Wortstürmen von Schreiberliene (Der Schreibzieher Schlagworte) ================================================================================ Kapitel 2: Auf der Durchreise ----------------------------- Als ich aufwachte wurde mir mit einem Mal bewusst, dass alles, an das ich zu glauben gewagt hatte, in Wirklichkeit nichts anderes war als ein Trugbild, das ich mir selbst in meiner Verzweiflung vorhielt und dessen Stoff die Zeit durchscheinend gemacht hatte. Ich war nicht glücklich; das beständige Lachen auf meinen Lippen nur Produkt einer gekonnten Selbsttäuschung, und ich war nicht erfolgreich, denn all jene Erfolge, mit denen ich mich schmückte, hatte ich durch das Aufgeben meiner Kindheitsträume erschlichen. Ändere den Wunsch, wenn die Erfüllung dir versagt bleibt: die Zweischneidigkeit dieser Methode wurde mir erst in diesen Sekunden zwischen Schlummer und Wachen bewusst. Das Aufstehen sollte nach solch einer Erkenntnis schwer fallen, doch die Wahrheit ist, dass mein Tagesablauf keine Veränderung erfuhr. Ich streckte mich in den weichen Laken, deren Sanftheit mich daran erinnerte, dass ich entgegen meiner Wünsche ein Heim aufgebaut hatte, das in seiner spießbürgerlichen Begrenztheit nicht einmal die Bettwäsche aus ägyptischer Baumwolle vermissen ließ, reckte mich, mit den bloßen Füßen auf dem morgenkühlen Laminat stehend, der durchschnittshohen Decke entgegen, an der eine weiße Ikealampe den Verlust meiner früheren Individualität bestätigte und schritt zum Bad. Die Ansammlung von Deodorant, Antifaltencreme und Rasierschaum, nach Größe geordnet und penibel sauber gehalten, umschlossen in ihrer Anordnung mein Spiegelbild und hielten mich in meinem Verfall zum Stereotypen gefangen; trotzdem trug ich die Whitening-Creme auf und putzte mir die Zähne. Fünf Minuten lang. Nachdem diese Aktion zu Dreivierteln abgeschlossen war – und mein stiller Horror vor der Vorhersehbarkeit des Morgens lässt sich nicht in Worte fassen – öffnete sich die Badezimmertür erneut und Christian trat herein. Ich wusste, dass er von hinten an mich herantreten würde, konnte die Bewegung seiner Lippen, die mir einen guten Morgen wünschten, im Traum nachzeichnen, und sein Kuss auf meiner Wange ließ mir meine Lieblosigkeit nur zu deutlich werden. Ich war nicht glücklich, ich war nicht erfolgreich; und weniger als alles andere war ich verliebt. Kein Kribbeln, kein Glück, nicht einmal ein Anflug jenes warmen Gefühls, das Menschen oft Jahre zusammenbleiben ließ. Nur Leere. Und Unbehagen ob der Beengung, die ich empfand. Darunter mischten sich im Laufe dieses Morgens, der nicht anders ablief als die Morgende der letzten sieben Jahre, Schuld und Scham, während das Brot frisch geröstet auf meinem Teller duftete und der schwarze Kaffee in werbereifer Manier in die weiß schimmernden Becher floss. Der Weg zur Arbeit erleichterte nicht dieses Gefühl der Sinnlosigkeit, das mich seit dem ersten bewussten Augenblick des Morgens begleitete, im Gegenteil; in der gesichtslosen Masse der Menschen, die mir wie immer begegneten, in ihrer herdengleichen Angepasstheit, ihrer Konformität fand ich mich bestürzt wieder: ich war Teil von dem alltäglichen Gang der Dinge geworden. Das Empfinden begleitete mich durch die Präsentationen und Gespräche des Tages, jedes Lachen, jedes allen Esprit vermissen lassende, abgestumpfte Privatgespräch, jedes anerkennende Nicken meines Vorgesetzten erinnerte mich an die Gitterstäbe des sozialen Gefüges, die mich gefangen hielten. Auf dem Weg nach Hause traf ich dieselben Menschen wie am Morgen, und wenn es nicht dieselben Individuen waren, so doch derselbe Typus: Personen ohne Persönlichkeit, Statistiken ohne Ausreißer, Wesen, die nicht wurden, wer sie waren. Menschen wie mich. Der Geruch des Abendessens erstickte mich, während ich mich kalt und seltsam abgetrennt von meinen Emotionen am Tisch niederließ und dieselben kleinen Themen besprach, die ich schon in den letzten sieben Jahren besprochen hatte; ich selbst ekelte mich vor dem, was ich war, was die Gesellschaft mich zwang zu sein. Mit Christian konnte ich nicht schlafen, zu überwältigend war die Abneigung, die ich bei seinem Anblick empfand. Er war schön; vielleicht einer der schönsten Menschen, die ich kennengelernt habe, und mir war bewusst, dass er mehr als nur ein anderes Angebot gehabt und sich dennoch für mich entschieden hatte. Im Geiste studierte ich seinen wohlproportionierten Körper, das schöne, ausgewogene Gesicht, das volle, dunkle Haar und die blauen Augen, die neben den sinnlichen Lippen wohl das erotischste an ihm waren. Meine Abneigung konnte ich mit dieser Betrachtung allerdings nicht bewältigen, und ihn anzurühren blieb mir unmöglich. Als ich am nächsten Morgen erwachte, hoffte ich, auf eine kurze, absurde Episode zurückblicken zu können, doch die Trivialität, die Eingesperrtheit meines Seins ließ sich nach ihrer Entdeckung nicht mehr leugnen. Ich lebte den Tag wie den vorherigen: losgelöst von meiner eigenen Person, beobachtend, immer weiter verzweifelnd an dem, was aus mir geworden war. Ich lebte den Tag derart, und den nächsten, die Wochen, die folgten und auch mehrere Monate, und obwohl ich spürte, dass Christian mit meiner Abweisung nur schwer zurechtkam, wusste ich, dass ich seiner Bitte um ein Gespräch nicht nachgeben durfte. Ich lebte und lebte nicht, stets darauf bedacht, niemanden merken zu lassen, wie es um mich stand. Dann zerbrach etwas in mir. Ich war aus purem Trotz einen anderen Weg nach Hause gefolgt und dadurch an einigen dunklen, verruchten Gassen vorbeigekommen; in einer solchen lehnte ein junger Mann. Er war nicht, nicht einmal im Ansatz, so attraktiv wie Christian; das Gesicht war grob, der Körper dünn und zugleich formlos. Und doch schoss eine Erregung in mir hoch, die ich kaum zu verbergen wusste, eine Lust, die mich verzehrte und endlich, nach so langer Zeit, wieder leben ließ. Er war, und auch das hatte ich vorher gewusst, käuflich; und obwohl mir Derartiges zuvor niemals in den Sinn gekommen wäre, zahlte ich, um ihn zu besitzen. Dann kehrte ich zurück zu dem Ort, der mir kein Zuhause, sondern ein Gefängnis war, packte eine Tasche und wartete auf dem nüchternen Holzstuhl auf Christian, der, als er die Türe öffnete, nur für einen kurzen Moment erstaunt und nicht einmal im Ansatz erschrocken wirkte. „Du gehst?“ Ich nickte und wappnete mich innerlich gegen den Strom seiner Hilflosigkeiten, mit denen er versuchen würde, mich von meinem Vorhaben abzubringen, mir relativ sicher doch nicht absolut gewiss, dass ich ihnen standhalten würde können. Vielleicht war unter der Taubheit doch noch ein wenig Gefühl? Aber Christian nickte nur, und ging hinaus in den Flur. Für einen Moment wusste ich nicht, was ich machen, wie ich reagieren sollte; dann folgte ich ihm. Er stand vor der Türe, sein athletischer Rücken war mir zugewandt, seine ganze Erscheinung gestreckt, und erst nach einigen Sekunden erkannte ich, dass er die Bilder von der Wand nahm und zärtlich in einer Tasche verstaute. Meine Bilder. Es traf mich auf eine merkwürdige, stumpfe Art, dass er mich nicht bat, zu bleiben; vielleicht hätte ich es gemacht. Mit seiner stillen Unterstützung konnte ich mich nicht abfinden, nicht, während der Geruch des Strichers für ihn offensichtlich an mir kleben musste. Dann gab er mir die Tasche mit einem kleinen, traurigen Lächeln und wandte sich dem Wohnzimmer zu. „Lass bitte den Kellerschlüssel hier, in Ordnung?“ Jetzt nickte ich und beobachtete, wie die Türe sich hinter ihm schloss. So hatte ich es mir nicht ausgemalt, so still, so gefasst; so wollte ich es nicht. Wo blieben seine Argumente, seine Versuche, mich zu überzeugen, die ich mit der Beschreibung meines Zustandes beantwortet hätte, auch, wenn er es nicht hätte verstehen können? Wo blieb sein Versuch, mich weiter in die Form des Alltags, der Stumpfheit zu quetschen und mich bei ihm zu halten? Ich hatte gepackt, was ich brauchte, selbst die Bilder trug ich in der Hand. Und doch hätte es nicht so sein sollen. Christian hatte nicht einmal versucht, mich zu halten, und das schmerzte tief in mir. Leise stellte ich meine Dinge an die Haustüre und drehte mich um, um ihm ins Wohnzimmer zu folgen. Er saß auf dem Sofa, das Jackett und das Hemd legere aufgeknöpft, und sah mich nur schweigend an. „Das ist alles, was du zu sagen hast?“ Ich wusste, dass es so besser war, dass ich mich darüber freuen sollte, dass ich losgelassen worden war - doch so hatte ich es nicht gewollt. „Ja.“ Er schaute mich weiter an, sein Blick final, und zum ersten Mal in Monaten fühlte ich eine echte Unruhe in mir aufsteigen. „Das war es also?“ Er nickte. „Wenn du den Rest deiner Sachen später abholen willst, hast du ja noch den Haustürschlüssel.“ Und er war traurig, zumindest ein wenig; das konnte ich sehen, denn seine Unterlippe zitterte. Vielleicht war er auch sehr traurig, wenn ich seine verkrampften Finger noch recht vor Augen habe… Ich nickte ebenfalls und drehte mich um; die Klinke in der Hand, stoppte ich und fragte mich, ob ich nicht doch all die Dinge sagen sollte, die in mir schlummerten, ihm meine Enttäuschung zeigen musste. Doch am Ende ging ich, weil seine letzten Worte mir den Boden unter den Füßen unsicher machten. „Wenn du wirklich bleiben wolltest, müsste ich dich nicht bitten.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)