Leben Liebe Tod von LoveKills (Ein Modernes Märchen. Von der Vergangenheit in die Gegenwart.) ================================================================================ Prolog: -------- 1988. Der Schnee wollte nicht aufhören zu fallen. Die Autos standen in Staus oder waren verschneit auf Parkplätzen abgestellt worden. Die Besitzer? Sie saßen entweder in ihren warmen Wohnungen, ob Alt- oder Neubau, ob Sozialwohnung oder Eigenheim, tranken Tee, heißen Kakao oder Kaffee, aßen vorweihnachtliche Plätzchen oder Stollen, den es mittlerweile schon wieder in Übermengen zu kaufen gab. Vergnügten sich vielleicht sogar vor einem angeheizten Kachelofen. Spielten auf dem Boden mit Lego oder Duplo. Spielten Gesellschaftsspiele wie Monopoly oder Sagaland. Die goldenen Achtzigerjahre mit ihren Zentimeter hohen Schulterpolstern, den knall engen Leggings und den passenden Pumps, Clocks, oder wie auch immer sie alle geheißen haben wollen. Ich bekam davon nicht mit. Ich wusste noch nichts von all dem. Ich hatte keine Ahnung, was mich an diesem verschneiten Novemberabend erwarten würde. Welche Eindrücke ich wahrnehmen würde. Ich hatte von NICHTS eine Ahnung. Ich wusste nicht einmal wo ich war. Alles was ich wusste war, dass mich Menschen mit tränennassen Augen ansehen und mich ansahen. Der Tag meiner Geburt. An diesen Tag wird sich wohl kein Mensch erinnern. Man kannte diesen Tag nur von Erzählungen der Eltern. Wann man wo, um wie viel Uhr zur Welt gekommen war, wie das Wetter gewesen war und wie sich die Menschen um mich herum gefreut hatten. Wie niedlich einen alle gefunden hatten. Die Betonung liegt auf: hatten. Kapitel 1: Behütete Kindheit ---------------------------- Die ersten sechs Jahre im Leben eines Menschen werden hauptsächlich von den Eltern, die Großeltern und eventuell noch von den Geschwistern geprägt. Selbst wenn man in den Kindergarten gegangen war, übernahmen die Eltern noch den grossteil der Erziehung. Sie lehren dich das Laufen, das Reden, das Malen und Radfahren. Sie ermahnen dich mit geschlossenem Mund zu essen, nicht mit vollem Mund zu reden und ´Bitte´ und ´Danke´ zu sagen. Bei mir war es nicht anders, mit dem kleinen Unterschied, dass ich schon im Alter von gerade mal drei Jahren zur Disziplin beim essen getrimmt worden war. Nein, nicht Aufgrund dessen, dass die Angst zu groß war, ich würde vielleicht dick werden. Das wäre bei uns in der Familie gar nicht möglich gewesen, wenn man nicht mit Gewalt ungesunde Sachen in sich hineinstopfen würde. Wir waren eine sportliche Familie. Gingen wandern in die Berge, fuhren in den Bergen Rad, waren oft beim schwimmen. Auch dorthin natürlich nur mit dem Rad, da ein Auto nicht im Budget war. Zurück zur Disziplin. Der Grund war für Außenstehende zwar sichtbar aber nicht nachvollziehbar. Wieso gab man seinem Kind nicht einmal einen Schokoriegel? Kekse oder ein kleines Stück Kuchen? Ich kann mir gut vorstellen, dass manche Leute, die uns so beobachteten, Mitleid mit uns Kindern gegenüber nicht gegeizt hatten. Ich gebe zu, ich weis es nicht. Für uns drei Mädels war es normal, dass wir, statt einer großen Kugel Eis oder Gummibärchen, eben nur ein kleines Wasser-Frucht-Eis bekamen. Wir bettelten, natürlich. Welches Kind tat das nicht? Auch meine Schwestern, die sechs und fünf Jahre älter waren als ich, versuchten immer wieder meine Mutter zu überlisten. Es funktionierte… Nie. Entweder ein Frucht-Eis oder gar nichts. Das war ihre Devise gewesen. Und lieber nahmen wir das kleine Übel hin, als gar nichts zu bekommen. Michaela, die ältere von uns dreien, und ich, die Jüngste, litten an starker Neurodermitis und das seit etwa kurz nach unserer Geburt. Neurodermitis auch einfach kurz ´Neuro´ genannt, war und ist immer noch eine Hautkrankheit, für die es kein Heilmittel gab und auch noch nicht gibt. Ich hatte als kleines Kind schon erklärt bekommen, was das war. Welche Auswirkungen von außen dabei eine Rolle spielen konnten erfuhr ich erst gute 18 Jahre später. Neuro wird durch verschiedenste Faktoren ausgelöst. Falsche Ernährung, psychischer Stress oder Stress im Allgemeinen, oder einfach weil es genetisch weitergegeben wurde. Früher war die Ernährung für den heftigen Ausbruch ausschlaggebend gewesen. Zuckerhaltiges Essen. Es war nicht viel und man konnte selten vermeiden, dass in einem Gericht kein Zucker enthalten war. Selbst ein kleines Stückchen Schokolade konnte schon fatale Folgen haben. Alles, was man als Knirps in Massen hätte verschlingen können, ohne dass einem schlecht geworden wäre, wurde mir, mit gutem Gewissen verwährt. Was also tun, wenn man nicht wirklich weis, was man mit einem Kind machen soll, das sich blutig kratzt? Für jeden Neurodermitiker gibt es andere Möglichkeiten der Behandlung. Meine frühere Kinderärztin, wie meine Mutter mir einmal in heller Empörung erzählt hatte, wollte, dass man mich und Michaela mit Kortison-Salbe eincremen sollte! Eine Frechheit, damals in den Augen meiner Mama. Man würde ein Baby, von gerade einem halben Jahr, nicht mit Kortison einschmieren! Mittlerweile verstehe ich auch wieso. Kortison ließ die Haut sich zwar beruhigen, den Juckreiz lindern und die Wunden, ohne dass es wehtat, schneller heilen, doch die Haut würde dünn wie Papier und fast durchsichtig werden. Das konnte man einem Baby, mit eh schon empfindlicher Haut nicht antun! Meine Mutter hatte sich geweigert und auf ihre bewährten Mittel zurückgegriffen, mit denen sie schon meine Schwester ´behandelt´ hatte. Sie hatte ein System entwickelt, wie sie unseren Juckreiz stillen und die Kratzerei eindämmen konnte. Es war simpel. Nicht zu oft waschen – was nicht heißt, dass wir stinkend oder schmutzig herumgelaufen sind – damit die Haut ihren natürlichen Fettfilm nicht verlor. Sie benutzte fetthaltige Cremes. Zur Not griff sie auch auf Mullbinden zurück und verband uns, damit wir nicht mit unseren Nägeln an die offenen Stellen kommen konnten, denn jede noch so kleine Berührung konnte die nächste Juck- und Kratz-Attacke auslösen. Michaela, sechs Jahre älter, und ich fanden dennoch immer wieder den Weg, dem Jucken Herr zu werden. Entsprechend sahen unsere Bettlaken aus. Blutig. Ich war drei Jahre alt, als wir eine von der Krankenkasse genehmigte Mutter-Kind-Kur antraten. Wir fuhren an die Nordsee. Mit dem ICE nach Emden und von dort aus mit der Fähre nach Borkum. Ich weis noch, wie die Wellen – sie waren nicht sonderlich hoch – gegen den Schiffsrumpf geschlagen hatten. Ich erinnere mich auch noch an den dunkelgrünen schein des Wasser und an den gleichfarbigen Boden der Fähre. Selbst jetzt bekomme ich bei dem Gedanken noch eine Gänsehaut. Borkum. Eine süße Insel mit wunderbarem Strand und Strandkörben, riesigen Wellenbrechern, unbeständigem Wetter, einem imposanten Leuchtturm, vielen Pferdekutschen, hohen Dünen in denen man spazieren gehen konnte und einer Bimmelbahn. Die Klinik in der wir wohnten war wundervoll. Ein großer, prunkvoller strahlend weißer Komplex direkt an der Strandpromenade. Meine Schwestern bekamen ihr eigenes Zimmer mit Fernseher und Balkon. Ich teilte mir eines mit meiner Mutter. Der Ablauf war nicht sonderlich kompliziert zu merken. Frühstück und Abendessen wurden in der Klinik eingenommen. Es gab für uns einen extra Essensplan. Wir durften ja immerhin nur bestimmte Dinge zu uns nehmen, damit sich unsere Haut beruhigen konnte. Martina hingegen hatte essen können, was sie wollte. Sie war keine Neurodermitikerin. Hatte nur Heuschnupfen, welchen man durch entsprechende Antihistaminika in den Griff bekommen konnte. Wir hatten Kontrollen bei den Ärzten. Michaela und ich bekamen zudem noch Salzwasserbäder. Sie halfen ungemein, doch es brannte höllisch. Ich hatte in meinem, bis dato so kurzem Leben, wohl noch nie solche Schmerzen gehabt. Salzwasser auf offenen Wunden war die Hölle auf Erden. Man gewöhnte sich zwar dran, aber es war dennoch nicht weniger schlimm. Dieses eine Salzwasserbad würde mir ein Trauma für mein restliches Leben verpassen. Ich war zwar nicht alleine in dem Raum mit dem Salzwasserpool und dennoch. Wäre Herr Maier – meine Mutter hatte sich während der Kur mit ihm angefreundet – nicht da gewesen und mich am Schlafittchen gepackt, wäre ich wohl ertrunken Das war meine erste Nahtod Erfahrung mit knapp drei Jahren. Diese Dinge waren von der Klinikleitung und den Ärzten verordnet worden. Ansonsten mussten wir uns an keinen großartigen Terminplan halten. Es gab ein riesiges Spielzimmer. Einen Turnraum und ich weis nicht was noch alles. Dieser Turnraum würde mir auch noch nachhängen. Ja, ein Turmraum der renoviert werden sollte, barg so eine Tücken. Ich kleine Raserin drehte in rasantem Tempo meine Runden in diesem Raum und achtete nicht weiter auf die an der Wand liegenden Dielen in denen noch immer die Nägel gesteckt hatten, mit denen sie an die Decke angebracht worden waren. Und prompt trat ich, mit meinem Glück, in einen dieser zehn Zentimeter langen Nägel. Er bohrte sich einmal längs durch meinen Fuß und ich schrie wie am Spieß. Es blutete höllisch. Aber ich hatte wohl tatsächlich ziemlich Glück. Mit meinem Knochen war nichts passiert und es blieb nicht einmal eine Narbe zurück. Ich konnte ein wenig schlecht laufen, aber das war eindeutig das kleinere Übel wenn man bedachte, was alles hätte passieren können. Die Zeit die wir hatten, verbrachten wir mit der Erkundung der Insel. Gingen in den Dünen oder am Strand spazieren. Bei jedem Wetter, außer es gab eine Sturmwarnung. Ich glaub das war in den vier Wochen nur einmal der Fall. Meine Mutter hatte damals eine tolle, knallrote Daunenjacke getragen und ich hatte mich, bei zu starkem Wind, liebend gern unter dieser Jacke verkrochen. Ich hatte mich an meiner Mutter ihrer Hüfte festgehalten und watschelte, mit dem Kopf unter der Jacke hinter ihr her. Es war lustig, denn ich war sozusagen Wind- und Wettergeschützt. Wir waren auch einmal Wattwandern, mit Führung, versteht sich. Auf den Leuchtturm waren wir auch hochgegangen. Es war eine rundum schöne Zeit dort auf Borkum. Dass ich allerdings noch einmal dort sein würde, wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht. Wieder zu Hause angekommen, ging ich wieder normal in den Kindergarten. Wir hatten einen großen, blauen Plastikpool. Wir Kids schämten uns nicht, als wir uns voreinander umzogen und ins Wasser sprangen. Auch die Scham meiner offenen, blutverkrusteten Wunden war noch nicht vorhanden. Und es schien auch niemanden zu interessieren. Die Kinder aus meiner Gruppe fragten auch nicht, warum ich etwas anderes zu Essen bekam als sie, warum ich mit ihnen keinen Mittagsschlaf hielt, sondern von meiner Oma abgeholt wurde oder ich meine Mutter im Alleingang von der Arbeit abholte. Ich musste dazu nur zwei Minuten durch den Park gehen. Ich hatte die offizielle Erlaubnis dazu. Als drei- bis fünfjähriger nahm man alles in naivem Verständnis hin ohne etwas zu hinterfragen. Man spielte mit den Kindern, egal welcher Rasse oder welcher Nationalität dieses Kind angehörte. Es war egal. Man verstand sich, man kam miteinander aus, also spielte man auch zusammen. Ob nun Vater-Mutter-Kind, Eisenbahn, Fangen oder sonst etwas. Solange es Spaß machte, war es in Ordnung. Meine beste Freundin damals kam aus Kroatien. Marina hieß sie. Ein liebes Märchen mit übergroßer Fürsorge ihrem zwei Jahre jüngerem Bruder gegenüber - von den Erziehrinnen, Alexandra und Martina, wurde diese Fürsorgen mehr als einmal bemängelt, da er irgendwann selbst für sich Sorgen müsste, da sie in einem Jahr zur Schule gehen und dann nicht mehr so für ihn da sein können würde - einem freundlichen Mondgesicht und wunderbaren hellbraunen langen Haaren. Marina und ich gingen auch zusammen zur Grundschule. Auch da schien noch alles in bester Ordnung zu sein. Ich verhielt mich so, wie sich ein Schulkind mit sieben Jahren nun einmal verhielt. Ich liebte die Schule, ich liebe meine Familie, ich spielte mit meinen Freunden draußen im Hof Vater-Mutter-Kind und Fangen. Federball auch ab und zu. Ich machte brav meine Hausaufgaben und arbeitete brav in der Schule mit. Der einzige Schatten der über mir lag, war dass ich lange Finger bekam, wenn mir etwas gefiel. Ich klaute meiner Schwester ihr Erspartes. Es kam heraus, als sie eines Tages heulend vor meinen Eltern stand und ihnen erzählte, dass ihr Geld verschwunden sei. Sie fragten mich, ohne böse zu sein oder mich anzuschreien. Ich hatte ein so gemein schlechtes Gewissen, dass ich unter Tränen beteuerte, dass ich es nicht gewesen wäre. Somit wäre wohl auch das klar gewesen. Ich bekam weder eine Standpauke, noch musste ich meiner Schwester das Geld wieder geben. Woher auch? Ich bekam damals 50 Pfennig Taschengeld in der Woche. Die Grundschule war wirklich toll. Ich war gut. Ich war schnell im Lesen, ich konnte gut Rechnen und Malen. Ich ging sogar in die Musikschule. Lernte Notenlesen, wie ich richtig zu stehen und zu atmen hatte. Die Musikschule war immer nachmittags gewesen. Den Lehrer, den wir dann in der zweiten Klasse bekommen hatten, konnte ich nicht ausstehen. Er war einfach blöd. Er spielte Geige und fiedelte sich immer wieder einen ab, wenn er die Stunde gab. Mit ihm führten wir sogar zwei Stücke im Gasteig auf. Es war lustig und ich hatte mein erstes Solo. Und das mit acht Jahren. Ich war stolz auf mich und ich fand, dass ich meine Sache richtig gut gemacht hatte. Wir hatten ´Max und Moriz´ aufgeführt. An das zweite Stück erinnere ich mich nicht mehr. Nur noch, dass wir mit neongelben Regenschirmen auf der Bühne gestanden, getanzt und gesungen haben. Es ging um Regen, den darauf folgenden Schnupfen und darum, dass Regen kalt und nass war. Das Lied war auch noch auf Englisch und ich kann den Refrain heute, nach etwa 13 Jahren immer noch. Ich bekam mit neun Jahren Gitarrenunterricht. Hörte allerdings nach nicht einmal eineinhalb Jahren wieder auf, da mit der neue Lehrer nicht gefallen hatte. Er war einfach nicht… so wie der alte. Im wahrsten Sinne des Wortes ´alt´. Mein alter Lehrer war bestimmt schon über sechzig gewesen. Er hatte meiner Schwester und mir viel beigebracht und es hatte Spaß gemacht, doch nach dem Wechsel, war es nicht mehr das Gleiche. Das Üben und zum Unterricht gehen war mehr zum Zwang geworden. Und somit hatte meine Mutter auch nicht das Problem, dass wir eben nicht mehr hingingen. Schade eigentlich, wenn man bedenkt, dass ich gar nicht mal schlecht gewesen war. Um meine musikalischen Fähigkeiten weiterhin zu fördern, ging ich sogar in den Kinderchor der Kirche, bei mir um die Ecke. Mit einer damaligen Freundin, Marina, die ich eben seit dem Kindergarten schon gekannt hatte. Mit vierzehn wechselten wir dann in den ´Jugendchor´. So viele Jugendliche waren da allerdings auch nicht. Wir zwei waren mitunter die jüngsten, zwischen lauter 20-jährigen. Aber es war trotz allem eine schöne Zeit. Ich war grundsätzlich immer am Mikro gestanden, wenn wir in der Kirche gesungen haben. Immerhin kam ich fast zweieinhalb Oktaven hoch. Also ziemlich hoch. Noch während wir in der vierten Klasse waren mussten wir uns entscheiden, ob wir auf das Gymnasium gehen wollte, oder ob wir die Hauptschule bis zur Fünften machen und dann auf die Realschule wechseln wollten. Ich entschied mit meiner Mutter den einfacheren Weg. Die Realschule. Da ich mitbekommen hatte, wie meine Schwester auf dem Gym gewesen war, hatte ich irgendwie Angst davor und alles in mir sträubte sich, auf solch eine Schule zu gehen. Ich wollte weder Latein noch Französisch lernen und ich wollte schon gar nicht auf eine reine Mädchenschule. Somit war das klar und der Ernst des Lebens begann. Kapitel 2: Pubertät ------------------- Mit dem Wechsel von der fünften Klasse Hauptschule in die fünfte Klasse Realschule. Ich hatte mich entschlossen diese Klasse lieber noch einmal zu machen, damit ich mit dem Englischstoff nicht hinterherhinkte. Und ich war Klassen-Zweite in diesem Fach und verdammt stolz auf mich. Bisher war mein Leben in ruhigen und geordneten Zügen verlaufen. Ich interessierte mich für Puppen und fürs Schminken - meine Mutter hatte meine Cousine und mich oft erwischt, als wir ihre Schminke benutzt hatten – und für meinen Körper. Ich hatte immer ein gutes Verhältnis zu Stephanie gehabt. Wir waren zusammen in Italien im Urlaub. Ich habe ihr alles erzählen können und wir haben jeglichen Scheiß zusammen gemacht. Wir haben Fotos gemacht, auf denen wir halbnackt zu sehen waren. Wir hatten uns gegenseitig massiert und damals fand ich es schon komisch, wenn sie mich angefasst hatte. Es war nicht unangenehm komisch, ganz im Gegenteil, doch ich konnte diese Gefühle nie richtig einordnen. Als wir älter wurden, legten sich die gemeinsamen Aktivitäten ziemlich schnell. Die Realschule war ein Ort voller Menschen. Einer unterschiedlicher als der andere. Wir haben Tutoren bekommen. Es waren fünf junge Leute aus der zehnten Klasse. Sie sollten uns betreuen uns bei Problemen helfen und uns helfen uns in der neuen Schule zu Recht zu finden und uns wohl zu fühlen. Sie unternahmen mit uns eine Menge. Eisessen oder Eislaufen im Winter. Dinge, die einen kleinen Menschen noch sehr freuten. Wir hatten alle Respekt vor den älteren. Himmelten sie regelrecht an und sie waren, allem Anschein nach, ziemlich in uns ´Kleine´ vernarrt. Es war ein neues Schulsystem: Die sechsstufige Realschule. Das hieß, das nun auch schon Fünftklässer auf die Realschule gehen konnten, nicht wie zuvor erst ab den Achten. Für die Lehrer war es neu, weil sie nicht wussten, wie sie mit uns Kiddies umgehen sollten und für die älteren Schüler war es genauso schwer, eben aus demselben Grund. Die fünfte Klasse war noch sehr angenehm. Ich hatte, zu meiner eigenen Verwunderung, richtig gute Noten in Englisch. Mathe ging mir relativ gut von der Hand und in Deutsch war ebenfalls… alles rosa. Ich hatte einen tollte Lehrerin, die ich in dem darauf folgenden Schuljahr ebenfalls hatte. Diesmal auch im Geschichtsunterricht. Wir hatten viele Projekte. Unter anderem auch Buchprojekte. Entweder haben wir ein Buch gemeinsam gelesen – ich kam aus dem Vorlesen gar nicht mehr heraus, da ich eine der wenigen war, die sich nicht ständig verhaspelten – oder aber wir mussten uns ein Buch aussuchen, über das wir referieren sollten. Ich hatte mich damals für nichts anderes als Harry Potter Band Vier entschlossen. Ja, für eine 13-jährige ein ziemlicher Schinken und ich ein paar Monate davor schon gut eine Woche vor dem Buch. Mich hatte der Harry-Potter-Wahn eingeholt. Das Lustige an der Geschichte war jedoch, dass meine Lehrerin eben genau diesen Wahn mitmachte. Sie mochte die Bücher der Potter-Reihe sehr gerne. Kannte sich gut aus und war umso gefesselter, als ich Knirps vor der Klasse stand und ein 45-minütiges Referat gehalten hatte, obwohl wir eigentlich nicht länger als 15 Minuten hätten halten sollen. In der sechsten Klasse ging der eigentliche Wahnsinn erst richtig los. Ich hatte es als kleines, schüchternes Mädchen nicht unbedingt einfach in einer Klasse, in der die Gleichaltrigen die tollsten Klamotten und Elektronikgeräte besaßen. Obwohl: die Elektronik war es gar nicht, die mich geärgert hatte, sondern die Anziehsachen. Ich bin die jüngste von drei Mädels und da ist es klar, dass das Geld, was die Eltern nach Hause bringen, eben nicht dafür ausreicht, drei jungen Mädchen das zu kaufen, was sie vielleicht gerne hätten. Wie gesagt, ich bin die Jüngste und die jüngsten trifft das Schicksal eben immer doppelt und dreifach. Ich konnte es verstehen, dass ich keine angesagten Jeans von Levi’s oder ähnlichen Designern bekommen hatte, doch ständig die getragenen, zwar noch intakten, Klamotten meiner Schwestern zu tragen, ging mir schon ziemlich auf den Senkel. Kein Wunder also, dass mich der Rest der Klasse immer so von der Seite angesehen hatte. Es war schon zum kotzen, ständig der Außenseiter zu sein und das nur, weil man nicht ´in´ war? Hab ich nicht verstanden. Musste ich aber glaube ich auch nicht, denn ich hatte eine wunderbare Freundin. Ich die ´Uncoole´ und Tati, die doch eher zu den ´cooleren´ in der Klasse gehörte. Sie war liebenswert, ein wenig kompliziert und leider Gottes wahnsinnig selbstzweifelnd. Und dennoch, sie nahm mich eben nun mal so, wie ich als kleines, graues Mäuschen war. Ja, ich kann schon sagen, dass sie meine beste Freundin war. Wir kannten uns zu dem Zeitpunkt immerhin schon seit drei Jahren. Wie man mit süßen dreizehn nun mal ist, hatten wir wirklich jeglichen Blödsinn miteinander gemacht. Wir überlegten uns, wie wir uns am besten die Beine rasieren sollten. Im Nachhinein denke ich, dass das vollkommen schwachsinnige Gedanken waren, aber hey, wir waren jung. Blöd nur, dass wir uns wahnsinnig geschämt haben, uns überhaupt einen Rasierapparat zu kaufen. Wir dachten, dass die Verkäuferin an der Kasse sonst etwas denken mochte. ´Viel zu jung´, ´die fangen vielleicht früh an´. Nur so schwer war es dann doch wieder nicht und die Gedanken, die wir uns gemacht hatten, dass wir vielleicht ausgelacht würden, waren unnötig, aber wohl doch irgendwo verständlich. Das waren die Dinge, über die man sich in meinem Alter Gedanken gemacht hatte. Ein bisschen später war die erste Zigarette im Umlauf. Weihnachtsbasar in der Schule. Langweilige Sache. Es bestand Anwesenheitspflicht, die Chormitglieder sangen irgendwelche öden Weihnachtslieder, die ich mittlerweile schon nicht mehr hören beziehungsweise auswendig konnte. Wir zwei Mädels hatten uns dann irgendwann aus dem Staub gemacht. Wir hatten uns von ihrem Bruder eine Zigarette geklaut. Streichhölzer hatten wir auch noch irgendwo auftreiben können und so standen wir, mit unseren dreizehn Jahren irgendwo hinter den Mülltonnen und haben gezittert vor Kälte, Aufregung und Angst. Angst, dass unsere Eltern es mitbekommen würden. Unser Puls schoss nach oben und wir waren voll gepumpt mit Adrenalin. Natürlich haben wir nicht sofort auf Lunge geraucht. Ich glaub, sonst wäre uns wohl die Lunge aus dem Rumpf geflogen! Aber das erste Mal ´Paffen´ war aufregend, aber ich muss zugeben… es war eklig und dennoch haben wir, dummerweise, nicht aufgehört. Man wollte ja irgendwie dazugehören. Der Versuch, das ´rauchen´ vor unseren Eltern geheim zu halten scheiterte kläglich. Die waren halt nun doch nicht so dumm, wie wir immer gedacht haben. Sie hatten natürlich alles mitbekommen, aber auch wirklich alles! Nur gesagt hatten sie nie etwas. Also wiegten wir uns in Sicherheit. Kauften uns irgendwann eine komplette Schachtel Marlboro. Nein, sie waren nicht stark, überhaupt nicht! Wir waren einem halben ´Lungenanfall´ nahe. Haben gehustet wie Asthmatiker und haben trotz allem nicht aufgehört. Irgendwann haben wir uns sogar Feuerzeuge gekauft, weil Streichhölzer ja total uncool waren. Blöd nur, wenn einem mitten im Winter der Anzünder in den Schnee fällt. Tja, das war es dann mit dem Rauchen vorerst gewesen. Aber auch nur für die Zeit, bis wir ein neues Feuerzeug in die Finger bekommen hatten. In diese Zeit waren wir oft im Juze. Ein Freizeitheim, von christlichen Mitarbeitern geleitet. Eigentlich eine nette Sache. Wir hatten unsere Ruhe vor unseren Eltern, sind nicht irgendwo herumgestreunt und hatten Ansprechpartner, wenn uns etwas auf der Seele gelegen hatte. Franzi und ich haben uns die Zeit mit dem Einstudieren von Tänzen und Tischtennisspielen vertrieben. Walkmann angeschaltet, Stöpsel oder Kopfhörer aufgesetzt und losging es. Zwei Stunden, drei Stunden. ´Ping, Pong, Ping, Pong´. Uns wurde es nie zu langweilig und wir hatten wirklich unsere Gaudi, weil wir die Platte ständig blockiert hatten. Nur irgendwann verändert sich jeder Mensch. Wir waren beide in der Pubertät. Ein wundervoller Abschnitt im Leben eines jeden Menschen. So voll gestopft mit Trotz. Widerwillen. Aggression. Man will seinen eigenen Kopf durchsetzen und hört auf nichts, was die Eltern einem sagen. Man ist im Großen und Ganzen einfach unausstehlich. Und so wie sich der Körper verändert, verändert sich auch das Wesen. Es ist eben der erste Schritt ins Erwachsenwerden. Meine beste Freundin und ich waren wirklich unzertrennlich. Und plötzlich war er da. Ein Streit. Mitten in der Schule. Wir haben nicht mehr miteinander geredet, haben uns, wenn, dann angezickt. Und das war ausschlaggebend. Wenn man bedenkt ein normaler Streit, was hat das schon zu bedeuten? Man schreit sich an, redet vielleicht gar nicht miteinander, verträgt sich wieder und gut ist. Aber dem war leider nicht so. Ich war sauer. Wütend und traurig zugleich. Warum streitet man sich wegen einer Lappalie wie eine aus Versehen eingerissene Hose! Gut, sie war neu, aber wenn sie zu blöd zum Rollschuh fahren ist, kann ich doch nichts dafür, oder? Wir stritten und ich… ja was tat ich? Mitten in meiner Trotzphase und der ´lasst-mich-doch-alle-einfach-in-Ruhe´ Phase. Ich nahm meinen Kugelschreiber, riss den Klipp ab und betrachtete das schöne gezackte, scharfe Ende. Und ich tat es. Zum ersten Mal. Es war ein komisches Gefühl, als das Metall in meine Haut schnitt. Es blutete nicht. Es war nur ein kleiner Teil der obersten Hautschicht. Die Schnitte schwollen an. Blinkten mich weis und rot an und ich konnte nicht anders, als lächelnd aus dem Fenster zu sehen. Es war in dem Moment einfach befreiend. Ich wusste selbst nicht was ich tat. Ich tat es einfach und ich merkte dass es mir gut tat. Der erste Schritt oder sollte ich sagen, Schnitt, in ein anderes Leben war getan. Ich habe versucht die Verletzungen zu verdecken und doch gibt es im Leben immer wieder unvorsichtige Momente. So auch bei mir. Der Blick meiner Mutter war so unsagbar verletzend wie nichts anderes, was ich davor erlebt hatte. Mal abgesehen vom Tod meiner Opas. Sie wollte mir nur eine Creme zeigen, die sie gekauft hatte und sie an meinem Arm ausprobieren. Und ich hatte einfach nicht mehr daran gedacht, dass da etwas in eben diesen geritzt war. Ich hatte es ganz einfach vergessen. ´Ja, das kennen wir ja schon´. Das war alles, was sie dazu gesagt hatte. Doch wie sich mich angesehen hatte. Nicht vorwurfsvoll. Nicht böse oder gar drohend. Sondern einfach tief verletzt. Ich wusste nicht, was sie für einen Aufstand veranstaltete und dann erinnerte ich mich wieder. Meine älteste Schwester hatte sich selbst auch schon verletzt gehabt. Und da wusste ich auch, warum ich mit diesem Blick gestraft wurde. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt hatte ich den Kugelschreiberklipp oder meinen Zirkel, in dieser Art und Weise, nie wieder verwendet. Und dann fing es an... Kapitel 3: Veränderung ---------------------- Die Welt der Technik hatte einen neuen Höhepunkt erreicht und ich machte Bekanntschaft mit einem wunderschönen Teil davon. Dem World Wide Web. Was konnte man nicht alles machen. Briefe via eines Kabels versenden. Das war etwas, was ich bis dato noch nicht gekannt hatte. Man konnte sich plötzlich mit Menschen unterhalten, ohne sie zu sehen oder ihnen gegenüber zu stehen. Das allseits beliebte ´chatten´, wie es in Amerika heißt, zeigte mir vollkommen neue Möglichkeiten auf. Ich hatte mich in dem letzten Jahr verändert. Die Beziehung zu meiner besten Freundin hatte sich verlaufen, obwohl wir immer noch in die gleiche Klasse gingen. Aber sie gehörte nun zu den ´Coolen´. Und ich? Ich war immer noch die graue Maus. Abgetragene Jeans, hässliche Turnschuhe und zu große Pullover in grau-, dunkelblau- und Schwarztönen. Bis zu dem Tag, als meine Schwester CDs ausgeliehen bekommen hatte, war ich ein unauffälliges, zurückhaltendes kleines Ding. Ich war neugierig. Wollte wissen, was dieses traurige Gesäusel war, was ich letzten Abend aus unserem Zimmer gehört hatte. Meine Schwester war irgendwann an einem Nachmittag mit einer Freundin unterwegs und ich huschte in unser Zimmer. Suchte die CDs und versuchte so leise wie möglich zu machen, da meine Mutter in der Küche saß. Ich hörte mir diese Lieder an. Und sie gefielen mir. Ich verstand wovon der Mann auf der Silberscheibe sang. Und ich sah mich in diesen Liedern wieder. Er sang von Menschen, die einen ansahen, als würde man selbst vom Mars kommen. Von der Seele, welche sich im Zwiespalt mit sich selbst befindet. Von dem eigenen Lebenslicht, was kurz vor dem Erlischen steht. Vor der Verschlossenheit der Menschen gegenüber denjenigen, die sie lieben. Im Großen und Ganzen gesagt, sang er einfach von der Wahrheit! Ich recherchierte, denn es gab ja `Internet´. Worüber ich nicht alles las. Satanismus, diverse Sekten, doch ich fand nichts über diese wunderbare Musik. So melancholisch, trübe und dennoch mit einer Kraft in der Aussage, die mir eine Gänsehaut über den Körper gejagt hatte. Und dann kam ich zu einer Suchmaschine. Ich gab die Musikgruppe ein, über die ich mehr wissen wollte. Und Schwupps, hatte ich es entdeckt. ´Gothic´ hieß es also. Nicht so wirklich wissend, was es bedeutete suchte ich weiter und weiter. Eignete mir Wissen über eine Subkultur an, die in der spießigen, eingefahrenen Gesellschaft, einen wahnsinnig dunklen, bösen und verachtenden Ruf hatte. Und ich entdeckte mich darin wieder. Schwarz… Schwarz war etwas, was in mir Gefallen weckte. Ich hatte dunkle Klamotten. Dunkelblau, Grau. Sogar schwarze Anziehsachen hatte ich in meinem Kleiderschrank. Und so fing ich an zu kombinieren. Dunkle Jeans, darüber ein wadenlanger, schwingender Rock mit rotem Unterfutter und ein schwarzes T-Shirt. Schwarze Schuhe hatte ich auch, also ran damit an die Füße. Und dann die Schminke. Nur wie schminkt man sich dazu passend? Also probierte ich mich aus. Sah mir Bilder an und tat es den abgebildeten Personen einfach nach. Ich sah gut aus. Schwarz umrandete Augen, á la Nofretete mit rotem, oder purpurnem Lidschatten. Und so ging ich in die Schule. Wie wurde ich angesehen! Es war schon zum lachen. Plötzlich ruhten die Blicke auf mir, nur mir war es egal. Ich hatte mich selbst neu erfunden. Ich hatte es nicht mehr nötig, mich irgendwelchen Trends anzupassen. Ich war es auch Leid, ständig zu versuchen wie die anderen sein zu wollen. Okay, ich gebe zu, ich hab mich entsprechender ´Vorlagen´ gekleidet, geschminkt und mich an einen ´internen Kodex´ gehalten. Lachen in der Öffentlichkeit? Nein, das war unmöglich. Also lief ich mit einem grimmigen Gesichtsausdruck durch die Gegend. Die Leute wichen mir aus und ich war ganz froh darum. Mein neues Leben hatte begonnen. Ich kapselte mich ab. Ich wollte den Kontakt zu meinen Klassenkammeraden abbrechen. Nur es gab eben doch zwei Menschen, die mich weiterhin so nahmen, wie ich war. Sie konnte selbst die Mauer, die ich anfing um mich herum zu bauen, nicht aufhalten, zu mir vor zu dringen. Meine Maske konnte sie allerdings täuschen. Ich war nicht mehr diejenige die ich noch vor einem Jahr gewesen war. Durch meine äußerliche Veränderung und so manchen Spruch auf meiner Schultasche, hatte ich anscheinend den Glauben meiner Mitmenschen verletzt. Die Betitelungen, die sie mir hinterher riefen wurden von Tag zu Tag heftiger. Ja, ich wurde für einen Satanisten gehalten. Für mich auch nicht verwunderlich. Denn ich trug ein umgedrehtes Kreuz. Aus reinem Protest. Ich hatte mich diesem ach so tollen kirchlichen Denken abgewandt. Ich ließ die anderen glauben, was sie wollten, nur dann sollten sie das Gleiche mir zukommen lassen. Die Freiheit meinen ´Glauben´ selbst zu wählen. Nur was wussten sie denn? Wussten sie denn, was ein umgedrehtes Kreuz bedeutete? Im Grunde genommen hatte es eben genau mit RELIGION zu tun! Mit dem Christentum, um genauer zu sein. Nur wussten sie denn auch, dass Petrus, einer der Apostel, sich an ein umgedrehtes Kreuz hat nageln lassen? Nein! Sie wussten nur: Ah sie trägt ein umgedrehtes Kreuz ergo Satanistin! Also eilte mir dieser Ruf voraus oder doch eher hinterher? Die Auseinandersetzungen mit meinen Klassenkameraden und denen, die in den Parallelklassen waren, wurden immer heftiger. Ein dummer Spruch und ich explodierte regelrecht. Es ging sogar soweit, dass ich, es war noch vor Stundenbeginn, brüllend vor einem Mitschüler stand und ihn in Grund und Boden geschrieen hatte. Nicht einmal der Lehrer, der hereinkam, konnte meine Wut lindern. Im Gegenteil. Selbst ihn schrie ich an. Er wüsste nicht, was der Kerl, Marco, zu mir gesagt hatte und er sich gefälligst nicht in meine Angelegenheiten einzumischen hatte und ich das gute Recht hätte, mich zu verteidigen. Verbal, versteht sich. Ich bin niemals handgreiflich geworden. Ich wollte mich ja immerhin nicht auf das primitive Niveau der anderen herablassen. Ich legte mich ständig mit Lehrern an. Allerdings vertrat ich nur lautstark meine Ansichten, was, wie wir ja alle wissen, nicht verboten ist. Und mir hat auch keiner widersprochen. Meinungsfreiheit. Somit hatte ich den Respekt der Lehrer und der Mitschüler, die sich allerdings immer wieder heftig darüber ausließen, wie ich herumlief, wie ich mich gab. Kühl, gefühlskalt, emotionslos – soweit es denn ging. Ich hatte damals einfach eine schwere Zeit. Mobbing in der Schule, meine Eltern, die mich nicht verstanden haben, weil ich nicht wollte, dass sie mich verstehen, alles abhängig von drei Mädels der Schule damals, die nichts besseres zu tun gehabt haben, als mich zu beschimpfen. ´Satanisten Schlampe´, ´Satanistin´ selbst Morddrohungen haben sie nicht gescheut. Und das auch noch übers Telefon, ohne irgendwie die Stimme zu verzerren. Doch all das, war erst der Anfang einer Reise, die mich mein Leben lang verfolgen würde. Dieser Chat-room war eine Flucht vor meinen Problemen. Nur, wie so viele in diesen Räumen, war ich jemand, der sich nicht verstellt hatte. Ich war, selbst im Internet noch ich. Und ich geriet an jemanden, der nicht der war, der er vorgab zu sein. Ich hatte mich damals mit jemandem aus diesem Chat gestritten. Ein junger Mann, damals um die 22 Jahre alt, hatte mir geholfen. Wir kamen ins Gespräch. Haben über alles nur Mögliche geredet. Was genau diese Themen waren, ich kann mich kaum noch daran erinnern. Und dennoch hat es gut getan, mit jemandem darüber reden zu können. Über Dinge, die ich sonst niemandem anvertrauen konnte. Nicht einmal meiner Mutter hatte ich sagen können, was in der Schule passierte. Sie dachte einfach nur: Die Pubertät eben. Die wird sich schon wieder einkriegen. Leider war dem nicht so. Es hat gut getan, sich mit jemandem aussprechen zu können, der früher oder selbst zu dieser Zeit, in der gleichen Situation gewesen war. Der Kontakt zu Leroy, auch genannt Asthi, war hergestellt. Zuerst hatten wir uns nur geschrieben. In diesem Chat-Raum. Ich habe mich ihm anvertraut, wie niemandem sonst zuvor in meinem Leben. Eigenartig, wenn man bedachte, dass er ein mir völlig Fremder war. Allerdings ist es ja öfter so, dass man mit engen Vertrauten über die eigentlichen Probleme nicht reden kann. Irgendwann haben wir Adressen ausgetauscht. Wir schrieben uns Briefe, so oft es nur ging. Seiten lang. Der längste meiner Briefe ging über 6 A4 Seiten, doppelzeilig geschrieben. Und ebenso lange Schreiben kamen zurück. Mit sehr persönlichen Dingen. Aber das meiste habe ich über das Telefon erfahren. Ja, selbst davor haben wir uns nicht gescheut. Das erste Telefonat, daran kann ich mich noch sehr gut erinnern. Es war bei einem Radrennen in München. Unserem aller ersten 24-h-race. Mein Handy hat geklingelt. Ich ging ran, hatte nicht auf die Nummer geachtet. Da war er dran. Diese Stimme wird mir niemals aus dem Kopf gehen. So jünglich, als würde ich mit einem kleinen Jungen sprechen und dennoch mit einer Intensität in den Worten, die mich eingelullt haben. Fröhlich und dennoch mit einem gewissen Touch an Melancholie. Er hatte mich gefragt, ob ich ihn angerufen hätte. Nein, hatte ich ihm geantwortet. Mittlerweile denke ich, dass es vielleicht nur ein Vorwand war, noch weiter zu mir vor zu dringen. Mich weiter von innen heraus zu zerstören. Doch damals war von solchen Zweifeln gar nicht erst die Rede. Für mich war es heile Welt, habe alles irgendwie durch eine rosarote Brille gesehen. Nach diesem kurzen Gespräch bin ich nach Hause gegangen. Auf dem Weg haben wir SMS geschrieben und keine 15 Minuten später hing ich am Telefon, hab mit Leroy telefoniert. Zwei Stunden. Ich war nicht einmal aufgeregt, habe es für eine Selbstverständlichkeit gehalten. Die Telefonate führten wir oft. Meist war ich es, die angerufen hat. Zwei Stunden, alle zwei Tage und die Telefonrechnung sah dementsprechend aus. Über 170€ und der Anschiss war natürlich vorprogrammiert, aber ich wollte mir nichts sagen lassen. Wir haben gelacht sogar zusammen geweint. Je länger wir uns kannten, desto mehr habe ich von ihm erfahren. Vergewaltigungen vom eigenen Vater, Selbstmordversuche, die Liebe zu seinem besten Freund (Micha) und die Leidenschaft zu Vampiren. Ja, selbst dementsprechende Zähne hatte er. Angeblich. Je öfter wir miteinander sprachen, desto weiter drang er vor. Desto weiter schlich er sich in meine Seele in mein Herz. Ich hab ihn wie einen Bruder angesehen. Habe ihn auf diese bestimmte Art und Weise geliebt. Eine Liebe, die regelrecht blind gemacht hat. Es war etwa ein Jahr später, als ich in Kroatien war. Ich hatte ihn angerufen. Es war um neun Uhr Abends, etwa. Was habe ich erfahren? Dass sein Jüngster an einer Lungenentzündung gestorben sei. Mit neun Monaten. Man konnte sich denken, was das in mir ausgelöst hat. Ich habe geheult wie ein Schlosshund. Wusste weder mir, noch ihm zu helfen und meine Tante konnte nichts anderes tun, als mir zu sagen, ich solle ihnen den Urlaub nicht verderben. Super, ein Streit war vorprogrammiert. Mein Block war mein Begleiter und ich habe geschrieben. Einen Text, genau über dieses Thema. Mir ging es besser. Doch nicht sonderlich lange. Ich habe in diesen Jahren sehr viel geschrieben. Gedichte, Prosa, Lyrik. Kein Thema blieb unberührt. Ich war wieder zu Hause. Wann genau es war, als ich diese Nachricht erhalten hatte, ich wusste es nicht mehr. In diesen Tagen, Wochen und Monaten sind oftmals Dinge vorgefallen, die mich weiter, immer weiter irgendwo in den schwarzen Abgrund einer jeden Seele getrieben haben. Eine dieser Nachrichten kam auch irgendwann in einem Sommer, oder war es doch schon Herbst wo es nur sehr warm war? Ich weis es nicht mehr. Fast schon flehend hatte er in den Hörer gerufen, dass sein Vater in der Nähe wäre. Er Angst hätte, wieder einen Übergriff erleben zu müssen. Ich versuchte ihn zu beruhigen, es gelang mir, doch die nächste Nachricht von seiner besten Freundin, Leni, war nicht weniger erschreckend. Wieder ein Selbstmordversuch, der gerade eben noch vereitelt werden konnte. Er hatte springen wollen, vom Balkon. Leni konnte ihn damals noch zurückhalten. Doch das heftigste kam erst noch. Ich war im Fichtelgebirge mit meiner Mutter und einer Bekannten. Ich wusste, dass etwas nicht ganz in Ordnung war. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass er im Krankenhaus gelegen hatte. Sich darüber beschwert hatte, dass man ihm seinen Schmuck genommen und die Fingernägel gestutzt hatte. Wieder wegen eines Suizidversuches? Ich weis es nicht mehr. Ich hatte ihn angerufen, mich normal mit ihm unterhalten und keine paar Monate später bekam ich wieder eine Nachricht. Leni war es diesmal, die mich angerufen hatte. Leroy läge im Koma. Auf die Frage, wie es gekommen war, antwortete sie mir, dass er sich einen Kopfschuss verpasst hatte. Kuss, der Freund Lenis, war dabei gewesen. Hatte ihn nicht aufhalten könne. Der Grund dieses Schusses? Die Vorfälle hatten sich überschlagen, Jassi, eine damalige Freundin hatte ihn noch weiter fertig gemacht. Immer drauf in die Wunden rein. Erst da, kamen mir die ersten Zweifel. Und als mir dann nach einer Woche berichtet wurde, er wäre aufgewacht und es wäre alles in Ordnung, war es für mich eigentlich fast klar, obwohl ich es immer noch nicht hatte glauben wollen. Die Zweifel in meinem Hirn hatten diese Gestalt: Man kann einen Kopfschuss nicht überleben, würde man ihn überleben und ins Koma fallen, würde man nicht aufwachen, sollte man doch aufwachen, würde man schwerwiegende Verletzungen am Hirn haben, also wäre nichts in Ordnung. Wahrscheinlich währe das Sprachzentrum, irgendetwas, vollkommen zerstört gewesen. Der Kummer, die Zweifel, die Sehnsucht, ihm irgendwie helfen zu wollen, zerfraßen mich regelrecht. Die Selbstverletzung war wieder eingetreten, um dem Druck, der in mir stetig wuchs und wuchs, Herr zu werden. Ich verdeckte meine Wunden nicht mehr. Ich konnte nicht mehr. Ich erzählte meiner Mutter was los war. Die Schule, das mit Leroy. Ich kotzte ihr alles in den Schoß, was mich belastete. Und das war der Anfang vom Ende. Sie hat mich mit zur Kriminalpolizei gezerrt. Ja, zur Kripo, unter dem Vorwand, wegen des Mobbings etwas zu unternehmen. Das hat der Beamte sogar gemacht, ja, das Mobbing hatte, einen Tag vor den Sommerferien, sein endgültiges Ende gefunden. Doch was mich etwas irritiert hatte, waren die Fragen des Beamten. Wegen Leroy. Hauptsächlich wegen diesem Menschen. Ich war unschlüssig. Sollte ich ihn verraten? Sollte ich erzählen, was alles passiert war? Ich haderte und dennoch… ich erzählte dem Beamten was ich wusste, erlebt hatte. Mit der Bitte Leroy nicht ´aufzusuchen´ gab ich ihm das Okay, sich mal ein wenig umzuhören. Ich hatte falsch gelegen, denn Die Polizei war dennoch bei ihnen aufgetaucht, wie ich nach einem Gespräch mit Leni erfahren hatte. Ich war stocksauer, dass das Versprechen, was mit der Beamte gegeben hatte, gebrochen worden war. Der Anruf der Kripo war an einem Nachmittag nach der Schule. Ich war bei meiner Oma zu Hause. Ich weis noch, das ich in einer dunklen Küche gestanden und das Telefon ungläubig gegen mein Ohr gepresst hatte. Jegliche Emotion war aus meinem Körper geflohen. Ich fühlte… Leere. Eine dunkle Leere, die selbst der heiße Sommertag nicht füllen konnte. Ich wollte nicht glauben was er mir sagte. Was die ´Ermittlungen´ ergeben hatten. Ich bedankte mich für die Information. Legte auf und ging nach Hause. Ich erzählte meiner Mutter, was der Beamte mir am Telefon berichtet hatte. Sie hatte es schon gewusst, doch sie ließ mich zu Ende reden. Die Kripo hatte Dinge herausgefunden, die ich in meinem Leben niemals geglaubt hätte, hätte man es mir vor diesem einen Ereignis gesagt. Kein einziges Krankenhaus hatte eine Einlieferung aufgrund eines Suizid mit Schussverletzung gehabt. Im Umkreis von Cottbus oder Berlin. Kein einziges Krankenhaus! Denn diese Einrichtungen mussten solche Fälle der Polizei melden, doch das ist nie geschehen. Dieser Kopfschuss war nie passiert! Eine Lüge. Alles war passiert war… eine Lüge! Das krasseste war jedoch… anscheinend existierte diese Person noch nicht einmal. Die Person, der ich mein LEBEN anvertraut hätte, hatte es nie gegeben. Ich verstand es nicht. Wie konnte ich mit einem Menschen reden, telefonieren, Briefe schreiben, der nie existiert hatte? Wie konnte man solche Dinge erfinden? Wie konnte man ein junges KIND so manipulieren, das man ALLES getan hätte! Wirklich alles. Ich hätte ihm ohne zu überlegen mein Leben in die Hände gelegt im stillen Glauben, dass es gut aufgehoben wäre. Ich war am Boden zerstört. Wütend. Meine Mutter hat mich versucht aufzubauen. Nach außen hin war es ihr gelungen. Mehr oder weniger, doch innerlich herrschte eine Wut, auf Leroy, auf mich selbst, dass ich ihm vertraut und ihm so viel gegeben hatte. Ich brach den Kontakt von einem Moment auf den anderen ab. Ich habe noch zwei Briefe bekommen. Ein paar Fotos, von der Hochzeit Leroys mit Ronny. Ich hätte mich für sie gefreut, wären diese Ereignisse nicht noch so frisch gewesen. Meine Mutter hatte sie weggeworfen, mit meinem Einverständnis. Wir lachten darüber. Und dennoch innerlich war alles wieder aufgewühlt. Lüge… es war alles eine Lüge! Ich wusste mir nicht mehr zu helfen. Was sollte ich tun? Mein Vertrauen war so erschüttert, was rede ich, es war nicht einmal mehr vorhanden. Was bedeutet Vertrauen schon, wenn es so oder so nur ausgenutzt würde? Was hatte es denn dann für einen Sinn, sich jemandem anzuvertrauen! Es ergab keinen Sinn. Der natürliche Selbstschutzmechanismus eines jeden Menschen hatte bei mir ein Ausmaß angenommen, was kaum wieder außer Kraft gesetzt werden konnte. Die Wut war wieder da. Der Schmerz. Die Erinnerung an den Vertrauensbruch, die Geschehnisse, die nicht Wirklichkeit gewesen waren. Bilder schossen vor meinem inneren Auge herum, dass ich schier wahnsinnig geworden wäre, wären da nicht der süße Schmerz der Verdrängung und der Selbstzerstörung gewesen. Was habe ich nicht alles benutzt. Von Rasierklingen bis hin zu Scheren und kaputten Nagelfeilen. Scharfe Dinge wurden zu meinem täglich Brot. Die Tränen zu meinem nächtlichen Schlaflied. Doch weder Tränen noch Blut, noch Gedichte schreiben, haben meine Trauer heilen können. Die ersten Selbstmordgedanken keimten auf. Ich wollte und konnte nicht mehr. Ich hatte Tabletten in Aussicht. Hab mir in den unzähligen, schlaflosen Nächten überlegt, wie ich meinem Leben am besten ein Ende setzen konnte. Wer kam mit süßen, normalerweise, unschuldigen 15 Jahren schon auf solche Gedanken? Wer würde sich in so einem Alter Gedanken über das Ende seines eigenen Lebens machen? Wenige, schätze ich. Doch… ich konnte es nicht. Nein, ich war zu feige, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Zu der Feigheit kam eine Bekanntschaft hinzu, die mir regelrecht das Leben gerettet hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)