Mnemonic Abyss von Mismar (She is calling my Name) ================================================================================ Kapitel 11: Never too late -------------------------- Makoto sah seinen Leichnam, der am Schreibtisch eingeschlafen und dann gestorben war, lange und bedauernd an. Andere waren viel früher gestorben, hatten kein so erfülltes Leben wie er gehabt. Aber war ein reiches, berühmtes Leben erfüllt genug? Etwas ganz Wichtiges hatte ihm schon immer gefehlt. Jetzt dachte er an das Mädchen im roten Kleid zurück: Privat hatten sie sich per E-Mail geschrieben, sie wirkte ihm gegenüber so schüchtern, obwohl sie sich nur über die Arbeit unterhalten hatten. Dass er sie auf eine Art faszinierte, war ihm nie in den Sinn gekommen. Seine Arbeit hatte er viel zu sehr geliebt, um sich auf eine Frau einzulassen. Wie kam es überhaupt zur Wendung? Mit seinem Tod? Denn jetzt erkannte er, dass er den falschen Weg gewählt hatte – alles war jetzt seine Schuld. Er fuhr um seinen Leichnam herum, musterte ihn genau. Die Verwesung hatte schon längst begonnen, obwohl er noch nicht sehr viele Tage hier lag. Sollte er es tatsächlich riskieren? Versuchen, seinen toten Körper zu kontrollieren? Er streckte seine Hand danach aus, konzentrierte sich auf die Energie, die in ihm übrig geblieben war. Zum wievielten Male merkte er an seinen Gefühlen selbst, dass er den Tod noch nicht überwunden hatte. Die Tür zum Zimmer war abgeschlossen, sie gab nicht nach. Eine geisterhafte Aura hielt sie fest verschlossen, egal wie stark sie danach rüttelte. „Ich muss ein anderes Zimmer finden!“ Rin sprintete, ihr Herz pochte im Brustkorb, das Blut rauschte in ihren Ohren. Wenn der Geist jetzt ein weiteres Mal angreifen würde, dann bekäme sie selbst in diesem jungen Alter einen Herzinfarkt. Sie spielte sogar schon mit dem Gedanken, sich in dem nächstbesten mnemonischen Abgrund zu stürzen; aber alle Türen in diesem Gang waren verschlossen. Auch das Tor, das in die untere beziehungsweise obere Etage führte, fest verschlossen war, musste sie den ganzen Weg zurück gehen. Das Mädchen hatte bislang keine Reaktionen von sich gegeben, vielleicht war sie erst einmal verschwunden. Doch da hatte sie sich getäuscht: Nachdem sich Rin ansatzweise beruhigt hatte, wurde sie von oben gefasst. Ihre Haare wurden ergriffen, einige schmerzhaft aus der Kopfhaut gerissen. Sie hörte kehliges Gelächter, so hasserfüllt und voller Schadenfreude. Sie wich zurück zum Fahrstuhl, lehnte sich an die massive Tür. Würde sie vielleicht gleich aufspringen und sie in den Abgrund fallen lassen? Sie hoffe es sogar in diesem Augenblick, denn ihr Herz raste so schnell und heftig, dass es sogar schmerzte. Etwas Rotes erschien vor ihren Augen, sie stand einige Meter von ihr entfernt. Scheinbar wollte sie Rins Leiden aus dieser Ferne beobachten. Mit eiligen Schritten näherte sie sich dann auch, blieb abrupt stehen, als das Telefon kurz klingelte. Nachdem das Geräusch verklungen war, kam sie weiter auf die braunhaarige Studentin zu. „Nicht!“ Eine männliche Stimme gellte durch den Flur, echote sogar zurück. „Sie ist nicht schuld, sondern ich!“ Da es Makotos Stimme gewesen war, drehte sich der schwarzhaarige Geist zu ihm um, beobachtete, wie er in ihre Richtung eilte. Sein Körper hatte etwas Eigenartiges an sich, aber in dieser Dunkelheit war das schwer zu sagen. Allerdings ertönten… Schritte? Das war doch für einen Geist recht ungewöhnlich. „Ich habe deinen Körper gefunden. Es tut mir leid, was dir damals passiert ist. Ich wollte zu diesem Treffen kommen, ich wusste nicht, welchen Fehler ich machen würde, dich mit so einem Mann alleine zu lassen.“ Er stellte sich vor ihr, versuchte sie schelmisch anzulächeln. „An dem Tag habe ich ein Mädchen angefahren, was beinahe meinetwegen gestorben wäre. Obwohl sie den Unfall überlebt hatte, sprang die Freundin, die sie besuchen wollte, aus dem Fenster des Krankenhauses.“ Rins Herz raste; aber nicht vor Angst, sondern weil sie in Makoto den Mann wiedersah, der sie an jenem Tag angefahren hatte und Tage darauf versuchte, sie zu trösten. War das Zufall? Wäre sie doch nur nicht bei Rot über die Straße gegangen, so ein schwerer Fehler würde sie in ihrem Leben nicht wiederholen. Aber Fehler waren menschlich, dafür sollte niemand bestraft werden! „Es tut mir schrecklich leid…“ Makoto hielt seine Hand in ihre Richtung, er musste Rin helfen, aus dieser Hölle zu entkommen. Er hatte ohnehin nichts mehr zu verlieren. „Jetzt bin ich für dich da, bis auf alle Ewigkeiten.“ Das Mädchen in Rot schaute ihn an, dann zur Hand. Aber es zu erwidern, wandte sie sich ab und verschwand im Nichts. Rin und Makoto schwiegen lange, wussten nicht, ob es vorbei war. Hatte seine Entschuldigung gewirkt? Konnte sie ihm das verzeihen? Hoffentlich hatte er nicht gegen eine Wand geredet, denn bei Reiko konnte man sie nur mithilfe eines Handys erreichen und damit kommunizieren. Sie hatte zwar Reikos Welt imitiert, aber sie war ein ganz anderer Geist gewesen – ein Mensch, der nicht aus freiem Willen gestorben ist. Seufzend blickte er zu Rin herüber, gähnte herzhaft: „Ich glaube, wir haben es geschafft.“ Jetzt war er an der Reihe, sich bei ihr zu entschuldigen, trat daher an ihre Seite. „Und was ich nochmals sagen wollte… es tut mir leid, dass ich dich damals achtlos angefahren habe. Kann ich das jemals wieder gut machen?“ Wie wollte er das wieder gut machen? Er war ein Geist, der Gedanke amüsierte sie dennoch und brachte sie sogar zum Lachen. Aber das Lachen verging sehr schnell, hastig wurden die Fahrstuhltüren auf beiden Seiten aufgeschoben. Der mnemonische Abgrund hinter ihrem Rücken erstreckte sich in seiner endlosen Länge, aber Hände griffen nach ihr, packten sie an den Schultern und schleuderten sie nach hinten. Jetzt hatte es das Mädchen in Rot geschafft, Rin würde in die ewige Verdammnis stürzen, Makoto würde ihr ganz alleine gehören. Während Rin taumelte, zu fallen drohte, zog sich der Geist zurück. Wie in Zeitlupe bewegte sich alles, sie merkte, wie ihre Seele, ihr Geist, den Körper endgültig verlassen wollte. Eine starke Hand schnappte nach ihr, Makoto konnte sie berühren und festhalten! Seine Hand fühlte sich trotz Kälte so vertraut und warm an, aber manche Geister waren nun mal in der Lage, je nach ihrem Gefühlszustand, Menschen zu berühren. Aber bei ihm war es so anders, menschlicher. Der Verleger musste sich mit den Beinen an den Türseiten stützen, bevor er ebenfalls in den Abgrund gezogen werden würde. Die Schieben drohten noch weiter auseinander zu gehen, jetzt blieb ihm nur eine Möglichkeit: Er nahm mit der freien Hand sein Handy, blickte ihr in die Augen. „Vertraust du mir? Du darfst nicht loslassen…“ Sie hörte Trauer in seiner Stimme, aber ja, sie vertraute ihm. Sie verdeutlichte ihm das mit einem Nicken. Schnell wählte Makoto die Nummer dieses Handys, seine klammernde Hand wurde immer schwächer. Das was er getan hatte, war bei Reiko nie möglich gewesen, aber ihm war keine andere Alternative eingefallen. Erstmal wusste er keine andere Nummer auswendig – dafür hatte er ja so gern ein Notizbuch verwendet – und zweitens hätte diese Nummer besetzt sein können. „Makoto… ich kann nicht mehr… bitte lass mich los.“ flehte Rin leise, ihre Hand pochte, sie hatte das Gefühl, zerrissen zu werden. Dunkelheit machte sich plötzlich breit und verschluckte die beiden Personen restlos. Ihre Hand schmerzte immer noch, sie fühlte keinen festen Boden unter sich, sie sah nur den dunklen Schacht des Fahrstuhls. Ein Ruck zerrte sie hoch, ließ sie plötzlich auf einen weichen Körper fallen. Makotos Körper! Entsetzt schaute sie zu ihm, der schwer atmend auf dem Boden lag – und sie auf ihm. Wie konnte das nur möglich sein? Sie hörte sein Herz schlagen, es musste ein Traum sein, aus dem sie nie erwachen wollte. Langsam schloss sie die Augen, lange Finger strichen durch ihr braunes Haar. Kurz öffnete sie die Augen, sie waren beide in der realen Welt gelandet, in dem verschlossenen Krankenhaus. Makoto spürte Leben in sich, keuchte schwer. Seltsam, sein Wissen über Geister, Übersinnliches war so groß gewesen, dass er mehr als nur das Unmögliche wahr gemacht hatte. Zu sehr hatte er am Diesseits gehangen, um im Jenseits leben zu können. Doch am Ende hing alles nur noch vom Zufall ab, ob sich seine Theorien auch bewahrheiten würden. Mit dem Pfund ihres Körpers war sie aus dem Diesseits verbannt, sie konnte Rin nichts mehr anhaben. Er hatte sie all die Tage beschützen können, weil sein Körper ebenfalls nicht entdeckt wurde – und das würde auch in Zukunft nicht passieren, seine starken Emotionen, seine sichtbare Energie hatten seinem Körper das Leben eingehaucht und ihn regenerieren lassen. So oft hatte er Berichte über Menschen gelesen, die im Jenseits umhergewandert waren und zurückkommen mussten, weil ihre Zeit noch nicht gekommen war. Langsam richtete er sich mit Rin auf, die trotz ihres Lächelns verwirrt dreinblickte. „Das verstehe ich nicht… ist das ein Traum? Oder was bist du jetzt, Makoto?“ „Sagen wir es so.“ Er führte sie langsam in Richtung Ausgang. Hoffentlich mussten sie sich draußen nicht rechtfertigen, warum sie sich in einem unbewohnten Gebäude aufgehalten hatten. „Ich bin wohl der erste lebende Geist.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)