A little bit lost without you. von Eleven (Denn dafür sind Geschwister doch da.) ================================================================================ Kapitel 3: A rainy Day. ----------------------- A rainy Day. So ging es eigentlich die ganze Zeit weiter, mehrere Wochen, Monate… John wurde in dieser Zeit 18. Und am Nachmittag, nach seiner Fete, kam er mit einem schicken, schwarzen Auto bei uns zuhause an. Mama und ich hatten nicht einmal mitbekommen, dass er seinen Führerschein gemacht hatte. Diesen, und auch das Auto, hatte ihm unser Vater zum Geburtstag geschenkt, wie wir dann mitgeteilt bekamen. Ich fragte mich, ob ich zu meinem 18. Geburtstag wohl auch einen Führerschein und ein Auto bekommen würde. Jedoch zweifelte ich daran. Jonathan hatte eindeutig mehr Kontakt zu unserem Vater als ich… Auf jeden Fall hatte ich mich eigentlich lenkst damit abgefunden, dass mein Leben also so aussah, wie es nun aussah. Dass es sich nicht mehr groß ändern würde, vor allem auch, dass John und ich uns nun so gut verstanden, wie die meisten anderen Geschwister. Nämlich gar nicht. Jedoch wusste ich da noch nicht, was noch alles passieren sollte… Es war ein relativ normaler Nachmittag. Zumindest aus meiner Sicht. Vor ein paar Jahren noch hätte ich es als schrecklich empfunden. Klar, auch jetzt fand ich es nicht sonderlich prickelnd, aber ich konnte ja auch nicht wirklich etwas dagegen unternehmen. Ich meine damit nicht, dass meine Mutter wie immer arbeiten war. Dass unser Vater nicht mehr hier wohnte. Dass diese Wohnung eindeutig zu klein war, blah, blah, blah… Ich meine mit schrecklich, wie John und ich uns benahmen. Es hat beim Essen angefangen, als er mir nichts übrig gelassen hat, dabei weis ich ganz genau, dass er nie so viel isst. Und er weis es auch. Dann haben wir uns, wie schon so oft, über das Fernsehprogramm gestritten. Diesmal schien es für mich besser zu laufen, denn mit der Fernbedienung in der Hand habe ich mich im Bad eingesperrt, sodass er nach wenigen Minuten aufgegeben hat. “Ich hau ab”, gab er nur noch wütend von sich. Vorsichtig steckte ich den Kopf aus der Tür und schaute ihn fragend an. “Wohin denn?”, war meine neugierige Frage. “Das geht dich nichts an.” “Zu René?” Jeder wusste, dass René Jonathans bester Freund war. “Ich hab gesagt das geht dich nichts an, Zwerg!” Empört ließ ich die Schultern hängen, schlüpfte nun ganz aus dem Bad und schaute ihn mit großen Augen an. Damals hatte das immer Wunder gewirkt, jetzt ignorierte mein Bruder diesen Blick, oder machte sich noch darüber lustig. “Darf ich mitkommen?” Für diese Frage handelte ich mir einen entgeisterten Blick ein, kurz darauf zeigte John mir den Vogel. Natürlich, was hatte ich auch erwartet? Schließlich war ich ja nur die kleine, blöde Schwester… aber vielleicht würde ich ja auch gerne mal was erleben, anstatt alleine zuhause rumzuhocken. “Bitte! Lass mich mitkommen, ich werd auch ganz still sein!”, quengelte ich also los und stellte mich vor die Haustür, damit er nicht raus konnte, bevor er einwilligen würde, mich mitzunehmen. “Mach doch was mit deinen eigenen Freunden!”, gab er genervt von sich, und versuchte mich von der Tür wegzuziehen. Krampfhaft hielt ich mich daran fest. “Wir machen aber nie so coole Sachen, wie ihr!” Kurz hielt er inne, ehe er mich böse anfunkelte. Ich machte mich schon auf irgendwas Schlimmes gefasst, als plötzlich sein Handy anfing laute Basstöne von sich zu geben. Immer noch ziemlich geladen ließ er also von mir ab und hielt sich das Ding an sein Ohr. “Ja?”, grummelte er los, fixierte mich aber immer noch auf bedrohliche Art und Weise mit seinem Blick. Innerlich begann ich schon zu beten, dass das Telefonat hoffentlich eine halbe Ewigkeit dauern, und er sich etwas beruhigen würde. Jedoch wurden meine Gedanken schnell auf etwas anderes aufmerksam gemacht. Johns Blick veränderte sich mit einem Schlag ganz fürchterlich. Zum ersten Mal, seit der Zeit vor der Scheidung, konnte ich in seinem Blick so was wie Erschrockenheit und Besorgnis sehen. Ich verstand kaum etwas von dem, was Jonathan und der jenige an der anderen Leitung besprachen. Das einzige was mein Bruder von sich hören ließ war ab und an ein ‘okay’ oder ‘ja’. Seinem Tonfall nach zu urteilen hätte er wohl am Liebsten gar nicht geantwortet. Dieser Ausdruck in seinem Gesicht, welcher mich selbst ziemlich verunsicherte, schien dabei nicht mehr verschwinden zu wollen. Generell wirkte seine Gesichtsfarbe blasser als sonst und von dem eben noch anhaltenden Zorn war keine Spur mehr zu erkennen. Es dauerte nicht lange, bis er das Handy wieder sinken ließ und abwesend die Wand neben meinem Kopf anstarrte. Neugierig über das, was er wohl gerade gesagt bekommen hatte, legte ich meinen Kopf schräg und schaute ihn fragend an. “Wer war das?” Erst dachte ich, es würde nichts passieren, da er keinerlei Anstalten machte, sich in irgend einer Weise zu regen, dann jedoch wanderte sein Blick langsam in mein Gesicht und wechselte immer wieder zwischen meinen Augen hin und her, bis er endlich den Mund aufmachte. “Zieh dir deine Jacke an, wir müssen zum Krankenhaus.” Im selben Moment noch verschwand dieser seltsame Ausdruck aus seinem Gesicht und die gewohnte Ausdruckslosigkeit, gemischt mit Kälte kehrte zurück, wobei er seine Lippen leicht aufeinander presste. Ich bewegte mich kein Stück. Ich wollte mich fragen, warum wir zum Krankenhaus sollten. Aber mein Kopf wollte nicht funktionieren. Er war leer, genauso, wie der Gesichtsausdruck meines Bruders bis vor Kurzem. Ich hätte damit gerechnet, dass er mich wieder anfahren würde, nach dem Motto, ich solle mich nicht dümmer geben, als ich wäre und endlich das tun, was er mir gesagt habe. Aber nichts dergleichen passierte. Stattdessen -und das warf mich innerlich tatsächlich sehr aus der Bahn, noch mehr als dieser Satz von ihm eben- seufzte er leicht, ging zu dem Garderobenständer und nahm meine quietschgelbe Regenjacke. Ohne einen Widerstand meinerseits ließ ich sie mir von ihm anziehen. Die erste wirklich geschwisterliche Geste von ihm, welche ich seit der Scheidung hatte erleben dürfen. Mit immer noch großen Augen schaute ich ihn an. “Warum… müssen wir ins Krankenhaus?”, murmelte ich mit so dünner Stimme, dass ich selbst kaum geglaubt hätte, dass sie von mir kam. Entweder bildete ich mir es ein, oder es war tatsächlich Absicht, dass er mir nicht ins Gesicht schaute, als sein Blick noch etwas bitterer wurde. “Mama. Sie hatte einen Autounfall.” Jonathan wartete gar nicht erst darauf, dass von mir eine Antwort kam. Vielleicht war es auch ganz gut so, denn ich fühlte mich eh nicht so ganz im Stande etwas zu tun. Ich wusste nicht genau was in John vor sich ging, auf jeden Fall veränderte es ihn auf irgend eine Art und Weise… Sanft aber bestimmend schob er mich zur Seite, da ich mich immer noch vor der Haustür befand. Dann nahm er meine Hand und zog mich mit sich. Erst jetzt, wo wir in Johns schwarzes Auto einstiegen, wusste ich, warum er mir meine Regenjacke angezogen hatte. Irgendwie hatte ich gar nicht mitbekommen, dass es angefangen hatte zu regnen, während wir drinnen gewesen waren. Die dicken Regentropfen prasselten gegen die Frontscheibe vor uns und bewirkten, dass ich mich so langsam wieder beruhigte. Naja, beziehungsweise, dass ich langsam wieder normal zu werden schien, und aus dieser Starre erwachte. Das war das erste Mal, dass ich bei Jonathan im Auto saß. Generell, dass ich bei meinem Bruder mitfuhr. Und auch wenn ich es nicht gedacht hätte, John fuhr ziemlich gut. Nicht zu schnell, aber dennoch schnell genug, dass man nicht von langsam sprechen konnte. Wie ein Schatten wand sein Auto sich um die Kurven, ohne groß Aufsehen zu erwecken. Aber auch wenn seine Fahrweise sehr beruhigend zu wirken schien, konnte ich deutlich spüren, wie Anspannung von ihm ausging. Seine beiden Hände klammerten sich geradezu an das Lenkrad, ich konnte seine Knöchel weiß hervortreten sehen, sein Blick war stur nach vorne gerichtet und dennoch schien er mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Ich kannte den direkten Weg zum Krankenhaus nicht, ich war ihn noch nie gefahren, schließlich hatte es auch bislang noch nie einen Grund dazu gegeben. Ich wusste nur, dass wir in die nächste Stadt dazu mussten, bei uns gab es kein Krankenhaus. Stumm schaute ich aus dem Fenster, ließ meinen Blick kurz nach oben, zu dem dunklen Himmel schweifen und dann wieder zurück. Unzählige, dicke Bäume flogen an uns vorbei. Eigentlich machten Wälder mir angst, besonders bei solch einem Wetter. Das lag bestimmt daran, dass ich mir damals immer zusammen mit meinem Bruder heimlich irgendwelche Horrorfilme angesehen habe. Es hat wirklich immer riesigen Spaß gemacht, wenn wir gerätselt haben, welche Person man aus dem Film wohl sein könnte. Meistens war John dabei immer der jenige gewesen, der sich für alle geopfert hatte und irgendwie den Helden darstellte, wobei er dann in letzter Minute doch noch gestorben war. Ich durfte dann immer denjenigen abgeben, der mitbekommen musste, wie alle auf grausame Art und Weise starben, psychisch total am Ende war und dann ganz zum Schluss ebenfalls noch umkam. Eigentlich irgendwie traurig wenn man mal so darüber nachdachte… dennoch wurden meine Gedanken abgelenkt, als ich ein seltsames Geräusch hörte. Verwirrt drehte ich den Kopf und schaute zu Jonathan, welcher aber anscheinend genauso unwissend zu sein schien, wie ich. Keine sechzig Sekunden später blieb das Auto mit einem leisen Würgen stehen. Mehrmals versuchte John es erneut anzulassen -ohne Erfolg. Vollkommen alleine, bei Wind und Wetter, befanden wir uns in diesem düsteren Wald. “Verdammt…”, zischte mein Bruder und ließ seine Wut an dem Auto aus, indem er mit der geballten Faust gegen das Lenkrad schlug und das Gefährt ein kurzes Hupen von sich hören ließ, “warte hier, ich bin gleich wieder da.” Im nächsten Moment schon hatte er seine Tür geöffnet und trat nach draußen. Angenehm kühler Wind schlug mir ganz kurz entgegen, als die Tür auch schon wieder geschlossen, und John nur noch eine verschwommene Silhouette war. Immer wieder mal hörte man ein Fluchen von draußen, wobei er anscheinend versuchte den Schaden an seinem Auto zu finden und ihn dann gegebenenfalls zu beheben. Nach eine ganzen Weile schon hatte ich aufgehört zu schätzen, wie lange er nun wohl schon da draußen war. Fast wäre ich durch das gleichmäßige Prasseln eingeschlafen. Doch als ich erneut das laute Geräusch der Autotür hörte, schreckte ich auf. Runde Wassertropfen perlten von Jonathans schwarzen Haarspitzen, nachdem er sich wieder gesetzt und die Stirn gegen das Lenkrad gelehnt hatte. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck dadurch nicht sehen. Aber es verunsicherte mich, dass er nichts tat. Man musste kein Genie sein, um zu wissen, dass er es wohl nicht geschafft hatte. “John? Was machen wir jetzt?”, fragte ich in dieser quietschigen Mädchenstimme. Ich wusste dass er immer einen Ausweg parat hatte. Denn auch wenn es seit Langem nicht mehr so gut zwischen uns aussah, war er dennoch immer noch mein großer, allwissender Bruder. Das hatte sich nie geändert, keine Minute lang. Und auch wenn er noch so gemein zu mir gewesen war… ich hätte niemals sagen können, ich würde ihn nicht mehr mögen, oder ihn weniger toll finden, als damals, wo noch alles in Ordnung gewesen ist. Zu meinem Entsetzen und großen Erstaunen, schüttelte er leicht den Kopf, ohne ihn vom Lenkrad zu heben. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich von meinem Bruder Ratlosigkeit erfuhr. Bis eben hatte ich ja nicht mal gedacht, dass das überhaupt möglich war. Ohne etwas zu sagen starrte ich ihn an, während das einzige Geräusch, welches die Stille durchbrach, noch immer der prasselnde Regen an den Scheiben war. Eine ganze Weile saßen wir so da, es kam mir vor wie eine halbe Ewigkeit, auch wenn es sicherlich nur ein paar Minuten gewesen waren. Langsam hob Jonathan seinen Kopf an, drehte ihn in meine Richtung und verzog sein Gesicht zu einem traurigen Lächeln. Ich konnte deutlich sehen, dass er eben, als ich sein Gesicht nicht hatte erkennen können, geweint hatte. John! Mein großer Bruder, der doch immer allem trotzte, der so cool war, dass meine Freundinnen ihn anscheinend manchmal mehr mochten, als mich. Entsetzt schaute ich ihn an, während dieses mehr als deprimierende Lächeln seinerseits eine Gänsehaut in meinen Armen verursachte. “Ich hab wohl ziemlich versagt, als großer Bruder, hm?” Immer noch brachte ich kein Wort raus. Sein Tonfall klang so schrecklich anders, als sonst. Er klang… plötzlich wieder nach dem Bruder, welchen ich vor ein paar Jahren verloren habe. Obwohl ich mir nun ziemlich sicher war, dass er nie wirklich weggewesen ist. Er wurde nur weggesperrt… hinter dieser kühlen und undurchdringbaren Maske. Ich konnte ein lautes Aufschluchzen nicht unterdrücken. So lange hatte ich gehofft, er würde mir irgendein Zeichen darauf geben, dass er mich noch immer als kleine Schwester duldete, mich irgendwie gern hatte, sich um mich sorgte, was auch immer. Und jedes Mal bin ich schrecklich enttäuscht worden. Und jetzt, ausgerechnet jetzt, wo unsere Mutter einen Unfall hatte und wir hier, in diesem kleinen Auto mitten im Wald festsaßen, da… da überwältigte er mich mit so einem unbedeutend scheinenden Satz, als wäre das das Normalste von Welt. Langsam verschwamm meine Sicht, als ich deutlich die ersten Tränen in meinen Augen aufsteigen spüren konnte. Zwar hatte ich es nie sonderlich gezeigt, noch zugegeben, aber dass John sich mir gegenüber so reserviert benahm, hatte mich doch reichlich mitgenommen. Ohne zu zögern schnallte ich mich ab und sprang ihm geradezu in die Arme. Vielleicht war dies nicht unbedingt der richtige Platz dafür, denn die Kupplung drückte schmerzlich gegen mein Knie und ich hatte generell ein wenig Probleme damit, mich einigermaßen aufrecht zu erhalten. Dennoch konnte ich gerade nicht anders, als meinen Bruder zu umarmen. Ich wollte nicht, dass er wieder ‘ging’ und mich alleine ließ. Wenigstens für diesen einen Moment wollte ich egoistisch sein, das war doch vollkommen in Ordnung, oder? “Wo bist du die ganze Zeit gewesen?”, schluchzte ich weinerlich gegen seine Brust und war mehr als froh darüber, dass er mich nicht abwies, sondern die stürmische Umarmung erwiderte. Das hier musste sich wirklich recht wirr anhören, dennoch schien er genau zu verstehen, was ich damit meinte. “Tut mir Leid…”, war seine dünne Antwort, welche mich dazu drängte, mich doch wieder von ihm zu lösen du ihm besorgt ins Gesicht zu schauen. Seine Stimme war ganz heiser, man konnte sehen, dass er versuchte es zu unterdrücken, doch noch immer rannen winzige Tränen über seine Wangen. All die Emotionen, welche er die ganze Zeit versteckt oder weggesperrt hatte, schienen genau in diesem Moment auf ihn zurückzukommen. “Warum…-” Ich wusste nicht, wie ich es sagen sollte. Seit der Scheidung unserer Eltern hatten es mir so viele Fragen schwer gemacht, klar zu denken. Vor allem aber hatte ich einfach wissen wollen, was der Grund für seinen plötzlichen Persönlichkeitsumschwung gewesen war. Und wieder legte sich dieses niedergeschlagene Lächeln auf seine Lippen, als er sanft den Kopf schüttelnde und sich die salzigen Tränen von den Wangen wischte. “Ich denke… ich hatte einfach Angst. Weist du, ich bin gar nicht so stark, wie ich immer getan habe…”, begann er, wobei ich unendlich froh darüber war, dass er sofort zu wissen schien, was in mir vor sich ging. Trotzdem machten mir seine Worte Sorgen. Was meinte er damit? Angestrengt dachte ich, was der Sinn dieser Aussage sein könnte, kam am Anfang allen Übels an und antwortete dann mit immer noch dünner Stimme. “Meinst du… die Scheidung?” Vorsichtig nickte er, und ein kurzer Stich in meinem Herzen ließ die Erkenntnis in mir aufkommen, wie blind wir alle gewesen sind. John hatte die Trennung unserer Eltern nie locker hingenommen. Er hatte selbst schwer damit zu kämpfen gehabt, vielleicht sogar mehr als ich. Aber warum hatte er sich unserer Mutter und mir dann nicht geöffnet? Gerade wollte ich meinen Mund wieder aufmachen, als er mich unterbrach. “Naja, ich bin doch dein großer Bruder… der, der immer stark ist, der nie Angst vor etwas hat. Ich glaube, ich wollte deswegen einfach nicht zugeben, dass auch ich verwundbar bin. Ich wollte dir zeigen, dass es keinen Grund gibt, sich Sorgen zu machen… dabei muss sich der Frust irgendwie in mir angestaut haben..”, gab er zu. Und ich war mir ziemlich sicher, dass es eine unheimlich große Überwindung für ihn gewesen sein musste. Trotzdem war ich mir genauso sicher, dass das noch lange nicht alles gewesen sein konnte. Immer noch schwirrten so schrecklich viele Fragen in meinem Kopf umher, und Jonathan schien das zu wissen. Kurz holte er tief Luft, ehe er seinen Blick abschweifen ließ und auf die nasse Straße vor uns richtete. “Ich dachte es wäre gut, wenn ich weiterhin so tue, als wäre alles in Ordnung. Dabei hab ich gemerkt, dass es aber nicht ging. Also bin ich feiern gegangen, um den ganzen Stress einfach zu vergessen, wenigstens für ein paar Stunden. Es war echt erstaunlich wie gut ich mich dann immer gefühlt habe… eines hat zum Anderen geführt, also fing ich an mit dem Rauchen und… Naja, du weist was ich meine.” Vorsichtig nickte ich. “Aber warum hast du mich dann nicht mehr lieb gehabt?” Kurz schaute er mich aus großen Augen an, ehe er wieder lächelte und mich erneut in seine Arme zog. “Gott, Louisa. Ich hab dich die ganze Zeit lieb gehabt… aber irgendwie…” Ich reckte meinen Hals etwas um ihn ansehen zu können. John hatte den Blick wieder auf die Straße gerichtet und wirkte sehr nachdenklich. “Du hast selbst immer gesagt, ich wäre dein Vorbild… aber nach der Scheidung, als ich so überfordert war mit mir selbst… Naja irgendwann konnte ich mich selbst einfach nicht mehr leiden. Ich hätte es schrecklich gefunden zu wissen, dass ich noch immer dein Vorbild sein sollte. Zumindest, wenn ich mich so aufführte. Also hab ich wohl irgendwie gehofft, du würdest deine Meinung ändern, wenn ich… Naja, wenn ich gemein zu dir bin.” Stille. Ich konnte einfach nicht glauben, dass er das gerade gesagt hatte. Die ganze Zeit, diese ganze verdammte Zeit lang, war ich fest davon überzeugt gewesen, John könne mich nicht mehr leiden. Ich hatte gedacht, ihn hätte die Scheidung kein Stück interessiert. Eigentlich hatte mein Bruder aber nur sich selbst nicht mehr ausstehen können. Und anstatt endlich zuzugeben, dass er auch nur ein Mensch war, der mal mit etwas nicht klarkam, hatte er sich weiter zurückgezogen und diese große Last mit sich rumgetragen. Er hatte sich einfach nicht öffnen wollen, aus dem Grund, weil er mein großer Bruder war, der, der immer zu Allem eine Antwort hatte… Aber anscheinend brauchte auch ein großer, starker und allwissender Bruder manchmal jemanden, der ihn in den Arm nahm und vor der großen, bösen Realität schützte… schade nur, dass ich das erst so spät erkannt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)