Lebenssaat von Decken-Diebin (Frühlingswichteln 2010 - Wichtelgeschichte für shibui) ================================================================================ Kapitel 1: Lebenssaat --------------------- „Rehema?“ Sie hörte ihren Namen. Wer weckte sie da? Es war doch noch so früh. „Rehema, bist du wach…?“ – Ach, der Professor. Diese typische, äußerst logische Frage… langsam schlug sie die Augen auf. Kurz war noch alles verschwommen, dann rieb sie sich die Augen und die Dinge nahmen ihre Gestalt an. Professor Korokoh lugte zwischen Wand und Tür hervor. „Ja…“, sagte sie, als er anscheinend immer noch auf eine Antwort wartete. Er lächelte, zufrieden mit der Antwort und bequemte sich endlich dazu, ganz in den Raum hereinzukommen. „Sehr schön.“, meinte er gut gelaunt, „Wie geht es dir heute?“ „Ich denke… es geht. Wie immer, ja…“, antwortete sie, „Ich hab Hunger.“ Der Professor lachte. „Ja, klar, Schwester Imira bringt dir bestimmt gleich Frühstück… - So, jetzt gucken wir erst mal nach deinem Herzschlag.“ Rehema sah ihm zu, wie er sich vor den Computer setze. Erst jetzt nahm sie das regelmäßige Piepen wahr, an das sie sich schon längst gewöhnt hatte. „Sieht ganz gut aus… anscheinend alles normal, nicht? – Mhm…“, er sprach mehr mit sich selbst, während er die Anzeige betrachtete, „Aha. Rehema. Was ist das hier?“ Das Mädchen sah ihn ob des vorwurfsvollen Untertons skeptisch an, dann das piepende Gerät neben ihr. „Warum war dein Herzschlag hier schneller? – Und überhaupt, wieso weiß ich davon nichts…“ „Ich-…“, versuchte Rehema irgendwas zu sagen, doch sie brachte es nicht über sich. Sie schämte sich zu sehr. „Du hast schon wieder geweint.“, stellte der Arzt nun ruhiger und sachlich fest. Sachte legte er eine Hand auf ihre Schulter. „Guck mich an – ich nehme es dir keinesfalls übel. Nur pass auf dich auf, das ständige Weinen ist nicht gut für deinen Kreislauf.“ „Ich weiß, Professor…“, murmelte sie immer noch beschämt. „War denn irgendwer bei dir um die Zeit? – Wenn nicht,…“ „Nein, nein, Schwester Imira hat kurz reingeguckt!“, rechtfertigte sie sofort die Arbeit ihrer Krankenschwester, „Aber sie ist wieder gegangen, weil… es mir an sich ja gut ging.“ Professor Korokoh seufzte. „Na immerhin. – Wo sind sie, Rehema?“ Das Mädchen griff nach einer durchsichtigen Box auf ihrem Nachttisch und gab sie dem Professor. „Hier… ich verstehe irgendwie nicht, warum Sie ständig welche haben wollen, wenn es neue gibt… nachher pflanzen Sie sie noch an.“, spekulierte sie, meinte es aber nicht ernst. „Um Himmels willen, nein… nein, ich überprüfe nur, ob sich irgendwas an ihrer Konsistenz oder dergleichen ändert. Mehr nicht.“ Er sah sich den Inhalt der kleinen Plastikbox an. In ihr lagen viele, gerade mal millimetergroße Samen, die in einem bronzefarbenen Ton schimmerten. Schließlich machte er sich auf zu gehen. „Wein bitte nicht so sehr. Es ist besser, wenn du lachst – weißt du was, ich erzähl dir noch einen Witz.“ Mit einer gewissen Vorahnung stöhnte Rehema genervt auf. „Also, pass auf: Treffen sich zwei Fische im Meer. Sagte der eine: ‚Blubb!‘ Und der andere darauf: ‚Miau!‘“ Der Arzt fing blöd an zu lachen. „Ist der nicht gut? Erst letztens gehört…“ Das Mädchen zwang sich zu einem Grinsen. „Jaah… haha… ähm… sehr gut sogar. Besser als der mit den zwei Kühen…“ Sie sah Professor Korokoh hinterher, wie er mit seinem braunen, verwuschelten Haarschopf gackernd auf dem Flur verschwand. Rehema lächelte ihm hinterher. Der Professor gab sich seit Jahren so viel Mühe mit ihr, und nie hatte sie wirklich gesagt, dass sie ihm dankbar dafür war. Sie dachte an den Witz von eben zurück und musste plötzlich unwillkürlich grinsen, weil der Witz sowas von bescheuert war, dass er schon fast wieder lustig war. Sie strich sich über den haarlosen Kopf und ließ sich zurück in die weiße Bettwäsche sinken. Immer wenn sie Professor Korokohs verstrubbelte Haare sah, dachte sie sich, dass seine Haare unglaublich auf ihn zu trafen – sie ließen ihn ein bisschen durch den Wind erscheinen. Das war ihr schon so oft aufgefallen; die Haare ihrer Mitmenschen passten einfach auf ihren Charakter. Die dunklen, langen Haare ihrer Mutter unterstrichen deren Schönheit nur. Aber sie fragte sich, was Menschen dachten, wenn sie einen Menschen ohne Haaren sahen. So jemanden wie sie. Sie hatte fast gar keine Haare. Auf dem Kopf schon gar nicht, sie hatte gerade mal sehr dünne Augenbrauen. Auch an den Beinen wuchsen ihr keine Haare, eine Tatsache, um die sie von ihrer besten Freundin Kaila stets beneidet wurde. Rehema jedoch hasste es. Natürlich, die fehlenden Beinhaare konnten einen Vorteil mit sich bringen, aber die Glatze konnte sie bis heute nicht leiden. Und dabei war sie schon siebzehn Jahre alt. Mindestens die Hälfte oder sogar noch mehr dieser siebzehn Jahre verbrachte sie mittlerweile im Krankenhaus. Sie lag seit Jahren in ein und demselben Bett mit der weißen Wäsche in ein und demselben riesigen Krankenhaus in der großen Stadt Wempus. Und alles unter strengster Aufsicht – sie wusste, dass selbst jetzt in diesem Moment mindestens ein starker, muskulöser Mann vor der Tür ihres Zimmers stand und ihn bewachte. Sie fragte sich, wozu das immer noch so war, denn bis zum heutigen Tag war nie etwas passiert. Rehema Naita Mahrkya war ihr vollständiger Name. Sie hasste ihren Zweitnamen Naita, der in einer alten Sprache ihres Landes so viel wie ‚Weinen‘ bedeutete. Dieser Zweitname spiegelte so viel ihres Lebens wider, dass es ihr schon zu viel war. Nur wegen ihrer Tränen lag sie bereits so lange im Krankenhaus. Die Tränen, die diese merkwürdigen, kleinen Samen mit sich brachten und ihre ganze Gesundheit durcheinander wirbelten. Rehema setzte sich auf. Wenn sie weinte, dann flossen ganz unbemerkt von ihr kleine Samen in dem salzigen Wasser mit. Sie waren unglaublich wertvoll, das hatten Professor Korokoh und einige Kollegen von ihm vor einigen Jahren festgestellt – wenn man sie säte, wuchsen an ihren Bäumen Früchte, die das eigene Leben verlängerten. Leider hatte diese Nachricht die Runde gemacht und mittlerweile war sie nicht nur in ihrem Land ein bunter Hund, sondern auch in vielen anderen Ländern dieses Kontinents. Sie hasste es, bekannt zu sein. Eigentlich war sie nur das Kind von zwei erwachsenen Menschen, die arbeiteten und keinerlei dauerhaften Krankheiten aufwiesen. So oft hatte sie sich schon gefragt, warum gerade sie diese blöden Körner weinte, aber mit der Zeit hatte sie sich daran gewöhnt. Das Mädchen schnappte sich die Krücken, die neben ihrem Bett standen, und rappelte sich langsam auf. Sie humpelte zum Bad, dessen Tür mithilfe Bewegungssensor für sie alleine aufging. Sie war ziemlich froh über diese neue Technik im Krankenhaus – sie hatte sogar schon mal gehört, dass es in anderen Krankenhäusern nicht mal saubere Bettwäsche gab. Nachdem sie auf Toilette gewesen war, humpelte sie mehr schlecht als recht zurück zu ihrem Bett und legte sich erleichtert hinein. Viel weitere Wege konnte sie leider nicht gehen. Seit Jahren hatte sie nicht mehr als das Krankenhaus gesehen, denn an einigen Tagen fuhr ihre Krankenschwester oder ihre beste Freundin sie mit dem Rollstuhl durch das Haus spazieren, manchmal sogar in den Innenhof. Es klopfte an der Tür. Rehema sah auf und lächelte, als sie sah, dass Imira, eine ihrer Krankenschwestern, eintrat. „Guten Morgen“, sagte sie freundlich wie immer und stellte Rehemas Frühstück auf einen kleinen Tisch, den sie so hinstellen konnte, dass das kranke Mädchen bequem sitzend im Bett essen konnte. „Morgen“, erwiderte auch sie, „Danke, Imira.“ „Kein Problem, du weißt doch, ich mache das gerne“, lachte sie. „Und, hast du noch gut geschlafen?“ „Oh, ähm, ja…“, antwortete Rehema mit roten Wangen. Sie fing an das Rührei mit Speck genüsslich zu verspeisen. „Was war es denn dieses Mal?“ Das Mädchen zögerte. „Ach, es war nicht so wichtig…“ Imira sah sie skeptisch an, eine Augenbraue hochgezogen, und sie wusste, dass die ältere Frau ihr nicht glaubte. „Doch nicht wieder die Haare?“ „Nein, nicht doch!“, wehrte Rehema peinlich berührt diese Vermutung ab, „Ich hab nur an jemanden gedacht…“ „Ach!“, machte Imira da interessiert, „Nicht etwa an diesen hübschen Jungen mit den braunen Haaren?“ „Oh… ja, doch. – Woher weißt du das jetzt schon wieder?“ „Ich hab einfach ein Auge für sowas, das weißt du doch…“, meinte sie, „Aber jetzt iss mal lieber, Professor Korokoh bringt mich sonst um, wenn du nichts zu dir nimmst.“ Rehema nickte nur und machte sich daran, ihrem Befehl zu folgen. Kurzzeitig herrschte Stille und man hörte nur das Piepen von Rehemas regelmäßigem Herzschlag und den Trubel draußen auf den Krankenhausfluren, der schon früh morgens auf Hochtouren lief. „Welcher Tag ist heute, Imira?“ „Samstag.“, sagte sie verdutzt. Aber natürlich – wenn man ewig im Krankenhaus lag, verlor man irgendwann das Gefühl für die Zeit. „Oh, ehrlich?“, freute sich Rehema auch schon, „Glaubst du, Kaila und die Jungs kommen mich besuchen?“ „Sicher, das wollen wir doch hoffen.“, meinte Imira und lächelte, „Erst gestern hat Kaila zu mir noch ‚Bis morgen‘ gesagt, als ich sie noch auf dem Flur getroffen habe.“ „Schön… dann wird sie mir wieder von den unzähligen Jungs erzählen, die ihr angeblich hinterher geschaut haben.“ Rehema lachte kurz und die Krankenschwester freute sich darüber. Wenn es Rehema gut ging, musste man sich nicht allzu viele Sorgen um sie machen. Erst letzte Nacht hatte sie wieder geweint, das hatte sie selbst gesehen. „Spricht da etwa der Neid?“ Das Mädchen blinzelte für einen Moment, dann lächelte sie. „Nein, ich hab doch Suthek.“ Imira sollte Recht behalten. Es war gerade mal eine halbe Stunde vergangen, seitdem sie den Raum verlassen hatte, da kam ihre beste Freundin Kaila natürlich ohne Anklopfen in das Zimmer gestolpert. „Rehema!“, quiekte sie freudig und stürmte auf das Mädchen im Bett zu, um sie zu umarmen. Die Kranke lachte. „Hey – ein bisschen vorsichtiger, ja? Und mach die Tür zu.“, befahl sie ihr. Kaila rollte mit den Augen. „Ja, Mama.“, witzelte sie, aber sie tat, was Rehema von ihr wollte. Das sechzehnjährige Mädchen schien wieder wie die Sonne am Himmel zu lachen, eine Eigenschaft an Kaila, die Rehema einfach faszinierte. Sie war einfach immer gut drauf. Ihre langen, blonden Haare, die an den Seiten zu zwei Zöpfen zusammengebunden waren, hüpften auf und ab, als sie quer durch das Zimmer hopste, um ihre bunte Tasche in irgendeine Ecke zu schmeißen und um das Fenster aufzumachen. „Es ist echt stickig hier drin, merkst du das nicht?“, fragte sie gerade. „Ähm… tatsächlich?“, fragte sie zurück, ohne so recht zu wissen, was die eigentliche Frage war. Sie grinste Kaila nur an und ihre Freundin wusste, dass sie mal wieder mit den Gedanken sonst wo gewesen war. „Woran hast du gedacht?“ „Deine Haare“, gestand Rehema – und es war nicht das erste Mal, „Sie sind wunderschön.“ Es hörte sich schon etwas merkwürdig an, wie die junge Frau von den Haaren ihrer besten Freundin schwärmte, aber für Kaila war das nichts Neues. „Ach was“, winkte sie das also nur ab, „Dafür sind deine Beine hübscher! Guck mal meine an, ich meine, ich war in letzter Zeit etwas faul…“ Sie zog ein Hosenbein hoch und Rehema zog eine Augenbraue hoch. Sie gab ihr Recht – Kailas Beine hatten schon mal bessere Tage gesehen. „Kaila… das sieht aus, als hättest du Männerbeine!“, empörte sie sich, „Verdammt, pfleg deine Körperbehaarung doch mal…“ Die Blondine schnaubte nur. „Du hast leicht reden. Immerhin steh ich zu meiner Körperbehaarung, tss! – Nee, schon klar, keine Sorge, heute Abend sind die Haare fällig.“ Sie grinste Rehema an. „Und… hast du Lust auf einen kleinen Ausflug durch das Krankenhaus?“ Überrascht blinzelte Rehema. Sie war schon lange nicht mehr durch die Gegend gefahren… worden. „Wie kommst du darauf? – Ja, das wär schon toll… ich bin lange nicht mehr unterwegs gewesen!“, freute sie sich. „Klasse!“, freute Kaila sich auch und klatschte in die Hände. „Ich hab gestern auch schon Professor Korokoh gefragt, er ist einverstanden! Und ein Rollstuhl steht auch schon vor der Tür. Ich hol ihn.“ Und bevor sie für ein, zwei Sekunden aus dem Raum verschwand, machte sie eine kleine Pirouette, über die Rehema nur lachen konnte. Imira kam und half den beiden, Rehema von den ganzen Geräten zu befreien. „Soll ich euch begleiten?“, fragte sie die jungen Mädchen, „Falls irgendetwas passiert?“ „Ich fühle mich eigentlich ganz gut. Aber wenn es dich beruhigt, kannst du gerne mitkommen.“, erwiderte Rehema gut gelaunt. Sie ließ sich von Kaila helfen, um vom Bett in den Rollstuhl zu kommen. Imira nickte ihr nur zu, was so viel hieß, dass sie ihr vertraute und die beiden alleine ließ. Immerhin wusste die Krankenschwester ja, dass dennoch jemand die beiden in gemäßem Abstand begleiten würde um aufzupassen. Die armen Wachmänner sollten ja auch mal ihre Runden drehen und nicht stets stocksteif vor einer Tür stehen. Kaila fuhr ihre beste Freundin auf den Flur des Krankenhauses hinaus, der ungewollter weise auch gefüllt zu sein schien. Aber Rehema kannte das schon aus den vergangenen Jahren, dass kein Platz mehr in den Zimmern war. „Alles noch Grippefälle vom Winter“, meinte Kaila da gerade, als hätte sie ihre Gedanken gelesen, „Zum Glück ist er jetzt endlich vorbei.“ Rehema nickte nur. Sie sah sich die vielen, kranken Menschen an, die hier momentan verweilten. Eigentlich sah sie nie so wirklich, wer momentan mit ihr im Krankenhaus lebte. Das war so, als würde man Jahrzehnte lang in einem Haus leben und noch nie die Nachbarn gesehen haben. Kaila fuhr sie in Richtung Fahrstuhl. „Wo willst du hin?“, fragte Rehema sie neugierig. Zu selten fuhr sie durch das Krankenhaus, um es bestens zu kennen, in einigen Etagen war sie bisher noch nie gewesen. Sie könnte schon fast meinen, Kaila kannte es besser als sie selbst – aber sie war ja auch schon oft genug hier gewesen. Und nicht nur wegen Rehema. Es war vor gut acht Jahren gewesen. Sie war gerade erst sozusagen in das Krankenhaus eingezogen, seit ungefähr zwei Monaten war sie zu dauerhaftem Krankenhausaufenthalt ‚verurteilt‘ worden. In diesem Jahr hatte ein ebenso strenger Winter geherrscht wie dieses Jahr und die Krankenstation war überfüllt gewesen. Und zu genau so einer Zeit musste ein kleines, schüchternes, achtjähriges Mädchen meinen, sich das rechte Bein zu brechen. Aus Ermangelung an Zimmern hatte man die kleine Kaila Yihama zu Rehema gesteckt, womit die Ältere natürlich kein Problem gehabt hatte. Es war nur eine Viertelstunde gewesen, die sie schweigend verbracht hatten – dann hatte Rehema sich dazu überwunden, das Mädchen anzusprechen. „Ich bin Rehema. Und du?“, fragte sie leise und die Blonde sah blinzelnd zu ihr. „Kaila Yihama…“ „Ach… Und wieso hast du dir das Bein gebrochen?“, erkundigte sie sich weiter. Kaila senkte den Kopf errötend. Aber das Mädchen mit der Glatze lächelte sie unglaublich warm an. „Ich… wollte, dass mich jemand… beachtet…“, murmelte sie. „Warum das denn?“, fragte Rehema und runzelte die Stirn. „Na ja… ich glaube, keiner mag mich!“, platzte es dann aus dem kleinen Kind heraus, „Niemand will mit mir spielen. Keiner sieht mich an, ich denke, ich bin total uninteressant für sie!“ Verwundert sah Rehema Kaila an. „Das ist aber komisch… und deswegen brichst du dir ein Bein?“ „Ja… ich dachte, mich kommt vielleicht wer hier besuchen!“ „Ach… guck, ich bin da, ich mag dich!“, lachte Rehema dann. Kaila sah zu ihr, direkt in ihre strahlend blauen Augen mit Unglauben in den eigenen. „Wirklich?“ „Ja, wieso nicht? Ich finde dich sehr nett! – Und… ich hätte auch gerne eine Freundin, ja.“ Auf Kailas Gesicht bildete sich mit einem Mal ein breites Lächeln. Es hatte tatsächlich geklappt! Sie hatte sich das Bein gebrochen und nun hatte sie eine Freundin! „Darf ich dich auch was fragen… Rehema?“, sagte sie dann, und das andere Mädchen nickte. „Warum… hast du keine Haare?“ Die Haarlose blinzelte kurz und Kaila meinte, für einen Augenblick so etwas wie Bestürzen und Trauer zu sehen, aber dann lächelte sie ganz ehrlich und erzählte: „Ich bin krank… ich weine komische Samen! Die bringen meinen ganzen Körper durcheinander, deswegen wachsen mir keine Haare… und laufen kann ich auch nicht sehr gut. Vor zwei Jahren noch ging das besser…“ Kaila sah mit offenem Mund zu ihr hinüber. So etwas hatte sie ja noch nie gehört! Jemand, der Samen weint…? „Ist das wahr?“, fragte sie frei heraus. „Ja“, antwortete Rehema; sie schien es ihr nicht übel zu nehmen, dass sie ihr nicht glaubte, „Ich kann dir die Samen mal zeigen, wenn ich wieder weine!“ Das war der Anfang ihrer Freundschaft gewesen. „In den Innenhof“, sagte Kaila ihr gerade, aber sie bekam es nur am Rande mit – zu sehr schwelgte sie in Erinnerungen. Kaila war wenige Wochen im Krankenhaus gewesen, und auch als andere Zimmer frei geworden waren, hatte sie darauf bestanden, in Rehemas zu bleiben. Der Wunsch war ihr nicht abgeschlagen worden, als Rehema das ganze bestätigt hatte. Ihr Versprechen hatte sie schon bald einlösen können. Nur wenige Tage darauf war sie traurig darüber gewesen, dass ihre Eltern sie wieder mal wegen ihrer Arbeit vergessen hatten, und auch Kailas Trost hatte ihr nicht geholfen – sie hatte geweint und mit den Tränen waren wieder die Samen geflossen, die auch damals Professor Korokoh mitgenommen hatte. Die kleinen Körner waren für Kaila jedoch nur eine Bestätigung gewesen; sie hatte Rehema auch schon vorher geglaubt. Als Kailas Knochenbruch geheilt war und sie wieder nach Hause zu ihrer Mutter gedurft hatte, hatte sie Rehema versprochen, sie oft zu besuchen. Seitdem kam sie bis zu dem heutigen Tag fast täglich zu Besuch und für Rehema war es jedes Mal eine Freude. Manchmal blieb sie auch länger. „Kaila?“ Verwirrt sah sie auf ihre beste Freundin, die auf einem Bett lag und von Imira in das Zimmer geschoben wurde. Um ihr linkes Bein war ein Verband verwickelt. „Kaila, sag jetzt bitte nicht…“ Imira seufzte und bestätigte Rehemas Gedanken. Aber sie verlor kein Wort dazu und verschwand wieder, um die beiden Mädchen alleine zu lassen. „Kaila“, wiederholte sie empört, „Das ist der fünfte Knochenbruch innerhalb von anderthalb Jahren… so lange kennen wir uns jetzt schon! Und der fünfte Knochenbruch!“ „Tut mir leid“, nuschelte Kaila, „Es war echt keine Absicht!“ Rehema seufzte. Das blonde Mädchen kam also schon zum fünften Mal hierher, um einen Bruch zu kurieren. Es erschien ihr irgendwie merkwürdig, diese ständigen Knochenbrüche. Auch wenn sie beteuerte, dass es unabsichtlich war, im Gegensatz zu dem ersten. „Kaila… ich hoffe, du weißt, dass ich auch so deine Freundin bin, egal, ob du dir was brichst oder nicht?“, sagte sie zu ihrer Freundin und sah ihr fest in die Augen, „Ich bin doch nicht nur deine Freundin geworden, weil du dir etwas gebrochen hast!“ Sie sah Rehema aus großen Augen an. Erst jetzt bemerkte das kranke Mädchen, dass ihre Freundin zu zittern schien. Ihre Pupillen bewegten sich unwillkürlich hin und her, nur ein paar Millimeter. „Ich bin nicht deine Freundin geworden, weil du dir etwas gebrochen hast, Kaila. Ich bin deine Freundin geworden, weil ich es faszinierend fand, was für eine Willensstärke du hast, diesen Willen, Freunde zu haben… ich hätte das nie gekonnt.“ Kailas Augen fingen an zu tränen. „Rehema…“, flüsterte sie nur, von einem Schluchzer gefolgt, aber das Mädchen lächelte sie nur an, „Das ist so lieb von dir…“ Sie machte sich schon daran aufzustehen, mit den Gedanken ganz wo anders, da zischte Rehema nur noch: „Kaila! – Dein Bein!“ Aber ihre blonde Freundin lachte nur über ihr Missgeschick. „Wie gerne würde ich dich jetzt umarmen“, sagte sie. Seit diesem Tag hatten die absichtlichen Knochenbrüche Kailas aufgehört – was nicht hieß, dass sie nicht noch mal im Krankenhaus wegen so etwas gelandet war. Aber immerhin hatte Kaila diese Brüche dann ihrer Schusseligkeit zu verdanken. Kaila hatte sich seitdem verändert. Eigentlich war sie ein Mensch, der gerne Aufmerksamkeit bekam. Nur hatte sie das früher nie geschafft; Rehema glaubte, in dieser Zeit hatte die Blondine mehr und mehr Selbstbewusstsein bekommen und sich weiter entwickelt. Schon lange war sie kein Mauerblümchen mehr, sie sprach frei und direkt das aus, was sie dachte, machte Dinge, ohne sich dafür zu schämen, kleidete sich auffällig bunt und unpassend, sodass sie am Tag mindestens ein Dutzend schräge Blicke zugeworfen bekam – und das Beste war: sie fühlte sich wohl dabei. Rehema bewunderte sie darum. Immer wieder beteuerte sie, Kaila wär ihr die liebste Freundin der Welt, wenn es nicht sowieso schon so wäre. „Hallo? Rehema? Du bist noch nicht gestorben?“ „Was?“, fragte sie verwirrt und wachte aus ihren Tagträumen auf, „Wieso, ich bin doch quicklebendig…“ Kaila lachte nur, freute sich darüber, dass sie etwas wegen Rehemas Gesichtsausdruck zu lachen hatte. Guter Laune kniff sie in ihre Wangen. „Na, wo warst du jetzt schon wieder?“ „Nur ein paar Räume weiter. Aber… ‚Wie gerne würde ich dich jetzt umarmen.‘…“, sagte sie. Jede beste Freundin hätte diese Anspielung verstanden. Nur Kaila nicht. „Ah ja. Na, dann mach doch. – Guck, ich beug mich auch runter.“ Sie stellte sich vor Rehema und ihren Rollstuhl hin, beugte sich etwas runter, damit sie von ihr umarmt werden konnte. Als Rehema sich kein Stückchen bewegte und sie nur blöd anguckte, tat sie es einfach selbst. Sie knuffte ihre kranke Freundin herzlich, ließ wieder von ihr los und sah sie erwartungsvoll an. „Und – war ich gut?“ „Beim-… Knuddeln? – Ja, sicher…“, antwortete die junge Frau mit den strahlend blauen Augen, die Kaila immer noch merkwürdig anstarrten. „Ehm… ich wiederhol’s noch mal… vielleicht präziser. Hier. Ein paar Räume weiter, vor gut sechs Jahren. ‚Wie gern würde ich dich jetzt umarmen.‘ Linkes Bein gebrochen. Na, klingelt’s?“ „…oh. - Oh, verdammt! Ach, Mensch, tut mir leid, ich hab ein Gedächtnis wie ein Sieb… aber hey, jetzt erinnere ich mich natürlich wieder dran!“, plapperte sie drauf los. Und da! Das war Kaila. Sich an so etwas Wichtiges nicht erinnern, aber kein Stückchen Schamesröte auf den Wangen. Wie typisch. „Aber… du denkst jetzt plötzlich daran? Wie süß…“ Mittlerweile drehte sie schon die zweite Runde im Innenhof des Krankenhauses, ohne dass Rehema vorher überhaupt etwas mitbekommen hatte. Aber als sie sich genauer umsah, stellte sie fest, dass bei dem Wetter, jetzt, wo langsam wieder alles wärmer wurde und blühte, viele Patienten zusammen mit Freunden oder Krankenpflegern sich hier aufhielten. Es war noch frisch, die Temperaturen lagen zwar bereits über dem Nullpunkt, doch die restlichen Haufen von Schnee zeugten davon, dass dies noch nicht lange so war. „Alles taut“, murmelte das kranke Mädchen vor sich hin, „Ebenso mein Herz…“ „Du kleine Poetin“, witzelte Kaila, aber beide wussten, dass sie das nicht fies meinte. „Woran liegt’s?“ Rehema lächelte selig vor sich hin. „Suthek hat mir eine Nachricht geschrieben.“ Neugierig und gespannt saß Kaila auf einer Bank im Innenhof des Krankenhauses von Wempus, vor ihr ihre beste Freundin im Rollstuhl. „Nun erzähl schon!“ „Ja, doch“, sagte Rehema mit funkelnden Augen und einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht, „Also, er hat mir eine Nachricht geschrieben-“ „Das hatten wir schon!“, wurde sie ungeduldig unterbrochen. „Meine Güte – in der stand, ob ich nicht Lust hätte, demnächst nur mit ihm nachmittags durch die Stadt zu schlendern! – Oder zu fahren, wie auch immer…“ Ihre beste Freundin sagte nichts – ausnahmsweise. Auch sie schien sprachlos, ihre Augenbrauen waren in die Höhe geschossen und unter ihren Pony verschwunden und der Mund stand ihr offen. „Mund zu, Milch wird sauer“, sagte die Blauäugige dazu nur, erzählte dann weiter, „Ich meine… in die Stadt! Die Stadt – ich muss dort seit einem guten Jahrzehnt nicht mehr gewesen sein. Und er hat sogar schon mit Professor Korokoh gesprochen!“ „Und – er hat zugestimmt? – Sonst würdest du nicht so gut gelaunt sein – aber… wow! Ich freu mich gerade voll für dich“, gestand sie und grinste breit. Es war einfach zu selten, dass ihre Freundin so viel Freiraum bekam und dann auch noch zusammen mit Suthek Moroy, dem Jungen, in den Rehema unsterblich verliebt war. „Ich könnte zwar wetten, dass wieder irgendso ein Muskelmann uns hinterherrennt“, wandte Rehema ein, „Aber das nehme ich in Kauf. Für einen Tag nur mit Suthek. Am Mittwochnachmittag haben wir das Ganze geplant.“ „Perfekt. Ich glaub’s nicht, dass der Trottel von allein auf die Idee gekommen ist… vielleicht hat Ashai, sein Kumpel, ihm ja auch einfach nur einen Rat gegeben.“, vermutete die Blondine dann. „Das mag sein… ich denke, jeder andere hätte auf diese Idee kommen können. Aber Professor Korokoh meinte, das erlaubt er nur, weil Suthek auch Kampfsport macht – was an sich auch überflüssig ist, wenn wir sowieso überwacht werden, aber wahrscheinlich wollte er mir das nur nicht sagen.“, meinte sie. Kaila grinste abermals, als sie heraushörte, wie sehr die Kranke für den Jungen schwärmte. Dann grummelte ihr Magen in hörbarer Lautstärke. „Lass uns reingehen“, sagte sie, „Ich hab die Schnitzel hier gut in Erinnerung…“ Nachdem sie zusammen in der Kantine des Krankenhauses gegessen hatten, dauerte es nicht mehr lang, bis Asheja, eine weitere Krankenschwester, die sich ebenfalls oft um Rehema kümmerte, kam und sie zurück ins Bett schickte. Wenn auch widerwillig, nur zehn Minuten später lag sie in eben jenem und Kaila saß wieder daneben. „Kommen die Jungs heute auch noch?“, fragte sie und schaltete den Fernseher ein, damit ein bisschen Musik in dem Raum erklang. Sie benutzte selten dieses moderne Ding, obwohl es eigentlich total in war, weil es noch gar nicht so lange auf dem Markt war. Die Menschen in Lenb, dem Land, in dem sie lebten, liebten einfach alles, was neu war und dadurch, dass das Wempussaner Krankenhaus diese neuartigen Geräte namens Fernseher besaß, war es noch viel beliebter. Rehema hätte keine Probleme damit gehabt, in einem der nördlichen Länder des riesigen Kontinents, auf dem sie wohnte, zu leben, denn dort gab es nicht diese neuartige Technologie. Eigentlich benutzte sie den Fernseher meist nur, um Musik zu hören. Zufrieden war sie auch, wenn sie ein Dutzend Bücher zum Lesen hatte. „Eigentlich schon. Zumindest haben die beiden das gestern noch zu mir gesagt“, antwortete die Blondine, „Sie schienen aber irgendwie im Stress zu sein, keine Ahnung, ob ihre Mathelehrerin ihnen mal wieder tausende Arbeitsblätter als Hausaufgaben gegeben hat… „Oh – na ja, dann würde es mich nicht wundern, wenn sie es nicht schaffen.“, erwiderte Rehema. Sie hatte keinerlei Vorstellungen von der Schule, wenn sie ehrlich war. Nur wenige Jahre hatte sie die Grundschule besucht, dann war sie an die Krankenstation gefesselt gewesen und hatte nur von ihren Freunden immer Schulaufzeichnungen und Aufgaben bekommen. So war sie nie böse gewesen, wenn ihre Freunde sie einmal nicht besucht hatten. „Wer schafft was nicht?“ Eine wunderschöne, tiefe Stimme erklang. Mit leuchtenden Augen drehte Rehema sich zur Tür und tatsächlich – „Suthek! – Und Ashai, ihr seid ja doch da!“, freute sie sich unwillkürlich, die Worte verließen ihren Mund einfach so, „Das ist schön… oh man, wegen euch hab ich gerade verdammt gute Laune…“ Suthek Moroy, siebzehn Jahre, braune verstrubbelte Haare, wunderschöne grüne Augen und ein ansteckendes Lachen. Rehema konnte nicht anders als zuzugeben, dass sie ihn liebte. Auch wenn er es nicht wissen sollte, aber sie liebte ihn. „Wow, wir fühlen uns geehrt, dass unsere bloße Anwesenheit dich glücklich stimmt!“, lachte er und machte eine gespielte Verbeugung. Das Mädchen ohne Haare lächelte ihn an, mit einer Begründung im Kopf, die sie aber in seiner Gegenwart nicht auszusprechen mochte. „Ach, du weißt doch, dass das schon immer so war“, grinste sie dann. Sie konnte die ganzen Hintergedanken gar nicht aus ihrem Kopf verbannen. Es tat ihr dennoch im Herzen weh, ihn zu lieben. Es war ja nicht so, dass dies erst seit einiger Zeit so war. Natürlich wusste sie kein genaues Datum – wie auch? Aber es musste bestimmt vor mindestens zwei Jahren gewesen sein, als sie langsam mehr als freundschaftliche Gefühle für ihn verspürt hatte. Die erste, die davon gewusst hatte, war Kaila gewesen. Sie war damals in eine Art Trance verfallen und hatte ständig „Rehema ist verliebt! In Suthek! – Wie süß!“ gesagt. Rehema hatte gewusst, dass das einfach nur ihre Art war, um ihre Mitfreude auszudrücken. Das war eben ihre beste Freundin. Ihre Eltern wussten davon gar nichts, aber das war nicht weiter verwunderlich. Ashai hatte sie es nie direkt gesagt, aber wahrscheinlich hatte Kaila mal wieder geplaudert. Nur Suthek wusste nichts – und das war auch gut so. Wenn Rehema ehrlich zu sich war, musste sie nur zugeben, dass sie Angst davor hatte, was er sagen würde, wenn sie ihm ihre Liebe gestehen würde. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein hübscher, junger Mann jemanden wie sie, ein krankes Mädchen ohne nennenswertes Aussehen (sie hatte keine Haare, verdammt!) wirklich aufrichtig lieben könnte. Ohne zu Zögern würde sie darum wetten, dass ihm in der Schule viele Mädchen hinterher guckten und dass er einigen bestimmt auch schmachtende Blicke zuwarf. „Ich habe dir wieder einige Bücher mitgebracht.“, wurde sie in ihren Gedanken unterbrochen. Ashai Hikajra, achtzehn Jahre alt, war in derselben Klasse wie Suthek und sein bester Freund. Suthek hatte ihn vor ungefähr einem Jahr mal mitgenommen, um Rehema zu besuchen, und seitdem waren auch die beiden gut befreundet. Er war ziemlich gebildet, aber damit kam er eindeutig nach seinen Eltern, ebenso nach seinem großen Bruder. Eigentlich war seine ganze Familie ziemlich schlau und in der Medizin tätig. Ashai half schon jetzt Professor Korokoh bei seinen Forschungen, um Rehema zu helfen, auch wenn sie ständig sagte, dass er das nicht musste. Sie freute sich auch schon, wenn er ihr so oft Bücher aus der großen, privaten Bibliothek seiner Eltern mitbrachte. Rehema riss ihm geradezu die Bücher aus der Hand. „Oh, vielen Dank! – Wow…“, meinte sie, als sie sah, was er ihr alles mitgebracht hatte. Von Fantasy- und Liebesromanen, über Biografien berühmter Persönlichkeiten aus ganz Lenb in einer großen Enzyklopädie zusammengefasst und auch wissenschaftliche, interessante Bücher. „Man, da weiß ich doch gar nicht, womit ich anfangen soll – danke!“ „Kein Problem, das weißt du doch.“, lächelte Ashai ihr nur zu. Kaila hob nur seufzend die Augenbrauen. „Wie kann man nur soviel lesen? Das einzige Buch, was ich je wirklich selbst gelesen habe, war ‚Prinzessin Nahaia im Himmelsschloss’…“ „Du hast Märchen gelesen? Unsere kleine, aufgedrehte, überhaupt nicht liebe Kaila hat Märchen gelesen? – Oha…“, sagte Suthek nur dazu, „Was man so nach einigen Jahren doch noch so erfährt…“ „Was soll das denn jetzt heißen?“ „Dass man es dir nicht zugetraut hätte.“ „Das würde ich nicht so sagen“, meinte Rehema zu dem Thema. „Genau!“, pflichtete Kaila ihr bei, „Ich hab früher auch mit Puppen gespielt, als ich noch ein kleines Mädchen war.“ „Ach, hör doch auf, du bist doch jetzt auch noch ein kleines Mädchen“, ärgerte Suthek sie aus Spaß weiter. Aber irgendwie schien die Blondine jetzt wirklich gereizt zu sein. „Ich bin überhaupt kein kleines Mädchen mehr! Immerhin hatte ich schon Sex!“ Stille. Für einen klitzekleinen Moment. „Was?! – Warum weiß ich davon nichts?!“, empörte sich Rehema. „Du hattest Sex? Du bist doch gerade mal sechzehn!“, war Sutheks einziger Kommentar dazu. Ashai sagte gar nichts und wurde unter seiner Brille auf seinen Wangen nur leicht rot. Wahrscheinlich war so ein Thema nichts für ihn, er war immerhin anständig erzogen worden. „Na und? Das Alter hat doch damit nichts zu tun!“, rechtfertigte Kaila sich. „Und mit wem?“, wagte Suthek dann tatsächlich zu fragen. Das blonde Mädchen – oder junge Frau, wie sie es wahrscheinlich lieber hören würde – sah ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Glaubst du ernsthaft, dass ich dir das erzählen würde?“, keifte sie ihn an. „Kaila…! Ganz ruhig, ja?“, versuchte Rehema sich einzumischen. Bittend sah sie ihrer Freundin in die Augen, jedoch seufzte die nur und schnappte sich ihre Tasche. „Tut mir leid, Rehema, aber… - ich besuch dich heut Abend noch mal.“ Rehema nickte ihr zu mit einem Verständnis, das nicht jeder haben konnte. Dann verschwand Kaila aus dem Zimmer. Die Jungs sahen ihr konfus hinterher. „Du liebe Güte, typisch Mädchen… ob’s so schlecht war?“, versuchte Suthek einen Witz zu machen, aber irgendwie konnte er selbst nicht lachen. Ashai seufzte. „Ich geh ihr mal hinterher… vielleicht kann ich sie beruhigen.“, sagte er und huschte ebenfalls durch die Tür. Abermals war kurz Stille in Rehemas Zimmer, dann nahm sich Suthek einen kleinen Hocker und setzte sich zu ihr ans Bett. „Und du wusstest davon echt nichts? Dabei dachte ich, ihr erzählt euch alles…“, überlegte er laut vor sich hin. Rehema schnaubte nur lachend. „Ja, das dachte ich auch… ich versteh’s nicht! Ich hab ihr doch auch immer alles erzählt – und auch wenn es etwas Privates ist, sie kann doch damit zu mir kommen…“, meinte sie. Ihre Stimme zitterte leicht. „Hey…“, machte Suthek nur und zog sie in seine Arme. Rehema nahm das Ganze nur unterbewusst wahr, machte sie sich doch jetzt viel zu sehr Sorgen um Kaila. „Sie ist doch meine einzige Freundin…“ Und ganz plötzlich, aus der Angst, dass sich etwas zwischen den beiden Mädchen geändert haben könnte, und dass sie Kaila als Freundin verlieren könnte, fing sie an zu weinen. Suthek strich ihr leicht über den Rücken und versuchte sie zu beruhigen. Die Tränen und die stets dazugehörenden Samen sammelten sich in ihrem Schoß. „Du brauchst doch keine Angst zu haben“, flüsterte er ihr zu, „Kaila wird schon einen Grund haben, dir es nicht sofort gesagt zu haben. Aber sie wird trotzdem deine Freundin bleiben, da bin ich mir sicher.“ Das Herzfrequenzmessgerät neben ihm piepte nicht mehr in dem regelmäßigen Rhythmus. Ihr Herzschlag war wieder schneller geworden, wie immer, wenn sie weinte. Nur kurze Zeit später öffnete sich auch die Tür und die Krankenschwester Imira guckte kurz herein, lächelte Suthek nur an, und verschwand wieder, als sie gesehen hatte, was los war. Sie wusste ja, dass ihre Patientin viel für den hübschen Jungen übrig hatte, also konnte sie ihm vertrauen. Suthek blieb still. Er sagte nichts mehr zu dem Mädchen, das in seinen Armen lag und weinte. Er hoffte, dass es ihr reichte, dass er nur für sie da war. „Kaila! – Jetzt warte doch mal!“ Ashai sah das blonde Mädchen – pardon, die blonde Frau – gerade mal dreißig, vierzig Meter vor sich laufen. Entweder sie hatte ihn nicht gehört, oder sie wollte ihn einfach nicht hören. Zumindest lief sie stur gerade weiter. Der schwarzhaarige Junge seufzte. Diese Dickköpfigkeit kannte er ja schon, das war wirklich typisch Kaila. So beeilte er sich und lief ihr hinterher. Sie bemerkte es erst, als er schon fast neben ihr war, und ehe sie hätte loslaufen können, hatte er sie auch schon am Arm festgehalten. „Kaila!“, wiederholte er eindringlich, „Weglaufen ist doch auch keine Lösung.“ „Weiß ich doch“, grummelte sie und schritt eilig weiter. Ashai ging neben ihr her und ließ ihren Arm los. Sie ließ es sogar zu, dass er sie weiterhin begleitete. Dann herrschte eine Zeit lang Schweigen, die nur durch das Klimpern an Kailas ganzem Körper gestört wurde. Mit jedem Schritt, den sie tat, klapperten ihre bunten Ketten aneinander und die Glöckchen an ihren Rockzipfeln klingelten leise. Ashai störte sich nicht daran, und auch nicht daran, dass stets einige Menschen ihr schräge Blicke zuwarfen. Er war längst daran gewöhnt und hatte es nie als schlimm empfunden. Manchmal glaubte er sogar, es wirklich zu mögen. „Ich glaube, Rehema sah vorhin wirklich traurig aus. Du hättest das nicht plötzlich so herausschreien sollen.“, sagte er zu ihr, aber sie rollte nur genervt mit den Augen. „Ich weiß es doch! Ich wollte ihr es auch so nicht erzählen – daran ist nur dieser Volltrottel Suthek schuld!“ Ashai seufzte. „Du weißt genau, dass er dich nur aus Spaß geärgert hat. Weil du so leicht reizbar ist.“ „Ist mir egal“, meinte sie trotzig, „Er ist trotzdem dumm. Was findet Rehema bloß an ihm? Wie kann sie ihn lieben?“ Der schwarzhaarige Junge neben ihr lachte kurz auf und sie sah zu ihm auf. Er war einen guten Kopf größer als sie. Dann sah er sie an und sagte: „Fragen wir uns das nicht alle?“ Rehema rieb sich die Augen. Sutheks Hand lag mittlerweile ruhig auf ihrem Rücken, aber sie genoss es trotzdem. „Entschuldige…“, murmelte sie und befreite sich peinlich berührt aus seiner Umarmung. „Wofür?“, fragte er verwirrt und sah sie mit einem Blick an, der Rehema zum Lächeln brachte. „Hey, du hast gelächelt!“, freute er sich da, „Das heißt, dir geht’s wieder gut?“ „Ja, danke…“, sagte sie leise. „Du bist auch gut, erst entschuldigst du dich, dann bedankst du dich… was denn nun?“ „Danke!“, meinte sie darauf fest entschlossen. Dass ihre Wangen warm wurden, ignorierte sie gekonnt. Suthek grinste. „So ist’s gut. – Jetzt gib mal die Box da.“, forderte er sie auf. Ein bisschen durcheinander gab Rehema ihm sie einfach. Er fing an die kleinen Körner in ihrem Schoß aufzusammeln. Natürlich war die Saat wieder aus ihren Augen geflossen. „Kann es sein, dass du manchmal diese Tatsache vergisst?“, fragte er beiläufig. „Ja… manchmal.“, gab sie zu. Dann überlegte sie weiter: „Aber ist das nicht immer so? Wenn man Dinge zu häufig tut, oder sie zu häufig passieren, dass man sie vergisst?“ „Nicht unbedingt… aber manchmal vergesse ich morgens, mir die Haare zu kämmen, obwohl ich’s sonst jeden Morgen mache… und dann seh ich aus wie ein Igel… zumindest am Kopf.“, erzählte er und lachte kurz. „Ich hab dich noch nie so gesehen.“, meinte Rehema dazu. „Ist auch besser so.“, erwiderte er. Wieder wurde er still, er schien zu überlegen. „Aber wenn du sagst, dass man ‚Dinge zu häufig tut’… Rehema, du sollst doch nicht viel weinen…“ Mit einem Mal hörte er sich an, als würde er sich wirklich Sorgen machen. „Ja, ich versuche es auch…“, sagte sie ehrlich, „Nur manchmal fällt es mir schwer.“ Er lächelte sie an. „Verständlich… ich kann es dir eigentlich auch nicht übel nehmen… und deswegen bin ich ja auch so gut wie jeden Tag hier, damit du dich freust und nicht weinen musst!“ Rehema musste unwillkürlich kichern. Suthek blinzelte verwundert; Kichern tat Rehema oft als zu mädchenhaft ab und jetzt tat sie es selbst. Aber er fand, es hörte sich schön an. „Das schaffst du ja hervorragend“, gestand sie. Er zeigte wieder sein wunderschönes Grinsen. Die Box mit den Samen, die er jetzt verschlossen hatte, stellte er zurück auf ihren Nachttisch. Der Fernseher, den sie vor gefühlten Ewigkeiten angemacht hatte, zeigte mittlerweile irgendwelche Musik, die bestimmt angesagt gewesen war, als Rehema noch nicht mal geboren worden war. Sie schaltete ihn kurzerhand aus. Danach fiel ihr plötzlich ein anderes Thema ein. „Und mit Mittwoch ist wirklich alles klar?“, hakte sie abermals nach. „Ja, natürlich“, lachte er, „Kannst du es immer noch nicht glauben, oder wie?“ „Nein, nicht wirklich“, antwortete sie, „Endlich komme ich mal hier raus… - du tust mir damit einen riesigen Gefallen.“ „Ach was… mach ich immer wieder gerne… für dich.“, sagte er mit einer Ehrlichkeit in der Stimme, die Rehema unheimlich gefiel. Zu selten hörte man so etwas. Besonders hier im Krankenhaus. Aber das war Nebensache… sie wurde rot bei den Worten, die er sagte. Vielleicht konnte es ja sein, dass er… nein, jetzt fing sie an sich etwas einzubilden. „Du bist so lieb.“, sagte sie von daher nur. „Ich weiß.“, meinte er gespielt eingebildet, anschließend sah auf die Uhr und sie entschuldigend an. „Ich muss jetzt leider los, meine kleine Schwester Ahiga wollte noch etwas mit mir unternehmen…“ Er stand auf und zog sich seine Jacke über. „Wir sehen uns?“, fragte sie und er bestätigte das mit einem Nicken. „Immer wieder gerne.“ Bevor er ging, umarmte er Rehema noch einmal. „Und vergiss nicht – bloß nicht traurig sein.“ „Ich versprech’s dir.“, antwortete sie. Und als auch er schließlich gegangen war, war es ganz still in ihrem Zimmer. Zumindest so lange, bis Kaila sie beim Abendessen störte. Wie immer kam sie herein ohne anzuklopfen, aber Rehema machte sich nichts daraus. Sie lächelte aufrichtig, als sie sah, wie ihre beste Freundin leise in den Raum hereinkam. „Hi.“, sagte sie nur und setzte sich auf denselben Hocker, auf dem Suthek vor wenigen Stunden noch gesessen hatte. Beschämt sah sie nach unten, mit den Gedanken an die Szene, die sie heute Nachmittag veranstaltet hatte. Rehema war klug genug, um nichts zu sagen. Sie aß nur ihre Soljanka und wartete darauf, dass Kaila etwas ihr gegenüber erwähnte. Es dauerte auch nicht lang – sie kannte Kaila eben. „Ach, Rehema – es tut mir leid.“, murmelte die Blondine. Rehema legte ihren Löffel nieder, ganz darauf bedacht, ihr genau zuzuhören, „Wirklich… ich wollte nicht, dass du das so erfährst. Ich wollte es dir erzählen, alles haargenau, wenn wir mal alleine sind! – Aber nicht sofort! Weil… na ja-“ Sie sah zu ihrer besten Freundin auf – und diese lächelte sie gutmütig an. Eigentlich sollte sie nicht mehr wundern, aber sie tat es trotzdem. Wie konnte eine Person nur ständig niemandem böse sein, egal, was man tat? „Nun hol mal Luft – ist schon gut. Außerdem wurdest du von Suthek gereizt… ich sollte mal mit ihm reden.“ „Wie – ist schon gut?“, fragte Kaila ungläubig nach, „Ist das dein Ernst?“ Rehema grinste nur. „Warum sollte es nicht mein Ernst sein?“ Zuerst haute Kaila ihr leicht auf den Kopf. Danach umarmte sie sie fast zu Tode. „Manchmal könnte ich dir tausendmal am Tag sagen, dass du die allerbeste Freundin bist, die ich habe.“ „Das weiß ich doch schon.“, meinte Rehema keck. Kaila ließ ein helles Lachen hören. „Idiotin – aber ich verspreche dir, dass ich dir noch davon erzähle! Wer es war… und wer es ist, in den ich verliebt bin…“, versprach sie ihr. „Du bist verliebt?“, Rehema sah sie aus großen Augen an, „Wow, wenn’s so geheim ist, dann muss es ja jemand Besonderes sein…“ „Ja, allerdings. Vielleicht kann ich es deswegen noch nicht erzählen. Es weiß noch niemand außer uns beiden. Aber wenn wir bereit sind, es öffentlich zu machen, wirst du die erste sein, die davon erfährt!“, beteuerte Kaila abermals. „Dann bin ich schon mal gespannt.“, freute sich Rehema. Nachdem Imira gekommen war, um ihr Geschirr vom Abendessen zu holen und die Vorhänge für die Nacht zuzuziehen, lag Rehema letztendlich für das Schlafen bereit im Bett. Doch ihre Augen schienen noch nicht mal zufallen zu wollen und mit den Gedanken war sie stets bei Suthek, der bestimmt schon schlief. In ihr waren immer noch diese Zweifel. Irgendwo in ihrem Inneren wusste sie, dass sie unbegründet waren. Suthek mochte sie, dessen war sie sicher. Aber könnte er sie auch lieben? Sie kannte Suthek schon so lange, sogar länger als Kaila. Damals, als sie noch bei ihren Eltern gewohnt hatte in einem wunderschönen Haus am östlichen Rande der Stadt, da hatte im Nachbarhaus die Familie Moroy gewohnt – wahrscheinlich lebten sie dort immer noch, eigentlich wusste Rehema es nicht mal genau. Aber Suthek grüßte sie des Öfteren von ihren Eltern, also musste es so sein. Der kleine Suthek in ihrem Alter war schon damals ihr allerliebster Spielgefährte gewesen. Manchmal hatten sie auch die kleine Ahiga mitspielen lassen oder hatten auf die aufpassen müssen. Der braunhaarige Junge hatte sich nie etwas daraus gemacht, dass Rehema ein bisschen anders war als andere Kinder. Er hatte es nie als schlimm empfunden, wenn sie früh aufhören mussten im Garten zu toben, weil Rehema nicht mehr konnte, oder dass sie keine Haare hatte. ‚Du bist doch auch so hübsch’, hatte er mal zu ihr gesagt. Daraufhin hatte die kleine Rehema anfangen müssen zu weinen, weil er so lieb zu ihr war, und da hatte er das erste Mal die Samen gesehen. Erst zu diesem Zeitpunkt hatte erfahren, dass seine kleine Spielgefährtin krank war. Aber es war nicht schlecht gewesen. Seitdem war er noch viel mehr für sie da gewesen, egal was passiert war. Auch, als sie in das Krankenhaus hatte ‚einziehen’ müssen, hatte er es nicht als störend befunden – er war sie jeden Tag besuchen gekommen, um mit ihr zu spielen und zu reden. Sie waren schon immer die besten Freunde gewesen. Anders konnten es sich beide wahrscheinlich nicht vorstellen. Möglicherweise lag genau darin das Problem, dass sie Freunde waren. Möglicherweise sträubte Rehema sich genau deswegen, ihm zu sagen, was sie eigentlich fühlte. Möglicherweise könnte es die Freundschaft zerstören, wenn sie es ihm gestehen würde. Möglicherweise. Rehema seufzte. Da hatte sie sich nun verliebt, nach einer Ewigkeit verstanden und sich auch eingestanden, dass es wirklich Liebe war. Aber nein, irgendwo war ja eh noch ein Hindernis. Es musste immer so sein, das hatte zumindest Kaila gesagt. Und die war schon oft verliebt gewesen – hatte sie zumindest behauptet… Apropos Kaila – sie hatte mit jemanden geschlafen. Rehema dachte sich immer, irgendwo gehörte Sex zur Liebe. Sie hatte viele Romane gelesen und in jedem war mindestens eine Stelle gewesen, wo die Protagonisten miteinander geschlafen hatten. In Rehemas Kopf hatte sich der Gedanke einfach festgesetzt – Liebe konnte natürlich ohne diese Lust und Leidenschaft funktionieren, aber… wurde es den Menschen dann vielleicht zu langweilig? Sie kannte niemanden, der so einen Beziehung haben könnte, und sie wollte auch niemanden fragen. Das eigentliche Problem an diesem Gedanken war, dass sie dann nie die wirkliche Liebe erfahren können würde. So dachte sie zumindest, sie hatte nie Professor Korokoh oder eine der Krankenschwestern gefragt, ob ihr Körper zu schwach für Sex wäre. Sie traute sich auch gar nicht zu fragen – dabei war sie doch nur eine junge Frau, die Wünsche und Bedürfnisse hatte wie jede andere Siebzehnjährige… Ohne dass sie es verhindern konnte, wurde ihr Schoß wieder nass von Tränen und voll von Samen. Am Montagmorgen kam unerwarteter Besuch. Als es neun Uhr durch war, klopfte es ausnahmsweise an der Tür. Verwundert ob des Geräuschs legte sie ihr Buch weg und sagte nur: „Ja?“ Ihre Eltern kamen herein. „Mutti? Vati? – Ihr-…“, Rehema versuchte etwas zu sagen, aber sie brachte es sich nicht über sich. Sie wollte sagen, dass sie sich freute, aber sie konnte es nicht. „Hallo, Rehema“, sagte ihre Mutter etwas schüchtern, als sie herein kamen, und ihr Vater leise die Tür schloss. „Hallo“, antwortete sie nur. Das kranke Mädchen hatte ihre Eltern seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Sie waren irgendwelche wichtigen Politiker ihres Landes und ständig unterwegs. Selten kamen sie ins Krankenhaus, um Rehema zu besuchen – dafür hatten sie erst recht keine Zeit. Schon vor etlichen Jahren hatte das damals kleine Mädchen die Vermutung gehabt, dass ihre Eltern immer abweisender geworden waren, als sie angefangen hatte, Symptome für eine Krankheit zu zeigen. Ihre Arbeit war immer wichtiger gewesen. Aber sie war ja ein starkes Mädchen – hatte sie immer gesagt und daran festgehalten. „Hab euch ewig nicht gesehen.“, versuchte sie die unheimliche Stille zu durchbrechen. Die beiden lächelten sie nur entschuldigend an. „Wir waren sehr viel unterwegs in den letzten Wochen.“, erwähnte ihr Vater. Vielleicht sollte das eine Entschuldigung oder Erklärung sein, aber irgendwie schien das für Rehema nur eine einfache Ausrede zu sein, dass sie sie eigentlich gar nicht hatten besuchen wollen. „Das sind aber hübsche Blumen.“, lenkte Ahramai Mahrkya, ihre Mutter, von dem unangenehmen Thema ab. Innerlich musste Rehema lachen – das war typisch ihre Mutter. Selbstverständlich hatte sie zuerst ein Auge für die Blumen, die auf ihrem Nachttisch standen. Nein, es wäre ja auch zu unhöflich gewesen, mal zu fragen, wie es ihr geht. Obwohl sie in der Politik tätig war, glaubte Rehema manchmal, dass sie stets nur etwas für die schönen Sachen des Lebens übrig hatte. Alles, was nicht ihrem Standard entsprach, war eh egal. „Die sind von Imira.“, meinte sie nur dazu. Ihre Mutter sah sie fragend an. Jetzt hätte sie wirklich beinahe laut aufgelacht. Aber was wunderte sie sich? „Meine Krankenschwester.“, ergänzte sie und Ahramai Mahrkya nickte aufgeklärt und peinlich berührt. Die beiden Frauen hatten nie ein wirklich gutes Verhältnis gehabt. Auch, wenn es ungerecht war, oft gab Rehema ihrer Mutter Schuld an ihrer Krankheit. Natürlich war das absoluter Stuss, aber sie wusste ganz genau, dass sie ihren vollständigen Namen Rehema Naita ihrer Mutter zu verdanken hatten. Ihren Erstnamen, den hatten sowohl Vater als auch Mutter ausgesucht – aber ihren verhassten Zweitnamen Naita, der nicht viel mehr als ‚Weinen’ bedeutete, den hatte allein Ahramai Mahrkya für ihre Tochter ausgewählt. Es war merkwürdig. Zu gut erinnerte sich Rehema an die Jahre, in denen sie noch zu Hause gelebt hatte. Ständig war sie fein herausgeputzt worden von ihrer Mutter, wenn mal wieder ein äußerst wichtiges Treffen mit anderen Politikern des Landes angestanden hatte. Und dann war stets herum posaunt worden, dass ihre kleine Lieblingstochter (und sie hatte ja auch so viele – denn Rehema war Einzelkind) irgendwann einmal in ihre Fußstapfen treten würde. Da war sie sich immer ganz sicher gewesen. Und plötzlich war ihre kleine Lieblingstochter krank gewesen. Irgendeine komische Krankheit, die niemand kannte. Und der ganze Traum der stolzen Mutter war zerplatzt gewesen. Mit einem Mal hatte sie von rot auf blau geschaltet. Von warm auf kalt. Von der lieben Mutter zur verständnislosen, gezwungenen Mutter. Eine Mutter, die ihr Kind am liebsten weggegeben hätte. Weil es eine Krankheit hatte – und die Mutter damit nicht umgehen konnte. „Erzähl doch mal – wie geht es dir?“, unterbrach ihr Vater die negativen Gedankengänge Rehemas. Wahrscheinlich war es auch besser so, bevor ihr so einige böse Kommentare gegenüber ihrer Mutter herausgerutscht kamen. Glücklich lächelte sie ihn an und antwortete: „Momentan ganz gut… Kaila und ich sind am Samstag durch das Krankenhaus gefahren. Hatte ich lange nicht mehr gemacht.“ „Wie schön.“, sagte er dazu, „Und ihr versteht euch immer noch sehr gut?“ „Ja, alles bestens.“ „Das freut mich.“, sagte er ehrlich und aufrichtig. Ihren Vater hatte sie schon immer geliebt. Er war nie böse zu ihr gewesen. Nur leider war es schwierig für ihn, ihr zu zeigen, dass er seine Tochter trotz allem liebte. Rehema hatte die Vermutung, dass Ahramai Mahrkya ihrem Mann ständig Flöhe ins Ohr setzte. Wahrscheinlich sah sie es nicht gerne, dass sich die beiden immer noch gut verstanden. Kuron Mahrkya war ein guter Mann. Er ging seinem Beruf wirklich ernst nach und sorgte sich um das Wohl anderer Menschen. Die ehrlichen, strahlend blauen Augen hatte Rehema von ihm geerbt. Das Mädchen hatte sich oft gefragt, wie es sein konnte, dass ihre Eltern sich bei dieser Gegensätzlichkeit liebten. Taten sie es überhaupt noch? Sie wusste es gar nicht. Fragen wollte sie auch nicht – nicht, wenn ihre Mutter dabei war. Und die war ja immer da, sie ließ es nicht zu, dass Kuron Mahrkya seine Tochter allein besuchte. „Wir waren letzte Woche in Poca.“, erzählte ihr Vater dann. Erstaunt weitete sie die Augen. „In Poca? – Wow, das ist doch weit weg. Das liegt sogar auf einer Insel, nicht?“, fragte sie mit aufrichtigem Interesse. Andere Länder mit anderen Kulturen waren immer sehr anziehend für Rehema gewesen, ging sie doch davon aus, nie aus Lenb und Wempus, nicht mal dem Krankenhaus herauszukommen. „Ja, es liegt auf einer Insel“, bestätigte ihr Vater, „Aber die Politiker in Poca haben einige sehr gute Ideen. Möglicherweise übernehmen wir ein paar Elemente aus ihrer Politik.“ „Das ist schön zu hören“, meinte Rehema dazu. Abermals trat Stille ein. Ihre Mutter hatte sich ganz aus dem Gespräch herausgehalten und begnügte sich damit, lieber das Zimmer und das angrenzende Bad zu begutachten und sich anschließend vom Fenster aus den Innenhof des Krankenhauses anzusehen. Nach einer Weile drehte sie sich um. „Kuron“, sagte sie barsch, „Es ist Zeit, dass wir uns auf den Weg machen.“ Die Frau war schon fast aus der Tür. Erst dann kam Kuron Mahrkya gerade mal dazu genervt zu seufzen und seine Tochter entschuldigend anzusehen, aber die lächelte ihn wie immer nur an. „Wir sehen uns, ja?“, sagte er bedauernd, hob kurz die Hand um ihr zu winken und ging dann seiner Frau hinterher. Rehema winkte ihm kurz, dann fiel die Tür zu. Unwillkürlich freute sie sich. Ihre Eltern kamen sie von ganz alleine besuchen. Sie musste nicht nachfragen. Und auch, wenn sie immer noch nicht gut mit ihrer Mutter klar kam, sie hatte sich soeben gut mit ihrem Vater unterhalten. Das war doch ein Lächeln auf ihrem Gesicht wert. Am Nachmittag kamen wie so oft Suthek, Kaila und Ashai vorbei. Rehema konnte sie schon auf dem Flur hören, weil Kaila und Suthek anscheinend in ein ‚Nein-Doch-Streitgespräch’ verwickelt waren. „Und ich erzähle dir das nicht!“, hörte sie die hohe Stimme der Blondine. „Doch, wirst du.“ „Nein!“ „Doch.“ „Nein, mein Gott, das kannst du vergessen!“ „Doch. – Und hey, ich bin dein Gott? – Na los, war’s denn so schlimm?“ „Nein, war’s nicht! Ich erzähl’s dir trotzdem nicht.“ „Oh, doch.“ „Nein, verdammt! – Rehema!“ Wie ein Hund sprang sie auf ihre beste Freundin zu, sobald sie das Zimmer betreten hatte, und umarmte sie kräftig. „Hallo“, brachte diese unter der halb erwürgenden Umarmung hervor, „Um was ging’s denn gerade?“ Kaila ließ nur ein abwertendes Schnauben in Richtung Suthek hören. Ashai seufzte. „Das geht schon seit der Schule so. Suthek will wissen, mit wem sie geschlafen hat, aber sie will es ihm nicht sagen.“, erklärte er Rehema netterweise. Dankend nickte sie ihm zu. „Du kannst auch nicht locker lassen, hm?“, sagte sie dann in Sutheks Richtung, „Lass sie doch mal in Ruhe. Wenn sie dir es nicht sagen will, dann eben nicht.“ „Du hast ja auch leicht reden! Wahrscheinlich weißt du es schon.“, erwiderte er darauf. „Eben nicht.“, antwortete sie leichtfertig. Die Jungs zogen überrascht die Augenbrauen hoch. Das hatten sie nicht erwartet, waren die zwei doch beste Freundinnen. „So, jetzt lasst ihr Kaila bitte in Ruhe.“ „Jaah…“, meinte Suthek dann ein bisschen abwesend, „Aber wenn sie es selbst dir nicht erzählt… vielleicht will sie einfach nur nicht zugeben, dass es schlecht war…“ Rehema und Ashai seufzten nur, während Kaila schon Luft holte, um schlagkräftig zu antworten. Ashai setzte sich zu Rehema ans Bett. „Und, hast du schon angefangen eines von den Büchern, die ich dir gegeben habe, zu lesen?“, fragte er nach und rückte seine Brille zurecht. Das Gezeter hinter ihm ignorierte er gekonnt. Rehema bejahte und griff nach dem dicken Buch, das auf ihrem großen Nachttisch lag. Auf dem Umschlag war ein riesiger Gletscher abgebildet. In mitten des Eisgebirges war ein kleiner See in Form eines Herzen. „‚Romanze in Tistra’… mir war nach etwas Romantischem.“, erklärte sie die Auswahl des Buches, das sie zuerst las, und wurde etwas rot um die Nase, „Ich hab noch nicht viel gelesen, aber ich mag es bereits. Unglaublich, dass die zwei sogar nachts draußen schlafen, nur um gemeinsam den Sternenhimmel zu beobachten. Dabei leben sie mitten in der Tundra, fast in einem Gletscher.“ „Ja, mir gefiel es auch, als ich es gelesen habe. Später kommen noch sehr viele schöne Szenen. Es ist fast so, als würden sie Ysyms Gletscher mit ihrer Liebe auftauen.“ Tistra war eine Stadt, die es wirklich gab. Soviel Rehema wusste – Unterricht über ihren Planeten gab es ausführlich erst später, in der Grundschule hatte sie nie etwas darüber gehabt – war Tistra die Hauptstadt des Landes Ysym, das eine kleine Insel weit im Norden des Planeten war. Dort war es das ganze Jahr über kalt, selbst die Sonne erwärmte das Land nur wenig. Suthek schien hinter ihnen gerade aufzugeben. „Du liebe Güte, dann eben nicht – hör auf mich so blöd zu schütteln!“, befahl er der Blonden vor sich. „Geht doch. Das hast du jetzt davon.“ „Oh ja, einmal richtig durchgeschüttelt. Was für eine Strafe!“, spottete er. Ashai und Rehema sahen die beiden skeptisch an. „Ähm, Suthek“, meinte dessen bester Freund dann, „Deine Haare – geh mal ins Bad.“ Verwirrt folgte der braunhaarige Junge Ashais Rat. Kaum war er im Bad vor dem Spiegel angekommen, hörte man nur noch ein entsetztes Schreien, gefolgt von einem: „Was zum Geier hast du gemacht, Kaila?! – Jetzt seh ich schon wieder aus wie ein Igel…“ Ashai hob eine Augenbraue. „Der hat aber auch Probleme mit seinen Haaren.“ Er strich sich selbst einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Rehema begutachtete seine Haare – Ashais tiefschwarze Haare waren wirklich glatt und schienen bis auf einige Strähnen stets zu sitzen. Im Gegensatz zu Sutheks Haaren. Und abermals fiel Rehema auf, wie gut die Frisuren doch zu den Menschen passten. „Rehema? – Oh, hallo alle zusammen.“ Und Professor Korokohs Haare passten auch zu ihm. Die standen nämlich in alle Richtung ab. Der Professor war auch immer durch den Wind. „Ach, ihr beide seid das, die man schon aus zwanzig Meter Entfernung mit Gegenwind hört…“, sagte er dann zu Suthek und Kaila. Der Arzt sah die beiden skeptisch an, und auf einmal guckte er dann so drein, als hätte er die Erleuchtung gefunden. „Wisst ihr was! Damit ihr nicht so viel streitet, erzähle ich euch einen Witz! – Also,… ‚Quak!‘, macht die Katze und frisst die Biene.“ Mit einem breiten Grinsen schaute er die Runde der Teenager an, die ihn nur bedröppelt ansahen. „Och Mensch, kommt schon, der war doch gut…“ Rehema erbarmte sich dazu, etwas Nettes zu sagen. „Wie jeder ihrer Witze, Professor Korokoh. Sie wissen doch, ich liebe ihre Witze.“ „Soll ich noch einen erzählen? Soll ich?“, freute er sich dann plötzlich wie ein Kleinkind, „Also gut… stehen zwei Ziegen auf einer grünen Wiese. Sagt die eine: ‚Mäh!‘ Darauf die andere: ‚Das wollt ich auch grad sagen!‘“ Der Professor fing an zu lachen, und nachdem Rehema ihre Freunde mit einem kurzen, eindeutigen Blick angesehen hatte, lachten die vier mehr oder weniger echt mit. „Hach, den finde ich so gut…“, erwähnte er dann noch und die Jugendlichen grinsten ihn gequält an. „Was wollten Sie eigentlich, Professor Korokoh?“, fragte Rehema ihren Arzt anschließend. Der wiederum sah sie eine Sekunde verwirrt an und schien danach noch immer zu überlegen. „Gute Frage“, murmelte er vor sich hin. Er sah seine Patientin an, die ihn leicht verwundert anguckte, weil er auf ihre Frage keine Antwort wusste. Dann schlug er sich mit der Hand vor die Stirn. „Ach! – Ich wollte eigentlich nur wissen, ob es dir gut geht.“ Allgemeines entnervtes und unterdrücktes Stöhnen. „Aber wenn ich mir hier diese fröhliche Runde ansehe, zweifle ich nicht daran.“, grinste er Rehema und ihre Freunde dann an, „Ich werde mich dann weiter an die Arbeit machen. Ich untersuche nämlich gerade die Samen von letztens und ich glaube langsam, dass ich dabei bin, etwas zu entwickeln, dass dir in deinem weiteren Leben ziemlich helfen würde.“ „Das hört sich sehr interessant an, Professor Korokoh“, mischte Ashai sich da mit gewecktem Interesse ein, „Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Sie begleite und Ihnen bei der Arbeit zusehe?“ „Aber nicht doch, Ashai! – Du kannst ruhig mitkommen. Ich denke, du hast bestimmt das Talent deiner Eltern geerbt und ein bisschen junges Denken hat ja noch nie geschadet, nicht wahr?“, meinte er zu dem jungen Mann. Dieser lächelte ihm nur zu, dann seinen Freunden. „Ich… werde dann mal.“, sagte er nur und hob die Hand kurz zum Abschied. Zusammen mit Professor Korokoh verschwand er aus dem Zimmer. „Wow – er geht ja früh unter die Mediziner.“, erwähnte Suthek nur. Kaila sah nur stirnrunzelnd zur Tür, ehe sie aufsprang und ebenfalls durch die Tür hinaus ging. „Ich lass euch mal ein bisschen alleine“, sagte sie nur und zwinkerte den beiden verbliebenen im Raum zu. Dann schloss auch sie die Tür hinter sich. Dass Kaila die beiden alleine lassen wollte, war eine Sache. Die andere Sache lief ihr da hinten gerade weg. „Ashai! – Ashai!“, rief sie dem schwarzhaarigen Älteren hinterher, der auf dem langen Krankenhausflur mit Professor Korokoh entlang ging. Sie musste sich beeilen. Die Männer waren beide einen guten Kopf größer als sie. Sie konnte ja nichts dafür, dass sie klein war, aber dadurch hatte sie auch kürzere Beine – und das hieß dummerweise Laufen. „Ashai! – Verdammt, Ashai, du Sack!“ Endlich hatte der Schwarzhaarige sie gehört und angehalten. Außer Atem erreichte sie ihn, nachdem sie sich an lauter vorbeilaufenden Leuten vorbei gedrängt hatte. „Du hättest – oh Gott… ich bin nicht gut in kurzen Strecken…“, meinte sie zuerst. Ashai grinste sie an. „Das liegt nur daran, dass du so klein bist.“ „Ach, hör doch auf, und du bist hässlich.“, sagte sie frech, aber als er sie bestürzt ansah, fügte sie noch hinzu: „Hey – du weißt genau, dass ich das nicht so gemeint habe. Du bist hübsch.“ Sie lächelte ihn lieb an. Professor Korokoh im Hintergrund betrachtete das ganze Spektakel verwirrt. Er kannte die beiden ja schon länger, aber sie hatten in seiner Gegenwart noch nie so… ruhig und zärtlich miteinander gesprochen. Das Ganze hörte sich irgendwie… er fand nicht die richtigen Worte. Stattdessen räusperte er sich leise. Die Wirkung hatte er nicht verfehlt. Die beiden schienen plötzlich die eigenen Augen von dem anderen lassen können (oder bildete er sich das nur ein?) und sahen ihn an. „Nun – gehen wir weiter?“, fragte er an Ashai gerichtet. „Ähm“, machte der nur und guckte dann Kaila an. „Ach ja, ich wollte ja fragen, ob ich mitkommen darf“, fiel der Blonden dann ein, „Darf ich?“ „Also, meinetwegen…“, meinte Ashai und sah dann Professor Korokoh an, der ebenfalls nickte. Das Mädchen neben Ashai freute sich kurz mit einem „Juhu!“ und hakte sich gut gelaunt bei Ashai ein. Und der Schwarzhaarige lief nur rot an. „Was soll das denn jetzt?“, flüsterte er ihr während des Gehens zu. Sie grinste ihn so an, wie er es immer mochte. Er sagte immer, wenn sie so grinste, wäre das sehr niedlich. „Ich wollte einfach bei dir sein.“ „Meinst du, Professor Korokoh entwickelt wirklich etwas, was mir helfen könnte?“ Suthek sah sie an. Er konnte nicht richtig deuten, was sie dachte. Er sah weder Zweifel noch vollstes Vertrauen gegenüber ihrem Arzt. „Natürlich“, antwortete er ihr, „Ich denke – auch wenn er ein bisschen komisch ist und ständig unlustige Witze erzählt – er wird sicher dabei sein, etwas für deine Gesundheit zu entwickeln. Oder glaubst du ernsthaft, du wirst dein Leben lang an dieses Bett hier und einen Rollstuhl gefesselt sein?“ „Na ja“, druckste sie ein bisschen herum. Eigentlich dachte sie genau das, aber Suthek wollte doch immer, dass sie fröhlich war. Aber sie konnte ihn auch nicht anlügen. „Ja, eigentlich schon. Ich kann es mir einfach nicht anders vorstellen…“ „Ach, Rehema…“, flüsterte er plötzlich mit einer Zärtlichkeit in seiner Stimme, die sie selten hörte, „Warum bist du nur so pessimistisch?“ Sie grinste ihren Freund gequält an. „Das sagst du so leicht als Außenstehender“, meinte sie zu ihm, „Aber wenn du selbst in dem ganzen Geschehen drin wärst… ich glaube, dann hättest auch du solche Gedanken.“ Er zeigte ihr ein breites, aufgesetztes Grinsen. „Sicher? – Das Leben ist doch sooo schön!“ „Oh, okay, ich denk noch mal darüber nach“, sagte die Blauäugige nun, „Bei dir kann man nie wissen. Du hast aber auch eine Freude im Leben…“ „Klar, man hat doch nur eins.“ Erstaunt sah Rehema den braunhaarigen, hübschen Jungen vor sich an. Wie poetisch… oder philosophisch? Sie war sich nicht sicher, aber sie hätte Suthek nicht zu getraut, sich doch einmal so sehr Gedanken über das Leben zu machen. Vielleicht war es ein bisschen böse von ihr, sowas zu denken, aber sie hätte sich vorstellen können, wie er von einer drei Meter hohen Mauer springen würde, in dem Glauben, dass er wie eine Katze heil auf seinen Beinen landen würde. Aber er hatte anscheinend auch eine andere Seite. Jetzt hatte Rehema mal wieder das Gefühl, ständig Neues an Suthek zu entdecken. Und irgendwie war das schön. „Du bist süß“, wisperte sie mehr für sich selbst, aber natürlich hörte Suthek es, und es zauberte ihm ein Lächeln ins Gesicht. Rehema hatte eine ganz helle, klare Stimme. Sie war auch unglaublich klein, wahrscheinlich wusste das niemand so genau, aber es war so. Suthek hatte ihr schon mal geholfen, zum Bad zu kommen. (Selbstverständlich war er nicht mit reingekommen, wer war er denn? - Hätte er es getan, hätte er dafür von Kaila eine Ohrfeige bekommen… weil Rehema erstens zu schwach und zweitens zu lieb dafür war.) Damals hatte er festgestellt, dass sie vielleicht gerade mal einen Meter fünfzig maß, wenn nicht sogar noch ein Stück weniger. Aber das hatte alles mit ihrer Krankheit zu tun. Vorsichtig und langsam hob sie ihre Hand, um sanft durch seine Haare zu streicheln. „Ich mag deine Haare“, gestand sie ihm flüsternd, „Sie sind schön weich…“ „Ich finde dich schön, auch wenn du keine Haare hast“, erwiderte er frei heraus, wusste er schließlich, woran sie mal wieder gedacht hatte. Ständig glaubte sie, sie wäre hässlich. Dabei war sie doch wunderschön… Suthek wusste nicht, ob er der Einzige war, der so dachte. Und wenn es so war – trotzdem würde er sich nicht in seine Meinung hinein quatschen lassen. Für ihn war und würde Rehema immer das hübscheste Mädchen sein. Mit den allerschönsten Augen, die er je gesehen hatte. „Und deine Augen“, sprach er da unwillkürlich seine Gedanken laut aus, „Die sind sowieso das Schönste an dir.“ Mit einem Mal glich Rehemas Gesicht – Suthek fiel kein besserer Vergleich ein – einer reifen Tomate. Wieder sah er sie mit diesem unwiderstehlichen Grinsen an. Dann stand er auf. „Tut mir leid, aber ich muss los. Hausaufgaben und so, du weißt ja…“, meinte er und sie nickte verständnisvoll, wenn auch verwirrt wegen des plötzlichen Abschieds. Plötzlich beugte er sich zu ihr hinunter und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Wir sehen uns dann Mittwoch. Freu dich drauf!“ Mit einem Satz durch die Tür war er verschwunden. Ganz plötzlich, nach diesem schönen, zarten Kuss. „Ja, tu ich“, murmelte sie noch, obwohl sie schon längst allein war. Noch auf den Gängen des Wempussaner Krankenhauses hatte Suthek die Nummer seines besten Freundes in sein Handy eingegeben. Ungeduldig wartete er, bis dieser endlich abgenommen hatte. „Ashai?“ „J-Ja?“, kam vom anderen Ende der Leitung. „Du glaubst nicht, was ich gerade gemacht habe! Ich-“ Ein Stöhnen aus seinem Handy unterbrach ihn. „Ashai, was war das gerade?“ „Was war was?“ „Da hat gerade irgendwer gestöhnt!“, sagte Suthek in einem empörten Tonfall. „Wie bitte? Nein, da irrst du dich.“ „Veräppel mich doch nicht! – Ach egal, auf jeden Fall habe ich gerade Rehe-“ Abermals ein Stöhnen, nur lauter. „Ashai! Ich hab gesagt, du sollst mich nicht verarschen, du Idiot!“ „Su-Suthek? Wart mal, also, ist gerade ganz… ganz schlecht, ich-“ Piep. Und aufgelegt. Wütend sah Suthek auf das Display seines kleinen, unschuldigen Handys. „Na, super. Dieser Sack kann morgen was erleben…“ Als Suthek und Ashai am Mittwochnachmittag zusammen nach Schulschluss in Richtung Krankenhaus gingen, damit der Jüngere Rehema abholen konnte, ging es beiden gut, sie hatten weder Knochenbrüche noch Streit. Suthek hatte seinen besten Freund am gestrigen Tag nur angeschnauzt, dass er doch nicht einfach auflegen konnte, wenn er etwas Wichtiges erzählen zu hatte. Daraufhin hatte Ashai gesagt, dass er nicht einfach an solchen ungünstigen Zeitpunkten anzurufen hatte. Natürlich war damit Sutheks Interesse geweckt gewesen. „Genau! Was zum Geier hast du eigentlich getrieben?“, hatte er selbstverständlich gleich nachgehakt. Ashais Antwort war nur gewesen: „Nichts, was dich angehen könnte.“ Und damit war das Thema für ihn gegessen. Mittlerweile hatte der brünette Junge das auch schon längst wieder vergessen. Wenn man Ashai fragen würde, würde der sagen, dass es in Sutheks Wortschatz momentan nur noch das Wort ‚Rehema‘ gab. Seit wann war der Kerl so aufgeregt und nervös, wenn es um ein Mädchen ging? „Glaubst du, es wird ihr wirklich gefallen?“, fragte Suthek gerade, mit einer Nervosität in der Stimme, die niemand hätte überhören können. Vielleicht ein Tauber. Aber der hätte es dem Jungen dann im Gesicht angesehen. „Warum sollte ihr es nicht gefallen?“, stellte Ashai seufzend eine Gegenfrage, „Überleg doch mal. Sie kommt seit Ewigkeiten aus diesem Krankenhaus nicht raus. Egal, unter welchen Zuständen es ist, ich glaube, sie würde sich über jede Gelegenheit freuen, endlich mal aus dem Ding rauszukommen.“ Suthek nickte, aber er schien nur wenig überzeugt. „Und wenn ich sie nerve?“ „Suthek“, sprach Ashai den Namen seines besten Freundes empört wie eine Mutter aus, „Hast du nie bemerkt, wie sie dich manchmal anguckt? Ihre Augen strahlen, wenn sie dich ansieht!“ „Das tun sie doch immer.“, meinte Suthek und langsam fing Ashai an zu glauben, dass der Jüngere ihm einfach nicht Vertrauen schenken wollte. „Siehst du“, erwiderte der Schwarzhaarige einfach, „Sie strahlen immer, wenn sie dich sieht. Kaila meinte, wenn sie mit ihr alleine ist, und du dann in ihr Zimmer kommst, dann ist da dieses gewisse Funkeln in ihren Augen – frag mich nicht, ob das stimmt! Es kann auch einfach nur das typische Mädchengesülze sein.“ Die beiden Jungs kamen zeitgleich mit dem Bus an der Haltestelle an, an der bereits etliche Schüler ihrer Schule warteten. Suthek stöhnte nur genervt auf. „Super, gleich wird’s richtig schön stickig. Und wenn ich bei Rehema ankomme, stinke ich wie ein Schwein.“ Sie stiegen ein. „Das wird ihr egal sein.“, murmelte Ashai nur. Skeptisch sah Suthek seinen besten Freund an – der hatte nämlich ganz und gar nicht zugehört. Körperpflege stand für den nämlich auch ganz weit oben. Er hatte noch nie gesehen, dass Ashai mal mit ungepflegten Händen oder unrasiertem Gesicht in der Schule oder sonst wo gewesen war. Und ausnahmsweise sah auch der Brünette heute so aus. Die Haare hatte er sich heute Morgen ebenfalls sorgfältig gekämmt. „Ashai?“, sagte Suthek, um seinen Freund irgendwie zu erreichen, aber der war ganz abwesend und sah sich im Bus um. Plötzlich schien er etwas – oder jemanden – gefunden zu haben, lächelte demjenigen zu und drehte sich zurück zu Suthek. „Ja?“, erwiderte er dann auch, immerhin hatte er gehört, dass Suthek nach ihm gefragt hatte. Neugierig versuchte der Jüngere denjenigen zu erhaschen, dem Ashai zugelächelt hatte, aber der Bus war gefüllt mit Massen von Menschen und so wurde sein Vorhaben innerhalb von wenigen Sekunden zunichte gemacht. „Ich bin immer noch nicht sicher.“, gab Suthek dann zu und sah Ashai an, der ihn aufmunternd anlächelte. „Sei einfach du selbst. So mag Rehema dich doch am liebsten, nicht wahr?“, empfahl er seinem besten Freund einfach. Dann wurde im Bus als nächste Haltestelle ‚Krankenhaus‘ angekündigt. „Du musst gleich raus. – Sei du selbst und verstell dich nicht, ja?“, wiederholte Ashai abermals. „Okay“, murmelte Suthek nur und wurde von Ashai heraus geschubst, als der Bus vor dem Krankenhaus hielt. Als er in der zweiten Etage bei Rehemas Zimmer ankam, war die Krankenschwester Asheja schon dabei, Rehema in den Rollstuhl zu helfen. „Oh, hallo Suthek!“, begrüßte Rehema ihn schon vom Weiten mit einem leichten Winken. „Hey! Bist du soweit?“, fragte er sie, und mit einem Lächeln auf den Lippen nickte sie. „Ja, Asheja hat mir geholfen. Ich wollte, dass ich schon fertig bin, wenn du kommst, dann können wir los.“, erklärte sie. Suthek sah sie an und stellte fest, dass sie sich sogar hübsch für den Nachmittag gemacht hatte. In ihren Ohren waren kleine, blaue Ohrstecker und sie hatte sich eine schöne Jacke angezogen, die trotz der Jahreszeit nötig war, weil die Wintertemperaturen noch jetzt im Frühling zu spüren waren. Auf ihrem Schoß hatte sie eine kleine Handtasche. „Super. Ich nehme an, wir können los?“, fragte er dann an beide Frauen gerichtet. Die Krankenschwester Asheja nickte. „In den letzten Tagen war ihr gesundheitlicher Zustand stabil. Ich denke, wir können Rehema guten Gewissens für heute in deine Hände geben.“, meinte sie an Suthek gerichtet. „Na, das ist doch gut.“, erwiderte der Junge darauf und grinste Rehema an, „Du hast ja doch auf mich gehört. Immer schön fröhlich sein – okay, wir werden dann mal.“ Er winkte der Krankenschwester zu. „Viel Spaß euch beiden.“, sagte sie und winkte den beiden ebenfalls, dann machte Suthek sich Rehema vor sich herfahrend zum Fahrstuhl auf. Die Krankenschwester Asheja drehte sich um, als sie Schritte hinter sich hörte. Ein großer, breitschultriger Mann tauchte neben ihr auf. „Ach, Herr Goujon. Passen Sie bitte gut auf Rehema auf, ich mache mir Sorgen, auch wenn Sie in Begleitung des netten jungen Herrn Moroy ist.“, bat sie den Mann, „Dadurch, dass ihre Eltern Politiker sind, ging die Nachricht von ihrer Krankheit und den wertvollen Samen schnell in die Öffentlichkeit. Wer weiß, was passieren könnte…“ „Kein Problem.“, sagte Herr Goujon mit tiefer Stimme, „Es ist mein Job, und den habe ich entsprechend auszuführen.“ „Vielen Dank.“, sagte Asheja nur noch und verschwand schließlich, um sich um andere Patienten zu kümmern. Der Mann folgte den beiden Jugendlichen. Das zweite Mal fuhr Suthek heute schon Bus, aber dieses Mal war er in Begleitung der hübschen Rehema. Die Menschen um sie herum sahen sie komisch an. Es schien, als hätten sie noch nie ein Mädchen mit Glatze gesehen. Aber für einen Moment dachte Suthek sich, dass die meisten Menschen sowieso alles komisch fanden, was sie nicht kannten. Dann sah er zu Rehema, die unsicher erst die Menschen im Bus und danach ihren Schoß anguckte. „Stör dich nicht daran“, meinte Suthek, der neben ihr auf einem abgenutzten Sitz saß, „Sie kennen das nicht, also gucken sie komisch. Das haben Menschen so an sich.“ „Es ist ein bisschen unangenehm“, flüsterte Rehema ihm zu. „Angestarrt zu werden? Kann ich mir vorstellen. Wird wahrscheinlich heute öfters vorkommen, in der Stadt sind immerhin viele Menschen unterwegs. Aber mach dir nichts draus, die Leute im Krankenhaus zum Beispiel gucken doch auch nicht komisch.“ „Weil sie mich kennen?“, hakte sie nach. „Genau. Also ignorier die anderen einfach. Wir wollen uns doch keinen schönen Tag verderben, nicht wahr?“, fragte er. Mit einem Mal sah sie ihn wieder unglaublich glücklich an. „Nein, garantiert nicht.“ Die beiden stiegen aus, als sie den Kirchplatz erreichten. Es war ein großer Platz an der riesigen Himmelskirche, wie sie oft genannt wurde. Oft gab es hier einige Stände mit Obst und Gemüse oder auch frischem Brot. Rehema sah begeistert zur Kirchenspitze. „Wow – ich kann mich erinnern, Suthek! Ich weiß noch ganz genau, dass diese Kirche hier schon vor acht, neun Jahren stand.“, erzählte sie. „Die steht hier bestimmt schon länger als neun Jahre. Ich glaube, es ist schon zweihundert Jahre her, dass sie gebaut wurde. – Aber schön, dass du dich erinnerst.“, sagte er dazu, „Einige Sachen haben sich hier nämlich verändert in den letzten Jahren. Willst du hinein?“ Mit leuchtenden Augen sah sie ihn an. „Liebend gerne!“ Natürlich tat er ihr den Gefallen. Wie konnte er auch anders? Es war ja schließlich Rehema, die schöne Rehema, mit der er jetzt einen ganzen Nachmittag allein sein konnte… in Gedanken versunken fuhr er sie in die Kirche hinein. Sie waren fast ganz alleine in dem Gotteshaus und Sutheks Schritte hallten in der Stille wieder. Suthek ging zusammen mit Rehema durch das Mittelschiff bis vor zum Altar. Dort blieben sie stehen und sahen auf zu den drei hohen, bunt bemalten Fenstern, die sich hinter diesem auftürmten. Auf ihnen waren drei aufwendig gekleidete Menschen zu sehen – sie stellten die Götter dar, an die viele Menschen hier glaubten. Auf dem mittleren Fenster war ein großer Mann mit roten Haaren abgebildet. Er wirkte stark und mutig. So wie er da stand, konnte man nur davon ausgehen, dass er ein Mensch mit einer Macht sein musste, die kein anderer hatte. Er stellte den Sonnengott Deomas dar. An seiner rechten Seiten stand die Mondgöttin Alahrya, geprägt von wunderschönen langen, dunklen Haaren, die blau schimmerten. Ihr Gesicht und ihr Körper spiegelten die Schönheit und Aufrichtigkeit wieder. Rehema dachte sich, ihre Augen wirkten sehr zuverlässig auf sie. Auf der anderen Seite des Sonnengottes stand Sihsyanae, die Sternengöttin. Sie hatte ein gutmütiges Lächeln auf den Lippen, einen forschenden Blick, der zeigte, dass die Intelligenz ihre Stärke war. Die Sternengöttin hatte unglaublich helles, blondes Haar. In ihren Händen hielt sie eine rosa Figur eines Herzens. Rehema lächelte zu den drei Gottheiten auf. Plötzlich bildete sie sich ein, dass die Götter an den Fenstern ihr zulächelten und zwinkerten, als wollten sie, ihr würde etwas Gutes geschehen. Dann fiel ihr ein, dass Suthek neben ihr stand und noch den restlichen Tag bei ihr sein würde. Das war für sie gut genug. Suthek, der neben ihr stand, bemerkte, dass sie kurz die Augen schloss und die Hände faltete. Danach sah sie zu ihm auf und meinte leise: „Wir können wieder gehen.“ Der Junge nickte und sie verließen die Kirche. „Hast du gebetet?“, fragte er Rehema, als sie bereits auf dem Weg in die breite Einkaufsstraße waren, die vor ihnen lag. „Nein“, antwortete das Mädchen, „Ich habe den Göttern gedankt, dass ich heute nur mit dir in die Stadt gehen kann.“ Überrascht sah Suthek sie an, aber schließlich grinste er sie an: „Hey, was soll denn das? Ich müsste doch der Charmeur sein…“ Rehema lachte. „Guck, ich kann auch anders.“, meinte sie nur dazu, „Wo gehen wir jetzt hin?“ „Hm, ich dachte, wir könnten ein bisschen durch die Läden gucken“, schlug er vor, „Vielleicht finden wir ja etwas Schönes für uns.“ „Oh mein Gott, ja, ich bitte darum!“, stimmte Rehema enthusiastisch zu, „Was meinen Kleiderschrank angeht… eher gesagt den Inhalt, der ist bestimmt im Gegensatz zu anderen Frauenkleiderschränken unterdurchschnittlich. Kaila kauft manchmal etwas für mich, aber ich wollte schon immer mal mir selbst etwas aussuchen…“ „Weil Kaila deinen Geschmack nicht trifft?“, hakte Suthek grinsend nach. „Na ja, so würde ich das jetzt nicht sagen“, druckste Rehema herum, „Sie… sagen wir, sie bringt mir ziemlich bunte Sachen mit. Ziemlich, ziemlich bunte.“ „Ah – ich kann mir vorstellen, was du meinst. Du in Kailas Klamotten… hm. Oh Gott. Irgendwie unvorstellbar…“, murmelte er vor sich hin. Rehema musste daraufhin lachen. „Sie müssen ja auch nicht mir stehen, sondern Kaila.“, erwähnte sie durchaus richtig, „Ich finde, zu ihr passen diese bunten Sachen sehr gut.“ „Jap“, machte er nur dazu und zeigte dann auf einen Laden, während Rehema sich schon interessiert umguckte, „Guck mal, der Laden ist gut – willst du mal reingucken?“ „Gerne. Du kannst mich ruhig überall mit rein schleppen, ich will ja auch was sehen“, erlaubte sie ihm und er lachte bei der Vorstellung, wie er sie sich schnappte, über die Schulter warf und überall mit hinnahm. „Okay – aber erwarte ja nicht, nur weil ich ein Junge bin, dass ich in wenige Läden gehe!“ Rehema sah ihn verständnislos an. „Warum sollte ich das?“ „Na ja, viele gehen davon aus, dass nur Frauen genug Ausdauer haben, um jedes einzelne Geschäft abzuklappern. Was oft auch tatsächlich so ist, aber irgendwie kann ich das auch.“, erklärte er ihr. „Tatsächlich?“, sagte die junge Frau verwundert, „Das hätte ich eigentlich nicht gedacht. Aber ist doch ganz gut so, nicht? Ich denke, es ist besser, wenn beide Zeit und Lust dazu haben.“ „Wahrscheinlich“, gab er ihr Recht, „Wenn ich mit Ashai in der Stadt bin, endet das immer in einer Katastrophe…“ Die beiden mussten lachten. Suthek wegen Erinnerungen, wie sein Freund sich zum Beispiel aufgeregt hatte, dass er jetzt auch mal in einen Laden wollte, in dem man auch schöne Hemden kaufen konnte. Rehema wiederum wegen Vorstellungen, wie Ashai den Packesel für Suthek spielen durfte. „Der arme Ashai.“, meinte Rehema dazu. „Ach was, der hält das schon aus.“, erwiderte Suthek leichtfertig. Zusammen schlenderten sie langsam durch den Laden. Der Brünette hatte schnell gemerkt, dass Rehema ganz und gar nicht wie Kaila auf sehr bunte Kleidung stand, sondern eher auf Pastelltöne. Als er ihr eine von ihm entdeckte rote karierte Bluse vor die Nase hielt, war sie ganz hin und weg. „Die ist sehr schön! – Wo sind die Umkleiden? – Meine Güte, wer hätte gedacht, dass du einen so guten Geschmack hast…“, plapperte sie glücklich vor sich hin und störte sich tatsächlich nicht mehr an den Blicken der anderen Leute. Suthek schmollte derweil. „Was soll das denn heißen? War das jetzt ein Kompliment oder eine Beleidigung?“ „Das kannst du dir aussuchen.“, antwortete sie keck. „Na, dann nehm ich natürlich das Kompliment.“ „War ja klar. – Kannst du mich zu den Umkleiden fahren?“, bat sie ihn, und wie ein Bediensteter sprang er auf, um ihren Wunsch zu erfüllen. „Jawohl, Mylady, stets zu ihren Diensten.“, spaßte er und brachte sie somit zum Lachen. „Vielen Dank, Paldoro.“, machte sie mit, denn Paldoro war ein Name, der für Butler und Diener bekannt war. Suthek runzelte die Stirn und verzog dann das Gesicht. „Äh, nein, danke. Ich will nicht Paldoro heißen, ich mag den Namen nicht.“, sagte er und kam mit ihr bei den Umkleiden an, „So, soll ich dir irgendwie helfen?“ „Nein, ich denke, ich komme alleine zurecht. Es sei denn, du willst mit reinkommen“, zwinkerte sie ihm zu. Als er plötzlich rot um die Nasenspitze anlief, lachte sie nur und rollte sich selbst in die Umkleidekabine für Rollstuhlfahrer herein. Die Bluse hatte Rehema natürlich ausgezeichnet gepasst und sie sah richtig hübsch darin aus. Aber was viel anderes hatte Suthek beinahe nicht erwartet, in seinen Augen war sie eh immer hübsch. Wie schmalzig er sich anhören musste, dachte er sich… Ihm war es egal, was die anderen dachten, er liebte das Mädchen, so wie sie war. Ihm war es egal, dass sie krank war. Ihm war es egal, dass sie keine Haare auf dem Kopf hatte. Ihm war es egal, dass sie in einem Krankenhaus lebte. Ihm war alles egal, solange er sie lieben durfte und sie ihn auch mochte. Die Bluse bezahlte er ihr, auch wenn sie das nicht wollte. Sie meinte, ihr Vater hatte ihr Geld gegeben extra für diesen Tag, aber er wollte ihr unbedingt zeigen, dass sie ihm etwas bedeutete und ihr einen Gefallen tun. Als sie durch die Einkaufsstraße gegangen waren und eine Menge an Geschäften abgeklappert hatten, fuhr er Rehema in Richtung Stadtpark. Den konnte sie noch nicht kennen. „Wie schön“, sagte Rehema, „Davon wusste ich gar nichts, dass dieser Park existiert.“ „Ja, das habe ich mir gedacht.“, erwiderte Suthek, froh darüber, dass er sie wirklich mit etwas überrascht hatte, „Den haben sie erst vor gut drei Jahren errichtet.“ „Ach so? Es ist ziemlich hübsch hier… so ruhig und idyllisch. Dabei ist die Stadt gar nicht so weit weg und dort ist es wesentlich lauter.“ „Ja, ich gehe hier auch sehr gerne hin, wenn ich mal in Ruhe nachdenken will“, erwähnte Suthek nebenbei. Rehema sah ihn an und versuchte sich vorzustellen, wie der Braunhaarige hier alleine war, still und nachdenkend. Es fiel ihr schwer. Er ging mit ihr zu einigen weißen Bänken, die am Wegrand standen, und setzte sich hin. Rehema sah zu dem Teich hinüber, der sich ihnen gegenüber befand. Es war still, nur das Zwitschern einiger Vögel war zu hören. Einiges Gackern mischte sich plötzlich unter die Geräuschkulisse und vom Parkteich kam eine Entenmutter mit ihren Jungen hinauf gewatschelt. „Suthek, schau mal“, war Rehema auch sofort begeistert, „Wie süß die sind. – Entenjunge hab ich ja ewig nicht mehr gesehen.“ „Würde mich auch wundern, wenn es Enten im Krankenhaus gibt.“, grinste er sie an. Rehema hob eine Augenbraue und grinste ihn halb an. „Trottel. – Und ob es bei uns Enten gibt! Allerdings nur in der Küche und auch nicht mehr so lebendig.“ „Ach, die armen Entchen“, meinte Suthek dazu. Die Jungen kamen nun zusammen mit ihrer Mutter zu den beiden gewatschelt. „Guck mal, die haben dich lieb.“ Die kleinen Enten kamen geradewegs auf Rehema zu. Sie streckte ihre Hand nach unten und die Entchen liefen schon freudig heran, in der Erwartung, dass sie etwas zu futtern bekamen, da fing die Mutter auch schon an, empört zu schnattern. Mit einem Mal waren die Jungen wieder weg von Rehema. „Ziemlich besorgt, die Mutter“, sagte Suthek überrascht und mit gehobenen Augenbrauen. „Ich kann’s verstehen“, erwiderte Rehema, „Wäre ich die Entenmutter, würde ich auch nicht wollen, dass die Kleinen so nah an die großen Menschen gehen.“ Er lächelte sie an, als sie so verständnisvoll aus der Sicht einer Mutter sprach. „Willst du später mal Kinder haben?“ Überrascht weitete sie die Augen, ohne ihn anzugucken, dann senkte sie ihren Blick traurig auf die Entchen vor sich. Suthek schluckte kurz, als er bemerkte, dass ihre Fröhlichkeit mit einem Mal verschwunden war. „Entschuldige, ich wollte nicht…“ „Schon gut.“, winkte sie das ab, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, „Ja, ich würde sehr gerne… aber ich zweifle daran, dass es funktionieren könnte. Dazu bin ich wohl zu schwach.“ Suthek sah sie an. Seine starke Rehema, die immer versuchte, weiterzumachen, obwohl sie nie so leben konnte, wie alle anderen Menschen. Er bewunderte sie für diesen starken Willen. Sanft nahm er ihre Hand und umschloss sie mit seiner eigenen, streichelte mit seinem Daumen über ihren Handrücken. „Ich glaube fest daran, dass auch du irgendwann Mutter sein kannst, Rehema. Dabei helfen wir dir alle. Kaila, Ashai und ich… und auch Professor Korokoh, Imira und Asheja. Und dein Vater. Wir geben dich doch nicht einfach so auf.“ Rehema konnte nicht anders, als ihn glücklich anzulächeln. Und dann drückte er ihr einen zarten Kuss auf die Lippen. „Suthek…“, flüsterte Rehema überrascht. Sie sah ihm direkt in die Augen, etwas, was sie in solch einer Situation gar nicht von sich selbst erwartet hätte. Er dagegen sah beschämt auf seine Beine. „Entschuldige, es kam nur so über mich…“ Rehema hob vorsichtig eine Hand um ihn zum Schweigen zu bringen. „Guck mich bitte an“, bat sie ihn, und er tat es. Er sah in ihre blauen Augen, die ihm fest in die eigenen schauten, mit einem unglaublichen liebevollen Blick. Diesen Blick hatte er schon immer sehen wollen. Die junge Frau beugte sich vorsichtig zu ihm vor. Er kam ihr unwillkürlich entgegen, die grünen Augen fest auf ihr Gesicht fixiert. Dann küsste auch sie ihn mit Zärtlichkeit auf die Lippen. Er gab sich dem Gefühl hin, ihre süßen Lippen auf den seinen zu schmecken und schloss seine Augen. Als Suthek seine nun feste Freundin, wie er mit Stolz sagen konnte, zurück zum Krankenhaus brachte, wollte diese ihn fast nicht mehr gehen lassen. „Wann kommst du wieder?“, fragte sie jetzt schon sehnsüchtig. „Bald“, versprach er, „Kommt drauf an, wie du Zeit wegen deiner Besuche hast…“ „Na ja, morgen kommt Kaila zu mir.“, fiel ihr ein. „Dann spätestens Freitag.“ Sie lächelte glücklich. Das hörte sich gut an, den morgigen Tag würde sie schon überleben, immerhin kam Kaila zu ihr. „Ich freue mich drauf“, sagte sie. „Ich mich auch.“ Er gab ihr noch einen kurzen Kuss auf den Mund. „Und jetzt schlaf gut.“ „Du auch. – Komm gut nach Hause.“ Suthek nickte ihr dankend zu, winkte und ging dann den langen Korridor in Richtung Treppe. Sie sah ihm noch hinterher, als er schon längst um die Ecke war. Asheja unterbrach ihre Gedanken, indem sie Rehema in ihr Zimmer fuhr und ihr half, ins Bett zu kommen. Und Rehema war in Gedanken immer noch im Stadtpark. Auf dem Weg nach Hause wählte Suthek wieder Ashais Nummer. Abermals dauerte es wieder eine Weile, bis sein Freund abnahm. „J-Ja?“, kam von dem Schwarzhaarigen. Seine Stimme hörte sich heiser an. „Du glaubst nicht, was gerade passiert ist! Rehema und-“ Ein Stöhnen. Suthek war sich ganz sicher, da war ein Stöhnen zu hören am anderen Ende der Leitung! „Ashai!“ „W-Wie, was?“ „Ashai, da war schon wieder ein Stöhnen! Verarsch mich nicht!“ Er hörte es abermals, diesmal war er ganz und gar nicht zu überhören. Irgendeine Frau musste da bei Ashai liegen und durchgängig stöhnen. „Ach“, versuchte Ashai am Telefon zu sagen, „Hach – ehm – ah… eh, Su-Suthek? Noch da?“ „Ja, verdammt! Hör auf, mir was vor zu stöhnen!“ „Tut mir leid, a-aber… oh Gott-… ich kann ger-“ Piep. Piep. Wieder aufgelegt. Langsam reichte es Suthek. Das waren hier sehr wichtige Informationen, die er seinem Freund mitteilen wollte und der war ständig am Vögeln! – Moment, er war am Vögeln? Mit wem zum Geier eigentlich? Am nächsten Tag war Ashai reichlich genervt, als er die Schule endlich verlassen konnte. Selbstverständlich hatte Suthek ihn wieder vollgemeckert, aber hey, Ashai wäre nicht Ashai, wenn es ihn nicht total kalt lassen würde. Jedenfalls hatte er gerade eben das Schulgebäude verlassen, da kam auch schon ein kleines, blondes Mädchen – ach, nein, eine Frau, vergaß er ja immer wieder – auf ihn zugelaufen. „Hallo, Kaila“, begrüßte er sie seufzend. „Hi“, machte sie kurz, „Hat er wieder rumgemeckert?“ „Jap, aber was soll’s“, sagte er, „Mir ist es egal.“ „Mir nicht. Es nervt einfach total, dass er immer genau dann anrufen muss, wenn wir gerade so schön-“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen. „Nicht so laut, Kaila. – Es ist besser, wenn das niemand weiß.“ „Was?“, flüsterte sie und grinste ihn an, „Dass wir miteinander schlafen? Dass du total darauf abfährst, wenn ich nackt unter dir liege? Und dir den Schw-“ Abermals küsste er sie heftig auf den Mund – die Kleine musste aber auch immer unglaublich viel plaudern. Manchmal jedoch, abends zum Beispiel, da sagte sie Dinge, die ihm richtig gefielen… Weiter wollte er nicht denken. Er fühlte bereits jetzt schon, dass seine Wangen rot sein mussten. Schließlich ließ er von Kaila ab, als ihr langsam die Luft auszugehen schien. „Du bist aber auch ein kleines, ordinäres Ding“, schimpfte Ashai gespielt mit ihr, „Heb dir das für später auf.“ Sie nahm seine Hand in ihre, auf einmal das ganz liebe Mädchen spielend. „Für später?“, wiederholte sie interessiert, „Das hört sich gut an…“ „Schlag dir die Gedanken aus dem Kopf“, sagte er zu ihr, streichelte aber unterbewusst ihren Handrücken mit seinem Daumen, „Du wolltest jetzt zu Rehema.“ „Ja, genau. Deswegen bin ich hier, ich wollte dich etwas fragen.“ „Ach so?“ „Ja… würde es dir etwas ausmachen, wenn ich Rehema von uns erzähle?“, fragte sie ihn. Er blieb stehen, sie verwundert ansehend. „Nein, ich denke nicht…“, sagte er überlegend, „Nein, meinetwegen kannst du ihr von uns erzählen. Wir können es ja nicht ewig geheim halten. Suthek wundert sich doch auch schon wegen der Anrufe…“ „Super, danke! Sie wird mir ja heute auch von ihrem Treffen mit Suthek erzählen. – Vielen Dank, Ashai!“, freute sie sich, drückte ihrem Freund einen Kuss auf die Lippen, „Ich werd dann, ich muss mich beeilen!“ Und schon war sie vorgelaufen zur Bushaltestelle, wo der Bus gerade vorfuhr. Sie schaffte ihn noch gerade so und winkte Ashai aus dem Fahrzeug zu. Lächelnd sah er ihr hinterher. Kaila war schon eine interessante, unglaublich vielseitige und liebenswerte Persönlichkeit. Sie war einzigartig. Wahrscheinlich liebte er sie deswegen. Kaila kam gut gelaunt in Rehemas Zimmer gehüpft. Ketten und Glöckchen klimperten an ihr, aber es störte weder sie noch ihre beste Freundin. „Hallo!“, begrüßte sie Rehema, knuddelte sie einmal durch und schmiss ihre Schultasche wieder beiseite. „Du bist aber gut gelaunt“, stellte Rehema überrascht fest – aber auch sie konnte sich den ganzen Tag ein Lächeln nicht verkneifen. „Ja, ich werde dir heute nämlich erzählen, wer mein Freund ist“, verriet sie ihr schon, meinte dann aber noch: „Aber zuerst bist du dran, du musst mir alles erzählen!“ „Tatsächlich? Oh man, jetzt bin ich neugierig, das ist gemein…“, meinte Rehema dazu, „Also muss ich mich wohl beeilen mit Erzählen, hm?“ Und so fing Rehema an, vom gestrigen Tag zu berichten. Sie fing mit dem Kirchbesuch an, erzählte dann vom Einkaufen und wie Suthek ihr eine Bluse ausgesucht hatte. Dann der Stadtparkbesuch und die süßen Entenjungen. Selbstverständlich auch das Gespräch zwischen Suthek und ihr. „Na ja, und dann hat er mich geküsst – einfach so, auf den Mund.“, sagte sie. „Er hat was? – Du heilige Güte, wie süß!“, freute Kaila sich, „Und was hat du darauf gemacht?“ „Ich hab ihn auch geküsst.“, gestand Rehema. „Und jetzt?“ „Ja… jetzt sind wir ein Paar.“ „Na endlich!“, meinte die Blondine erleichtert dazu, „Wurde ja auch Zeit. Ihr habt euch ja schon mit euren Blicken abgeknutscht!“ „Ach, Quatsch“, murmelte Rehema nur peinlich berührt, „Jetzt bist du aber dran mit Erzählen.“ Kaila wurde auf einmal ruhig und lächelte vor sich hin. „Okay, wenn du möchtest. – Mein Freund heißt Ashai.“ Stille. Die blonde Frau lächelte glücklich in Gedanken an den Schwarzhaarigen vor sich hin, während Rehema nur erstaunt die Augenbrauen hob. „Ashai? – Wirklich Ashai? Unser Ashai?“ „Ja – ich liebe ihn.“ Kailas beste Freundin war gerade sehr überrascht. Noch nie hatte sie Kaila so reden hören, so glücklich und ruhig. So ernst über Gefühle. Sie schien es ernst zu meinen. „Das freut mich. Aber wie kam es denn dazu?“, fragte sie nach. „Ich weiß nicht mehr genau“, meinte Kaila und überlegte, „Anfangs kam es selten vor, dass wir beide Mal alleine waren, aber manchmal in den Pausen in der Schule haben wir uns zufällig getroffen und miteinander geredet. Das ging lange so weiter, wir haben uns richtig angefreundet, merkwürdigerweise, dabei sind wir eigentlich so unterschiedlich…“ „Gegensätze ziehen sich doch an.“, warf Rehema ein. Kaila nickte. „Ja. Und irgendwann haben wir uns auch mal nachmittags getroffen. Öfters sogar. Bis es irgendwann wie bei dir und Suthek zu einem Kuss kam. Okay, zu mehreren Küssen.“ „Und mit ihm hattest du auch Sex?“, hakte Rehema weiter nach. Zu ihrer Belustigung wurde Kaila ein Stückchen rot. „Ja… wir schlafen miteinander und es tut unglaublich gut. – Nur leider hat Suthek momentan die Angewohnheit ständig zu dieser Zeit anzurufen, dieser Idiot…“ Rehema musste lachen, obwohl Kaila ziemlich angesäuert dreinschaute. „Entschuldige, aber… ich kann mir das zu gut vorstellen! Typisch Suthek…“ „Jap, er ist ein Trottel. – Darf ich das jetzt eigentlich noch in deiner Anwesenheit sagen?“ „Klar doch. Er ist ja ein süßer, lieber Trottel.“ Es war ein wunderschöner Sonntagnachmittag, an dem die Frühlingssonne kräftig schien und die Vögel fröhlich ihre Lieder sangen. Langsam schienen auch die letzten Überbleibsel des Winters endlich verschwunden zu sein und überall war Frühling. Selbst in Rehemas Zimmer, in dem sich auch Suthek, Kaila und Ashai aufhielten, war anscheinend Frühling, denn bei den Freunden waren diese sogenannten Frühlingsgefühle zugegen. Suthek saß an Rehemas Bett und hielt ihre Hand, Kaila saß derweil auf Ashais Schoß. Noch eben hatten die vier Freunde sich unterhalten, aber mit einem Mal war alles still, als wollten sie unbedingt den Frühling draußen hören. Die Sonne schien in das Zimmer hinein und sie genossen die Ruhe und die Wärme. Es war still. Selbst das Pulsmessgerät piepte heute nicht, da es laut Professor Korokoh und den Krankenschwestern Rehema momentan so gut ging, dass man sich vorerst keine Sorgen machen musste. Sie meinten sogar, dass ihr Gesundheitszustand sich besserte. „Ist es nicht merkwürdig“, sagte Kaila plötzlich leise mit dem Blick auf das Paar am Bett gerichtet, „Wie lange Menschen manchmal brauchen, bis sie zueinander finden?“ Suthek und Rehema grinsten verlegen. „Ist es nicht merkwürdig“, meinte Rehema dann, „Wie unterschiedlich Menschen sein können und trotzdem zueinander finden?“ Jetzt tauschten Ashai und Kaila einen Blick, der aber keineswegs beschämt war, sondern eher total verliebt. „Irgendwie ist doch die ganze Welt merkwürdig“, ergänzte Rehema, „Niemand weiß, warum so vieles geschieht, und wer oder was das alles beeinflusst. Aber es passiert.“ Dann wurde es wieder still. Solange bis laute Schritte den Flur entlang zu hören waren. Mit einem Mal wurde die Tür zu Rehemas Zimmer weit aufgerissen und es gab einen Knall, als die Tür an die Wand flog, der alle zusammen zucken ließ. „Ich hab’s!“, Professor Korokoh stand keuchend in der Tür, „Ich hab’s, Rehema! Ich hab’s!“ Eine Augenbraue gehoben sah Rehema den Arzt merkwürdig an. „Was haben Sie?“ „Diese gottverdammte Medizin! Ich hab sie endlich, und wenn ich mich nicht irre, stimmt alles!“, erzählte er und bis auf Ashai schien niemand zu wissen, worum es ging. „Sie haben sie fertig entwickelt? Sind Sie sich vollkommen sicher?“, fragte Ashai aufgeregt nach. „Ja! – Rehema, hör zu, ich habe eine Medizin entwickelt, die das Fließen dieser Samen beim Weinen stoppt! Das heißt, wenn du dieses Medikament regelmäßig nimmst, wirst du irgendwann ganz normal leben können!“ Rehema, Suthek und Kaila sahen den Professor fassungslos an. „Ist… ist das Ihr Ernst?“, fragte Rehema ungläubig, „Ich werde ganz normal sein? Ganz gesund?“ „Nun ja, alles macht die Medizin auch nicht.“, sagte Professor Korokoh, „Aber dafür gibt es was Anderes, das dir dabei hilft. Erinnerst du dich daran, was wir festgestellt haben, als wir deine Samen eingepflanzt haben?“ „Ja… es wachsen Bäume, an denen Früchte hängen, die die Lebensspanne erweitern…“ „Genau! Und das ist der Schlüssel zu einem gesunden, normalen Leben! Wenn du die ebenso regelmäßig isst, wird dir das helfen, deinen Gesundheitszustand zu verbessern! Das heißt, du wirst nach einiger Zeit und Übung wieder laufen können, vielleicht wächst du auch noch und dir werden Haare wachsen.“ „Haare?“, wiederholte Rehema ungläubig. „Ja, Haare“, bestätigte der Professor lachend, „Und du wirst nicht mehr an Rollstuhl und Bett gefesselt sein.“ „Das ist-… wow… ich danke Ihnen, Professor!“, versuchte Rehema irgendwie, ihren Dank auszudrücken. „Bedank dich lieber bei Ashai, er war mir eine große Hilfe und hat meine Gedanken in die richtige Richtung geschoben.“, meinte der Professor dann. Ashai wurde rot und lächelte schüchtern. „Wir konnten die Medizin natürlich noch nicht ausprobieren… wirst du sie trotzdem nehmen?“ „Natürlich!“, antwortete Rehema überzeugt, „Ich vertraue euch doch. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass das alles wahr ist…“ „Ist es aber“, sagte Suthek neben ihr und grinste ihr aufmunternd zu, „Ich habe dir doch gesagt, dass alles gut wird! Ich habe es dir versprochen!“ „Ja“, brachte sie gerade noch über die Lippen. Dann verzogen diese sich zu einem glücklichen Lächeln. Und zum ersten Mal in ihrem Leben weinte Rehema tatsächlich aus Glück. Die Samen flossen aus ihren Augen – diese Samen, die einerseits ihr Leid gewesen waren und andererseits ihr Glück sein würden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)