Stairway to Heaven von Ling-Chang ================================================================================ Kapitel 11: Arrival ------------------- Dorothea ließ ihren Reisebeutel auf den gepflasterten Boden vor dem Eingangstor des Sperrbezirks sinken. Das Tor war aus stabilem Holz, mit Eisenstreben zusammengehalten und dadurch nicht zu passieren, wenn die Wächter es nicht öffneten. Es war in die gewaltige steinerne Mauer eingelassen, die den Bezirk umschloss und vor Eindringlingen von außen beschützen sollte. „Hier hast du noch etwas“, murmelte ihre Tante und reichte ihr einen Flakon, in dem eine orangene Flüssigkeit hin- und herschwappte. Dorothea schaute misstrauisch in diese durchsichtige Brühe. „Was ist das denn?“ „Ein weiteres meiner Wundermittelchen. Rate!“ „Reichen diese Pillen nicht? Wofür sollte ich jetzt dieses Gebräu auch noch trinken?“, erwiderte Dorothea hartnäckig und schüttelte angewidert den Kopf. Sie hatte gar keine Lust, sich diese Flüssigkeit auch noch einzuflößen. „Doch nicht trinken, Dummerchen! Du verstreichst einen Tropfen dieser Flüssigkeit auf deinem Drachenreitermal und es verschwindet. Wenn du nicht auffliegen willst, ist das das Erste, was du verbergen musst, Schätzchen, sonst bringst du deinen Geliebten nur in Schwierigkeiten. Du giltst offiziell als Mann – wenn man an dir dieses Mal entdeckt, wird man dich für einen Knaben halten. Und deinen General gleich mit“, meinte ihre Tante bloß und drückte ihr das Fläschchen in die Hand. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht fuhr die Frau dann fort: „Einmal in der Woche, wie die Pille – verstanden?“ „Jawohl!“, antwortete Dorothea und steckte das Fläschchen in ihren Beutel. Dann wandte sie den Blick wieder auf das Tor vor sich. Es war ihre Tante, die ihr schließlich den entscheidenden Schubs gab und lächelnd ausrief: „Auf geht’s, komm. Ruf mit mir zusammen!“ „Abenteuer, hier komme ich!“, rief Dorothea halblaut und unbegeistert mit ihrer Tante zusammen und die Frau lachte. Als Pilea ihr zuwinkte, wusste sie, dass sie nun gehen musste. Hinein in eine Welt, von der sie nichts wusste und in der sie sich auf niemanden verlassen konnte. „Ich schreib‘ dir ein paar Briefe“, murmelte sie nun wieder in ihrer männlichen Stimme – ein wenig nuschelnd und mürrisch, damit sie männlicher wirkte. „Nur zu, lenk dich aber nicht zu sehr vom Lernen ab“, antwortete ihre Tante bloß und machte eine wegwerfende Handbewegung. Doch in den Augen der Frau schimmerten Tränen – eigentlich war sie in Sachen Abschied nicht so leicht zu rühren. „Wein doch nicht“, warf Dorothea ihr vor und die Frau strich sich die Tränen aus dem Gesicht, bevor sie lachend sagte: „Verzeihung, ist bloß die Nervosität. Du verstehst?“ „Nicht wirklich, nein. Mach’s gut, Pilea-sitoka.“ „Mach’s besser, Alan“, warnte Pilea sie und zwinkerte. Ihr Glückwunsch war nicht nur auf die Drachenreiterausbildung bezogen, sondern auch auf ihre Liebesbeziehung. „Ach! Und vergiss‘ nicht! Emma, Lisa und Maria! Niemanden sonst!“ „Ja, ja, schon verstanden“, antwortete Dorothea und seufzte. Das waren die einzigen Menschen, denen sie sich anvertrauen durfte, aber, weil sie diese noch nie gesehen hatte, konnte sie sich noch nicht eindeutig auf deren Ruf verlassen. Mit zaghaften Schritten ging sie auf das Wachhäuschen am Eingangstor zu und klopfte an die Tür. Ein alter, kleiner, runzliger Mann mit einem Bart bis über den Bauchnabel öffnete. „Ja?“, blaffte er und starrte sie unter buschigen Augenbrauen heraus an. Sein Blick wanderte von ihren Füßen bis über ihren Kopf und er schnalzte. Dann murmelte er zu sich gewandt: „Wie armselig. Jetzt haben sie keine richtigen Burschen mehr, jetzt holen sie die Schwächlinge, um wenigstens ein paar Drachenreiternovizen pro Jahr ausbilden zu können. Als würde so etwas jemals Drachenreiter werden. Tse!“ Dorothea sagte nichts dazu und verbarg ihren Ärger über den Kommentar des Mannes. Sie hatte schon immer gute Ohren gehabt, deshalb hatte sie das Gemurmelte auch gut verstehen können – ganz im Gegensatz zu den Erwartungen des Mannes. Stattdessen zog sie ihre Dokumente aus ihrer Westentasche und reichte ihm die Papiere. Er schaute sie finster an und untersuchte dann jeden Buchstaben auf dem Blatt, als würde er ihr nicht trauen. Das tat er wahrscheinlich eh nicht. „War ja klar, dass Lorian-shiarmagistar wieder derjenige ist, der auf solche Ideen kommt“, brummte der Wächter. Dorothea zuckte nicht einmal mit der Wimper, als dieser niedere Soldat so über einen Drachenreiter sprach. Eigentlich wollte sie am liebsten den Kragen dieses Mannes erfassen und den Kleinwüchsigen kräftig schütteln, doch sie beherrschte sich. Stattdessen seufzte sie bloß. „Bist ja der erste von den Novizen, der hier ankommt. Der Rest kommt erst ein oder zwei Tage vorher.“ „Man hat mir gesagt, ich solle innerhalb einer Woche kommen und die ist bald vorbei“, versuchte Dorothea sich zu rechtfertigen. Der Mann schnalzte. „Bist’e denn auch derjenige, der hier angekündigt wird?“, fragte er und kniff die Augen zusammen, während er die Buchstaben auf dem Blatt zu entziffern versuchte. Mit erhobener Augenbraue fuhr er fort: „Alen Lulrenssohn?“ „Alan Luiranssohn“, verbesserte sie ihn und nickte. Der Mann schaute sie finster an und meinte schließlich: „Scheinst ja ein ganz gescheites Bürschchen zu sein. Und unhöflich noch dazu. Aber keine Bange, auch dich werden sie noch ordentlich erziehen, die da oben in der Akademie!“ Dorothea unterdrückte ihren Drang, laut zu protestieren und schluckte die Beleidigung stillschweigend. Besser, als es sich gleich am ersten Tag mit dem Torhüter zu verscherzen. Der Mann nickte und sagte: „Bist ja nicht so helle, hast nicht mal ein paar Sprüche auf Lager … Nun ja, wie auch immer. Warte hier! Ich werde eben Kontakt zum inneren Torwächter aufnehmen. Wenn du’s dir anders überlegt hast, verschwinde – das Leben da drinnen ist kein Zuckerschlecken.“ „Danke für die Warnung“, erwiderte sie bloß und der Mann lachte trocken. „Das war keine Warnung, ich habe dir lediglich genug Informationen gegeben, damit du dich auf dein weiteres Leben gefasst machst – würde ich dich warnen wollen, hätte ich dir gesagt, dass du auf gar keinen Fall über diese Schwelle treten solltest – es sei für dein Bestes. Aber das habe ich nicht getan, ich schicke dich ohne Warnung hinein und freue mich, dich in ein paar Jahre nach gescheiterter Eiprobe in den Reihen der Soldaten wiederzusehen.“ „Ich verstehe“, antwortete sie und schluckte den dicken Kloß in ihrem Hals hinunter. Offensichtlicher hätte er nicht sagen können, dass sie hier fehl am Platze war. Wenn selbst Männer es schwer hatten, wie würde sie bloß ihre Zeit dort zubringen? Aber all das wurde ja von der Eiprobe entschieden – sollte sie dabei Erfolg haben, dann musste sie nicht mit diesem Torwächter in der gleichen Fußarmee dienen. Immerhin war die Eiprobe das entscheidende Fest, bei dem ein Drachenreiter entstand. Kein Drachenreiternovize wurde zum Drachenreiter, wenn er bei der Eiprobe nicht wenigstens ein Drachenei zugeteilt bekommen hatte. Der Mann reichte ihr die Dokumente und schlurfte zurück in sein Häuschen. Aus dem dunklen Innenraum drang bald durch alle Spalten ein sanftes blaues Licht und kurz darauf hörte man den Wächter sprechen. Er blaffte und schimpfte, erreichte aber, dass sich das Tor wie von Geisterhand öffnete. Aber nur einen Spalt, der groß genug war, um einen Menschen hindurchzulassen. „Verschwinde, Kleiner. Wir sehen uns bei der Fußarmee!“, rief der Mann von drinnen und sie hob ihren Beutel vom Boden auf. Dann ging sie hinüber zum großen Eingangstor, durch dessen Spalt sie nichts weiter als ewige Dunkelheit sehen konnte. „Alan, mach’s gut!“, rief ihre Tante von hinten und Dorothea drehte sich um, um noch einmal zu winken. Erst dann überquerte sie die Schwelle des Tors und betrat ihr neues Leben. „Ah! Ich habe mich schon gefragt, wann du kommst“, ertönte eine Stimme von rechts aus der Dunkelheit. Sie wandte sich dorthin, nur um zu sehen, dass das riesige Eingangstor sich geräuschlos geschlossen hatte, ohne dass sie auch nur irgendetwas davon bemerkt hätte. Sie konnte also nicht mehr zurück. Ein Knoten bildete sich in ihrer Brust. Es war stockfinster. „Alan Luiranssohn! Ein Glück, dass der innere Wächter mich informiert hat – ich hätte dich sonst nicht abgeholt und das wäre nicht gut ausgegangen!“, redete die Stimme weiter. „Wer seid Ihr?“, fragte Dorothea statt einer Antwort und der Mann lachte. „Verzeiht, es ist etwas zu dunkel für ein Gespräch“, erwiderte er bloß und zündete eine Fackel an – Dorothea konnte nur staunen, als ihr klar wurde, wie er das getan hatte. Mit Magie. „Ich stelle mich noch einmal vor: Mein Name ist Lorian, ich bin meines Zeichens Drachenreiter-Studienleiter. Wann immer du mich zu Gesicht bekommst, musst du mich daher mit ‚Lorian-shiarmagistar‘ anreden.“ Dorothea nickte bloß und schaute den Mann an. Es war einer der hohen Herren, die das Gasthaus besucht hatten – er war derjenige, der ihr das Dokument erstellt hatte. Der ‚blaue Mann‘. „Folge mir, ich werde dich herumführen und dich dann zu deiner Kammer bringen. Dort wartet bereits ein Satz Schulbücher und ein paar Novizenuniformen auf dich – du musst diese immer tragen, außer im Falle einer außerakademischen Aktivität in der Stadt. Sie wird also dein ständiger Begleiter sein. Ach, solltest du die Wege vergessen, wir haben eine Karte auf deine Bücher gelegt.“ „Ich danke Euch, Shiarmagistar.“ „Wie du sicherlich vom äußeren Wächter gehört hast, kommen die meisten Novizen erst ein oder zwei Tage vorher – das liegt daran, dass sie aus sehr weit entfernten Häusern kommen und ihre Familien einen hohen Status inne haben. Du hingegen …“, erklärte er. „Ich bin ein armer Bürger und zufällig bereits in Saitan“, half Dorothea aus, während sie ein Schmunzeln verbarg. Also gingen die Drachenreiter ebenfalls nach Ständesystemen vor. „Diese Privilegien verschwinden aber durch die Ausbildung wie von selbst und im Endeffekt interessiert es keinen vollwertigen Drachenreiter mehr, ob du adelig bist oder dein Leben lang nur gearbeitet hast.“ „Ich verstehe.“ Der Mann führte sie zielsicher durch die Dunkelheit und trat schließlich aus dem langen Tunnel in ein Oval, das vom Licht nur so durchflutet wurde. Dorothea schaute sich um, beeindruckt davon, dass es einen so schönen Ort auf der Welt gab. Dann sah sie wieder zu Lorian, der inzwischen die Laterne zum Erlöschen gebracht hatte. „Das hier ist der ‚Platz der Mitte‘, er heißt zwar so, ist aber nicht in der Mitte. Hier laufen bloß die Gänge der unterschiedlichen Einrichtungen zusammen: Tempel, Palast, Akademie, Öffentliche Einrichtungen, Behausungen und andere Orte wie zum Beispiel die Arena und der Landeplatz für Drachen.“ Dorothea nickte und folgte Lorian dann, der dabei war, den Platz zu überqueren und auf einen anderen Tunnel zu zuhalten. Vom Platz selbst gingen tatsächlich weitere Tunnel strahlenförmig ab, ein jeder hatte die Aufgabe, den Besucher zu einem anderen Ort zu führen. „Dieser Tunnel führt zur Akademie. Erkennbar an der roten Fahne über dem Eingang. Die weiße Fahne symbolisiert den Tempel, die purpurne den Palast. Wenn du zu den Behausungen möchtest, musst du nicht zwangsweise hierher zurückkehren und den grünen Eingang nehmen. Sie sind jederzeit durch andere Gänge und Korridore zu erreichen, das wirst du aber noch sehen.“ „Verstanden“, murmelte Dorothea vollkommen überrumpelt, doch sie folgte dem Mann durch den roten Eingang und trat dann nach einer Weile im dunklen Tunnel in ein weiteres lichtdurchflutetes Oval. Ringsherum gab es kleine Unterstände, in denen verschiedene Waffen oder Übungspuppen standen. Lorian lächelte. „Der Übungsplatz! Das Herz der Akademie. Ein Teil davon ist überdacht, ein Teil nicht. Dadurch kann man bei gutem Wetter und bei schlechtem Wetter üben. In den Unterständen befinden sich verschiedene Dinge, die man benötigen könnte, sollte man einmal hier sein.“ Lorian überquerte auch diesen und ging die einzige Treppe hinauf in eine Galerie – die Treppe selbst besaß nur wenige Stufen und die Galerie war auch nicht unbedingt sehr hoch über dem Übungsplatz erbaut worden. „Das ist die ‚Galerie der Drachenreiter‘. Seltsamer Name? Nicht unbedingt, schließlich führt sie überallhin: Zum Tempel, Palast, den Unterkünften und Sälen, den Klassenzimmern und der Bibliothek, zu den Drachenställen und so weiter und so fort“, erklärte Lorian kurz und fügte dann an: „Wir gehen jetzt nach Süden – im Osten liegt der Palast, im Nordosten der Tempel.“ „Was liegt im Süden?“, erkundigte sich Dorothea und schaute bewundernd die Marmorträgersäulen an. „Die Akademie, die Ställe und der Landeplatz. Im Westen befinden sich die Behausungen aller Drachenreiter, der Novizen, der Lehrer und Gelehrten, der Diener und Wächter, sowie der Wasserdamen und der Heiler. Habe ich jemanden vergessen? Bestimmt – außer der Nonnen, Priester und der königlichen Familie wohnen dort alle, deswegen ist die Mauer nach dorthin auch so gewaltig. Es gibt viele Gänge, Korridore, Stockwerke und Keller – ach und so vieles mehr. Das schreckt die Bürger in der Regel ab – sie nennen das Regierungsviertel schon ‚Sperrbezirk‘“, meinte Lorian und kicherte über letzteres. Dorothea fand das aber nicht sehr lustig und schwieg. Er ging sicheren Schritts die Galerie entlang und erzählte hin und wieder knapp, was es mit irgendwelchen Mosaiken oder Korridoren auf sich hatte und was die Fahnen bedeuteten, die an einigen Türen hingen. Die Hälfte davon war nachvollziehbar, die andere Hälfte verstand Dorothea nicht, nickte jedoch höflich und hoffte inständig, dass auch über das Erzählte ein Lehrbuch in ihrem Zimmer war, damit sie wenigstens die Grundlagen in sich aufnahm. Lorian grüßte die Menschen, die ihm begegneten. Einige neigten dabei ihr Haupt tiefer, vor anderen zeigte er äußersten Respekt. Dorothea fielen dabei einige junge Männer auf, die die gleichen Kleider trugen: Braune eng anliegende, lange Hosen, die in kniehohe Schnürstiefel gesteckt wurden, darüber trugen sie braune Tuniken, die auf der Hüfte mit einer Kordel festgebunden waren. Einige hatten immer noch ihre Wintermäntel übergeworfen, andere liefen bereits nur noch mit zusätzlichen Wämsern herum. „Einige fleißige Novizen“, meinte Lorian bloß, als diese sich nach einer tiefen Verbeugung entfernten. Anscheinend war es möglich, während der Semesterferien nach Hause zu fahren – nur wenige Novizen nahmen dieses Privileg nicht wahr und blieben, um zu lernen. Sie alle sahen müde und abgekämpft aus – keiner lächelte. Mit gesenkten Häuptern hasteten sie über die Gänge, neigten respektvoll den Kopf, wenn ein Höhergestellter vorüberging und konzentrierten sich ganz auf ihr eigenes Leben. „Willkommen in der Drachenreiter-Akademie!“, rief der Akademie-Studienleiter plötzlich aus und trat in eine riesige Eingangshalle, deren Decke in einer schwindelerregenden Höhe über ihnen thronte. Dorothea lächelte schwach, weil sie in ihren Gedanken immer noch die erschöpften Novizen vor sich hatte. Würde sie bald vielleicht genauso aussehen? Im Folgenden beschrieb Lorian ihr in allen Einzelheiten die Akademie – wo auch immer sie vorüberging und etwas Interessantes hervorstach, nahm er sich die Zeit und erklärte es ihr. Obwohl ihr Kopf vor Informationen schwirrte, nickte sie höflich und lächelte dabei. Irgendwann kamen sie dann in den Novizenbehausungen an. Behausung war vielleicht sogar etwas zu nett ausgedrückt. Es war ein einziger Korridor, der viele Stockwerke besaß, die man über Wendeltreppen am Rand des Gangs erreichte. Einsehbar waren die obersten Etagen nur insoweit, als es dort Galerien mit steinernen Balustraden gab, über die man sich beugen musste, um zum Boden hinabschauen zu können. Entlang dieses Korridors befanden sich in den Wänden die Zimmer der Novizen – kleine Holztüren führten zu ihnen. „Da uns erst am Ende des letzten Semesters der Großteil der Drachenreiternovizen verlassen hat – die Eiprobe, wie dir der äußere Wächter bereits erklärte, besteht kaum einer, daher kommen nur wenige in die C-Ausbildung, die auf diese Probe folgt –, gibt es einige freie Räume. Die ehemaligen Novizen haben zu eurem Glück nicht auf einer der untersten von zehn Etagen gelebt.“ „Wieso ist ein unteres Stockwerk so schlecht?“, hinterfragte Dorothea diese Aussage. „Schau hinaus, Kleiner, dann weißt du, warum“, antwortete Lorian. Dorothea tat, wie ihr geheißen und starrte durch die kleinen Luken in den Wänden hinaus und wusste sofort, wieso es Pech genannt wurde, unten zu leben: Die Drachenställe befanden sich direkt neben den Novizenbehausungen – es stank – und das ziemlich heftig. Sie erklommen eine Wendeltreppe, die auf die sechste Etage führte und Dorothea atmete den frischen Wind ein, der sich durch die Luftschlitze hineingequetscht hatte. Lorian begleitete sie die Galerie hinab zu einem Eckzimmer und schloss die Tür auf. Erst dann reichte er ihr den sperrigen, alten Schlüssel. „Das ist der Zimmerschlüssel. Wenn ich dir einen Tipp geben darf: Schließ deine Tür immer ab. Novizen kommen öfters auf dumme Ideen, wenn sich durch harte Arbeit und wenig Freizeit Frustration aufstaut“, riet ihr Lorian und lächelte schelmisch. Dass diese Novizenspielchen von ihm auf die leichte Schulter genommen wurden, fand Dorothea beängstigend, doch sie schwieg. Schließlich betrat sie den Raum und staunte. Er war kleiner als jede Besenkammer in den kleinsten Häusern auf dem Land. Höchstens sieben Ellen breit und sechzehn Ellen lang mit einem Fenster so groß wie ein Kindergesicht in der gegenüberliegenden Wand. So eröffnete sich ihr ihre neue Welt. Das Fenster war mit widerstandsfähigem Eisen vergittert und fast direkt unter der Decke, daher befand sich darunter eine Art Schrank. Dorothea zog die Augenbrauen hoch. „Ein Alkoven“, erklärte ihr Lorian. Sie kannte das Wort nicht und ging neugierig hinüber. Die Schranktüren klemmten und öffneten sich erst, nachdem sie sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegengestemmt hatte. Die freundliche Farbe der Schnitzereien auf den Türen war schon lange abgeblättert und nur einige Überbleibsel in Rissen und Rillen erinnerten an den Farbton, der dort vielleicht einmal gewesen war. Dorothea schaute in den Schrank und fand dort auf Hüfthöhe ein Schlaflager vor. Die Matratze war aus Stroh und mit einem Laken bezogen, darauf lag ein hartes rechteckiges Kopfkissen, das einem wahrscheinlich eher einen steifen Hals bescherte als eine gute Nacht und vier Wolldecken von unterschiedlichster Dicke, die an einigen Stellen bereits geflickt worden waren. Unter dem Alkoven, zwischen Fußboden und Schrankboden, befanden sich Schubladen, in denen die Kleidung des Novizen verstaut werden sollte. Dorothea schluckte und schloss die Schranktüren, dann ließ sie ihren Reisebeutel auf den Boden sinken und sah sich weiter um. In einer Nische in der Wand links vom Alkoven befand sich ein kleiner Sekretär, vor dem ein dreibeiniger Hocker stand. Auf dem Tischchen stand ein hölzerner Kerzenhalter und einige Bücher lagen dort fein säuberlich aufgereiht. Das mussten ihre Schulbücher sein. Tatsächlich fand sie auf einigen Pergamenten auch eine Karte des gesamten Sperrbezirks. „Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Hier, dein Stundenplan“, erinnerte sich Lorian und reichte ihr einen Zettel. Sie schaute darauf hinab und hielt die Luft an. Der äußere Wächter hatte Recht gehabt. Das Novizenleben war alles andere als ein Zuckerschlecken. Morgens, von Fünf bis Sechs, musste sie öffentliche Dienste leisten. Das hieß also, dass sie Frühstück machen sollte, das man von Sechs bis Sieben einnehmen durfte. Von Sieben bis Acht musste sie jeden Tag an einem Ausdauerlauf teilnehmen. Von Eins bis Drei war dann das Mittagessen an der Reihe, das sie in der ersten Stunde vorbereiten musste. Um sechs Uhr abends musste sie dann Abendessen machen, um das von Sieben bis Acht zu sich zu nehmen. Dann, von acht Uhr bis zehn Uhr, sollte sie die Drachen pflegen – also Ställe ausmisten, füttern, waschen und so weiter und so fort. Letztendlich würde sie nur sechs Stunden Schlaf bekommen. Schließlich war zwischen den Pausen immer Unterricht. Dieser erstreckte sich über Priesterlehre, Amtssprache, Reiten, Geschichte, Rechnen, Morallehre und Gesellschaftsregeln zu Kampfsport, Bogenschießen und Schwertkampf. Dorothea wusste jetzt schon, dass sie jämmerlich zugrunde gehen würde – kein Wunder, dass die Novizen, denen sie begegnet war, so abgewrackt ausgesehen hatten. Wieder einmal fragte sie sich, ob ihre Entscheidung klug gewesen war. Lorian lachte plötzlich auf und Dorothea fuhr herum. Er verbarg sein Grinsen hinter seiner Hand und schaute zur Decke hoch, doch dort oben war nichts weiter als eine brennende Lampe, deren Licht kaum ausreichte, um den Raum zur Hälfte auszuleuchten. „Dein Gesichtsausdruck“, erläuterte er ihr sein Lachen, als ihm ihr fragendes Gesicht auffiel. Sie lächelte schwach und antwortete: „Hätte ich nicht so ausschauen sollen?“ „Glaube mir, deine Reaktion war noch relativ neutral – es gibt durchaus auch andere Novizen. Besonders heftig protestieren die Adeligen.“ „Wieso?“ „Pf, aus ersichtlichen Gründen natürlich. Keiner von diesen Bengeln ist jemals früher aufgestanden als der zehnte Glockenschlag - keiner von ihnen hat je den Sonnenaufgang erblickt. Die spärliche Schlafenszeit erreicht nicht annähernd den Standard von zehn bis zwölf Stunden Schönheitsschlaf, den viele Familien pflegen. Außerdem steht man ständig unter Zeitdruck, das Essen ist nicht pompös und muss eilig eingenommen werden. Zusätzlich dazu die ganze Arbeit: Öffentliche Dienste und Drachenpflege empören unsere jungen Novizen über alle Maßen hinaus – niemand von ihnen hat je einen Finger nach einem Haushaltsgerät gekrümmt, schließlich sind die zarten Hände nur für zarte Porzellanteetassen vorgesehen. Der lange, anstrengende Unterricht setzt dem ganzen noch die Krone auf – die Hälfte der jungen Adeligen wirft noch vor Ablauf eines Monats das Handtuch.“ Dorothea staunte nicht schlecht über diese leichthin ausgesprochene Bemerkung – Lorian nahm seinen Beruf und die Drachenreiterausbildung als eine Art Witz. Oder er fand einfach in den seltsamsten Situationen eine gewisse Ironie. Vielleicht erleichterte ihm diese Einstellung sein ganzes Leben. „Ist das so? Habe ich es dadurch etwas leichter? Dank meines niedrigen Status?“, fragte sie schließlich und schaute zum Drachenreiter-Studienleiter auf. Der runzelte beinahe sofort die Stirn. „In gewisser Weise schon – du bist sicherlich an einen solchen Tagesablauf gewöhnt. Vergiss aber nicht, dass die Adeligen durchaus anderes besser können als du. Sie werden weniger Probleme mit den Schulfächern haben, schließlich ermöglicht man ihnen sämtliche Schwertkampfübungen, Sport im Allgemeinen und eine ausgeweitete Ausbildung bezüglich Religion, Sprachen, Manieren, Moral und Regeln.“ „Ich hinke also von vornerein hinterher?“, antwortete sie völlig entmutigt. „Im Grunde genommen … Ja. Aber das lässt sich ziemlich schnell beheben. Glaube mir, hier lernt jeder so schnell wie möglich. Der Leistungsdruck ist sehr hoch. Man erlaubt den fortgeschrittenen Schülern die Enthaltung vom Unterricht.“ „Wie das?“ „Nun ja, wenn du adelig bist und schon von klein auf bei gesellschaftlichen Treffen anwesend warst, brauchst du sicherlich keine Gesellschaftsregeln der höheren Kreise mehr lernen, oder?“ „Verständlich“, stimmte Dorothea zu und seufzte. Also musste sie als Einzige jedes Schulfach belegen? Blieb ihr überhaupt noch Zeit, zu lernen oder ihren Drachenreitergeneral zu finden? Apropos … „Shiarmagistar?“, fragte sie scheinheilig und der Mann sah sie wieder aus freundlichen Augen an. „Ja?“ „Der Drachenreitergeneral der Sturmjägergarden von Saitan …“ „Was ist mit ihm?“, fragte der neugierig gewordene Studienleiter. Seine Augen blitzten interessiert. „Ich habe gehört, er sei nicht der Lordgeneral, obwohl ihm diese Position zusteht. Warum?“ „Ach, und ich dachte schon, du wüsstest irgendein spannendes Gerücht oder so … Wenn’s nur darum geht.“ Dorothea seufzte ob der Enttäuschung des Mannes, wie gut, dass sie vorsichtig war. Sie musste in Zukunft aufpassen, keine ungewollten privaten Informationen über den Mann auszuplaudern – man schien nach Fehlern äußerst aufmerksam zu suchen. Lorian begann zu sprechen: „Im Grunde gilt er überall bereits als Lordgeneral – offiziell darf er so aber nicht angesprochen werden, weil ein anderer Drachenreiter diesen Titel innehat. Vor drei Jahren hat der Gute die Position als General der Sturmjägergarde Saitans übernommen, weil er bereits stärker und taktisch besser war als der damalige General. Es gibt ein gewisses Gesetz für Drachenreiter, die ihre Stellung verlieren: Sie müssen eine gleichwertige Position erhalten. Der ehemalige General ist jetzt Anführer einer anderen Sturmjägergarde und hat aufgrund dieses Gesetzes seinen Titel behalten dürfen. Doch sein Besitztum scheint auf wackeligen Beinen zu stehen – immer mehr Drachenreiter wünschen sich, dass der neue General diesen Titel übernimmt, schließlich hängt nicht nur eine andere Anrede an ihm sondern auch verschiedenste Rechte und Pflichten.“ „Das heißt, es könnte passieren, dass er bald zum Lordgeneral wird?“, erkundigte sich Dorothea und Lorian überlegte. „Ich bin zwar vollwertiges Mitglied im Ältestenrat der Drachenreiter, aber noch ist ein Austausch von Titeln nicht zur Sprache gekommen, soweit kann ich dir deine Frage beantworten. Es sind inoffizielle Stimmen, die diese Forderungen stellen – vielleicht kommt das Gespräch in näherer Zukunft einmal auf diesen Punkt hinaus. Das ist der Wissensstand aller Drachenreiter zu diesem Thema“, antwortete Lorian ehrlich und zuckte dann mit den Achseln. Mehr schien auch er nicht zu wissen. Auch seine anfängliche Neugierde war erloschen. Er schien sich für dieses Thema nicht großartig zu interessieren. Ihn wunderte es auch nicht, dass Dorothea danach gefragt hatte. Diese sah sich unterdes weiter im Raum um. Außer einer Truhe an der rechten Wand, in der man Wertsachen einschließen konnte, gab es nur noch ein Regal, das in eben diese Wand eingelassen war. In die oberen Fächer stellte man Bücher, darunter waren würfelartige Regalböden für Pergamente und kurz oberhalb des Bodens waren Regale hinter gläsernen Türen, für die Dorothea keine Verwendung finden konnte. Daher fragte sie Lorian, der lediglich antwortete: „Da lagerst du magische Utensilien – Glaskugeln, magische Tränke … Und was es nicht alles gibt! Alles natürlich für den Unterricht. Im Grunde braucht das keiner.“ Sie seufzte. Mit diesem spärlichen Zimmer musste sie nun die nächste Zeit auskommen – sie hatte nicht einmal einen Spiegel oder eine Waschschale, geschweige denn einen Nachttopf! Lorian musste ihr Seufzen bemerkt haben, denn er meinte: „Man gewöhnt sich an dieses enthaltsame Leben, glaube mir. Ich hab das Gleiche durchgemacht. In einer Woche ist der Beginn des neuen Semesters – richte dich also in aller Ruhe hier ein und gewöhne dich an deine neue Umgebung. Erkunde sie, lerne Leute kennen, die dir im Verlaufe deiner Novizenzeit behilflich sein könnten – hierbei spreche ich von Heilern und Bibliothekaren – und stöbere ein wenig in den Büchern. Du musst schließlich den großen Vorsprung deiner Mitschüler aufholen, nicht wahr?“ „Ich danke Euch, Shiarmagistar. Danke, dass Ihr Euch Zeit für mich genommen habt!“, meinte sie, doch er winkte ab und sagte: „Das ist meine Aufgabe, du hast nicht mehr Privilegien als die anderen, nur weil du ein gewisser Sonderfall bist. Ich begrüße jeden so wie dich jetzt – und nun kümmere dich um deine eigenen Sachen. Es wird Zeit, dass du dich auf dein neues Leben vorbereitest. Immerhin wird dir das erste Jahr – die A-Ausbildung – alles abverlangen. Am Einweihungstag, an dem du zum Drachenreiternovizen wirst, erscheinst du um acht Uhr morgens im großen Audienzsaal der Akademie – bitte in der Uniform, hast du mich verstanden?“ „Jawohl, Lorian-shiarmagistar“, sagte sie und der Mann nickte zufrieden. Mit einer steifen Verabschiedungsfloskel entschwand er aus dem Raum und ließ sie allein zurück. Weil sie ihre aufkeimende Nervosität niederringen musste, begann sie, ihre Sachen auszupacken. Kleider, die sie anscheinend nicht brauchen würde, verstaute sie in der einen Schublade unter dem Alkoven, in der anderen fand sie schließlich auch ihre triste Uniform. Die Wertsachen, die Wundermittelchen ihrer Tante sowie die Binden, schloss sie in der Truhe ein, für die es einen extra Schlüssel gab. Die Bücher vom Sekretär räumte sie in das Regal ein und schaute dann unter die Tischplatte. Pergament, Tinte und Feder lagen dort fein säuberlich aufgereiht. „Was nun?“, flüsterte sie sich zu und verstaute schließlich auch Kamm und Seife in der Truhe. Dazu kam ihr Reisebeutel, den sie wohl nicht mehr brauchen würde. Langsam richtete sie sich auf und beschloss dann, sich umzuziehen. Die Uniform war ihr etwas zu groß, doch sobald sie diese Feststellung gemacht hatte, verkleinerte diese sich schlagartig und passte sich ihrer Körperform an. Staunend schaute Dorothea an sich hinab und schluckte – es war ein seltsames Gefühl, Magie an sich angewendet zu wissen. Erst ein schüchternes Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. „Ja, bitte?“, fragte Dorothea, als sie die Tür öffnete. Eine Dienerin stand vor der Tür. Sie war leicht rundlich und schaute freundlich aber schüchtern – ihre schlichte Kleidung passte perfekt zu den Novizenquartieren. „Ich komme auf Lorian-shiarmagistars Wunsch.“ „Weshalb?“, wollte Dorothea wissen und die Frau trat von einem Fuß auf den anderen. „Euer Haar ist zu lang, Sikar. Man hat mir den Befehl erteilt, Euch das Haar zu schneiden.“ Dorothea hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren – das Haar noch kürzer schneiden? Die Strähnen, die zuvor noch stolz bis fast zu ihrer Taille gereicht hatten, waren bereits nur noch so lang wie der kleine Finger ihrer Hand. Wie kurz sollte das Haar denn noch sein? Doch sie beschwerte sich nicht und setzte sich stumm auf den Hocker, der ihr von der Frau zugewiesen wurde. Diese zog ein Rasiermesser hervor und begann langsam und vorsichtig Strähne für Strähne von ihrem Kopf zu trennen, bis nur noch millimeterlange Stoppeln überblieben. Als Dorothea ihre Hand über ihren Kopf fahren ließ, musste sie ein Würgen unterdrücken und gab sich gefasster, als sie sich fühlte, während die Dienerin ihr Haar aufkehrte und damit auf dem Gang verschwand. In diesem Moment war sie nur froh, dass kein Spiegel in der Nähe war, der ihr von ihrem Unglück berichten konnte. Sie wäre womöglich in Tränen ausgebrochen. Die Dienerin kam wieder und sagte: „Da in einer Woche das neue Semester beginnt, hat Lorian-shiarmagistar mir aufgetragen, Euch folgendes auszurichten: Diese Woche gibt es Frühstück um Acht, Mittagessen um Zwei und Abendessen um Sieben. Vormittags und nachmittags werdet Ihr noch zusätzlich Nachhilfestunden nehmen. Euch werden ab heute gewisse Lehrer in den Fächern der Amtssprache, dem Rechnen, der Moral- und Priesterlehre sowie in den Gesellschaftsregeln unterweisen. Ihr braucht nichts mitzubringen, wenn ihr zum Unterricht in die Bibliothek kommt. Nach dem Mittagessen, um Drei, beginnt der Unterricht.“ Dorothea horchte auf und erwiderte: „Aber er sagte doch gerade erst, ich solle mich in Ruhe einrichten und die Umgebung erkunden.“ „Das könnt Ihr immer noch – abends, wenn es Euch recht ist. Es ist wichtiger, dass Ihr den Vorsprung der Adeligen aufholt“, informierte sie Dorothea bloß und neigte dann unterwürfig das Haupt. Erst dann verließ sie ohne ein weiteres Wort das Zimmer und hinterließ ein entrüstete Dorothea, die sich wieder auf den Hocker fallen ließ. Mit Mühe unterdrückte sie einige ausgewählte Flüche und verbarg schließlich ihr Gesicht in ihren Händen, um leise aber bitterlich zu weinen. Das war alles andere als ein schönes Leben – es hatte bereits schlimm begonnen. Wie würde es also weitergehen? Vlaindar seufzte und stützte seinen Kopf auf einen Ellbogen – zurückgelehnt in seinen steinernen Thron gab er somit das Bild eines erschöpften Mannes. Das war er aber auch. Zu seinem Erstaunen war die Ältestenratssitzung nicht so schnell vergangen, wie er es gern gehabt hätte. Er hatte keine Schmerzen, wegen der er sich die baldige Beendigung der Sitzung wünschte, er wusste deshalb selbst nicht, warum er so aufgewühlt war. Seine Gedanken kreisten um jedes Thema, nur nicht um das, um das sie sich eigentlich drehen sollten. „Vlaindar-shiarireyliar, so sagt doch auch etwas dazu! Es geht hier schließlich um Euch!“, forderte der Lordgeneral der Transport-Drachenreiter ihn auf. Vlaindar seufzte und gab sich aufmerksam. Trotzdem wusste er nicht, worüber er jetzt sprechen sollte. Gerettet wurde er vom Großgeneral. Ruiyan hatte Vlaindars Zögern bemerkt. „Ressota-neyantear wünscht sich Eure Bestrafung, Vlaindar-shiarireyliar. Würdet Ihr eine Strafe annehmen, nachdem ihr bereits die Befragung durchlebt habt?“ Kurz gesagt: Fühlte er sich bereit, noch einmal bestraft zu werden, nachdem er gefoltert worden war? „Meine Loyalität zu Seiner Majestät bleibt unverändert, wenn er sich meine Bestrafung wünscht, so werde ich mich fügen“, beteuerte er erneut seinen Standpunkt. Wie oft hatte er das heute schon getan? Acht- oder neunmal? Vielleicht sogar öfter, er wusste es nicht mehr. „Fein, das wissen wir jetzt. Welche Bestrafung wäre milde genug, um die Menschen nicht in Empörung zu versetzen, jedoch hart genug, um Ressota-neyantear zufrieden zu stellen?“, fragte der Lordgeneral der Post-Drachenreiter zum vierzehnten Mal – wenigstens das hatte sich Vlaindar merken können. „Ich plädiere für den Ausschluss von öffentlichen Versammlungen“, meinte der Lordgeneral der Transport-Drachenreiter. Mit einem unbefriedigten Laut machte der Lordgeneral der Bau-Drachenreiter auf sich aufmerksam. „Unnötige Bestrafung, Vlaindar-shiarireyliar nimmt kaum an diesen Teil.“ Man stimmte diesem Punkt allgemein zu und suchte nach weiteren Möglichkeiten. „Und wie ist es mit einem kurzzeitigen Ausschluss von seinem Beruf? Die Leitung der Garde wird währenddessen seinem Vize-General übertragen.“ Dieses Mal schienen einige der Idee zu zustimmen. „Wahrlich interessant. Man könnte die Strafe durch gemeinnützige Arbeit ausweiten und Vlaindar-shiarireyliar zu gewissen Unterrichtseinheiten der A-Ausbildung schicken. Damit er seine Moral wiederfindet!“, schlug der Lordgeneral der Brut-Drachenreiter vor. Diese Aussage löste ein allgemeines Gemurmel aus – das war keine schlechte Idee. Diesen Punkt nahm der Großgeneral auf: „Fein, drei Wochen Berufsausübungsverbot – nach Beginn des neuen Semesters. Ihr werdet an den Fächern der A-Ausbildung teilnehmen, die man Euch weist. Ich persönlich empfehle Moralunterricht, Priesterlehre und Gesellschaftsregeln. Gemeinnützige Arbeit bezieht sich nicht auf die Öffentlichen Dienste der Novizen und die Drachenpflege – ich finde, Tempelarbeit und Bibliotheksaushilfe würden vielleicht eher bestrafende Wirkung zeigen.“ Der Lordgeneral der Bergarbeit-Drachenreiter meldete sich zu Wort: „Der Moralunterricht bezieht sich nur auf die Kampfmoral eines Drachenreiters und die Aushilfsbereitschaft. Es wird eher wenig Wert auf Disziplin gelegt, obwohl das ab und zu erwähnt wird. Ich halte dieses Fach für unnötig. Weiterhin wundere ich mich über die Priesterlehre. Wozu dieses Fach?“ Ruiyan nickte und begann dann zu erklären: „Die Priesterlehre bezieht sich nicht nur auf die Religion sondern auch auf das Verhalten eines Priesters. Wie Ihr Euch sicherlich noch aus Eurer eigenen Novizenzeit erinnern werdet, predigte man Zurückhaltung und Anstand genauso lang wie Frömmigkeit.“ „Das ist wahr. Ich halte dieses Fach für angebracht. Dennoch fühle ich mich nicht bereit, Vlaindar-shiarireyliar in den Unterricht der ‚Gesellschaftsregeln‘ zu schicken. Das halte ich für unter seiner Würde. Jeder von uns weiß, dass der General sich seines Regelverstoßes und seines unziemlichen Verhaltens bewusst ist – deswegen hat er seinen Fehltritt ja erst gebeichtet. Außerdem kam es nur in diesem Bereich zu einem Fehler, in allen anderen Bereichen verhielt er sich tadellos.“ Man konnte dem Großgeneral die Erleichterung ob dieser Worte deutlich ansehen und auch die anderen Lordgeneräle waren mehr als nur glücklich, dass jemand sich dazu durchgerungen hatte, Vlaindars Würde zu verteidigen, weil der Mann dies selbst nicht tat. Tatsächlich schien ihn das Gespräch gar nicht zu interessieren, daher war der Großteil der Anwesenden unsicher und verwirrt und wusste nicht, was zu tun war. Vlaindar bemerkte diese Gefühle sehr wohl und er war selbst erleichtert, zu hören, dass seine Strafe so milde ausfallen sollte. Dennoch gelang es ihm nicht, Interesse und Dankbarkeit zu heucheln. Seine Gedanken führten ihn in einen ganz anderen Raum als diese pompöse Ratshalle. Ein schlichtes Zimmer in einem einfachen Wirtshaus und ein quietschendes Bett. Vlaindar riss sich von diesem Bild los und atmete tief ein – er musste jetzt dringendere Sachen tun. Zum Beispiel Reue für sein Handeln zeigen. Warum war er bloß so in diese Frau vernarrt? „Also gut, die Strafe scheint mir ausgereift und gerecht. Ein dreiwöchiges Berufsverbot und die Teilnahme an der Priesterlehre der A-Ausbildung. Als körperliche Aktivität empfehlen wir Tempelarbeit und Bibliotheksaushilfe, korrekt?“, resümierte der Großgeneral. Man nickte. Nur ein Lordgeneral enthielt sich. Ruiyan fragte ihn: „Seid Ihr Euch über etwas im Unklaren, Lordgeneral der Wachtruppen?“ „Erinnert Ihr Euch an die letzte Bestrafung eines Drachenreiters? Unser Vorschlag wurde vom königlichen Hofe zurückgewiesen mit der Begründung, wir seien zu milde. Das hatte die Verschärfung der Strafe zur Folge, weil die königlichen Ratgeber es sich selbst zur Aufgabe gemacht hatten, die ordentliche Ausführung einer gerechten Strafe heraufzubeschwören. Sollten wir nicht vielleicht noch eine Stufe härter durchgreifen, um die Wiederholung eines solchen Vorfalls zu vermeiden?“ „Inwiefern? Wie stellt Ihr Euch das vor?“, fragte Ruiyan überzeugt von den aufrichtigen Worten des Mannes. Alle sahen gespannt zu diesem Lordgeneral hinüber. „Uns ist allgemein bekannt, dass es in Vlaindar-shiarireyliars Garde Frivolitäten gibt. Mikanor-shiar und Famiran-shiar sind uns eben solche bekannten Fälle. Ich denke, die Ausweitung der Strafe auf die gesamte Garde würde genügen, um die Ratgeber zufrieden zu stellen. Das Aussetzen der Sturmjägergarde wird nicht so schwer genommen, da sie nicht sehr oft zum Einsatz kommt – schließlich gehört sie zur Drachenreiter-Elite.“ „Ich verstehe Euren Standpunkt und halte ihn für angemessen“, stimmte ihm der Lordgeneral der Transport-Drachenreiter zu. Der Rest nickte und die Sache war beschlossen: Die gesamte Garde würde drei Wochen lang aus dem Dienst genommen, um an der Priesterlehre der A-Ausbildung teilzunehmen und Tempelarbeit zu leisten. Außerdem erweiterte man die körperliche Ertüchtigung noch auf die in dieser Zeit anfallenden Reinigungstage. Nur Vlaindar sollte zusätzlich dazu noch in der Bibliothek aushelfen. Vlaindar unterschrieb diese Strafe, die bei weitem hätte schlimmer ausfallen können und machte, dass er den Raum verließ. Er wollte sich nicht noch in ein ewig andauerndes Gespräch zwischen den Ratsmitgliedern verwickeln lassen, das stets nach jeder Sitzung entstand. So sozial engagiert war er nun auch wieder nicht, um den Männern sein Ohr und seine Schulter zu leihen. Eiligen Schrittes kehrte er in seine kleine Wohnung zurück und ließ sich dort erschöpft auf einen Stuhl fallen. Mit Erschrecken stellte er fest, dass er auf dem Rückweg respektlos keinen einzigen Menschen gegrüßt hatte, dem er begegnet war und diese umso verwunderter weitergegangen waren. Doch auch dieses Gefühl schob er beiseite und bettete seinen Kopf auf seinen Armen. Es dauerte nicht lange und er befand sich wieder in seinem Traumland, weit entfernt von seinen alltäglichen Sorgen, die er besaß, seit er in Saitan angekommen war. Sein Herz blühte förmlich auf, als er sich wieder an Dorothea erinnerte und er durchlief noch einmal sämtliche Zeit, die er mit ihr verbracht hatte. Warum war er so in sie vernarrt? Er kannte sie kaum, er wusste nichts über ihre Herkunft und ihren gesellschaftlichen Stand – es fehlte jegliche Vernunft hinsichtlich der Grundlage einer anständigen Vereinigung. Woran lag es also, dass er sie so sehr beschützte und sich für sie einsetzte? Wieso war er in sie verliebt? Weshalb jagten ihn ihre Bilder in Träumen am Tag und in der Nacht? Fasziniert stellte er fest, dass er dieser Frau hilflos ausgeliefert war. Vlaindar, General der Sturmjägergarde Saitans, war einer Frau vollkommen unterlegen – er würde sich ihr, ohne zu überlegen, einfach unterwerfen, wenn sie ihn darum bat. War es dieser lächerliche magische Bund zwischen Drachenreiter und seiner Geliebten, dieser Urinstinkt, der ihn dazu zwang? Aber warum war dieser dann ausgelöst worden? Woher kam seine bedingungslose Liebe zu ihr? ‘Ach, du liebe Güte. Hör auf, darüber nachzudenken, Vlaindar! Mein Kopf schwirrt schon!‘, beschwerte sich Hairima in seinen Gedanken. Vlaindar schnaubte und erwiderte bloß: ‘Deine Verwirrung ist nichts gegen meine Kopfschmerzen!‘ ‚Als ob du jemals solche Kopfschmerzen haben könntest wie ich.‘ ‚Natürlich kann ich das nicht, da hast du Recht. Dein Kopf ist ja auch größer als meiner.‘ ‚Siehst du! Deswegen finde ich deine sich kreisenden Gedanken unangenehm.‘ ‚Dann erkläre mir, warum ich sie liebe!‘ ‚Das kann ich nicht. Nur, weil ich ein Drache bin, heißt das nicht, dass ich alles verstehe. Liebe ist ein unendlich weit gefasster Begriff und ein ungreifbares Gefühl. Warum sie entsteht, liegt außerhalb meines Verständnisses. Finde dich damit zurecht oder lehne sie ab, aber denk nicht ständig darüber nach! Das macht die Sache auch nicht einfacher. Dieses ganze komplizierte Gedenke erschöpft mich nur unnötig. Es ist nutzlos – du kannst eh nichts dagegen tun.‘ ‚Du hast Recht. Mich würde nur einfach einmal interessieren, warum es gerade Dorothea war, in die ich mich verliebt habe.‘ ‚Frag mich nicht – mich interessiert deine Strafe viel mehr. Herzlichen Glückwunsch dazu. Berufsverbot bedeutet auch Flugverbot, mein Kleiner. Ich werde jetzt also in der hintersten Ecke meines Stalles für die nächsten vier Wochen in Ruhe schmollen. Sprich mich erst an, wenn du wieder ein richtiger Drachenreiter bist.‘ Mit diesen Worten zog sich seine Drachendame beleidigt aus seinen Gedanken zurück. Hairima war alles andere als begeistert von der milden Strafe. Vlaindar seufzte. Er musste ihr also dringend ein Bestechungsgeschenk zukommen lassen – Frauen waren ja so kompliziert! Dorothea hätte fluchen mögen, doch sie tat es nicht, denn das hätte nur unnötig Komplikationen zu ihrer prekären Lage hinzugefügt. Sie befand sich in der Bibliothek zum Nachmittagsunterricht, den man ihr angekündigt hatte und kämpfte sich durch Satzgebilde und hochverworrene Texte, geschrieben in der Amtssprache. Wären es wenigstens Interessante gewesen, dann hätte sie nicht so schlechte Laune gehabt, doch das waren sie nicht. Zu allem Überfluss hatte man ihr zuvor verzweifelt versucht, dividieren und multiplizieren beizubringen – teilweise hatte es funktioniert, aber nur im einstelligen Bereich. Sobald einer der Faktoren oder Summanden oder wie auch immer man diese Dinger nannte größer war als zehn, hörte ihr Verständnis auf. Der Verlust ihres Geistes bescherte ihr nun auch Schwierigkeiten beim Interpretieren von Gedichten und Balladen. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du – verdammt nochmal – nicht mit so einer Sauklaue schreiben sollst? Wer soll denn das lesen?!“, blaffte ihr Lehrer sie zum unendlichsten Male an. Ihre Schrift ähnelte der eines Kleinkindes oder wirren Bildern aber niemals Buchstaben. Wie oft hatte der alte Mann ihr nun mit dem Rohrstock einen Klaps auf die Finger gegeben? Irgendwann würden diese bestimmt auch blau anlaufen … „Verzeiht“, grummelte sie zurück und versuchte, entschuldigend auszusehen, obwohl sie in Wirklichkeit ziemlich wütend war. Am liebsten hätte sie dem Mann einmal gehörig ihre Meinung erzählt, doch sie hielt sich zurück. Ärger mit dem Personal war keine gute Idee. Schlimmer war jedoch die Tatsache, dass ihr Bauch schon die ganze Zeit prickelte. Und zwar genau an der Stelle, wo das Drachenreitermal war – dachte ihr Drachenreiter gerade an sie? Diese Frage beschäftigte sie so sehr, dass sie sich kaum konzentrieren konnte. Deswegen bekam sie ja gerade diese Prügel. Sie passte einfach nicht auf, obwohl der Lehrer sich bemühte, ihr den Studien-Nachteil auszutreiben. Das war auch der Grund, warum sie fluchen wollte. Ihr Geliebter lenkte sie ab! Und das nicht wenig. Wenigstens hatte sie schon mit der Heilerin gesprochen, die Pilea ihr empfohlen hatte – da der führende Heiler nicht auf der Krankenstation angestellt war, sondern ein eigenes Krankenhaus in der Stadt besaß, war sie mit einigen anderen Heilerinnen die einzige Person dort. Sie hatte Dorothea versichert, dass sie sich nicht im Gemeinschaftsbad waschen musste, sondern einfach in das Badezimmer der Krankenstation gehen sollte – ein Glück! Emma hieß die Heilerin – wie eine der Wirtstöchter aus Fandenstar, deshalb konnte sich Dorothea diesen Namen gut merken. Emma hatte ihr auch die restliche Prozedur der Geheimhaltung erklärt: Sie hatte in die Akten die Bestätigung ihres männlichen Geschlechts geschrieben, sodass sie auch auf Verdacht nicht zwangsweise auffliegen würde. Pilea würde ihre Pakete der Nonne Maria im Tempel geben, die durch die Wasserdame Lisa besucht würde, damit diese in ihrem Krug die Pakete zur Krankenstation bringen konnte. Dort könne Dorothea sich ihre Geschenke dann abholen. „Hör auf zu träumen!“, blaffte der Lehrer sie an – seinen Namen hatte sie vergessen. Ein Mann, der in der Bibliothek schimpfte, respektierte sie nicht. Die Menschen, die mit ihnen an diesem Ort der Stille weilten, schüttelten ebenfalls den Kopf oder rollten mit den Augen. Die allgemeine Meinung über ihn war somit also klar. Das Prickeln wurde stärker und Dorothea legte ihre Hand auf ihren Bauch, während sie so tat, als würde sie das Gedicht vor sich abschreiben, so wie man es von ihr verlangte. Warum lenkte er sie bloß ab? Merkte er nicht, dass sie in ganz üblen Schwierigkeiten steckte? Aus irgendeinem Grund beruhigte sie sich jedoch, obwohl sie zuvor aus Wut hätte platzen können. Selig streichelte sie das unsichtbare Mal ihres Drachenreiters, das durch diese Flüssigkeit verschwunden war. Vielleicht würde das Prickeln ihr die nötige Kraft geben, das Leben hier zu meistern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)