Mnemonic Abyss von Mismar (She is calling my Name) ================================================================================ Kapitel 3: Afterlife -------------------- Nachdem das Handy sie auf die andere Seite geschickt hatte, wachte sie aus einen Ohnmacht ähnlichem Zustand wieder auf. Es hatte sie tatsächlich telepotiert, dort, wo sich das Handy befand, dem die gewählte Nummer gehörte. Ihr mobiles Telefon musste sie in der anderen Welt zurücklassen, wenn sich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten, würde sie in diese nicht mehr so schnell zurückkehren können. Anderseits stellte sie sich ohnehin die Frage, wie das Ganze nur möglich war: Sie hatte doch Reikos Geist besänftigt, den mnemonischen Abgrund dürfte es nicht mehr geben! Rin richtete sich auf, sie befand sich in dem Kunstraum des Schulgebäudes wieder. Nur dieses Mal war es die Umgebung, die durch die Vorstellung der drei verstorbenen Mädchen produziert wurde. Es war stockdunkel hier, sie tastete nach der Taschenlampe, die sich beim Sturz ausgeschaltet hatte. Aber bevor sie die Leuchte fand, entdeckte sie das Handy, welches sie in diese Welt gebracht hatte. Vielleicht fand sie auf dem Display Hinweise, das des Öfteren die Eigenschaften seines Besitzers widerspiegelte. „Das gruselige Handy…“ So hatte sie es damals auch tituliert, weil es eine comicartige Darstellung eines strangulierten Bäres zeigte. Beides hielt sie fest umklammert, jetzt, wo sie auf der mnemonischen Seite war, dachte sie nicht daran, eines der Geräte aus der Hand zu geben. Vermutlich waren die gepeinigten Seelen dieser Mädchen immer noch vor Ort und würden sie wieder durch das ganze Gebäude hetzen. Wieso war sie nicht einfach daheim geblieben? Die Tür öffnete sich mit einem schrillen Quietschen. Rins Atem stockte, sie befürchtete das Schlimmste. Doch ihr Herz machte einen freudigen Hüpfer, als sie die geisterhafte Erscheinung erkannte. „Makoto…?“ All ihre Hoffnungen waren umsonst gewesen. Wie stark hatte sie auf sein Überleben gehofft oder zumindest gedacht, er würde bei seiner Hartnäckigkeit einen Weg zurück finden. Der Geist von Makoto war anders als die anderen verstorbenen Seelen: Im Gegensatz zu ihnen verspürte er keine Art Rachegefühl, die er lebenden Menschen mitteilen wollte. Er trat einen Schritt auf sie zu, hatte bislang keine Worte gesprochen. So wie das Mädchen davor streckte auch er seinen Arm nach Rin aus, aber dieser glitt durch sie hindurch. Obwohl sie ihm in jeder Hinsicht vertraute, hatte ihr Herz rasant zu schlagen begonnen. Vielleicht war es üblich, dass es in der Gegenwart eines Geistes völlig überreagierte. Oder hatte ihr Herz aus anderen Gründen so heftig gepocht? Womöglich hatte sie sich im Inneren nach seinen Berührungen gesehnt, gewünscht, er könne sie doch berühren. Rin wollte seine warme Haut auf ihrer spüren, stattdessen konnte er nur Eisenskälte aussenden. Seine verzerrte Stimme meldete sich zu Wort: „Ich habe auf dich gewartet.“ Er wandte sich von ihr ab und wie auch bei dem ersten Treffen, nahm er auf einem der Stühle Platz, die am Tisch gerückt standen. Auch sie folgte dem ersten Treffen, daher setzte sie sich nicht hin, sondern brachte das Gespräch sofort ins Rollen: „Wie komme ich hier her… ich dachte, die mnemonische Seite würde nicht mehr existieren.“ Makotos Geist setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Sie hat immer existiert. Reiko Asagiri hat es nur geschafft, dass die Menschen im Diesseits mit den Geistern des Jenseits kommunizieren können.“ Hatte Makoto das davor schon gewusst oder ging er seiner Arbeit sogar nach dem Leben nach? Wahrscheinlich würde es ein längeres Gespräch werden, deswegen setzte sie sich ihm gegenüber. „Wieso hast du mich hierher geführt?“ Sicherlich hatte er sie nicht nur hergeholt, um ihr das zu sagen. Scheinbar steckte wesentlich mehr dahinter. Jetzt hatte sie sich umsonst gesetzt. Der Verleger setzte sich auf, ging an ihr vorbei. „Komm mit, ich werde es dir zeigen.“ „Was? Wohin?“ Obwohl er ihr darauf keine zufriedenstellende Antwort gab, eilte sie ihm hinterher. Jedes Mal, wenn sie seine verlorene Seele erreichte, löste sich diese im Nichts auf und tauchte paar Meter weiter vorne auf. Rin fühlte sich in seiner Gegenwart sicher, dennoch hatte sie ein schwerwiegendes Problem. „Was ist, wenn die drei Schülerinnen hier auftauchen?“ „Keine Sorge.“ Er dachte nicht daran, stehen zu bleiben und zu warten. „Sie wissen nicht, dass sie Geister sind. Daher leben sie ihren gewohnten Alltag.“ „Na super… zu deren Alltag gehörte auch das Tyrannisieren von Schülern…“ murmelte Rin relativ leise, weil sie den anderen auf gar keinen Fall verärgern wollte. Anderseits machte das Gesagte Sinn. „Aber wieso bist du dir sicher, dass du ein Geist bist?“ Sie erreichten den Computerraum. Makoto setzte seinen Weg zielstrebig fort, ging auf jenen PC zu, der auch in den vergangenen Tagen angeschaltet war. „Ich habe ein besseres Gespür für so etwas, weil ich mein halbes Leben übersinnlichen Kräften gewidmet habe.“ Er stoppte kurz, scheinbar war das nur eine Art Witz gewesen, denn auf seinem fast durchsichtigen Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab. „Ich bin mir nicht sicher, vielleicht weil mich ein Geist getötet hat.“ Rin beobachtete, wie er schnell tippend auf seiner eigenen Homepage forschte, auf der Suche nach dem Postfach des E-Mail-Bereichs. „Schau dir das an.“ bat er sie, rückte mit dem Stuhl ein Stückchen weiter weg, damit sie einen genauen Blick auf den Monitor werfen konnte. Seine E-Mails waren lustig an einer Pinnwand angeordnet, wurden von sämtlichen Briefen geschmückt. Am meisten traten rote Briefe zur Geltung und einer davon wurde angeklickt. Auf einem schmierigen Blatt konnte man ein gemaltes Auge sehen, ähnlich wie das Graffiti von vorhin. Daneben standen die Worte: „Ich habe dich gesehen.“ „Was hat das zu bedeuten?“ Makoto öffnete die restlichen roten Briefe. Auf einem der Zettel konnte man Makoto als Kindergartenzeichnung erkennen. Etwas Rotes berührte seinen Körper und die Worte „Wir bleiben für immer zusammen“ waren zu lesen. Rin verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Das… das klingt ja sehr verliebt.“ Hatte Makoto sie hierher geholt, nur um die Briefe seiner Freundin zu zeigen? Wie geschmack- und herzlos, sogar für einen Geist. „Verliebt? Wohl eher übertrieben.“ Er hatte sie nicht aus diesem Grund hierher geholt, deswegen öffnete er die nächsten Briefe: Dieses Mal waren sie nicht mit Herzchen versehen, sondern wirkten blutig, bestialisch, hasserfüllt. Diese Mitteilungen waren nicht an Makoto sondern an sie adressiert. „Er gehört mir!“ oder „Ich kann es nicht ertragen, dich bei ihm zu sehen!“ war in einer unleserlichen, verschmierten Schrift geschrieben. Manchmal konnte man eine schlecht gemalte Rin erkennen, die von einem roten Etwas erstochen wurde. Rin sog die Luft bei dieser Erkenntnis ein; jetzt hatte sie verstanden, was das alles zu bedeuten hatte. Diese Frau in Rot war eifersüchtig. Aber warum? Rin und Makoto existierten auf zwei unterschiedlichen Seiten, sie waren nicht in der Lage, zusammen zu kommen, selbst wenn sie es gewollt hätten. „Damals habe ich gedacht, sie sei ein weiteres Opfer von Reiko gewesen.“ Er legte wieder eine nachdenkliche Miene auf, so wie er es damals immer getan hatte. Unvorstellbar, aber dieser Mann hatte sich keineswegs verändert: Mit Leidenschaft ging er seinen Pflichten, seinem Job nach, wollte mehr über die gespensterhafte Seite wissen, an die ein Großteil der Menschen nicht glaubte. „Aber sie ist in der Lage, die Seiten jederzeit zu wechseln.“ „Was soll das heißen? Sie kann auf beiden Seiten gleichzeitig existieren?“ Der Gedanke, ein eifersüchtiger Geist würde sie sogar in ihrer Welt verfolgen, löste in ihr ein atypisches Gefühl aus. „Ganz einfach: Lebende und Tote existieren in einer Welt, jedoch ist sie in zwei Parallelen gespaltet. Die Menschen sind nicht in der Lage, die Toten zu sehen. Umgekehrt schon, aber sie haben nicht die Fähigkeit, Großes im Diesseits zu leisten.“ Sie existierten in einer Welt? War er vielleicht immer an ihrer Seite gewesen, auch vorhin, als das Mädchen sie angegriffen hatte? Als wenn er ihre Gedanken lesen könnte, wisperte er leise: „Ich war mir nicht sicher, ob du wirklich hierher kommen wirst; daher habe ich dich in der Schule gesucht. Erst als ich bemerkt habe, dass sie mich wieder verfolgt hat, war ich leider schon an deiner Seite. Scheinbar hat es in ihr einen Hass ausgelöst.“ Jetzt zeigte er ein siegessicheres Lächeln. „Ich habe die Nummer zu dem Handy betätigt, dass ich absichtlich am Treffpunkt liegen gelassen hatte.“ Rin bemerkte nicht, wie sie in seiner Gegenwart errötete. Erneut hatte er ihr das Leben gerettet, obwohl es mehr oder weniger sein Fehler war; warum mussten weibliche Geister ihn auch so anziehend finden? Aber sie würde ihn deswegen nicht bezichtigen, im Fall Reiko Asagiri war es immerhin ihre Schuld gewesen und trotzdem hatte er ihr bis zum bitteren Ende geholfen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)