Sommersonnwende von Ishajida ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 1 -------------------- „Imiloné. Komm her!“ Die Stimme des alten Mannes hatte einen scharfen Ton angenommen. Wütend fuchtelte der Mittsechziger mit seinem Gehstock in der Luft herum. Seine Wangen hatten eine rote Färbung angenommen. Das Halbelfenmädchen dachte gar nicht daran stehen zu bleiben. Lachend rannte sie durch den Kräutergarten ihres Großvaters und sprang mit einem Satz über den Holzzaun. Sie blieb stehen und streckte dem alten Mann die Zunge heraus. „Nein, dada. Papa hat gesagt, ich darf heut länger wach bleiben. Zumindest bis der Strohkerl verbrannt ist.“ Trotzig verschränkte das Mädchen die Arme vor der Brust. Immer musste sie sich sagen lassen, was sie durfte und was nicht. Doch ab heute, so hatte sie sich geschworen, würde alles anders werden! Schon letztes Jahr hatte sie den Höhepunkt des Sommersonnwendenfestes verpasst. Der alte Mann seufzte. Er verlangsamte seinen Schritt und blieb schließlich stehen. „Na gut Mädchen. Dann lass uns zum Dorfplatz gehen.“ Imiloné kehrte mit einem siegessicheren Lächeln zu ihrem Großvater zurück. „Du bist genauso eigensinnig wie deine Mutter es war. Nur Travia weiß, wieso mein Sohn sich mit ihr eingelassen hat.“ Das Mädchen legte den Kopf schief und sah ihn neugierig an. „Erzähl mir von ihr dada.“ Wulfhelm sah seine Enkeltochter streng an. „Dafür, das du gerade so frech warst? Der Herr Boron sieht es nicht gerne, wenn Kinder ihre Großeltern ärgern.“ Imiloné sah aus großen, grünen Augen zu ihm auf. „Ich bin mir sicher, der dunkle Herr Boron kann mir noch einmal verzeihen.“ Der alte Mann fuhr sich durch das schüttere, graue Haar. „Ach Kindchen, mit noch größeren Augen kannst du mich nicht anschauen, oder?“ Die junge Halbelfin grinste und schüttelte den Kopf. „Na gut. Setzen wir uns auf die Bank, meine alten Beine machen nicht mehr so mit.“ Wulfhelm lief, gefolgt von Imiloné, zurück zum Haus. Vor dem zweistöckigen Fachwerkgebäude stand eine wuchtige Bank aus Holz. Die Praiosscheibe hatte das Material in all den Götterläufen ausgezogen, sodass es nun eine dunkle Färbung hatte. Ächzend ließ sich der Grauhaarige darauf fallen. Die Halbelfin setzte sich neben ihn und wartete. Mit einem Seufzen begann er zu erzählen. „Deine Mutter war eine auelfische Abenteurerin aus den Wäldern firunwärts. Sie ist viel durch Aventurien gereist. Im tiefsten Süden ist sie gewesen. Stell dir vor, dort gibt es Echsen die aufrecht laufen und riesige, graue Tiere auf denen man reiten kann. Sie werden Elefanten genannt.“ Imiloné sah ihren Großvater mit großen Augen an. Obwohl sie diese Geschichten schon oft gehört hatte, konnte sie doch nie genug davon haben. „Bei den stolzen Söhnen der Khom-Wüste, den Novadis, war sie ebenfalls. Von ihnen hat sie ihre Stute Sasanya bekommen. Deine Mutter hat den Stamm wohl vor einer großen Gefahr gerettet. Du musst wissen, normalerweise geben die Wüstensöhne keines ihrer wunderbaren Pferde an Fremde weiter.“ Imiloné nickte eifrig. Sasanya war, trotz ihrer dreißig Götterläufe, immer noch ein stolzes Tier. Die schneeweiße Stute besaß ein feuriges Temperament, hatte jedoch auch eine sehr eigensinnige Art. Niemand, außer Imilóne´s Vater, durfte sie berühren. Wulfhelm räusperte sich. „Als deine Mutter vor Jahren mit ihren Gefährten hier durchreiste und halt machte, verliebte sie sich in deinen Vater. Nadráel gab ihr Abenteuererleben auf und ließ sich hier nieder. Einige Jahre später wurdest du geboren.“ Er tippte leicht an die Nasespitze seiner Enkelin. Die Halbelfin lächelte. „Was ist dann passiert?“ Das Gesicht ihres Großvaters nahm eine ernste Miene an. „Kurz nach deiner Geburt verschwand deine Mutter spurlos. Tagelang suchte dein Vater und die Männer des Dorfes die Umgebung nach ihr ab. Doch all das Suchen brachte keinen Erfolg. Sie blieb verschwunden. Danach hat dich dein Vater alleine großgezogen.“ Wulfhelm schloss mit einem seufzen. Imiloné nickte und blickte nachdenklich zu Boden. Als sie den Kopf wieder hob, lag ein Ausdruck in ihren Augen, der Wulfhelm sofort an Nadráel erinnerte. Auch wenn er manchmal abfällig über Imiloné´s Mutter sprach, so hatte er sie doch sehr gemocht. Noch heute fragte er sich, was oder wer der Grund für ihr verschwinden war. „Lass uns nana holen und dann zum Dorfplatz gehen.“ Eine kleine Hand umgriff seine eigene. Imiloné sah lächelnd zu ihm auf. Wulfhelm nickte und erhob sich. Beide liefen zurück ins Haus. Azina saba Zachan langweilte sich. Sie lümmelte auf einem Tisch in der Herberge „Zum Stachel“, welche in einem kleinen Dorf an einer unbedeutenden Straße im westlichen Garetien lag. Sie hasste kleine Dörfer. Vor allem die im Mittelreich. In Anchopal, ihrer Geburtsstadt, hatte man ihr immer geraten nicht gen Firun zu ziehen. Eigentlich hatte sie auch nie vorgehabt dorthin zu reisen, doch die Neugier auf die Abenteuer, die dort lauern könnten, war einfach zu groß. Und jetzt? Nun saß sie hier und langweilte sich. Seit ihrem Aufbruch in Punin war nichts aufregendes passiert. Hazan, ein Kameltreiber aus Unau, hatte recht gehabt! Sie hätte sich weiterhin als Karawanenführerin verdingen sollen. Mit einem Seufzen wanderten ihre Gedanken zu den weiten Ebenen der Khom. Wenn sie ehrlich war, hatte sie dort mehr erlebt als hier. Das Mittelreich bot alles im Überfluss, während man in der Khom Tag für Tag ums nackte Überleben kämpfte. Die Karawanen waren darauf angewiesen, von Oase zu Oase zu reisen um an Wasser zu gelangen. Hier hingegen musste man aufpassen, nicht ständig in einen Teich oder See zu fallen. Azina hasste die Wasserflächen. Das nasse Element war zum trinken und zum waschen da. Wenn es nach der Tulamidin ginge, bräuchte man es auch nicht für mehr. Allein der Gedanke an den Tümpel in der Mitte des Dorfes ließ ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen. Ärgerlich schob die Schwarzhaarige die Gedanken beiseite und starrte auf den Becher vor sich. Klares, jedoch mittlerweile warmes Wasser befand sich darin. Welch Ironie des Schicksals, das der Mensch darauf angewiesen war. Zudem hatte sie angenommen, wenn man gen Firun reiste würde es kälter werden. Doch auch dieser Gedanke hatte sich als falsch herausgestellt. Es war Mitte Rahja und eine brütende Hitze hatte sich über das Land ausgebreitet. Azina hob ihren Blick und ließ ihn durch die leere Schankstube schweifen. Der Raum war L-förmig angelegt und recht groß, ungefähr zehn Schritt an der Längsseite. Vor der großen, aus Eichenholz gefertigten Theke, hatte der Wirt sechs rechteckige Tische aufgestellt. Lange Bänke und einige Stühle umstanden diese. Gegenüber des Eingangs, war ein kleiner Traviaschrein errichtet worden. Eine Bronzestatue der gütigen Göttin und ein Strauß frisch gepflückter Blumen befanden sich darauf. Azina musste lächeln. Selten hatte sie so viele selbst errichtete Schreine zu Ehren Travias gesehen, wie im Mittelreich. Der Wirt und seine Frau waren nirgends zu sehen. Einzig ihre etwa zwanzig Götterläufe zählende Tochter stand hinter der Theke und blickte genauso gelangweilt drein wie Azina selbst. Sie glaubte sich an den Namen Hesindiane zu erinnern. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt einem unsichtbaren Punkt an der Holzwand. Im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen im Dorf besaß sie eine feingliedrige Gestalt mit langen schwarzen Haaren. Die Tulamidin trank ihren Becher in einem Zug leer und erhob sich. Sie musste etwas unternehmen, sonst starb sie noch vor Langeweile. Die Wirtstochter hob interessiert ihren Blick, ließ ihn jedoch wieder sinken als sie bemerkte das es nur Azina war. „Warum seid Ihr nicht bei den Festvorbereitung wie die anderen Dorfbewohner?“ Hesindiane seufzte und nahm den Holzbecher von Azina entgegen. „Das wäre ich zu gerne, werte Dame. Nur leider muss sich jemand um die Reisenden kümmern, die sich hier einmieten wollen.“ Mit einem erneuten Seufzen griff sie unter die Theke und holte ein beiges Leinentuch hervor. Nachdem sie den Becher in den Wassereimer hinter der Theke getaucht hatte, begann sie ihn zu putzen. Drei große Holfässer standen hinter ihr auf dicken Gestellen. Während in zwei Zapfhähne gestochen waren, sah das dritte noch recht neu aus. An der linken Wand befanden sich Regale, auf denen sich allerlei Holzbecher und Krüge stapelten. Azina beobachtete die Wirtstochter abwesend bei ihrer Arbeit. Sie hatte sich an das kühle Holz der Theke gelehnt und überlegte. „Sagt, gibt es in Eurem schönen Ort etwas zu sehen? Von diesem Fest einmal abgesehen.“ Hesindiane nickte eifrig. „Ja, natürlich.“ Sie hielt in ihrem Tun inne und stellte den Becher ab. „Ein paar Meilen Efferd-wärts von hier liegt die Wulfenklamm. Ein düsterer Ort, an dem es spuken soll. Aber auch beliebt bei den Reisenden die hier durchkommen. Mich persönlich würden keine zehn Tralloper da rein bringen. Wer will denn schon freiwillig von den Geistern gejagt werden?“ Die Schwarzhaarige Wirtstochter schüttelte den Kopf und fuhr fort. „Eine weitere Sehenswürdigkeit ist der Turm des Edlen Alian Durnal.“ Bei diesen Worten nahmen ihre blauen Augen einen traurigen Zug an. Azina überging diesen Blick und zog ihrerseits eine Augenbraue nach oben. Turm? Und wieso mussten die Mittelreicher immer so seltsame Namen haben? „Wenn dieser Herr… Durnal so edel ist wie Ihr behauptet, wieso wohnt er dann nicht in einem Haus?“ Sie hatte noch nie gehört, das ein Adliger sich einen Turm als Domizil ausgesucht hatte. Oder vielleicht war das eine Sitte im Mittelreich? Azina verwarf diesen Gedanken gleich wieder. Sie hatte auf ihrer Reise schon mehrere Burgen und auch Stadthäuser der Adligen gesehen. Zumindest war es ihr so von ihrem garethischen Reisegefährten erklärt worden. Die Augen der Wirtstochter weiteten sich. „Er ist kein einfacher Adliger! Er ist Magier und Streiter des Reiches!“ Die Tulamidin zuckte zusammen. Magier? Nach Wasser war Magie das zweite große Übel in ihrem Leben. Sie wusste selbst nicht warum, aber sobald das Wort nur ausgesprochen wurde oder es ein kleines Anzeichen für die Benutzung von Magie gab, hatte die Tulamidin schon immer die Beine in die Hand genommen. Doch diesmal zwang sie sich zur Ruhe. Der Magier war nicht hier, also gab es keinen Grund zur Beunruhigung. Feqzverflucht, wieso war dieses Gesindel auch überall anzutreffen? Sie räusperte sich, bevor sie erneut die Stimme erhob. „Nun gut, er ist also ein Magier und lebt in diesem Turm. Was aber, beim Bart meines Vaters, soll denn daran eine Sehenswürdigkeit sein?“ Hesindiane straffte sich und reckte stolz ihren hübschen Kopf in die Luft. „Der Turm wurde ihm als Geschenk vom Reichsbehüter persönlich übergeben. Er und seine Gefährten hatten ihm beim großen Turnier in Gareth das Leben gerettet.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Außerdem ist er ein vielgereister Gelehrter der schon in ganz Aventurien unterwegs war und viele Gefahren überwunden hat. Bis vor einigen Wochen war ich seine Haushälterin. Für einen gewöhnlichen Dieb würde es sich wohl nicht lohnen dort etwas zu holen. Aber allein der Wert seiner Bücher und der magischen Ar…“ Sie verstummte augenblicklich und schlug sich die Hand vor den Mund. Azina grinste. Für eine Haushälterin war sie ganz schön geschwätzig. In ihrer Heimat wäre einem Diener für solch unbedachte Worte die Zunge herausgeschnitten worden. Doch da dies hier das Mittelreich war, hob die Tulamidin beruhigend die Hände. „Keine Sorge. Ich bin nicht daran interessiert mich auch nur auf 50 Kamellängen diesem Feqzverfluchten Ort zu nähern.“ „Feqz?“ Die Wirtstochter sah sie verwirrt an. „Darf ich fragen, wo Ihr herkommt? Und gehört dieses seltsame Tier in unseren Stallungen Euch?“ Die Tulamidin nickte. „Ja, Rasul ist mein Tier. Er ist ein Quai´Chelar.“ Als Hesindiane sie fragend ansah, schüttelte Azina den Kopf. „Ein Kamel. Der beste Freund des Menschen, wenn Ihr mich fragt.“ Wenn er nicht gerade seinen eigenen Kopf hat, fügte sie in Gedanken hinzu. „Sie sind unerlässliche Gefährten, wenn es darum geht die Khom zu durchqueren. Glaubt mir, ich habe schon viele reiche Kaufleute auf ihren wertvollen Pferden durch die Wüste geführt. Dem größten Teil der armen Tiere musste ich beim sterben zusehen. Nur weil diese reichen Pfeffersäcke Zhas Geschenk nicht achten.“ Sie schnaubte und fuhr sich über die Augen, jedoch peinlich darauf bedacht nicht das aufgetragene Kohl zu verwischen. „Um auf Eure Frage zu antworten, woher ich komme: Aus Anchopal.“ Hesindiane schüttelte den Kopf. „Davon habe ich noch nie gehört.“ Azina winkte ab. „Ist auch nicht weiter wichtig. Nun gut, dann werde ich heute Abend zumindest Euer Fest beehren. Vielen Dank für die Auskunft!“ Die Tulamidin nickte Hesindiane kurz zu und drehte sich auf dem Absatz um. Ihr Füße trugen sie in Richtung Stallungen. Unerbittlich schien die Praiosscheibe auf Dere herab. Obwohl sich der Tag schon den Abendstunden entgegenneigte, herrschte noch immer eine starke Hitze. Schwitzende Männer und Frauen liefen umher und bereiteten alles für ein großes Fest vor. Auf dem Dorfplatz, welcher vom Perainetempel, dem Weiher, der Schmiede und dem Gasthaus „Zum Stachel“ gebildet wurde, stellten die Dörfler Tische und Bänke auf. Frauen schmückten diese mit Bändern und frisch gepflückten Blumen. Zur Straße hin wurde von einigen Männern eine zwei Spann tiefe Grube ausgehoben. In ihr sollte später ein helles Feuer brennen. Einige Halbwüchsige rannten zwischen den Erwachsenen umher und spielten „Fang den Ork“. Dabei liefen sie dem Wirt Alrizio über den Weg, der mit seiner Frau Körbe voller Krüge zu einem Tisch trug. Der ortsansässige Perainegeweihte, seine Gnaden Niam Peresen, stand an einem Tisch und breitete eine Decke aus weißen Leinen darüber. Mit kundigem Auge strich er ein paar Falten glatt, bevor er zufrieden nickte. Eine junge Frau trat hinzu. Sie hatte sich einen Korb unter den Arm geklemmt, in dem verschiedenfarbige Bänder zu sehen waren. In der anderen hielt sie einen Strauß Blumen. Niam trat einen Schritt zurück, damit sie den Tisch dekorieren konnte. Die Festvorbereitungen verliefen ohne Probleme. Jeder wusste wo er anzupacken hatte, sodass alles in weniger als einer Stunde fertig sein sollte. Einzig dem Strohkerl fehlten noch der Kopf und ein Bein. Der Geweihte setzte sich in Bewegung. Sein Ziel waren zwei Frauen, die es sich etwas abseits auf zwei Stühlen bequem gemacht hatten. Zwischen ihnen lag der halbfertige Strohkerl. Beide unterhielten sich und lachten. Er musste lächeln. Als er vor zwanzig Götterläufen hierher versetzt worden war, hatte er sich darüber Gedanken gemacht, ob die Dorfbevölkerung ihn akzeptieren würde. Frisch aus dem Noviziat entlassen, war ihm gleich eine eigene Gemeinde zugeteilt worden. Er wusste das sein Auftreten als Geweihter einen gewissen Respekt ihm gegenüber voraussetzte, doch ob sie hinter seinem Rücken über ihn sprechen würden hatte er nicht ahnen können. Anfänglich waren ihm kleinere Missgeschicke passiert und Zweifel an seinen Fähigkeiten waren in ihm laut geworden. Doch die Dörfler hatten ihm tatkräftig unter die Arme gegriffen und ihn bei allem unterstützt. So waren seine Selbstzweifel irgendwann verschwunden. Die beiden Frauen bemerkten seine Anwesenheit und unterbrachen ihrer Arbeit. „Peraine zum Gruße, Euer Gnaden! Wir haben ihn fast fertig gestellt.“ Die Frau des Müllers, Rondirai ihr Name, deutete auf den Strohkerl vor sich. Die jüngere der beiden sah nun ebenfalls auf. Ihre mandelförmigen, dunklen Augen blickten freundlich, aber auch etwas nervös drein und verrieten ihre nivesische Herkunft. Die dichten, schwarzen Haare hatte sie zu einem Zopf nach hinten gebunden und bunte Bänder hineingeflochten. Ihr Vater war Svartjok, ein nivesischer Bauer der sich hier niedergelassen hatte. Im letzten Ingerimm hatte sie ihren neunzehnten Tsatag gefeiert. Niam nickte. „Ich habe auch nicht daran gezweifelt, das ihr es nicht schaffen würdet. Dann will ich euch auch nicht weiter von der Arbeit abhalten.“ Karena, Svartjoks Tochter, schüttelte den Kopf und wollte aufstehen. Das halbfertige Bein des Strohkerls lag immer noch in ihrem Schoß. „Aber Euer Gnaden Ihr…“ Weiter kam sie nicht, denn ihre Füße hatten sich in einem Bündel aus Stroh und Bändern verfangen. Sie wäre der Länge nach hingeschlagen, hätte Niam sie nicht aufgefangen. Die Nivesin öffnete langsam die Augen und sah in das lächelnde Gesicht des Geweihten. Sofort lief sie rot an und rappelte sich wieder auf. Ein gemurmeltes Danke kam über ihre Lippen als sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandte. Niam war verwirrt. Hatte er etwas falsch gemacht? Er bemerkte Rondirais Grinsen, das ihn noch mehr durcheinander brachte. Einen Moment später fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er verstand. Karena hatte sich in letzter Zeit ihm gegenüber immer so seltsam verhalten. Die scheuen Blicke und wenig gewechselten Worte drängten sich in seinen Verstand. Er würde sie heute Abend einmal darauf ansprechen müssen. Mit diesem Gedanken wandte sich der Geweihte ab und lief über den Platz. Wie lange er gedankenverloren vor sich hingewandert war, bemerkte er erst, als eine Stimme ihn aus seiner Grübelei riss. „Rondra zum Gruße, Euer Gnaden.“ Ilkhold Steingräber, der einarmige Weibel der ortsansässigen Büttel, stand mit einem Krug in der Hand vor ihm. Der blonde Mann überwachte die Vorbereitungen des Festes mit wachen Augen. Wegen der Hitze und dem Gambeson, den er in seiner Dienstzeit tragen musste, hatte er sich in den Schatten zurückgezogen. In seinem Krug befand sich, anders als Niam angenommen hatte, frisches Wasser. Erst jetzt bemerkte der Geweihte, wohin ihn seine Schritte geführt hatten. Er stand im Schatten des „Stachels“. Ilkhold hatte von hier einen guten Überblick auf das Treiben auf dem Dorfplatz. Er hatte sich gegen die Holzwand gelehnt, die zu den Stallungen der Herberge gehörte. Das große Tor stand weit offen, sodass die Tiere im Inneren nicht der brütenden Hitze zum Opfer fielen. Niam erwiderte den Gruß mit einem Nicken und bewegte sich auf den Wassertrog zu, der sich an der Rückwand der Herberge befand. Der Geweihte war überrascht, wie kühl das Wasser war. Er benetzte Nacken und Gesicht bevor er sich wieder dem Weibel zuwandte. „Das wird heute Abend ein sehr perainegefälliges Fest. Ich denke, wir brauchen uns wegen der Ernte keine Sorgen machen.“ Ilkhold lächelte. „Das wird Gilborn aber gerne hören.“ Gilborn Okenheld war der Haushofmeister des Edlengutes. Er leitete alljährlich die anstehenden Ernten und nahm dafür Tagelöhner aus der Umgebung unter Lohn und Brot. Ein tiefes, langgezogenes Blöken und eine weibliche Stimme drangen plötzlich aus dem Stall. „Na komm schon Rasul. Du kannst den Rest des Tages auch noch herum liegen.“ Im nächsten Moment war das Reißen eines Strickes, ein Schrei und ein dumpfer Aufprall, gefolgt von einem Scheppern zu hören. Die Person stieß ein gequältes Stöhnen aus, bevor wieder Ruhe einkehrte. Ilkhold sah Niam ratlos an. Der Geweihte zuckte mit den Schultern und lief auf den Stall zu. Der Weibel folgte ihm. Die Stallungen waren durch das offene Tor im vorderen Bereich gut ausgeleuchtet. Niam konnte rechts einige Boxen erkennen, aus denen die vor Neugier gestreckten Köpfe einiger Pferde zu sehen waren. Links war ein Gatter in dem Schweine lagen und dösten. Daneben stapelten sich Heu- und Strohgarben. Im hinteren Teil des Stalles erklang erneut das Stöhnen. Ilkhold bewegte sich, gefolgt von Niam, darauf zu. Vor einem Regal lagen mehrere Holzeimer und Bottiche auf dem Boden. Rechts saß ein großes Tier mit kurzem, sandfarbenem Fell. Es kaute auf einem Büschel Stroh herum und sah die beiden Männer gelangweilt an. „Ein Kamel.“ Entfuhr es Niam. „Verdammtes, störrisches…“ Die wütende Stimme erklang von unterhalb des Stapels. Ilkhold stellte seinen Krug ab und begann damit die Behälter beiseite zu räumen. Nach wenigen Augenblicken konnten die beiden Männer die Besitzerin der Stimme sehen. Eine junge, schwarzhaarige Tulamidin in beigem Leinenhemd und Pluderhose lag vor ihnen. Sie sah benommen zu ihnen auf. Eine große Beule prangte auf ihrer Stirn und sie stieß ein erneutes Stöhnen aus, als sie sich mit rudernden Armen aufrichten wollte. Der Versuch scheiterte, sodass Ilkhold sie stützen musste. „Dieser vermaledeite, zwölfmalverfluchte Bastard eines Esels und einer Khoramsbestie.“ Sie verstummte abrupt, als Niams Robe in ihr Blickfeld kam. Langsam sah sie auf und schluckte. Die Schwarzhaarige machte sich von Ilkhold los und verbeugte sich. „Verzeiht Euer Gnaden. Ich wollte in Eurer Gegenwart nicht auf die Zwölfe fluchen, aber dieser verd…“, sie verstummte, fuhr jedoch sogleich wieder fort. „Dieser Kamelhengst ist einfach ein so unberechenbares Tier. Wenn dieser verflixte Strick nicht abgerissen wäre hätte ich ihn ohne Probleme zum stehen gebracht.“ Sie fuhr zu dem großen Hengst herum, taumelte jedoch und wäre beinahe wieder zu Boden gegangen, hätte Ilkhold nicht erneut seinen Arm nach ihr ausgestreckt. „Werte Dame, Ihr solltet Euch erst einmal ausruhen. Der Unfall hat euch wohl etwas mitgenommen. Mein Name ist übrigens Ilkhold Steingräber, Weibel der Edlen.“ Er deutete eine leichte Verbeugung an. Niam beobachtete derweil die Tulamidin. Wahrscheinlich hatte sie ein Eimer direkt an der Schläfe getroffen, denn nur so konnte er sich die Gleichgewichtsstörungen erklären. Ilkhold hatte recht. Sie sollte sich etwas ausruhen. „Danke für den Rat, aber das schaffe ich schon.“ Die Tulamidin wollte sich abwenden, zuckte jedoch zusammen und legte sich eine Hand an die Schläfe. Sie sah die beiden Männer entschuldigend an. „Naja, vielleicht habt Ihr ja doch recht. Mein Name ist Azina saba Zachan.“ „Niam Peresen, Diener Peraines.“ Er neigte den Kopf und lächelte sie an. „Kommt, ich werde mich sogleich um Euren Kopf kümmern.“ Die Tulamidin nickte und ließ sich von den beiden Männern aus dem Stall führen. Rasul sah den drei Menschen gelangweilt nach und wandte sich dem nächsten Büschel Heu zu. ~~~~ Das erste Kapitel. Vielen Dank im Voraus für Kommentare! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)