war -, aber in seinem Zustand war jegliches Zeitgefühl verschwunden. Plötzlich wurde seine Schulter berührt, Hände zogen ihn zurück. „Spionierst du uns etwa nach?“ fragte eine Stimme spöttisch, genauer genommen war es die Stimme von Mika. Makoto seufzte schwer, wieso hatte er auch genau hier warten müssen? Die Mädchen machten einen Kreis um ihn, wollten ihm die Lage bildlich vor Augen führen. Nun war er das gefundene Fressen und sie würden ihre langwährige Zeit mit ihm ausleben. Wenn er seinen Auftrag nur erfüllt hätte - zumindest seine geistliche Mission -, würde er einfach verschwinden und sich nie wieder blicken lassen. Jedoch sah die Realität anders aus; er musste sich von ihnen schikanieren lassen. Was sie wohl mit ihm machen würden? Vielleicht würde alles ganz unterhaltsam enden. „Los, zurück in die Klasse!“ Mika stieß ihn den Raum, dann auf einen Stuhl, wo er ruhig sitzen blieb. „Fesselt ihn!“ Sie war eindeutig die Anführerin, energisch, dominant. Ihre beiden Freundinnen taten das, was man ihnen sagte und knebelten Makoto mit einem Seil. Obwohl sich der Verleger bewusst war, dass das hier nicht das wirkliche Leben war, fühlte es sich trotzdem so echt an. Kum zog Makotos Handy aus der Tasche, schaute sich seine Kontakte an. „Sollen wir seine Freundin hierher holen? Wir könnten ihr schreiben, dass es sehr wichtig ist… und dass sie an einer Imbissbude eine große Pommes holen soll.“ „Gib das her!“ schnatterte Mika, schaute ihre Freundin mahnend an. Diese Idee war nicht schlecht, zumindest der erste Teil. Das würde sicherlich spaß machen. Kapitel 8: Sad Accident ----------------------- Makoto konnte es nicht fassen, klappte sein Mund entgeistert auf. „Ihr habt doch mich!“ beklagte er, weil Rin unmöglich in diese Welt zurückkehren sollte. Sie war menschlich, die drei Geister konnten ihr ganz einfach das Leben aushauchen und ein Teil dieser Welt werden lassen. Aber das alles interessierte sie recht wenig. Mika überprüfte die Kontakte, viele Namen waren verzeichnet, aber damals hatten sie das für sie geglaubte Pärchen nicht umsonst beschatten, um den Namen Rin Kagura zu wissen, deren Nummer ebenfalls gespeichert war. „Sie wird nicht kommen…“ gab Mai scheu zu bedenken, bereute ihre Worte sofort, weil sie sich keine Predigt von der Ältesten anhören wollte. Gerade als Mika die Nummer von Rin betätigen wollte, sah sie das schüchterne Mädchen fragend an. „Was soll das heißen, sie wird nicht kommen? Woher willst du das wissen?“ Schweigsam fuhr sie zusammen, wusste immerhin keine logische Erklärung für ihre Bedenken. „Nicht… wenn wir anrufen…“ Erfreut stellte Mika fest, dass sie doch nicht so nutzlos war, wie sie geglaubt hatte. Natürlich, vielleicht sollte Makoto in den Hörer nach Hilfe betteln, damit er sie von seiner Hilflosigkeit besser überzeugen konnte. „Gut, machen wir es anders.“ Die Sportlerin wählte die Nummer, wollte erst überprüfen, ob jemand ans mobile Telefon ging, bevor sie den Hörer dem anderen überreichen würde. Verwundert über das Klingeln ihres Handys, schaute Rin erstmal planlos umher. Sie kramte danach in ihrer Tasche. „Wer ruft um diese Uhrzeit noch so spät an?“ Take warf einen flüchtigen Blick zu ihr, immerhin musste er sich den Straßen widmen, die um diese Stunde und in diesem Wetter schlecht zu erkennen waren. „Ich weiß nicht, hoffentlich ist nichts Schlimmes passiert.“ Sie malte sich Grausamkeiten jeglicher Art aus, hoffe, dass sich keine davon bewahrheitete. Seufzend fand sie das Handy, nahm ab, bevor sie überprüfen konnte, wer überhaupt angerufen hatte; wer wusste schon, ob sonst derjenige nicht wegen der Wartezeit aufgelegt hätte. „Rin?!“ Makotos Stimme war auf der anderen Leitung, verzerrt und nach Luft ringend. Er klang panisch, was war nur geschehen? „Makoto, was ist los? Ist etwas passiert?!“ Ein kurzes Schweigen, im Hintergrund war das Gekicher mehrer Mädchen zu vernehmen. Waren es die drei Schülerinnen? Er räusperte sich. „Hast du den Namen herausgefunden?“ „Ja, habe ich… sie heißt…“ Ihre Worte erstickten, sie konnte sie nicht aussprechen, denn nur kurz, bevor Take das Steuer panisch herumriss, konnte sie eine Frau im roten Kleid auf der Straße ausmachen. Auch Take hatte sie gesehen, sonst hätte er nicht so schnell agieren können. Das Auto schlidderte, drehte sich mehrmals um die eigene Achse. Das Handy fiel ihr aus der Hand, sie krachte mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe und wurde kurzerhand ohnmächtig. „Rin!“ Mit letzter Kraft versuchte Take die Kontrolle über das Auto zurückzugewinnen – aber erfolglos, denn sein Schädel krachte gegen das Steuerrad und kostete ihm das Bewusstsein. Während sie die Folgen dieses Unfalls verbüßten, blieb der Wagen auf einem Straßenrand stehen. „Ein Unfall?“ Makoto hatte die Schreie gehört, sowohl von Rin als auch von dem jungen Mann. Was war da nur passiert? Mika war wütend über die Ungehorsamkeit, die Makoto ihr entgegengebracht hatte. Er hatte gegen ihre Abmachung eine ganz andere Frage gestellt, er sollte sie doch hierher locken! „Das wirst du büßen!“ Rasend vor Wut donnerte sie das Handy in eine Ecke, es wäre ein Wunder gewesen, wenn sein mobiles Telefon das funktionsfähig überleben würde. „Was passiert jetzt?“ Kum wirkte enttäuscht, sie wollte die ganze Sache schnell hinter sich bringen, um ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzukommen: Dem Essen. „Ähm… wir könnten ihn demütigen und davon ein Foto machen. Er ist immerhin Verleger und Redakteur der Samsara-Zeitung.“ schlug Mai als Lösung vor, was wirklich untypisch für sie war. Normalerweise war sie diejenige, die Gewalt nur passiv beobachtete. Mika war der Kopf der Bande und hatte meist die Grausamkeiten und Schikanierungen gegenüber anderen ausgearbeitet. „Ach echt? Ist das diese seltsame Zeitschrift über irgendwelchen Hokuspokus?“ Mika grinste bis über beide Ohren. Sie wusste gar nicht, dass sie einen so prominenten Menschen in ihrer Gegenwart als Opfer hatten. Das machte es doch alles viel interessanter. „Genau.“ Mai nickte zuversichtlich. „Wie auch immer. Hehe, ich habe Sportsachen und Schminke dabei.“ Sie sah zu ihren Mitstreiterinnen rüber, dann zu Makoto. „Die Fesseln sind stramm genug, ich werde meine Sachen holen und ihr beide kümmert euch um eine Kamera. Sicherlich gibt es welche im Computerraum.“ Widersprüche würde sie nicht zulassen, aber darauf brauchte sie auch nicht zu warten, weil Kum und Mai synchron nickten. Alle drei wandten sich von Makoto ab, wollten den Raum verlassen. Wie immer lief Mai hinter den beiden her, sie blieb für einen Augenblick stehen, legte ihr mobiles Telefon auf einen der Tische und folgte ihren Freundinnen wieder. Hatte sie das Handy absichtlich liegen gelassen? Makoto wusste nicht einmal, wozu sie eine Kamera holen wollten, sie hätten diese Demütigung auch mit dem Handy filmen können. Vielleicht wollten sie es grafisch haben. Doch deswegen durfte sich der Verleger keine Gedanken mehr machen, Rin schwebte vermutlich in Gefahr. Außerdem war es nicht mehr nötig, in dieser Schule zu verweilen, wenn sie den Namen dieses Mädchens herausgefunden hatte. Jetzt konnte er gehen, sich transportieren. Grinsend wollte er sich von den Fesseln lösen, er war ein Geist, sichtbare Energie. Jedoch gestaltete es sich schwieriger als gedacht. Der Hass dieser drei Mädchen hatte sich so sehr materialisiert, dass er das Gefühl hatte, gegen reale Fesseln anzukämpfen. Er hatte keine Zeit zu verlieren! Wenn er nicht einfach aufstehen konnte, so, als wären die Fesseln nie da gewesen, musste er eben etwas aus dem Jenseits benutzen, um sich befreien zu können. Seine Hände waren auf dem Rücken festgebunden, rekelnd und zerrend versuchte er sie zu lockern. Da das nicht half, suchte er mit einer Hand die hintere Hosentasche ab, da er dort immer seine Feuerzeuge verstaute. Makoto fühlte sich wie in einem Actionfilm, es machte ihm regelrecht Spaß, das Seil durch eine kleine Stichflamme lösen zu lassen. Das Seil wurde locker, er konnte ohne Probleme aufstehen. Er schnappte sein mobiles Telefon, das zu seiner Enttäuschung tatsächlich zerbrochen war. Seufzend entfernte er die Sim-Karte, legte sie in Mais Handy ein. Obwohl ihm Rin wirklich wichtig war und er sich über ihr Wohlbefinden informieren wollte, musste er erst diesen Klassenraum verlassen, sich irgendwo versteckt halten. Makoto trat hinaus, hielt sich in einem anderen Raum versteckt, wo er erstmal tief durchatmen konnte. Sofort wählte er Rins Nummer, aber es wurde keine Verbindung hergestellt – es war besetzt. Er hörte den Regen gegen die Frontscheibe prasseln. Take sah langsam auf, seine Sicht war verschwommen und unscharf. Es dauerte einige Zeit, aber ihm wurde schnell klar, was sich vorhin zugetragen hatte. Sein Zeitgefühlt hatte völlig ausgesetzt, er sah auf die Mitfahrerseite. „Rin?“ Seine Augen weiteten sich sofort: Von ihr fehlte jede Spur, nur ihre Sachen befanden sich im Wagen. Geschwind hastete er hinaus, der kalte Regen durchnässte seine Klamotten. Take drehte sich mehrmals, versuchte die Gegend gründlich abzusuchen. „Rin?“ Aber bis auf ein Echo seines Rufes kam nichts zurück. Kapitel 9: No More ------------------ Seufzend setzte er sich zurück ins Auto. Er war völlig durchnässt, außer Atem wegen der Rufe, die allesamt fehlgeschlagen waren. Von Rin gab es keine Spur. Wo war sie nur? Und wieso hatte sie ihre Wertgegenstände hier gelassen? Take warf einen erneuten Blick auf den Sitz neben sich, dort, wo ihre Sachen verteilt lagen. Aber nicht nur das: Er konnte in dem Gewühl sein eigenes Handy ausmachen. Zusätzlich stärkte dieser Anblick seine Erinnerungen, denn bevor er diesen Unfall verursacht hatte, hatte das mobile Telefon der Studentin geklingelt, sie war dran gegangen… ihr musste es aus der Hand gefallen sein. Tatsächlich! Es lag auf dem Boden, mühsam griff er danach. Das Display war zerbrochen, vermutlich war das komplette Gerät beim Sturz kaputt gegangen. Take lehnte sich zurück, seufzte mehrmals. Aber dann fiel es ihm wie Schuppen vor den Augen: Warum lag sein Handy dort? Er hatte es doch sicher in seiner Hosentasche verstaut, selbst bei diesem verursachten Tumult konnte es ihm unmöglich aus der Tasche gefallen sein. Seufzend nahm er es zur Hand, klappte es auf. Er wollte die Polizei rufen, er brauchte Hilfe. Stattdessen bemerkte er, wie vor wenigen Minuten eine andere Nummer gewählt wurde; sie kam ihm zwar bekannt vor, aber sie hatte nichts mit seinen Kontakten zutun. Als er sie bestätigte, wissen wollte, wer am Apparat gehen würde, nahm er nur die besetzte Leitung zur Kenntnis. Es brachte alles nicht, er musste hier und jetzt diesen Unfall der Polizei melden – und das Verschwinden von Rin Kagura. Mit dröhnenden Kopfschmerzen wachte sie auf, sah alles verschwommen, benebelt, unscharf. Eine Person beugte sich über sie, schaute Rin mit einem wehleidigen Blick an, dass sie das Gefühl hatte, ihr Herz würde augenblicklich erstarren. Jetzt war ihr auch klar, wieso sie alles unscharf sah! Diese Frau hatte keinen menschlichen Körper, ein Geist auf der mnemonischen Seite – ein ihr sehr bekannter Geist, vor dem sie sich nicht fürchten musste. Die Krankenschwester Kyoko wandte sich von ihr ab, ging auf die Nachtkommode zu, wo sie eine Geste imitierte, als wolle sie frische Blumen dekorieren. Erst dann machte sie auf dem Absatz kehrt, schlenderte zum Fenster und zog die Vorhänge auf: Aus dem Fenster konnte man keine gewöhnliche Stadt sehen, keine Sonne, die den neuen Tag ankündigte. Nur die staubartige Masse des mnemonischen Abgrunds. Wie war sie nur hierher gekommen? Seufzend ließ sich ihr Körper in den verdreckten, alten Bezug des Bettes sinken. Ihr Kopf schmerzte, ein Verband bekleidete ihre Stirn. Sie versuchte, sich zu erinnern, aber es fiel ihr so schwer, da jede Konzentration nur weitere Schmerzen verursachen würde. Kyoko trat an das Bett heran, beäugte die Krankenakte von Rin Kagura. „Die Patientin hat ein Schädeltrauma erlitten…“ Die Worte zu sagen fiel ihr so schwer, dass sie den Rest in sich hinein murmelte; damals hatte sie nur zwei Sätze gesprochen und es wäre ironisch gewesen, sie in solch einem Moment zu wiederholen. Rin schloss ihre Augen, wollte sich entspannen, beruhigen. Sie war in der Geisterwelt, so, das wusste sie schon mal. Take hatte einen Unfall verursacht, aber was war davor gewesen? Vielleicht würde ihr Schlaf helfen, denn die Kopfschmerzen waren so gewaltig, dass sie sogar hoffte, ihr Kopf würde augenblicklich implodieren und all diese Erscheinungen dabei verschlingen. Ihr wurde Ruhe vergönnt, sie schlief ein. Makoto hatte sie angerufen… ein Mädchen in einem roten Kleid stand auf der Straße… wieso hatte Makoto angerufen? Er wollte den Namen dieser Frau wissen - an den sie sich nicht mehr erinnern konnte. Seufzend schlug sie die Augen auf, Schritte erklangen auf der anderen Seite des Raumes. Rin setzte sich auf, stierte auf das gegenüberliegende Bett, das mit Vorhängen zugezogen war. Die Schritte kamen tatsächlich aus dieser Richtung. Mit einem zitternden Körper kroch sie heran, wollte, dass dieser Albtraum endlich endete. Füße gingen auf und ab, verließen aber nicht den Bereich, der mit diesem Vorhang eben zugezogen war. „Hallo?“ fragte sie leise, fast schon flüsternd. Jedoch kam wie erwartet keine Antwort, nur das regelmäßige auf und ab Laufen dieser Füße. Sie konnte und wollte nicht mehr. Sie verkroch sich unter die Decke, wollte das alles nicht mehr sehen. Warum musste man ihr das antun? Hatte sie damals nicht genug gelitten? Sie flehte, sie betete, möge doch jemand diesem Spuk beenden. Makoto hatte keine Ahnung, was mit Rin geschehen war. Woher denn auch? Sie war in dem Haus der Kishibes gewesen oder wartete sie noch dort? Immer wieder hatte er die Nummer angerufen, zumindest versucht. Jeder Ansatz ein Fehlschlag und damit wurde wertvolle Zeit vergeudet. So würde er nicht weiterkommen, außerdem musste er diesen Bereich verlassen, bevor die drei Schülerinnen sich auf die Suche nach ihm machen würden. Er hatte etwas geplant, er wollte in die Wohnung von Sadao. Solange er keine Möglichkeit hatte, mit Rin Kontakt aufzunehmen, würde er vorerst seinen Teil der Arbeit fortsetzen. Die Wohnung von Sadao war genauso dreckig wie an dem Tag, wo er hier elendig gestorben war; und das noch durch die Hand eines Mannes, eines Freundes, dem er mehr oder weniger sein eigenes Leben anvertraut hätte. Von diesem war bislang ohnehin keine Spur zu finden, dabei hatte der Journalist noch gepredigt, sie beide würden nie wieder voneinander getrennt werden. Anderseits kam es Makoto sehr gelegen, den Menschen nicht mehr sehen zu müssen, der ihn kaltblütig ermordet hatte. Und warum? Nur weil er der Meinung war, Verleger und Journalisten können die Welt nicht ändern, nichts, rein gar nichts hätte sich geändert, wenn sie das Geheimnis um Reiko Asagiri aufgedeckt hätten. Oder war es reine Eifersucht gewesen? Makoto war so kurz davor gewesen, dieses Rätsel zu lösen, hatte sogar den letzten, entscheiden Hinweis gefunden. Aber jetzt war sowieso alles zu spät, sie waren beide tot, gefangen auf der mnemonischen Seite. Aber es war nicht die Zeit, in Erinnerungen zu graben. Er war nun hier, um eine Sache zu überprüfen, vielleicht eine Theorie, an die er sich bis heute geklammert hatte, zu widerlegen. Waren Geister auf der mnemonischen Seite in der Lage für sie fremde Orte aufzusuchen oder bestand möglicherweise eine Verbindung zwischen Sadao und dem Mädchen in Rot? Außerdem sprachen manchmal die Gesten eines Geistes für etwas, wie sie gestorben waren, welche Routine sie im Alltag gemacht hatten. Makoto sah zu der Toilettentür. Dort hatte er sie zum letzten Mal gesehen, er war in dem kleinen Raum eingesperrt gewesen, Blut tropfte in die Toilette. Der Lüftungsschacht wurde aufgerissen und sie blickte ihn mit gemischten Gefühlen von oben herab an. Er hatte bei dieser Begegnung es mit der Angst zutun gehabt, wollte sie aus dem Gedächtnis löschen. Aber um für diese Geste Verständnis bringen zu können, musste er sich erst einmal fragen, warum dieser Geist ihm auf diese Art erschienen war. Entweder, ihr bereitete es vergnügen, in fremden Luftschächten Menschen zu erschrecken oder… konnte es tatsächlich sein? War sie hier gestorben und imitierte ihre Todesart? Das würde dann natürlich erklären, warum Rin sie im Fahrstuhl gesehen hatte, als diese Kopfüber hing. Da oben musste etwas sein, er konnte es geradezu spüren. Eilig schritt er zur Toilette, öffnete die Tür. Im Innenraum befand sich nichts Verdächtiges, aber das war auch nicht sein Ziel gewesen, er musste hinauf in den Lüftungsschacht. Selbst wenn er ein Geist war, tat er die Schritte so, wie er sie als lebender Mensch getan hätte. Er stieg auf den Deckel der Toilette, streckte sich zum Lüftungsschacht, zog die Klappe weg, welche er achtlos fallen ließ und kletterte anschließend hinauf. So hatte er sich das Leben als Toter nicht vorgestellt, und schon wieder rauschte das imaginäre Blut in seinen Ohren, so viel Anstrengung hätte ihn zu Lebzeiten sicherlich umgebracht. Oben angekommen robbte er sich seinen Weg frei, der nach wenigen Sekunden ein Ende fand: Ein großes Etwas, in Müllsäcken eingehüllt, blockierte den Weg. Ein müdes Lächeln umspielte seine Lippen, aber es war keine Freude, die sich darauf abzeichnete. Sondern die pure Unverständlichkeit, dass es sich hierbei um einen Leichnam handeln konnte – er musste sich nur noch davon überzeugen. Kapitel 10: Now or Never ------------------------ Makoto zögerte, wollte den vermeintlichen Leichnam – falls sich hier einer befinden würde – nicht betrachten, anfassen. Konnte sich hier überhaupt der Körper dieser Frau befinden? Hatte sie diesen nicht in Besitz genommen? Ihm blieb keine andere Wahl übrig, wenn er dieses Rätsel lösen wollte, musste er es hier und jetzt tun. Seufzend schälte er den Körper aus den Müllschichten heraus, erkannte, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. Ein schlimm verwester Körper in einem roten Kleid lag vor seinen Augen. Sein Mund klappte plötzlich auf, dieser Anblick hatte Erinnerungen in ihm geweckt. Sie hatte versucht, ihm was zu sagen. Die roten Briefe, der Leichenkeller… ja, als er sie dort gesehen hatte, wandte sie sich dem Strahlenbehandlungsraum zu und verschwand darin. Makoto musste hier raus, den Geist besänftigen. Er nahm den Weg zurück, würde ein weiteres Mal versuchen, Rin auf irgendeine Weise zu kontaktieren. Die Tür in der Ein-Zimmer-Wohnung riss er auf, genauso wie die Augen, die sich vor Schreck weiteten. Sadao saß auf dem Bett, starrte den Boden an. „Du hast sie also gefunden…“ Der Verleger biss die Zähne zusammen, Wut entflammte in ihm. Jetzt war er sich sicher, dass sein damaliger Freund damit etwas zu tun haben musste – und das hätte er ihm nie zugetraut. „Sag nicht, dass du…“ Er wollte den Gedanken nicht aussprechen. Aber wieso wunderte ihn das alles noch? Sadao hatte ohne zu zögern auch ihm das Leben genommen. Der Journalist richtete sich auf. „Ich musste es… sie hätte alles kaputt gemacht.“ Ziellos wanderte er durch das Zimmer, tastete nach Gegenstände ab. „Sie hätte uns zerstört.“ Makto fasste den Entschluss, seine Vermutung zu offenbaren. „Damals haben wir rote Briefe von einem anonymen Schreiber bekommen. Ihre Texte waren für unsere Zeitung gedacht, sie hatte lesenswerte Dinge über Geister geschrieben, die unsere Leser tatsächlich gefesselt hatten.“ Ihre Theorien über Geister hatten sogar ihn fasziniert, er wollte sie sogar kennenlernen, wissen, wer sie war. „Du wolltest sie doch auch kennenlernen, wir hatten sogar ein Treffpunkt hier vereinbart!“ Als Verleger hatte er in Planung gehabt, sie eventuell einzustellen. Sie war nur eine Schülerin ohne ein festes Ziel im Berufsleben gewesen – zumindest hatte sie es in dem Briefwechsel erwähnt. Aber zu diesem Treffen war es nie gekommen, als er auf dem Weg hierher war, war er in einem Unfall verwickelt gewesen, den er sogar selbst verursacht hatte. Völlig in Gedanken hatte er ein Mädchen auf der Straße gesehen, wollte bremsen, aber sein Fuß hatte sich vor lauter Hektik schmerzhaft verdreht… er hatte sie angefahren. Dieser Lastwagen, mit dem er nicht umzugehen gewusst hatte; sein Sportwagen war immerhin in der Reparatur gewesen! Sie beide waren ins Krankenhaus gekommen, zum Glück war sie nicht tödlich verletzt, auch wenn sie seinetwegen einen Schädeltraum erlitten hatte. Er im Gegensatz kam in den Strahlenbehandlungsraum, musste geröntgt werden, weil die Ärzte auf dem ersten Blick nicht sagen konnten, ob er sich die Sehnen gerissen hatte. Obwohl es harmloser war als gedacht, durfte er am gleichen Tag das Krankenhaus verlassen. Das Treffen hatte er ohnehin verpasst, wollte nur noch ins Bett gehen und musste sich auch noch mit dem Besitzer dieses geliehenen Autos streiten, weil es auf der Motorhaube eine Beule gab. Am nächsten Tag hatte er sich dafür bei Sadao entschuldigt, über seine Nervosität hatte er sich keine Gedanken gemacht, auch nicht, als dieser stotternd meinte, dass die fremde Frau nicht zu Besuch gekommen war und demnächst auch umziehen würde. Und von da an hatte er nichts mehr von ihr gehört, aber das war in dem Augenblick auch nicht so wichtig: Er musste sich bei dem Mädchen irgendwie entschuldigen, das er angefahren hatte. Sie war ihm nicht allzu böse gewesen, aber ein großer Blumenstrauß hatte ihre Stimmung nicht gebessert, etwas Grausames musste sich hier zugetragen haben. Aber darüber wurde kein Wort gewechselt, die Stimmung war trüb geblieben. Jetzt dachte er an das Mädchen zurück, an das jugendliche Aussehen, das seinetwegen verletzt war. Es traf ihn wie ein Schlag: Er hatte damals Rin Kagura angefahren! Sie beide waren in ein und demselben Unfall verwickelt gewesen, hatten beide das vereinbarte Treffen verpasst, wo zwei Menschen ums Leben gekommen waren: Reiko durch Selbstmord und die Frau im Rot durch Mordschlag. Jetzt war es auch kein Wunder, wieso diese Frau nach Rins Leben trachtete: Wäre sie damals nicht gewesen, hätte sie vermutlich nie ihr Leben lassen müssen. „Was ist hier passiert? Was hast du getan?“ Makotos Gedanken waren woanders, immer wieder dachte er an Rin, stellte sich vor, wie er durch ihr braunes Haar mit den Fingern fuhr, wie er sich für seine Dummheit immer wieder bei ihr entschuldigte. „Ich war betrunken… sie stand da, in ihrem roten Kleid… so verführerisch und allein. Du kamst einfach nicht…“ Er ging auf einen kleinen Rahmen im Regal zu, betrachtete das Bild von sich und seiner Tochter. Sadao hatte kein geregeltes Familienleben gehabt: Seine Frau hatte sich von ihm scheiden lassen, weil er mit seiner Arbeit mehr verheiratet war als mit ihr. Seine Tochter hatte er deswegen nur gelegentlich zu Sicht bekommen. Hatte er diese Schülerinnen aus Verzweiflung und Einsamkeit vergewaltigt? Sicherlich konnte sie nicht anders, als hinterher mit der Polizei zu drohen, ihn deswegen anzuzeigen. Jetzt verstand Makoto auch, warum sie ihn und das Samsara-Magazin zerstört hätte. Er schüttelte den Kopf, er wollte es einfach nicht glauben. Aber jetzt war auch keine Zeit dafür, wegen Sadao sollte kein weiterer, unschuldiger Mensch sterben. Makoto fuhr auf dem Absatz herum, Rin war sicherlich im Krankenhaus, dort, wo alles angefangen hatte, dort, wo es zu Ende gehen würde, wenn er nicht rechtzeitig käme. Die Briefe aus der Schule fielen ihm aus der Tasche, die er noch nicht durchgelesen hatte. Er hob sie auf, vielleicht stand hier der letzte Hinweis, um Rin helfen zu können. Die Texte waren welche, die er bereits veröffentlich hatte, kein Grund, sie ein weiteres Mal durchzulesen. Ein Geist kann seinen toten Körper in der realen Welt kontrollieren, wenn niemand weiß, dass er tot ist. Stimmte ihre Theorie? War sie anders als die anderen Geister, weil sie sich mit dem Thema beschäftigt hatte? Einst meinte sie sogar, ein Geist wäre imstande, Unmögliches zu tun. Aber wenn sie sich doch an ihren Gedanken manifestierte, dürfte sie nicht länger in der realen Welt umherwandern. Aber sicher war er sich nicht, es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Jetzt oder nie… Verzweifelt setzte sich Rin auf, wollte nicht mehr in diesem Raum verweilen. Sie musste raus, jetzt! Zügig verließ sie das Zimmer, spähte auf beiden Seiten, wollte in keine drohende Gefahr hineinlaufen. Links! Trotz Kopfschmerzen schnellte sie in Richtung Krankenzimmer, dort würde sicherlich ein Handy liegen oder zumindest ein Telefon. Während sie vor lauter Angst unter der Decke gelegen hatte, dachte sie mehrmals über das nach, was ihr zugestoßen war: Dieses Mal war es anders, nun konnte sie die Seiten wechseln. Immer wenn sie eine Nummer neu wählte, transportierte sie sich sowohl woanders hin als auch auf die andere Seite. Wofür war das gut? Oder war es eine Art Rettungsmaßname von Reiko, um sie hier nicht verrotten zu lassen? Dann musste sie nur etwas finden, womit sie sich zurück transportieren konnte. Sie musste hier weg, nie wieder wollte Rin dieses Krankenhaus von der mnemonischen Seite aus betrachten. Sie sah den Tresen, dahinter war das Schwesterzimmer und noch viel wichtiger: Ein Telefon. Bevor sie den Tresen allerdings umkreisen und hinter sich lassen konnte, stellte sich ihr etwas in den Weg: Sie stellte sich ihr in den Weg! Panisch machte Rin einen Satz nach hinten, damit hatte sie in der letzten Minute nicht gerechnet. Aber jetzt fiel ihr etwas auf: Ihr Körper war durchsichtig, die Füße mit den roten Pumps konnte man nicht einmal mehr sehen. War sie nun ein vollständiger Geist? „Bitte…“ bettelte Rin leise. „Bitte lass mich gehen, Makto und ich gehören nicht zusammen. Ich bin ein Mensch, er ist ein Geist. Ich kann ihn dir nicht wegnehmen, bitte versteh das doch.“ Sie hatte keine andere Entschuldigung, es war nicht mal eine; sie wusste ja nicht, wofür sie sich genau entschuldigen sollte. Es war nur die Wahrheit. Die andere schritt auf Rin langsam zu, machte keine Anstalten, ihr zu glauben, streckte nur verbissen die Hand nach ihr aus. Schluckend ließ Rin sie näher kommen, sie war nun ein Geist! In der realen Welt würde sie ihr nichts mehr antun können, sie musste nur noch an ihr vorbei. Der Geist packte und rüttelte sie, die Studentin wehrte sich gegen die Kraft, die sie festhielt. Und wie auch bei den anderen Geistern ließ die Frau in Rot sie los, verschwand aus ihrem Sichtfeld. Die Braunhaarige nutzte die Zeit, eilte zur Tür, wurde erneut angegriffen, indem man sie von der Tür weg zog. Vor lauter Angst und Panik begann ihr Herz zu rasen, schneller und schneller, nur schwer konnte sie sich von diesem Griff befreien. Einen weiteren Angriff würde sie vielleicht nicht überleben können, das Atmen fiel ihr so schwer, die Sicht war verschwommen und glühend rot. Hatte ihr letztes Stündlein geschlagen? Kapitel 11: Never too late -------------------------- Makoto sah seinen Leichnam, der am Schreibtisch eingeschlafen und dann gestorben war, lange und bedauernd an. Andere waren viel früher gestorben, hatten kein so erfülltes Leben wie er gehabt. Aber war ein reiches, berühmtes Leben erfüllt genug? Etwas ganz Wichtiges hatte ihm schon immer gefehlt. Jetzt dachte er an das Mädchen im roten Kleid zurück: Privat hatten sie sich per E-Mail geschrieben, sie wirkte ihm gegenüber so schüchtern, obwohl sie sich nur über die Arbeit unterhalten hatten. Dass er sie auf eine Art faszinierte, war ihm nie in den Sinn gekommen. Seine Arbeit hatte er viel zu sehr geliebt, um sich auf eine Frau einzulassen. Wie kam es überhaupt zur Wendung? Mit seinem Tod? Denn jetzt erkannte er, dass er den falschen Weg gewählt hatte – alles war jetzt seine Schuld. Er fuhr um seinen Leichnam herum, musterte ihn genau. Die Verwesung hatte schon längst begonnen, obwohl er noch nicht sehr viele Tage hier lag. Sollte er es tatsächlich riskieren? Versuchen, seinen toten Körper zu kontrollieren? Er streckte seine Hand danach aus, konzentrierte sich auf die Energie, die in ihm übrig geblieben war. Zum wievielten Male merkte er an seinen Gefühlen selbst, dass er den Tod noch nicht überwunden hatte. Die Tür zum Zimmer war abgeschlossen, sie gab nicht nach. Eine geisterhafte Aura hielt sie fest verschlossen, egal wie stark sie danach rüttelte. „Ich muss ein anderes Zimmer finden!“ Rin sprintete, ihr Herz pochte im Brustkorb, das Blut rauschte in ihren Ohren. Wenn der Geist jetzt ein weiteres Mal angreifen würde, dann bekäme sie selbst in diesem jungen Alter einen Herzinfarkt. Sie spielte sogar schon mit dem Gedanken, sich in dem nächstbesten mnemonischen Abgrund zu stürzen; aber alle Türen in diesem Gang waren verschlossen. Auch das Tor, das in die untere beziehungsweise obere Etage führte, fest verschlossen war, musste sie den ganzen Weg zurück gehen. Das Mädchen hatte bislang keine Reaktionen von sich gegeben, vielleicht war sie erst einmal verschwunden. Doch da hatte sie sich getäuscht: Nachdem sich Rin ansatzweise beruhigt hatte, wurde sie von oben gefasst. Ihre Haare wurden ergriffen, einige schmerzhaft aus der Kopfhaut gerissen. Sie hörte kehliges Gelächter, so hasserfüllt und voller Schadenfreude. Sie wich zurück zum Fahrstuhl, lehnte sich an die massive Tür. Würde sie vielleicht gleich aufspringen und sie in den Abgrund fallen lassen? Sie hoffe es sogar in diesem Augenblick, denn ihr Herz raste so schnell und heftig, dass es sogar schmerzte. Etwas Rotes erschien vor ihren Augen, sie stand einige Meter von ihr entfernt. Scheinbar wollte sie Rins Leiden aus dieser Ferne beobachten. Mit eiligen Schritten näherte sie sich dann auch, blieb abrupt stehen, als das Telefon kurz klingelte. Nachdem das Geräusch verklungen war, kam sie weiter auf die braunhaarige Studentin zu. „Nicht!“ Eine männliche Stimme gellte durch den Flur, echote sogar zurück. „Sie ist nicht schuld, sondern ich!“ Da es Makotos Stimme gewesen war, drehte sich der schwarzhaarige Geist zu ihm um, beobachtete, wie er in ihre Richtung eilte. Sein Körper hatte etwas Eigenartiges an sich, aber in dieser Dunkelheit war das schwer zu sagen. Allerdings ertönten… Schritte? Das war doch für einen Geist recht ungewöhnlich. „Ich habe deinen Körper gefunden. Es tut mir leid, was dir damals passiert ist. Ich wollte zu diesem Treffen kommen, ich wusste nicht, welchen Fehler ich machen würde, dich mit so einem Mann alleine zu lassen.“ Er stellte sich vor ihr, versuchte sie schelmisch anzulächeln. „An dem Tag habe ich ein Mädchen angefahren, was beinahe meinetwegen gestorben wäre. Obwohl sie den Unfall überlebt hatte, sprang die Freundin, die sie besuchen wollte, aus dem Fenster des Krankenhauses.“ Rins Herz raste; aber nicht vor Angst, sondern weil sie in Makoto den Mann wiedersah, der sie an jenem Tag angefahren hatte und Tage darauf versuchte, sie zu trösten. War das Zufall? Wäre sie doch nur nicht bei Rot über die Straße gegangen, so ein schwerer Fehler würde sie in ihrem Leben nicht wiederholen. Aber Fehler waren menschlich, dafür sollte niemand bestraft werden! „Es tut mir schrecklich leid…“ Makoto hielt seine Hand in ihre Richtung, er musste Rin helfen, aus dieser Hölle zu entkommen. Er hatte ohnehin nichts mehr zu verlieren. „Jetzt bin ich für dich da, bis auf alle Ewigkeiten.“ Das Mädchen in Rot schaute ihn an, dann zur Hand. Aber es zu erwidern, wandte sie sich ab und verschwand im Nichts. Rin und Makoto schwiegen lange, wussten nicht, ob es vorbei war. Hatte seine Entschuldigung gewirkt? Konnte sie ihm das verzeihen? Hoffentlich hatte er nicht gegen eine Wand geredet, denn bei Reiko konnte man sie nur mithilfe eines Handys erreichen und damit kommunizieren. Sie hatte zwar Reikos Welt imitiert, aber sie war ein ganz anderer Geist gewesen – ein Mensch, der nicht aus freiem Willen gestorben ist. Seufzend blickte er zu Rin herüber, gähnte herzhaft: „Ich glaube, wir haben es geschafft.“ Jetzt war er an der Reihe, sich bei ihr zu entschuldigen, trat daher an ihre Seite. „Und was ich nochmals sagen wollte… es tut mir leid, dass ich dich damals achtlos angefahren habe. Kann ich das jemals wieder gut machen?“ Wie wollte er das wieder gut machen? Er war ein Geist, der Gedanke amüsierte sie dennoch und brachte sie sogar zum Lachen. Aber das Lachen verging sehr schnell, hastig wurden die Fahrstuhltüren auf beiden Seiten aufgeschoben. Der mnemonische Abgrund hinter ihrem Rücken erstreckte sich in seiner endlosen Länge, aber Hände griffen nach ihr, packten sie an den Schultern und schleuderten sie nach hinten. Jetzt hatte es das Mädchen in Rot geschafft, Rin würde in die ewige Verdammnis stürzen, Makoto würde ihr ganz alleine gehören. Während Rin taumelte, zu fallen drohte, zog sich der Geist zurück. Wie in Zeitlupe bewegte sich alles, sie merkte, wie ihre Seele, ihr Geist, den Körper endgültig verlassen wollte. Eine starke Hand schnappte nach ihr, Makoto konnte sie berühren und festhalten! Seine Hand fühlte sich trotz Kälte so vertraut und warm an, aber manche Geister waren nun mal in der Lage, je nach ihrem Gefühlszustand, Menschen zu berühren. Aber bei ihm war es so anders, menschlicher. Der Verleger musste sich mit den Beinen an den Türseiten stützen, bevor er ebenfalls in den Abgrund gezogen werden würde. Die Schieben drohten noch weiter auseinander zu gehen, jetzt blieb ihm nur eine Möglichkeit: Er nahm mit der freien Hand sein Handy, blickte ihr in die Augen. „Vertraust du mir? Du darfst nicht loslassen…“ Sie hörte Trauer in seiner Stimme, aber ja, sie vertraute ihm. Sie verdeutlichte ihm das mit einem Nicken. Schnell wählte Makoto die Nummer dieses Handys, seine klammernde Hand wurde immer schwächer. Das was er getan hatte, war bei Reiko nie möglich gewesen, aber ihm war keine andere Alternative eingefallen. Erstmal wusste er keine andere Nummer auswendig – dafür hatte er ja so gern ein Notizbuch verwendet – und zweitens hätte diese Nummer besetzt sein können. „Makoto… ich kann nicht mehr… bitte lass mich los.“ flehte Rin leise, ihre Hand pochte, sie hatte das Gefühl, zerrissen zu werden. Dunkelheit machte sich plötzlich breit und verschluckte die beiden Personen restlos. Ihre Hand schmerzte immer noch, sie fühlte keinen festen Boden unter sich, sie sah nur den dunklen Schacht des Fahrstuhls. Ein Ruck zerrte sie hoch, ließ sie plötzlich auf einen weichen Körper fallen. Makotos Körper! Entsetzt schaute sie zu ihm, der schwer atmend auf dem Boden lag – und sie auf ihm. Wie konnte das nur möglich sein? Sie hörte sein Herz schlagen, es musste ein Traum sein, aus dem sie nie erwachen wollte. Langsam schloss sie die Augen, lange Finger strichen durch ihr braunes Haar. Kurz öffnete sie die Augen, sie waren beide in der realen Welt gelandet, in dem verschlossenen Krankenhaus. Makoto spürte Leben in sich, keuchte schwer. Seltsam, sein Wissen über Geister, Übersinnliches war so groß gewesen, dass er mehr als nur das Unmögliche wahr gemacht hatte. Zu sehr hatte er am Diesseits gehangen, um im Jenseits leben zu können. Doch am Ende hing alles nur noch vom Zufall ab, ob sich seine Theorien auch bewahrheiten würden. Mit dem Pfund ihres Körpers war sie aus dem Diesseits verbannt, sie konnte Rin nichts mehr anhaben. Er hatte sie all die Tage beschützen können, weil sein Körper ebenfalls nicht entdeckt wurde – und das würde auch in Zukunft nicht passieren, seine starken Emotionen, seine sichtbare Energie hatten seinem Körper das Leben eingehaucht und ihn regenerieren lassen. So oft hatte er Berichte über Menschen gelesen, die im Jenseits umhergewandert waren und zurückkommen mussten, weil ihre Zeit noch nicht gekommen war. Langsam richtete er sich mit Rin auf, die trotz ihres Lächelns verwirrt dreinblickte. „Das verstehe ich nicht… ist das ein Traum? Oder was bist du jetzt, Makoto?“ „Sagen wir es so.“ Er führte sie langsam in Richtung Ausgang. Hoffentlich mussten sie sich draußen nicht rechtfertigen, warum sie sich in einem unbewohnten Gebäude aufgehalten hatten. „Ich bin wohl der erste lebende Geist.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)