Mnemonic Abyss von Mismar (She is calling my Name) ================================================================================ Kapitel 10: Now or Never ------------------------ Makoto zögerte, wollte den vermeintlichen Leichnam – falls sich hier einer befinden würde – nicht betrachten, anfassen. Konnte sich hier überhaupt der Körper dieser Frau befinden? Hatte sie diesen nicht in Besitz genommen? Ihm blieb keine andere Wahl übrig, wenn er dieses Rätsel lösen wollte, musste er es hier und jetzt tun. Seufzend schälte er den Körper aus den Müllschichten heraus, erkannte, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. Ein schlimm verwester Körper in einem roten Kleid lag vor seinen Augen. Sein Mund klappte plötzlich auf, dieser Anblick hatte Erinnerungen in ihm geweckt. Sie hatte versucht, ihm was zu sagen. Die roten Briefe, der Leichenkeller… ja, als er sie dort gesehen hatte, wandte sie sich dem Strahlenbehandlungsraum zu und verschwand darin. Makoto musste hier raus, den Geist besänftigen. Er nahm den Weg zurück, würde ein weiteres Mal versuchen, Rin auf irgendeine Weise zu kontaktieren. Die Tür in der Ein-Zimmer-Wohnung riss er auf, genauso wie die Augen, die sich vor Schreck weiteten. Sadao saß auf dem Bett, starrte den Boden an. „Du hast sie also gefunden…“ Der Verleger biss die Zähne zusammen, Wut entflammte in ihm. Jetzt war er sich sicher, dass sein damaliger Freund damit etwas zu tun haben musste – und das hätte er ihm nie zugetraut. „Sag nicht, dass du…“ Er wollte den Gedanken nicht aussprechen. Aber wieso wunderte ihn das alles noch? Sadao hatte ohne zu zögern auch ihm das Leben genommen. Der Journalist richtete sich auf. „Ich musste es… sie hätte alles kaputt gemacht.“ Ziellos wanderte er durch das Zimmer, tastete nach Gegenstände ab. „Sie hätte uns zerstört.“ Makto fasste den Entschluss, seine Vermutung zu offenbaren. „Damals haben wir rote Briefe von einem anonymen Schreiber bekommen. Ihre Texte waren für unsere Zeitung gedacht, sie hatte lesenswerte Dinge über Geister geschrieben, die unsere Leser tatsächlich gefesselt hatten.“ Ihre Theorien über Geister hatten sogar ihn fasziniert, er wollte sie sogar kennenlernen, wissen, wer sie war. „Du wolltest sie doch auch kennenlernen, wir hatten sogar ein Treffpunkt hier vereinbart!“ Als Verleger hatte er in Planung gehabt, sie eventuell einzustellen. Sie war nur eine Schülerin ohne ein festes Ziel im Berufsleben gewesen – zumindest hatte sie es in dem Briefwechsel erwähnt. Aber zu diesem Treffen war es nie gekommen, als er auf dem Weg hierher war, war er in einem Unfall verwickelt gewesen, den er sogar selbst verursacht hatte. Völlig in Gedanken hatte er ein Mädchen auf der Straße gesehen, wollte bremsen, aber sein Fuß hatte sich vor lauter Hektik schmerzhaft verdreht… er hatte sie angefahren. Dieser Lastwagen, mit dem er nicht umzugehen gewusst hatte; sein Sportwagen war immerhin in der Reparatur gewesen! Sie beide waren ins Krankenhaus gekommen, zum Glück war sie nicht tödlich verletzt, auch wenn sie seinetwegen einen Schädeltraum erlitten hatte. Er im Gegensatz kam in den Strahlenbehandlungsraum, musste geröntgt werden, weil die Ärzte auf dem ersten Blick nicht sagen konnten, ob er sich die Sehnen gerissen hatte. Obwohl es harmloser war als gedacht, durfte er am gleichen Tag das Krankenhaus verlassen. Das Treffen hatte er ohnehin verpasst, wollte nur noch ins Bett gehen und musste sich auch noch mit dem Besitzer dieses geliehenen Autos streiten, weil es auf der Motorhaube eine Beule gab. Am nächsten Tag hatte er sich dafür bei Sadao entschuldigt, über seine Nervosität hatte er sich keine Gedanken gemacht, auch nicht, als dieser stotternd meinte, dass die fremde Frau nicht zu Besuch gekommen war und demnächst auch umziehen würde. Und von da an hatte er nichts mehr von ihr gehört, aber das war in dem Augenblick auch nicht so wichtig: Er musste sich bei dem Mädchen irgendwie entschuldigen, das er angefahren hatte. Sie war ihm nicht allzu böse gewesen, aber ein großer Blumenstrauß hatte ihre Stimmung nicht gebessert, etwas Grausames musste sich hier zugetragen haben. Aber darüber wurde kein Wort gewechselt, die Stimmung war trüb geblieben. Jetzt dachte er an das Mädchen zurück, an das jugendliche Aussehen, das seinetwegen verletzt war. Es traf ihn wie ein Schlag: Er hatte damals Rin Kagura angefahren! Sie beide waren in ein und demselben Unfall verwickelt gewesen, hatten beide das vereinbarte Treffen verpasst, wo zwei Menschen ums Leben gekommen waren: Reiko durch Selbstmord und die Frau im Rot durch Mordschlag. Jetzt war es auch kein Wunder, wieso diese Frau nach Rins Leben trachtete: Wäre sie damals nicht gewesen, hätte sie vermutlich nie ihr Leben lassen müssen. „Was ist hier passiert? Was hast du getan?“ Makotos Gedanken waren woanders, immer wieder dachte er an Rin, stellte sich vor, wie er durch ihr braunes Haar mit den Fingern fuhr, wie er sich für seine Dummheit immer wieder bei ihr entschuldigte. „Ich war betrunken… sie stand da, in ihrem roten Kleid… so verführerisch und allein. Du kamst einfach nicht…“ Er ging auf einen kleinen Rahmen im Regal zu, betrachtete das Bild von sich und seiner Tochter. Sadao hatte kein geregeltes Familienleben gehabt: Seine Frau hatte sich von ihm scheiden lassen, weil er mit seiner Arbeit mehr verheiratet war als mit ihr. Seine Tochter hatte er deswegen nur gelegentlich zu Sicht bekommen. Hatte er diese Schülerinnen aus Verzweiflung und Einsamkeit vergewaltigt? Sicherlich konnte sie nicht anders, als hinterher mit der Polizei zu drohen, ihn deswegen anzuzeigen. Jetzt verstand Makoto auch, warum sie ihn und das Samsara-Magazin zerstört hätte. Er schüttelte den Kopf, er wollte es einfach nicht glauben. Aber jetzt war auch keine Zeit dafür, wegen Sadao sollte kein weiterer, unschuldiger Mensch sterben. Makoto fuhr auf dem Absatz herum, Rin war sicherlich im Krankenhaus, dort, wo alles angefangen hatte, dort, wo es zu Ende gehen würde, wenn er nicht rechtzeitig käme. Die Briefe aus der Schule fielen ihm aus der Tasche, die er noch nicht durchgelesen hatte. Er hob sie auf, vielleicht stand hier der letzte Hinweis, um Rin helfen zu können. Die Texte waren welche, die er bereits veröffentlich hatte, kein Grund, sie ein weiteres Mal durchzulesen. Ein Geist kann seinen toten Körper in der realen Welt kontrollieren, wenn niemand weiß, dass er tot ist. Stimmte ihre Theorie? War sie anders als die anderen Geister, weil sie sich mit dem Thema beschäftigt hatte? Einst meinte sie sogar, ein Geist wäre imstande, Unmögliches zu tun. Aber wenn sie sich doch an ihren Gedanken manifestierte, dürfte sie nicht länger in der realen Welt umherwandern. Aber sicher war er sich nicht, es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Jetzt oder nie… Verzweifelt setzte sich Rin auf, wollte nicht mehr in diesem Raum verweilen. Sie musste raus, jetzt! Zügig verließ sie das Zimmer, spähte auf beiden Seiten, wollte in keine drohende Gefahr hineinlaufen. Links! Trotz Kopfschmerzen schnellte sie in Richtung Krankenzimmer, dort würde sicherlich ein Handy liegen oder zumindest ein Telefon. Während sie vor lauter Angst unter der Decke gelegen hatte, dachte sie mehrmals über das nach, was ihr zugestoßen war: Dieses Mal war es anders, nun konnte sie die Seiten wechseln. Immer wenn sie eine Nummer neu wählte, transportierte sie sich sowohl woanders hin als auch auf die andere Seite. Wofür war das gut? Oder war es eine Art Rettungsmaßname von Reiko, um sie hier nicht verrotten zu lassen? Dann musste sie nur etwas finden, womit sie sich zurück transportieren konnte. Sie musste hier weg, nie wieder wollte Rin dieses Krankenhaus von der mnemonischen Seite aus betrachten. Sie sah den Tresen, dahinter war das Schwesterzimmer und noch viel wichtiger: Ein Telefon. Bevor sie den Tresen allerdings umkreisen und hinter sich lassen konnte, stellte sich ihr etwas in den Weg: Sie stellte sich ihr in den Weg! Panisch machte Rin einen Satz nach hinten, damit hatte sie in der letzten Minute nicht gerechnet. Aber jetzt fiel ihr etwas auf: Ihr Körper war durchsichtig, die Füße mit den roten Pumps konnte man nicht einmal mehr sehen. War sie nun ein vollständiger Geist? „Bitte…“ bettelte Rin leise. „Bitte lass mich gehen, Makto und ich gehören nicht zusammen. Ich bin ein Mensch, er ist ein Geist. Ich kann ihn dir nicht wegnehmen, bitte versteh das doch.“ Sie hatte keine andere Entschuldigung, es war nicht mal eine; sie wusste ja nicht, wofür sie sich genau entschuldigen sollte. Es war nur die Wahrheit. Die andere schritt auf Rin langsam zu, machte keine Anstalten, ihr zu glauben, streckte nur verbissen die Hand nach ihr aus. Schluckend ließ Rin sie näher kommen, sie war nun ein Geist! In der realen Welt würde sie ihr nichts mehr antun können, sie musste nur noch an ihr vorbei. Der Geist packte und rüttelte sie, die Studentin wehrte sich gegen die Kraft, die sie festhielt. Und wie auch bei den anderen Geistern ließ die Frau in Rot sie los, verschwand aus ihrem Sichtfeld. Die Braunhaarige nutzte die Zeit, eilte zur Tür, wurde erneut angegriffen, indem man sie von der Tür weg zog. Vor lauter Angst und Panik begann ihr Herz zu rasen, schneller und schneller, nur schwer konnte sie sich von diesem Griff befreien. Einen weiteren Angriff würde sie vielleicht nicht überleben können, das Atmen fiel ihr so schwer, die Sicht war verschwommen und glühend rot. Hatte ihr letztes Stündlein geschlagen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)