A little bit lost without you. von Eleven (Denn dafür sind Geschwister doch da.) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Prolog KRACH. Erschrocken fuhr der Junge zusammen, als das laute Scheppern durch das durchschnittliche Einfamilienhaus drang. Neugierig, wie man nun mal mit zehn Jahren ist, brauchte er daher nicht lange, um die Quelle für das laute Geräusch zu finden. Inmitten von Scherben stand seine kleine Schwester, sechs Jahre alt, und besah sich verzweifelt die Überreste, des teuren Porzellangeschirrs, der Uroma. “Hey Zwerg, Mama hat doch gesagt du sollst damit nicht spielen”, gab er glucksend von sich und trat etwas näher heran. Ihre Mutter war in dem Punkt wirklich sehr penibel. Man durfte das Geschirr allerhöchstens von zwei Metern Sicherheitsabstand betrachten, mehr nicht. Dabei wusste der Junge natürlich, dass seine jüngere Schwester die hübsch verzierten Teller und Tassen trotzdem manchmal heimlich genommen hatte, um mit ihnen zu spielen. Warum, das hatte er nie ganz verstanden, aber okay, Mädchen waren ja eh immer ziemlich seltsam, die musste man gar nicht verstehen. “Nenn mich nicht Zwerg!”, jammerte sie und schaute ihn verbissen an. Vorsichtig hob sie einen Fuß und versuchte einen Schritt zu machen, zog ihn jedoch sofort wieder zurück, als eine der glitzernden Scherben ihre helle Haut durchschnitt. “Aua!” Mit noch verzweifelterer Miene legte sie sich beide Hände auf das Gesicht und begann leise zu schluchzen. Lautlos seufzte der Junge und ging weiter auf sie zu. “Warte, ich helfe dir.” Vorsichtig manövrierte er sich zwischen die Scherben hindurch, ohne sich dabei zu verletzten, so wie seine Schwester es zuvor getan hatte. Noch etwas lauter weinte das Mädchen, als er seine Arme um sie legte und dadurch versuchte sie zu trösten. So machte ein großer Bruder das nämlich. “Hey, jetzt hör auf zu weinen… so dolle kann das doch gar nicht wehtun”, gab er in sanftem Ton von sich, woraufhin Louisa leicht ihren Kopf schüttelte. Dabei schwangen ihre blonden Locken sanft hin und her. “Nein… a-aber ich werde riesigen Ärger von M-Mama bekommen, wenn sie das sieht. U-Und dann darf ich Morgen nicht auf Lauras Geburtstag”, stotterte sie weinerlich, wobei ihr Tränenfluss immer größer wurde, “John, was m-mach ich denn jetzt?” Zwei große blaue Kinderaugen schauten ihn hoffnungsvoll an. John war ihr großer Bruder, er wusste immer alles, also würde er doch sicherlich auch eine Lösung für dieses Problem finden, oder? “Ach das wird schon, hör’ erstmal auf zu weinen.” Kurzerhand hatte der Junge seine Schwester Huckepack genommen um sie aus den Scherben zu tragen. Louisa hatte nach seinen Worten wirklich aufhören können, zu weinen. Auch wenn sie dabei trotzdem ab und an noch ein leises Schniefen von sich hatte hören lassen. Als ihre Mutter nach Hause kam, von der Arbeit, schien sie fast an die Decke zu gehen, als sie ihren Sohn sah, mit Handfeger und Kehrschaufel, ihre Tochter, wie sie sich einen Fuß mit Taschentüchern umwickelte, und die Reste ihrer letzten materiellen Erinnerung an ihre Großmutter. Am nächsten Tag hatte Louisa trotzdem auf den Geburtstag ihrer Freundin gehen dürfen. Aber auch nur aus dem Grund, weil ihr Bruder für sie ins kalte Wasser gesprungen war, indem er gesagt hatte, er wäre das mit dem Geschirr gewesen. Drei Tage Hausarrest hatte er sich dafür eingehandelt, wobei er doch so unheimlich gerne mit seinen Freunden Zelten gegangen wäre. Trotzdem hatte er Stillschweigen bewahrt. Dafür waren große Brüder doch da. Oder? Kapitel 1: Seven years later. ----------------------------- Seven years later. “Aus dem Weg Zwerg, jetzt bin ich dran.” Ohne große Rücksicht drängelte John mich auf dem Sofa zur Seite, nahm mir die Fernbedienung aus der Hand und schaltete einfach um. “Hey! Ich wollte das sehen!”, protestierte ich, ohne jeglichen Erfolg. “Tja, Pech gehabt”, war seine Antwort, wobei man auch schon das laute Dröhnen von Motoren aus dem Fernseher hören konnte. Genervt seufzend erhob ich mich, verpasste ihm noch einen Tritt gegen sein Knie (welcher ihn mal so nebenbei bemerkt kaum zu interessieren schien) und verkrümelte mich in mein Zimmer. So und nicht anders lief es heute, sieben Jahre später, zwischen uns ab. Von diesem glänzenden Bruder-Schwester Verhältnis von damals war nicht mehr wirklich viel zu erkennen. Um genau zu sein sogar gar nichts. Grummelnd legte ich mich auf mein Bett. So ein Idiot. Der Typ hatte doch nen eigenen Fernseher in seinem Zimmer. Ich nicht. Warum musste er dann also den im Wohnzimmer in Beschlag nehmen? Seit diesen sieben Jahren hatte sich bei uns wirklich viel verändert. Wirklich sehr, sehr viel, wenn ihr versteht was ich meine. Es fing bei so ganz kleinen Dingen an. Damals hatte ich einen eigenen Fernseher gehabt, aber seit meine Eltern sich getrennt hatten war das nicht mehr so. Wir wohnten auch nicht mehr in diesem schicken Haus, mit dem kleinen Garten und der Schaukel. Stattdessen nannten wir diese winzige Wohnung in dem Mehrfamilienhaus, die viel zu klein war, unser Zuhause. Meine Mutter war fast nur noch am Arbeiten. Und wenn sie dann mal Zuhause war, hatte sie eigentlich immer schlechte Laune. Aber ich nahm ihr das nicht übel. Schließlich hatte sie sich sicherlich auch etwas Schöneres für ihr Leben vorstellen können. Von unserem Vater hörten Jonathan und ich kaum noch etwas -wobei mein Bruder aber definitiv mehr Kontakt zu ihm hatte, als ich. Das lag wahrscheinlich daran, dass John immer zu ihm ging, wenn er mal Streit mit unserer Mutter hatte. Und Gott, dass war bei uns fast schon so täglich wie die schlechten Noten, die ich nach Hause brachte. Erneut seufzend drehte ich mich auf den Rücken und starrte meine kahle Decke an. Dabei verschränkte ich meine Arme hinter dem Kopf und versuchte mich daran zu erinnern, wie das alles gekommen war. Damals war wirklich alles viel besser gewesen. Eine glückliche Vorzeigefamilie, ohne Probleme. Mutter, Vater, ein Sohn und eine Tochter. Alle meine Freundinnen hatten immer Probleme mit ihren Geschwistern gehabt, bei Jonathan und mir war das nicht so gewesen. Irgendwie hatten wir uns immer ziemlich gut leiden können. Er war damals so eine Art Vorbild für mich gewesen. Ich hatte gedacht, wenn er bei mir ist, dann kann mir nichts passieren. Und es war ja auch immer so gewesen. Wie oft hatte er sich eine Schlinge um den Hals gelegt (natürlich im übertragenen Sinne) nur um mir aus der Patsche zu helfen? Ich weis noch genau, als er einmal diesen dicken Jungen von nebenan für mich verprügelt hatte, weil dieser mich wegen meiner blonden Zöpfe ausgelacht hatte. Ja, ich bin mir ziemlich sicher, behaupten zu können, dass wir wirklich gut miteinander ausgekommen sind. Und heute… heute war alles anders. Ich hatte zum Beispiel keine blonden Haare mehr. Genauso wie bei John sind meine Haare als ich etwa neun war dunkler geworden, jetzt waren sie Braun. Ein langweiliges Hellbraun, das niemandem auffiel. Johns Haare waren Pechschwarz. Aber nicht weil sie mit der Zeit noch dunkler als ohnehin schon geworden sind, sondern weil er sie sich so färbte. Meine Mutter mochte es nicht, ganz im Gegenteil, sie hasste es. Sie mochte es auch nicht, dass er sich diesen Piercing hatte stechen lassen. Dieser kleine, silberne Ring, rechts an seiner Unterlippe. Es gab generell viele Dinge, die sie an ihm nicht ausstehen konnte, aber es wäre sicherlich zu viel, das hier alles aufzuzählen. Außerdem wollte ich ja eigentlich auf etwas ganz anderes hinaus. Ich denke diese ganzen Veränderungen fingen damit an, als sich unsere Eltern getrennt haben. Ich bin zu dem Zeitpunkt elf gewesen, John wurde drei Tage später sechzehn. Angeblich sollte unser Vater ein Verhältnis mit seiner Sekretärin gehabt haben, wobei es nie wirkliche Beweise dafür gab. Meine Mutter ist damals ziemlich traurig und auch wütend gewesen. Die beiden haben sich dann an einem Abend richtig heftig gestritten und dann… dann ist mein Vater in sein Auto gestiegen und gefahren. Drei Monate lang haben wir nichts von ihm gehört, obwohl ich mitbekommen habe, dass Jonathan heimlich mit ihm telefoniert hat. Naja, ab da an ist es das dann auf jeden Fall gewesen, mit der glücklichen Vorzeigefamilie. Für mich ist das alles ziemlich schlimm gewesen. Ich hatte nicht verstehen können, weshalb sich meine Eltern plötzlich nicht mehr liebten, schließlich waren sie doch Mama und Papa, die beiden gehörten für mich zusammen wie Apfelmus und Pfannkuchen. Aber ich denke so geht es jedem Kind, dass die Scheidung seiner Eltern mitbekommen muss. Meine Mutter hatte damals wirklich sehr versucht mich zu trösten, es mir irgendwie zu erklären, aber sie ist selbst zu traurig gewesen, als dass es irgendwas hätte bringen können. Das wäre vielleicht ein Moment gewesen, wo ich meinen Bruder mehr denn je gebraucht hätte. Einen großen Bruder, der für mich da ist und mich vor der großen, bösen Realität beschützt, so wie er es immer getan hatte… Aber so ist es nicht gewesen. Ich verstand heute noch nicht, wie er so locker damit hatte umgehen können. Die Scheidung war an Jonathan vorbei gegangen wie nichts. Es interessierte ihn gar nicht, zumindest machte es nicht den Eindruck danach. Ich weis noch wie ich weinend zu ihm gerannt war, ihn umarmt und so was wie ‘Mama und Papa lieben sich nicht mehr, John’ gewimmert hatte. Er ist daraufhin richtig kühl und abweisend gewesen. Hatte mich von sich gedrückt und geantwortet ‘Hör auf zu flenn, wie ein kleines Baby. Es ist mir egal ob die beiden sich nicht mehr lieben, das geht uns nichts an.’ Ich habe mich in diesem Moment ziemlich alleine gefühlt. Das war das erste Mal gewesen, wo ich wohl gemerkt habe, dass John sich anders benimmt… In der Zeit nach der Scheidung war mit Mama und mir nicht viel anzufangen. Ich habe mich ziemlich in der Schule verschlechtert, was ich bis jetzt noch nicht wieder hatte aufholen können. John hingegen ist weiterhin recht gut in der Schule gewesen, aber ansonsten… War er wie ausgewechselt. Wenn er mich weinen gesehen hat, dann hat er so getan, als wäre ich Luft. Wenn ich ihn etwas gefragt habe, ist er plötzlich gemein gewesen, hat mich bei jeder Gelegenheit aufgezogen und mich vor seinen neuen Freunden bloßgestellt, als Baby und Heulsuse. Manchmal habe ich versucht mich damit abzufinden, habe gedacht ’Naja, das ist doch ganz normal. Das ist zwischen Geschwistern so’, aber in wirklich habe ich mich immer gefragt, warum nicht wieder alles so sein konnte wie damals. Damit meine ich nicht die Scheidung meiner Eltern, meine blonden Haare, meinen eigenen Fernseher, unser hübsches Haus… mit den ganzen Dingen habe ich mich lenkst abgefunden. Viel mehr meine ich die Umgehensweise zwischen Jonathan und mir. Klar, es war jetzt schon ne Weile her, seit das Alles zur Vergangenheit gehörte, und ich hatte gelernt damit zu leben, aber trotzdem machte es mich immer wieder traurig, wenn er so gemein zu mir war. Er war doch mein Bruder… Kapitel 2: Seven years later. II -------------------------------- Seven years later. II “Ähm, Louisa? Isst du das da noch?” Gedankenverloren hob ich meinen Kopf und schaute in die hübschen, braunen Augen von Laura, welche schüchtern mit ihrem Zeigefinger auf mein Sandwich deutete. “Äh… was? Achso, nein du kannst es ruhig haben”, war meine eher träge Antwort, woraufhin ich mein Gesicht gelangweilt zur Seite drehte. Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, wie sie sich breit lächelnd das Toast schnappte und davon abbiss. Mittlerweile waren Laura und ich beste Freundinnen. Und es war bei uns eigentlich schon Gang und gebe, dass sie immer die zweite Hälfte von meinem Pausenbrot bekam. Sie meinte einmal zu mir, es würde viel besser schmecken, als das, was ihre Eltern ihr mitgäben. Natürlich habe ich ihr erzählt, dass meine Mutter mir immer mein Brot für die Schule schmiert. Eigentlich machte ich es aber alleine, meine Mutter war morgens immer schon früh weg, da dachte sie nicht an so was. Aber das war in Ordnung so, wirklich. Ich weis nicht mal warum ich meiner besten Freundin erzählt habe, meine Mutter würde mir mein Brot machen. Wahrscheinlich weil ich es einfach nicht gerne hatte, wenn andere dann versuchten Mitleid zu zeigen. Ich war nicht bemitleidenswert, es ging mir gut. Nur weil mein Leben vielleicht etwas anders aussah, war ich doch nicht gleich ein ‘armes Würstchen‘, dass mehr Liebe als andere benötigte, oder? Ich konnte es mir nicht verkneifen leise zu seufzen, als mir so was durch den Kopf schoss. Im selben Moment hörte ich wie neben mir ein Tablett abgestellt wurde, und kurz darauf auch rechts gegenüber von mir, also neben Laura. Ich musste meinen Kopf nicht drehen um zu wissen, dass es Lina und Ellen waren. Ebenfalls Freundinnen von Laura und mir. “Oh Gott, Louisa! Du hast ja so was von Glück, ehrlich!”, platzte es geradezu aus Lina heraus, als sie mich schwermütig lächelnd ansah. Fragend hob ich eine Augenbraue. Ich und Glück? Das wäre mir wirklich neu. “Ich wär’ ja so was von glücklich, wenn ich die Schwester von Jooni wär, ehrlich…”, seufzte sie fast schon schwärmerisch. Jooni. Jonathan mochte es nicht, wenn man ihn bei seinem richtigen Namen nannte, er fand ihn grässlich, wie er immer sagte. Daher nannten ihn alle seine Freund einfach Jooni. Ich persönlich fand ja, dass sich das absolut bescheuert anhörte, aber okay, jedem das Seine… Trotzdem fragte ich mich immer wieder, warum dann auch meine Freundinnen ihn bei diesem bescheuerten Spitznamen nannten. Ich für meinen Teil tat es nicht. “Ja! Ich auch… ich meine, du kannst so oft bei ihm sein… bestimmt hast du ihn schon mal nur in Boxershorts gesehen, oder?!”, gab nun auch Ellen angeregt von sich, wobei beide ein schrilles und überdrehtes Quietschen von sich hören ließen. Laura -und ich war ja so was von froh darüber- war glücklicherweise nicht absolut hin und weg von meinem Bruder. Dabei schien sie aber irgendwie auch ziemlich die Einzige zu sein, was recht deprimierend war. Genervt verdrehte ich die Augen. “Ja, aber wie ihr ja bereits festgestellt habt, ich bin seine Schwester. Von daher kann es mir egal sein, ob ich viel bei ihm bin, was nur mal so nebenbei bemerkt nicht einmal der Fall ist. Und genauso interessiert es mich nicht, wenn er nur in Boxershorts rum rennt. Wir sind Geschwister.” Irgendwie ignorierten die beiden meine klare Aussage, quietschten nur noch mehr als sie meinen vorletzten Satz anscheinend als Bestätigung deuteten und spekulierten wild umher, welche Farbe er wohl für seine Unterwäsche am liebsten hatte. Lediglich der aufmunternde Blick von Laura brachte mich dazu, die beiden einfach nicht allzu ernst zu nehmen. Es war nicht sonderlich außergewöhnlich, dass ich solche Gespräche über Jonathan mitbekommen musste. Er war ziemlich beliebt an unserer Schule, ganz im Gegensatz zu mir. Wieder etwas, mit dem ich vollkommen klar kam. Ich musste nicht so wie er ständig im Mittelpunkt stehen. Mir reichten meine paar bekloppten Freunde. Auch wenn sie solche Gespräche ruhig ausdiskutieren dürften, wenn ich nicht dabei war, oder wenn ich mir vorher Ohrenstöpsel besorgen könnte. Der Grund dafür, dass John so beliebt war… Naja es gab viele Gründe. Er sah nicht schlecht aus, das konnte sogar ich sagen, auch wenn ich nur die kleine Schwester war. Er war gut in der Schule, wirklich gut um ehrlich zu sein. Außerdem brachte man ihn gerne mit dem Begriff ‘cool’ in Verbindung. Und das war sogar fast ein Punkt, um den ich ihn ein wenig beneidete. Denn ja, er war cool. Verdammt cool, sogar. Einfach alles an ihm, sein Gehabe, sein Leben, sein Style… Eigentlich jedes Wochenende war er mit seinen Freunden unterwegs, feiern, was auch immer. Natürlich wusste unsere Mutter dabei nie wirklich etwas von dem, was er da so trieb. Ich wusste, dass er rauchte, dass er Alkohol trank. Und auch wenn das Dinge sind, die meiner Meinung nach überflüssig waren, es machte ihn irgendwie… cool. Es war nicht schwer darüber in Kenntnis zu sein, schließlich war er -wie ja bereits schon erwähnt- recht oft Gesprächsthema an unserer Schule. Damals, also als noch alles in Ordnung gewesen ist, hätte ich nie gedacht, dass er mal so jemand werden würde. Ein rebellischer Teenager, der sein eigenes Leben lebte, ohne seine Familie. Ich war immer davon ausgegangen, zwischen uns würde sich nichts verändern. Aber na ja, jeder irrt sich mal… Andererseits fand ich seine Art aber auch bescheuert. Natürlich habe ich unserer Mutter nie davon erzählt, wie viele blonde Busenwunder schon heimlich durch unsere Haustür verschwunden sind, nachdem mein werter Herr Bruder die ganze Nacht durchgemacht hatte. Auch wenn das wirklich mal eine nette Art und Weise gewesen wäre, mich bei ihm für die ganzen Schikanen zu bedanken. Ich denke, nein, ich war mir ziemlich sicher, er hielt mich für eine nervige, kleine Schwester, die ihm das Leben zur Hölle machen wollte, wo sie nur konnte. Damals hatte ich nie dieses Gefühl gehabt. Aber das habe ich ja schon oft genug betont. Dabei musste ich zugeben, dass auch ich mich mittlerweile verändert hatte. Je gemeiner und abweisender er zu mir wurde, desto mehr habe ich dieses Verhalten erwidert. Ständig stritten wir wegen winzigen Nichtigkeiten. Ich war frech zu ihm, er fies zu mir. Es war ein Nehmen und Geben, wie damals. Nur komplett umgekehrt halt. “… da drüben kommt Jooni.” Als ich erneut den Namen hörte, und diesmal als Lauras Mund, hob ich erneut meinen Kopf und löste somit den Blick von dem öden Cafeteriatisch. Gerade noch rechtzeitig um mitzubekommen, wie mein Bruder mit ein paar seiner Freunde an uns vorbei ging. Ich hörte, wie ein Kerl mit feuerroten Haaren so was murmelte wie ‘ist das nicht deine kleine Schwester?’. Daraufhin drehte John nur leicht seinen Kopf, schenkte mir einen kühlen Blick und grinste dann auf eine Art und Weise, die mich wissen ließ, dass ich wohl gerade besser dran wäre, säße ich ganz, ganz weit weg. Ehe ich irgendwie reagieren konnte verpasste er meinem Hinterkopf einen kleinen Stoß, wobei ich mit der Stirn auf die eben noch von mir angestarrte Tischplatte klatschte und man ein dumpfes ‘Klonk’ hörte. “Hahaha, ziemlich hohl, würd’ ich mal sagen”, gab er amüsiert von sich, woraufhin seine ach-so-tollen Freunde in sein Gelächter einstimmten und auch schon weiter gingen. Wütend schaute ich ihm nach. Ich hasste es, wenn er mich in der Öffentlichkeit so bloßstellte. Damals war es umgekehrt, da hatte er mich vor solchen Leuten beschützt. Jetzt war er es, vor dem ich Schutz bräuchte. Kapitel 3: A rainy Day. ----------------------- A rainy Day. So ging es eigentlich die ganze Zeit weiter, mehrere Wochen, Monate… John wurde in dieser Zeit 18. Und am Nachmittag, nach seiner Fete, kam er mit einem schicken, schwarzen Auto bei uns zuhause an. Mama und ich hatten nicht einmal mitbekommen, dass er seinen Führerschein gemacht hatte. Diesen, und auch das Auto, hatte ihm unser Vater zum Geburtstag geschenkt, wie wir dann mitgeteilt bekamen. Ich fragte mich, ob ich zu meinem 18. Geburtstag wohl auch einen Führerschein und ein Auto bekommen würde. Jedoch zweifelte ich daran. Jonathan hatte eindeutig mehr Kontakt zu unserem Vater als ich… Auf jeden Fall hatte ich mich eigentlich lenkst damit abgefunden, dass mein Leben also so aussah, wie es nun aussah. Dass es sich nicht mehr groß ändern würde, vor allem auch, dass John und ich uns nun so gut verstanden, wie die meisten anderen Geschwister. Nämlich gar nicht. Jedoch wusste ich da noch nicht, was noch alles passieren sollte… Es war ein relativ normaler Nachmittag. Zumindest aus meiner Sicht. Vor ein paar Jahren noch hätte ich es als schrecklich empfunden. Klar, auch jetzt fand ich es nicht sonderlich prickelnd, aber ich konnte ja auch nicht wirklich etwas dagegen unternehmen. Ich meine damit nicht, dass meine Mutter wie immer arbeiten war. Dass unser Vater nicht mehr hier wohnte. Dass diese Wohnung eindeutig zu klein war, blah, blah, blah… Ich meine mit schrecklich, wie John und ich uns benahmen. Es hat beim Essen angefangen, als er mir nichts übrig gelassen hat, dabei weis ich ganz genau, dass er nie so viel isst. Und er weis es auch. Dann haben wir uns, wie schon so oft, über das Fernsehprogramm gestritten. Diesmal schien es für mich besser zu laufen, denn mit der Fernbedienung in der Hand habe ich mich im Bad eingesperrt, sodass er nach wenigen Minuten aufgegeben hat. “Ich hau ab”, gab er nur noch wütend von sich. Vorsichtig steckte ich den Kopf aus der Tür und schaute ihn fragend an. “Wohin denn?”, war meine neugierige Frage. “Das geht dich nichts an.” “Zu René?” Jeder wusste, dass René Jonathans bester Freund war. “Ich hab gesagt das geht dich nichts an, Zwerg!” Empört ließ ich die Schultern hängen, schlüpfte nun ganz aus dem Bad und schaute ihn mit großen Augen an. Damals hatte das immer Wunder gewirkt, jetzt ignorierte mein Bruder diesen Blick, oder machte sich noch darüber lustig. “Darf ich mitkommen?” Für diese Frage handelte ich mir einen entgeisterten Blick ein, kurz darauf zeigte John mir den Vogel. Natürlich, was hatte ich auch erwartet? Schließlich war ich ja nur die kleine, blöde Schwester… aber vielleicht würde ich ja auch gerne mal was erleben, anstatt alleine zuhause rumzuhocken. “Bitte! Lass mich mitkommen, ich werd auch ganz still sein!”, quengelte ich also los und stellte mich vor die Haustür, damit er nicht raus konnte, bevor er einwilligen würde, mich mitzunehmen. “Mach doch was mit deinen eigenen Freunden!”, gab er genervt von sich, und versuchte mich von der Tür wegzuziehen. Krampfhaft hielt ich mich daran fest. “Wir machen aber nie so coole Sachen, wie ihr!” Kurz hielt er inne, ehe er mich böse anfunkelte. Ich machte mich schon auf irgendwas Schlimmes gefasst, als plötzlich sein Handy anfing laute Basstöne von sich zu geben. Immer noch ziemlich geladen ließ er also von mir ab und hielt sich das Ding an sein Ohr. “Ja?”, grummelte er los, fixierte mich aber immer noch auf bedrohliche Art und Weise mit seinem Blick. Innerlich begann ich schon zu beten, dass das Telefonat hoffentlich eine halbe Ewigkeit dauern, und er sich etwas beruhigen würde. Jedoch wurden meine Gedanken schnell auf etwas anderes aufmerksam gemacht. Johns Blick veränderte sich mit einem Schlag ganz fürchterlich. Zum ersten Mal, seit der Zeit vor der Scheidung, konnte ich in seinem Blick so was wie Erschrockenheit und Besorgnis sehen. Ich verstand kaum etwas von dem, was Jonathan und der jenige an der anderen Leitung besprachen. Das einzige was mein Bruder von sich hören ließ war ab und an ein ‘okay’ oder ‘ja’. Seinem Tonfall nach zu urteilen hätte er wohl am Liebsten gar nicht geantwortet. Dieser Ausdruck in seinem Gesicht, welcher mich selbst ziemlich verunsicherte, schien dabei nicht mehr verschwinden zu wollen. Generell wirkte seine Gesichtsfarbe blasser als sonst und von dem eben noch anhaltenden Zorn war keine Spur mehr zu erkennen. Es dauerte nicht lange, bis er das Handy wieder sinken ließ und abwesend die Wand neben meinem Kopf anstarrte. Neugierig über das, was er wohl gerade gesagt bekommen hatte, legte ich meinen Kopf schräg und schaute ihn fragend an. “Wer war das?” Erst dachte ich, es würde nichts passieren, da er keinerlei Anstalten machte, sich in irgend einer Weise zu regen, dann jedoch wanderte sein Blick langsam in mein Gesicht und wechselte immer wieder zwischen meinen Augen hin und her, bis er endlich den Mund aufmachte. “Zieh dir deine Jacke an, wir müssen zum Krankenhaus.” Im selben Moment noch verschwand dieser seltsame Ausdruck aus seinem Gesicht und die gewohnte Ausdruckslosigkeit, gemischt mit Kälte kehrte zurück, wobei er seine Lippen leicht aufeinander presste. Ich bewegte mich kein Stück. Ich wollte mich fragen, warum wir zum Krankenhaus sollten. Aber mein Kopf wollte nicht funktionieren. Er war leer, genauso, wie der Gesichtsausdruck meines Bruders bis vor Kurzem. Ich hätte damit gerechnet, dass er mich wieder anfahren würde, nach dem Motto, ich solle mich nicht dümmer geben, als ich wäre und endlich das tun, was er mir gesagt habe. Aber nichts dergleichen passierte. Stattdessen -und das warf mich innerlich tatsächlich sehr aus der Bahn, noch mehr als dieser Satz von ihm eben- seufzte er leicht, ging zu dem Garderobenständer und nahm meine quietschgelbe Regenjacke. Ohne einen Widerstand meinerseits ließ ich sie mir von ihm anziehen. Die erste wirklich geschwisterliche Geste von ihm, welche ich seit der Scheidung hatte erleben dürfen. Mit immer noch großen Augen schaute ich ihn an. “Warum… müssen wir ins Krankenhaus?”, murmelte ich mit so dünner Stimme, dass ich selbst kaum geglaubt hätte, dass sie von mir kam. Entweder bildete ich mir es ein, oder es war tatsächlich Absicht, dass er mir nicht ins Gesicht schaute, als sein Blick noch etwas bitterer wurde. “Mama. Sie hatte einen Autounfall.” Jonathan wartete gar nicht erst darauf, dass von mir eine Antwort kam. Vielleicht war es auch ganz gut so, denn ich fühlte mich eh nicht so ganz im Stande etwas zu tun. Ich wusste nicht genau was in John vor sich ging, auf jeden Fall veränderte es ihn auf irgend eine Art und Weise… Sanft aber bestimmend schob er mich zur Seite, da ich mich immer noch vor der Haustür befand. Dann nahm er meine Hand und zog mich mit sich. Erst jetzt, wo wir in Johns schwarzes Auto einstiegen, wusste ich, warum er mir meine Regenjacke angezogen hatte. Irgendwie hatte ich gar nicht mitbekommen, dass es angefangen hatte zu regnen, während wir drinnen gewesen waren. Die dicken Regentropfen prasselten gegen die Frontscheibe vor uns und bewirkten, dass ich mich so langsam wieder beruhigte. Naja, beziehungsweise, dass ich langsam wieder normal zu werden schien, und aus dieser Starre erwachte. Das war das erste Mal, dass ich bei Jonathan im Auto saß. Generell, dass ich bei meinem Bruder mitfuhr. Und auch wenn ich es nicht gedacht hätte, John fuhr ziemlich gut. Nicht zu schnell, aber dennoch schnell genug, dass man nicht von langsam sprechen konnte. Wie ein Schatten wand sein Auto sich um die Kurven, ohne groß Aufsehen zu erwecken. Aber auch wenn seine Fahrweise sehr beruhigend zu wirken schien, konnte ich deutlich spüren, wie Anspannung von ihm ausging. Seine beiden Hände klammerten sich geradezu an das Lenkrad, ich konnte seine Knöchel weiß hervortreten sehen, sein Blick war stur nach vorne gerichtet und dennoch schien er mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Ich kannte den direkten Weg zum Krankenhaus nicht, ich war ihn noch nie gefahren, schließlich hatte es auch bislang noch nie einen Grund dazu gegeben. Ich wusste nur, dass wir in die nächste Stadt dazu mussten, bei uns gab es kein Krankenhaus. Stumm schaute ich aus dem Fenster, ließ meinen Blick kurz nach oben, zu dem dunklen Himmel schweifen und dann wieder zurück. Unzählige, dicke Bäume flogen an uns vorbei. Eigentlich machten Wälder mir angst, besonders bei solch einem Wetter. Das lag bestimmt daran, dass ich mir damals immer zusammen mit meinem Bruder heimlich irgendwelche Horrorfilme angesehen habe. Es hat wirklich immer riesigen Spaß gemacht, wenn wir gerätselt haben, welche Person man aus dem Film wohl sein könnte. Meistens war John dabei immer der jenige gewesen, der sich für alle geopfert hatte und irgendwie den Helden darstellte, wobei er dann in letzter Minute doch noch gestorben war. Ich durfte dann immer denjenigen abgeben, der mitbekommen musste, wie alle auf grausame Art und Weise starben, psychisch total am Ende war und dann ganz zum Schluss ebenfalls noch umkam. Eigentlich irgendwie traurig wenn man mal so darüber nachdachte… dennoch wurden meine Gedanken abgelenkt, als ich ein seltsames Geräusch hörte. Verwirrt drehte ich den Kopf und schaute zu Jonathan, welcher aber anscheinend genauso unwissend zu sein schien, wie ich. Keine sechzig Sekunden später blieb das Auto mit einem leisen Würgen stehen. Mehrmals versuchte John es erneut anzulassen -ohne Erfolg. Vollkommen alleine, bei Wind und Wetter, befanden wir uns in diesem düsteren Wald. “Verdammt…”, zischte mein Bruder und ließ seine Wut an dem Auto aus, indem er mit der geballten Faust gegen das Lenkrad schlug und das Gefährt ein kurzes Hupen von sich hören ließ, “warte hier, ich bin gleich wieder da.” Im nächsten Moment schon hatte er seine Tür geöffnet und trat nach draußen. Angenehm kühler Wind schlug mir ganz kurz entgegen, als die Tür auch schon wieder geschlossen, und John nur noch eine verschwommene Silhouette war. Immer wieder mal hörte man ein Fluchen von draußen, wobei er anscheinend versuchte den Schaden an seinem Auto zu finden und ihn dann gegebenenfalls zu beheben. Nach eine ganzen Weile schon hatte ich aufgehört zu schätzen, wie lange er nun wohl schon da draußen war. Fast wäre ich durch das gleichmäßige Prasseln eingeschlafen. Doch als ich erneut das laute Geräusch der Autotür hörte, schreckte ich auf. Runde Wassertropfen perlten von Jonathans schwarzen Haarspitzen, nachdem er sich wieder gesetzt und die Stirn gegen das Lenkrad gelehnt hatte. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck dadurch nicht sehen. Aber es verunsicherte mich, dass er nichts tat. Man musste kein Genie sein, um zu wissen, dass er es wohl nicht geschafft hatte. “John? Was machen wir jetzt?”, fragte ich in dieser quietschigen Mädchenstimme. Ich wusste dass er immer einen Ausweg parat hatte. Denn auch wenn es seit Langem nicht mehr so gut zwischen uns aussah, war er dennoch immer noch mein großer, allwissender Bruder. Das hatte sich nie geändert, keine Minute lang. Und auch wenn er noch so gemein zu mir gewesen war… ich hätte niemals sagen können, ich würde ihn nicht mehr mögen, oder ihn weniger toll finden, als damals, wo noch alles in Ordnung gewesen ist. Zu meinem Entsetzen und großen Erstaunen, schüttelte er leicht den Kopf, ohne ihn vom Lenkrad zu heben. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich von meinem Bruder Ratlosigkeit erfuhr. Bis eben hatte ich ja nicht mal gedacht, dass das überhaupt möglich war. Ohne etwas zu sagen starrte ich ihn an, während das einzige Geräusch, welches die Stille durchbrach, noch immer der prasselnde Regen an den Scheiben war. Eine ganze Weile saßen wir so da, es kam mir vor wie eine halbe Ewigkeit, auch wenn es sicherlich nur ein paar Minuten gewesen waren. Langsam hob Jonathan seinen Kopf an, drehte ihn in meine Richtung und verzog sein Gesicht zu einem traurigen Lächeln. Ich konnte deutlich sehen, dass er eben, als ich sein Gesicht nicht hatte erkennen können, geweint hatte. John! Mein großer Bruder, der doch immer allem trotzte, der so cool war, dass meine Freundinnen ihn anscheinend manchmal mehr mochten, als mich. Entsetzt schaute ich ihn an, während dieses mehr als deprimierende Lächeln seinerseits eine Gänsehaut in meinen Armen verursachte. “Ich hab wohl ziemlich versagt, als großer Bruder, hm?” Immer noch brachte ich kein Wort raus. Sein Tonfall klang so schrecklich anders, als sonst. Er klang… plötzlich wieder nach dem Bruder, welchen ich vor ein paar Jahren verloren habe. Obwohl ich mir nun ziemlich sicher war, dass er nie wirklich weggewesen ist. Er wurde nur weggesperrt… hinter dieser kühlen und undurchdringbaren Maske. Ich konnte ein lautes Aufschluchzen nicht unterdrücken. So lange hatte ich gehofft, er würde mir irgendein Zeichen darauf geben, dass er mich noch immer als kleine Schwester duldete, mich irgendwie gern hatte, sich um mich sorgte, was auch immer. Und jedes Mal bin ich schrecklich enttäuscht worden. Und jetzt, ausgerechnet jetzt, wo unsere Mutter einen Unfall hatte und wir hier, in diesem kleinen Auto mitten im Wald festsaßen, da… da überwältigte er mich mit so einem unbedeutend scheinenden Satz, als wäre das das Normalste von Welt. Langsam verschwamm meine Sicht, als ich deutlich die ersten Tränen in meinen Augen aufsteigen spüren konnte. Zwar hatte ich es nie sonderlich gezeigt, noch zugegeben, aber dass John sich mir gegenüber so reserviert benahm, hatte mich doch reichlich mitgenommen. Ohne zu zögern schnallte ich mich ab und sprang ihm geradezu in die Arme. Vielleicht war dies nicht unbedingt der richtige Platz dafür, denn die Kupplung drückte schmerzlich gegen mein Knie und ich hatte generell ein wenig Probleme damit, mich einigermaßen aufrecht zu erhalten. Dennoch konnte ich gerade nicht anders, als meinen Bruder zu umarmen. Ich wollte nicht, dass er wieder ‘ging’ und mich alleine ließ. Wenigstens für diesen einen Moment wollte ich egoistisch sein, das war doch vollkommen in Ordnung, oder? “Wo bist du die ganze Zeit gewesen?”, schluchzte ich weinerlich gegen seine Brust und war mehr als froh darüber, dass er mich nicht abwies, sondern die stürmische Umarmung erwiderte. Das hier musste sich wirklich recht wirr anhören, dennoch schien er genau zu verstehen, was ich damit meinte. “Tut mir Leid…”, war seine dünne Antwort, welche mich dazu drängte, mich doch wieder von ihm zu lösen du ihm besorgt ins Gesicht zu schauen. Seine Stimme war ganz heiser, man konnte sehen, dass er versuchte es zu unterdrücken, doch noch immer rannen winzige Tränen über seine Wangen. All die Emotionen, welche er die ganze Zeit versteckt oder weggesperrt hatte, schienen genau in diesem Moment auf ihn zurückzukommen. “Warum…-” Ich wusste nicht, wie ich es sagen sollte. Seit der Scheidung unserer Eltern hatten es mir so viele Fragen schwer gemacht, klar zu denken. Vor allem aber hatte ich einfach wissen wollen, was der Grund für seinen plötzlichen Persönlichkeitsumschwung gewesen war. Und wieder legte sich dieses niedergeschlagene Lächeln auf seine Lippen, als er sanft den Kopf schüttelnde und sich die salzigen Tränen von den Wangen wischte. “Ich denke… ich hatte einfach Angst. Weist du, ich bin gar nicht so stark, wie ich immer getan habe…”, begann er, wobei ich unendlich froh darüber war, dass er sofort zu wissen schien, was in mir vor sich ging. Trotzdem machten mir seine Worte Sorgen. Was meinte er damit? Angestrengt dachte ich, was der Sinn dieser Aussage sein könnte, kam am Anfang allen Übels an und antwortete dann mit immer noch dünner Stimme. “Meinst du… die Scheidung?” Vorsichtig nickte er, und ein kurzer Stich in meinem Herzen ließ die Erkenntnis in mir aufkommen, wie blind wir alle gewesen sind. John hatte die Trennung unserer Eltern nie locker hingenommen. Er hatte selbst schwer damit zu kämpfen gehabt, vielleicht sogar mehr als ich. Aber warum hatte er sich unserer Mutter und mir dann nicht geöffnet? Gerade wollte ich meinen Mund wieder aufmachen, als er mich unterbrach. “Naja, ich bin doch dein großer Bruder… der, der immer stark ist, der nie Angst vor etwas hat. Ich glaube, ich wollte deswegen einfach nicht zugeben, dass auch ich verwundbar bin. Ich wollte dir zeigen, dass es keinen Grund gibt, sich Sorgen zu machen… dabei muss sich der Frust irgendwie in mir angestaut haben..”, gab er zu. Und ich war mir ziemlich sicher, dass es eine unheimlich große Überwindung für ihn gewesen sein musste. Trotzdem war ich mir genauso sicher, dass das noch lange nicht alles gewesen sein konnte. Immer noch schwirrten so schrecklich viele Fragen in meinem Kopf umher, und Jonathan schien das zu wissen. Kurz holte er tief Luft, ehe er seinen Blick abschweifen ließ und auf die nasse Straße vor uns richtete. “Ich dachte es wäre gut, wenn ich weiterhin so tue, als wäre alles in Ordnung. Dabei hab ich gemerkt, dass es aber nicht ging. Also bin ich feiern gegangen, um den ganzen Stress einfach zu vergessen, wenigstens für ein paar Stunden. Es war echt erstaunlich wie gut ich mich dann immer gefühlt habe… eines hat zum Anderen geführt, also fing ich an mit dem Rauchen und… Naja, du weist was ich meine.” Vorsichtig nickte ich. “Aber warum hast du mich dann nicht mehr lieb gehabt?” Kurz schaute er mich aus großen Augen an, ehe er wieder lächelte und mich erneut in seine Arme zog. “Gott, Louisa. Ich hab dich die ganze Zeit lieb gehabt… aber irgendwie…” Ich reckte meinen Hals etwas um ihn ansehen zu können. John hatte den Blick wieder auf die Straße gerichtet und wirkte sehr nachdenklich. “Du hast selbst immer gesagt, ich wäre dein Vorbild… aber nach der Scheidung, als ich so überfordert war mit mir selbst… Naja irgendwann konnte ich mich selbst einfach nicht mehr leiden. Ich hätte es schrecklich gefunden zu wissen, dass ich noch immer dein Vorbild sein sollte. Zumindest, wenn ich mich so aufführte. Also hab ich wohl irgendwie gehofft, du würdest deine Meinung ändern, wenn ich… Naja, wenn ich gemein zu dir bin.” Stille. Ich konnte einfach nicht glauben, dass er das gerade gesagt hatte. Die ganze Zeit, diese ganze verdammte Zeit lang, war ich fest davon überzeugt gewesen, John könne mich nicht mehr leiden. Ich hatte gedacht, ihn hätte die Scheidung kein Stück interessiert. Eigentlich hatte mein Bruder aber nur sich selbst nicht mehr ausstehen können. Und anstatt endlich zuzugeben, dass er auch nur ein Mensch war, der mal mit etwas nicht klarkam, hatte er sich weiter zurückgezogen und diese große Last mit sich rumgetragen. Er hatte sich einfach nicht öffnen wollen, aus dem Grund, weil er mein großer Bruder war, der, der immer zu Allem eine Antwort hatte… Aber anscheinend brauchte auch ein großer, starker und allwissender Bruder manchmal jemanden, der ihn in den Arm nahm und vor der großen, bösen Realität schützte… schade nur, dass ich das erst so spät erkannt hatte. Epilog: Epilog - two Months later. ---------------------------------- Epilog - two Months later. Seit dieser Autopanne, an diesem verregneten Tag, sind nun zwei Monate vergangen. John und ich haben uns, nachdem wir endlich vollkommen offen miteinander gesprochen hatten, noch ziemlich lange einfach nur umarmt und stumm vor uns her geweint. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass auch einige Freudentränen dabei gewesen sind. Um ehrlich zu sein… diese Autopanne war das Beste, was mir hätte passieren können… Irgendwann hatte Jonathan einen Abschleppdienst mit seinem Handy gerufen, welcher uns nach etwa zwanzig Minuten abgeholt hatte. Unserer Mutter ging es zum Glück gut, es hatte schlimmer ausgesehen, als es gewesen ist. Schon nach knapp anderthalb Monaten hatte sie wieder Arbeiten gehen können. Als unser Vater gehört hatte, Mama hätte einen Autounfall gehabt, war er sofort ins Auto gestiegen und zu ihr gefahren. Erst war Mama sauer gewesen, weil sie noch immer traurig wegen der Scheidung war und wegen der angeblichen Affäre. Aber irgendwie hatten die beiden es tatsächlich geschafft, sich zu vertragen. Zwar meinte John ich solle mir bitte keine Hoffnungen machen, die beiden würden wieder zusammen kommen, aber zumindest benahmen sie sich wie Freunde… Mit Fug und Recht konnte ich also behaupten, dass sich seit diesem Tag vieles verändert hatte. Es war zwar nicht so wie damals, als wir diese Vorzeigefamilie gewesen sind, mit dem hübschen Haus, dem Garten und der Schaukel… aber ganz ehrlich? So was braucht man gar nicht um glücklich zu sein. Nachdem wir Mama im Krankenhaus besuchten, hatte John sofort mit ihr gesprochen und sich entschuldigt, naja für alles eben. Zwar färbte er sich seine Haare immer noch schwarz, trug noch immer stolz diesen Ring an seiner Unterlippe und ging manchmal feiern… aber an sich hatte sich alles verbessert. Jetzt log ich nicht mehr, wenn ich erzählte, dass meine Mutter mir diese tollen Schulbrote schmierte. Zwar war Laura aufgefallen, dass sie anders schmeckten, aber… mir gefielen sie dafür umso besser. Ich saß auch nicht mehr wie tot in der Gegend rum und starrte Löcher in die Luft. Und das aller Wichtigste: Ich besaß endlich wieder einen großen Bruder, der allwissend, stark, immer für mich da… aber auf keinen Fall perfekt war. Und das war auch gut so. Das einzige was sich wohl niemals mehr ändern würde, waren meine schlechten Noten, was mich auch aus meinen Gedanken riss und auf den Boden der Tatsachen zurück brachte. Seufzend kratzte ich mich an der Stirn und versuchte verzweifelt zu verstehen, was diese ganzen Zahlen und Rechenzeichen zu bedeuten hatten. Mathe war… grässlich, ganz ehrlich. “Hey Zwerg, ich dachte es raucht hier so, weil irgendwas brennt, oder versuchst du schon wieder zu denken?”, kam es amüsiert von der Tür aus. “Haha, sehr lustig!”, grummelte ich Jonathan entgegen, welcher die Arme vor der Brust verschränkt hatte und gegen meinen Türrahmen lehnte. Dieses breite Grinsen in seinem Gesicht wirkte nicht mehr wie vor ein paar Monaten, und auch, wenn ich es wohl immer noch nicht zugeben konnte, ich hatte dieses Grinsen unendlich vermisst. Leicht schüttelte er den Kopf, ließ die Arme sinken und kam auf mich zu, wobei er sich den zweiten meiner Stühle heranzog, und somit direkt neben meinen platzierte. Es dauerte bestimmt nur fünf Sekunden, als er seinen Blick über meine Hausaufgaben wandern ließ, leicht lächelte und mit dem Finger auf eine Stelle deutete. “Guck dir das hier noch mal genau an…”, meinte er und ließ mir die Chance, selbst auf das Ergebnis zu kommen, ehe er seinen Finger wieder zurückzog. Angestrengt überlegte ich, las mir die Zeile mehr als einmal durch, bis mich ein Geistesblitz zu erfassen schien. “Ahh! Ich glaube ich hab’s!”, gab ich triumphierend von mir, drehte meinen Kopf und schaute ihn breit grinsend an. Okay, vielleicht würde das mit meinen Noten ja doch noch werden… Ich brauchte gar nicht aussprechen, was ich dachte. John schien echt so eine Art Hellseher zu sein. Denn ein Lächeln meinerseits genügte, als auch er lächelte und mich in den Arm nahm. “…gern geschehen, kleine Schwester.” Ja, etwas besseres als diese Autopanne hätte mir wirklich nicht passieren können. Nein, nicht mir, sondern uns… Denn wir haben dadurch beide voneinander lernen können. Und auch wenn ich wohl niemals genauso sein kann, wie John. Er wird immer mein Vorbild sein, mein großer Bruder, der eben auch ab und an mal Hilfe von seiner kleinen Schwester braucht. Denn… dafür sind kleine Schwestern doch da, oder? ______________________________________________________________ So, das war mein Beitrag zum Thema 'Geschwister'. Wie schon in der Beschreibung gesagt, ich hoffe es hat euch gefallen, das Schreiben hat mir sehr viel Freude bereitet. Ich hoffe es ist aufgefallen, dass ich diese FF nicht ohne Sinn und Verstand geschrieben habe. Ich wollte versuchen rüberzubringen, wie man sich als junges Mädchen nach der Scheidung der Eltern fühlen muss, auch wenn ich dies selbst nie am eigenen Leibe erfahren musste. Louisa verhält sich am Anfang recht egoistisch, da sie oft betont, ihr Bruder könne alles, wisse alles, würde das schon regeln. Dabei vergisst sie, dass auch er nur ein Mensch ist. Letzten Endes lernt sie selbst aus dieser Sache, was durch den Satz 'dafür sind kleine Schwestern doch da, oder?' klar werden dürfte. Es gibt noch einige andere unterschwellige Signale auf Persönlichkeiten und Anderes, ich hoffe nach wie vor, dass sie jemandem auffallen. Vielleicht mag ja jemand in einem Kommentar etwas dazu sagen, ich würde mich riesig freuen. Liebe Grüße, Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)