Eine Nacht des Unlebens von Trollfrau (Die Reisende) ================================================================================ Kapitel 2: *-...-*2*-...-* -------------------------- Auf dem Bürgersteig angekommen, hielt ich inne. Ich vernahm abermals Stimmen. Es waren nur wenige, also näherte ich mich. Meine Unruhe stieg. Das tat sie jedes Mal, wenn ich auf die Jagt ging. Ich folgte dem Fußweg, doch mit einem Male blieb ich stehen. Es war eine Bar. Tatsächlich saßen noch einige Leute hier. Ein junges Pärchen, ein Workaholic. Eine Bedienung wischte bereits unbesetzte Tische ab. Wie spät mochte es wohl sein? Abermals entfuhr mir ein Seufzen. Wie vermisste ich das zusammensitzen von mir und meinen damaligen Freundinnen. Das muntere Schwatzen über alles und jeden. Einfach nur die Gesellschaft. Das warme Beieinander. Doch wenn ich ehrlich war, verabscheute ich die Gesellschaft jetzt. Sie machte mich nur noch rasend. Sie weckte in mir die altbekannte Gier. Mit einer schnellen Drehung machte ich kehrt um zu verschwinden, doch da rauschte ich bereits mit jemandem zusammen, wobei ich fast das Gleichgewicht verlor - nur fast allerdings. Schon zu lange war es niemandem mehr gelungen, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Zu gut war für normal meine Reaktionsfähigkeit. Um so überraschter war ich, als ich sah, um wen es sich handelte. Dieser Jemand war männlich, vielleicht Mitte dreißig und hatte augenblicklich sein Handy fallen lassen. Wahrscheinlich war er ebenfalls derartig in Gedanken gewesen, dass er mich nicht wahrgenommen hatte. Genau wie ich, die ihn nicht einmal herantreten hörte. „Oh entschuldigen Sie bitte, Miss“, brachte er schnellstens hervor und in seiner Stimme klang sehr wohl hörbar der Schrecken mit. „Ich wollte Sie nicht umrennen.“ Er bückte sich nach seinem Handy. Es war ein knappes Stück über den Bordstein gerutscht und lag jetzt auf der Straße. „Ich muss mich entschuldigen“, presste ich unruhig hervor. „Immerhin bin ich ohne Vorwarnung einfach stehen geblieben.“ Sein männlicher Duft stieg mir sofort in die Nase. Schleunigstes trat ich einige Schritte zurück. Wie machte mich ein derartiger Geruch nervös. Meine Hände verkrampften sich in den Manteltaschen als er mir ein charmantes Lächeln schenkte, nachdem er sein Telefon aufgehoben und es kurz auf seine Funktionstüchtigkeit überprüft hatte. „Alles noch heil“, sagte er erleichtert und blickte mir fest in die Augen. „Bei Ihnen auch?“ „Sicher.“ Meine Hände verkrampften sich noch mehr. Mittlerweile bohrte ich bereits meine Fingernägel in die Handballen. Doch viel merkte ich davon nicht. Wie wenig Schmerz dieser Körper wahrnahm war mir auch jetzt noch nicht begreiflich. Immerhin war er der, einer sehr schlanken, nicht all zu großen, jungen Frau. Sein Blick traf mich auch jetzt noch und er ging tiefer, je länger er mich anschaute. Mit einem mal fühlte ich mich diesen Augen ausgeliefert. Konnte er etwa hinter meine Fassade sehen? Das wäre alles andere als dienlich. Jedoch durchaus denkbar. War es doch nicht das erste Mal. Seine Augen hingen an meinen Lippen. Ich spürte genau, dass sein zuvor noch empfundener Schreck, durch den unfreiwilligen Zusammenstoß, so langsam in Nervosität wechselte. Das unruhige zucken seiner Augen machte mir das nur zu deutlich. „Hätten Sie vielleicht Lust, mit mir einen Kaffee zu trinken? Als kleine Entschädigung für meine Unachtsamkeit.“ Ich spürte augenblicklich einen Schlag. Und plötzlich war es die Gier, die in mir zu lodern begann. Unruhig senkte ich sofort den Blick. Auf keinen Fall wollte ich, dass er diese in meinen Augen sehen konnte. „Vielleicht sollte ich besser gehen“, flüsterte ich und wagte es dabei nicht, ihn anzusehen. „Ach kommen Sie. Nur einen Kaffee. Nicht mehr. Ich hatte ohnehin selbst vor, einen zu trinken. Warum also nicht auch in Gesellschaft.“ Gesellschaft... Dieses Wort hallte sofort in mir wider. War es nicht das, was ich mir schon so lange gewünscht hatte und jetzt jedoch verabscheute? Als ich aufblickte, bemerkte ich die Enttäuschung, die auf seiner Miene lag. Er hatte keine Ahnung davon, was er mir mit diesem Angebot antat, aber dieses charmante Lächeln. Es machte mich plötzlich nervös, doch der Hunger in mir blieb. Dieser Mann... Er war hübsch. Er sah verdammt gut aus. Zu gut für meine Zwecke. Braune Augen, ein charmantes Lächeln, dass kaum eines gleichen kannte. Er hatte einen Dreitagebart und sah mit seinem schwarzen Anzug und der Aktentasche sehr Geschäftlich aus. Er wirkte auf mich wichtig. Warum zum Teufel konnte er nicht wieder einer von den bedauernswerten, armen Tröpfen sein? Zu Leichtsinnig. Zu dumm um zu begreifen, was schließlich mit ihnen geschehen würde. Einer von denen, die niemand vermissen würde. Wenn ich ihn töten würde, würde ich mich ganz bestimmt wieder so sehr selbst hassen, dass ich gezwungen war, abermals weiter zu ziehen. Aber ich war das herumirren so leid. Ich wollte es eigentlich nicht mehr... Mein Gegenüber räusperte sich. Er hatte wohl meine Abwesenheit mitbekommen und als ich ihn wieder direkt ansah, hatte er wieder dieses Lächeln auf den Lippen. „Na schön.“ Ich lächelte zurück. Vielleicht tat mir seine Gegenwart ja doch ein wenig gut und hier unter den anderen Leuten, welche noch in dieser Bar waren, war er auch nicht in Gefahr. Ich musste mich also nur zusammenreißen... Ich ließ mich von dem Unbekannten an einen der kleinen, runden Tische führen, welche einen Fensterplatz hatten. Wohl fühlte ich mich nicht im Geringsten, dennoch war nicht ich es, die sich ängstigen sollte. Die Frau hinter dem Tresen warf mir einen seltsamen Blick zu. Eine gewisse Furcht konnte ich darin wahrnehmen. Sie kannte mich, dass war mir klar. Schließlich war ich nicht zu aller ersten Mal hier. Ich war bereits einige Male hier gewesen. Stets in anderer Gesellschaft. Der letzte Mensch, der mich hier her führte, war wesentlich weniger ansehnlich und auch um einiges ungehobelter. Doch sein Ende war schnell und für mich schmerzlos. Die Welt würde ihn niemals vermissen. Mein neuer Begleiter stellte seine Aktentasche auf einen der Stühle ab und half mir schließlich aus dem Mantel. Dieses Verhalten überraschte mich sehr. War ich doch bis jetzt der festen Überzeugung gewesen, dass es ein solches bereits gar nicht mehr gäbe. Ich hatte mich geirrt. Ich ließ mich aus dem Mantel gleiten und beobachtete ihn mit anhaltender Überraschung, wie er ihn ebenfalls zu einem der nächsten Kleiderhaken brachte. Interessiert hing mein Blick an seinen Bewegungen. Ich musste ihn studieren. Wenn ich jetzt schon Kontakt zu ihm aufnahm, musste ich wenigstens ansatzweiße wissen, wie er tickte. Als er wieder auf dem Weg zurück zu mir war, wanderten seine Augen an meinem Körper auf und ab. Was er wohl dachte, bei meinem Anblick? Ich hatte mir darüber nie wirklich Gedanken gemacht, aber in seinem Fall kam dieser Gedanke wohl durch. Auch den Stuhl zog er noch für mich zurück und lies mich sitzen, wobei mein Blick ungläubig an ihm hing. Er sah noch so jung aus, aber dieses Verhalten? War er vielleicht auch älter, wie es mir sein Aussehen vorgaukelte? Hatte ich ihn vielleicht wirklich gefunden? Unmöglich! Das mir plötzlich so viel Glück zu Teil wurde, war einfach nicht denkbar. Außerdem hätte ich dies längst an ihm riechen müssen. Die Frau, welche hinter dem Tresen stand, näherte sich vorsichtig. Sie hatte wohl tatsächlich Angst, dass mein jetziger Begleiter sie ebenfalls mit harten Worten begrüßen würde, so wie es der letzte wohl zu gerne tat, doch ihre Angst war unbegründet. „Einen schönen guten Abend“, sagte sie äußerst zurückhaltend und zog ihren Block hervor. „Was darf ich Ihnen bringen?“ Dabei sah sie mich und meinen Begleiter abwechselnd unschlüssig an. „Guten Abend“, brachte er freundlich hervor und hob die Hand in einladender Geste in meine Richtung. „Was würden Sie gern trinken, Miss...?“ Er brach ab. Natürlich kannte er meinen Namen noch nicht. „Maurizio. Francesca Maurizio.” Ich lächelte zurückhaltend. „Einen Espresso bitte.“ Ich sah die beiden kurz abwechselnd an, wobei die Bedienung ihren Blick bereits meiner charmanten Begegnung zugewandt hatte. „Dann nehme ich einen Latte Macchiato. Vielleicht noch etwas süßes für die Dame?“ Wieder sah er zu mir. „Oh nein, Sir. Nur einen Espresso.“ Ich wollte nicht undankbar sein. Ganz sicher nicht. Aber ich dachte dabei eher an mein Wohlergehen, als an eine mögliche Unhöflichkeit. So wollte nur so wenig wie möglich von dieser Flüssigkeit. Ich war zwar in der Lage, eine solche zu mir zu nehmen, doch danach ging es mir immer hundeelend. Es dauerte eine ganze Weile, bis eine solche Flüssigkeit meinen Körper endlich wieder verlassen hatte. Manchmal sogar Wochen – wenn ich nicht nachhalf. Mein Körper konnte damit eben nichts mehr anfangen. Verständlicherweise hasste ich diese mir selbst zugefügte Unpässlichkeit, aber was tat man nicht, um den Schein zu waren. „Na schön.“ Er gab auf. „Das wäre dann alles.“ Als sich das Fräulein wieder entfernte, erhob er sich abermals und reichte mir die Hand quer über dem Tisch entgegen.. „Mein Name ist Corvin Pawlowski.“ Unschlüssig blickte ich erst die Hand, dann ihn an. Was war das nur für ein Mann? War er so besessen darauf, mit mir in Kontakt zu treten? Meine verstockte Reaktion irritierte ihn jedoch. „Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht gleich erneut überrennen.“ Dabei lächelte er wieder. Bedauerlicherweise gefiel mir dieses Lächeln zunehmend mehr. Corvin also... Als er die Hand gerade zurückziehen wollte, erhob ich mich schnellstens und kam seiner Bitte nach. „Sehr erfreut“, murmelte ich und setzte mich wieder. Eigentlich war ich alles andere als das, aber ich wollte ihm eine Chance geben. Wenigstens die, meiner Gegenwart. Und sei es auch nur kurz. „Ich komme gerade von einem Kunden aus Wien mit dem Nachtflieger“, plapperte er plötzlich drauflos. „Mein Gepäck ist natürlich wieder einmal abhanden gekommen.“ Er seufzte schwer. „Bis jetzt habe ich zwar alles wieder irgendwann erhalten, aber das war schon das dritte Mal in einem halben Jahr. Aber ich will Sie nicht langweilen.“ Er warf mir wieder dieses charmante Lächeln zu. „Und Sie? Was machen Sie hier noch auf der Straße? Wartet denn niemand zu Hause auf Sie?“ Verlegen senkte ich den Blick. Dieser Kerl wollte es aber gleich richtig genau wissen. So ein derart stürmisches Verhalten, war mir schon immer zuwider. „Eigentlich wollte ich gerade nach Hause gehen“, log ich, ohne rot zu werden – wieder einer der wenigen Vorteile. Ich konnte nicht rot werden. Auch nicht, wenn ich es wollte. Das war die erste Lüge ihm gegenüber, aber ganz sicher nicht die letzte. „Nein, Zuhause wartet niemand auf mich.“ Ich hob den Blick, um nachzusehen, wo die Bedienung blieb. Diese Fragerei... und dann wieder dieses Lächeln. Beides machte mich gleichermaßen nervös. Endlich kam sie erneut und brachte unsere Getränke. Ich war so unsagbar erleichtert, dass er sich sofort seinem Kaffee widmete. Ohne zu zögern, riss er die beiden Zuckertütchen auf und schüttete sie hinein. Doch während ich meine Tasse zurecht drehte und den Keks hinter ihr verschwinden ließ, dass ich ihn nicht sehen musste, hatte er seine Tasse bereits angehoben. „Auf unsere Bekanntschaft, Miss Maurizio“, sagte er und sein Blick hing an meinen Augen. Lieber nicht, wollte ich erwidern, doch ich unterdrückte diesen Gedanken schnell wieder und hob stattdessen die Tasse. „Wenn wir schon anstoßen, sollte Sie mich aber Francesca nennen.“ Lächelnd stieß ich mit der kleinen Tasse an seiner um einiges größeren an. „Na schön, aber dann nennen sie mich Corvin.“ Was für eine Unterhaltung... Mir drehte sich der Magen um, wenn ich bereits etwas darin gehabt hätte... Ich lächelte abermals und schüttete den heißen Schluck schnell in mich hinein. Jetzt konnte der unangenehme Schmerz endlich losgehen... Corvin trank nur einen großen Schluck und stellte die Tasse wieder ab. Wie es schien hatte er nicht vor, so schnell wieder von hier zu verschwinden. Wahrscheinlich wartete auch auf ihn niemand zu Hause. Interessiert hing sein Blick überraschenderweise plötzlich an meinen beiden Zuckertütchen. Ich nahm nie Zucker. Das machte diese Prozedur nur noch unerträglicher. „Würden sie mir vielleicht Ihren Zucker überlassen?“, fragte er und sah dabei so bittend aus. „Irgendwie bin ich von diesem Zeug abhängig...“ Interessant, dachte ich mir. Das würde heißen, dass sein Blut besonders süß schmecken würde... Ich verwarf diesen Gedanken jedoch erst einmal und reichte ihm stattdessen die beiden Tütchen. „Sicher. Ich mag keinen Zucker und den Keks können Sie gerne auch noch haben.“ Auch diesen reichte ich ihm entgegen. Mit überrascht gehobenen Brauen blickte er mich an. „Mögen sie keine Kekse?“ „Nicht diese Art.“ Das war also die zweite Lüge. Die Wahrheit war jedoch, dass schon der Geruch eines Schokokekses Übelkeit in mir weckte. Ich reichte ihm alles hinüber und erst dabei fiel mir auf, was er doch für große Hände hatte. Sehr männlich, dachte ich mir. Zu meinen Lebzeiten fand ich Männer mit großen Händen steht’s anziehend. „Vielen Dank.“ Während er danach fasste, berührte er erneut meine Hand. „Sie haben wirklich kalte Finger, Francesca“, bemerkte er. Abermals senkte ich verlegen den Blick und als ich ihm wohl abgelenkt genug schien, fasste er ganz meine Hand. „Ich leide an niedrigem Blut“, begann ich meinen Lügenmarathon fortzuführen So langsam begann es mir Spaß zu machen, ihn hinters Licht zu führen. Wie lange hatte ich das bereits nicht in diesem Maße gemacht? Ich konnte mich nicht mehr erinnern. Meine letzten Begegnungen wollten einfach nur schnell ein Nümmerchen schieben. Für ausgedehnte Gespräche hatten sie gar kein Interesse gehabt, was mir bis dahin auch ganz recht gewesen war. Ich sah aus dem Fenster der Bar und musste erschrocken feststellen, dass auch hier mein Spiegelbild fehlte, obwohl es ganz klar dahin gehören sollte. Schnellstens wand ich mich davon ab, um auch ja nicht erst das allgemeine Interesse darauf zu lenken. Ich befreite meine Hand aus seinem Griff und rückte noch ein Stück vom Fenster weg, was jetzt jedoch wohl eher den Eindruck machte, ich würde zu Corvin näher heranrücken. „Sind Sie eigentlich verheiratet?“ Mit diesen Worten wollte ich ihn schnellstens von diesem Gedanken abbringen, dass ich eine Annäherung versucht hatte. „Nun ja, nein... Ich war verheiratet“, waren jedoch seine Worte darauf. Nach seiner Antwort wirkte er doch tatsächlich traurig. Dann fasste er nach seiner Geldbörse und kramte darin herum. Was er mir dann entgegenreichte, war ein kleines Foto. „Das hier ist meine Tochter. Sie ist jetzt vier. Ich sehe sie höchstens einmal alle zwei Monate. Ich hatte zwar bereits Berufung dagegen eingelegt, aber ich bin einfach zu selten zu Hause. Mehr ist leider nicht drin.“ Unruhig schaute ich mir das Bildchen an. Die Kleine sah wirklich süß aus. Ich blickte Corvin an und musste feststellen dass sie seine Augen und seine Nase hatte. „Sie ist wirklich hübsch“, gestand ich laut. „Sie sieht Ihnen sehr ähnlich. „Ihr Name ist Adriana. Sie ist so ein Wirbelwind.“ Seine Trübsinnigkeit hatte sich etwas gelegt, als er mir abermals genau in die Augen blickte. War er etwa so froh darüber, jemanden zum reden gefunden zu haben? Dieser Mann war durchaus eine stattliche Erscheinung, auch wenn mein Interesse an ihm jetzt wohl eher ein völlig anderes war. Ganz sicher hatte er keine Probleme, erneut eine Frau zu finden und doch wirkte er auf mich jetzt so alleingelassen. „Ihr Name, Francesca Maurizio, er klingt nicht gerade typisch für diese Region. Wo kommen Sie ursprünglich her? Ihr Akzent verrät es mir leider nicht.“ Mit diesen Worten packte er das Bild wieder ein, doch erst strich er noch mit dem Finger liebevoll darüber. „Ich komme aus Italien“, antwortete ich zur Abwechslung einmal wahrheitsgemäß. Corvin riss auch die anderen beiden Zuckertütchen noch auf und ließ den Inhalt nacheinander in seiner Tasse verschwinden. „Darf ich fragen, was sie nach Rumänien verschlagen hat?“ Andächtig rührte er seinen Kaffee um. Unmöglich konnte ich ihm die wahren Gründe erzählen. Dass ich fliehen musste, weil ich gemordet hatte und dass ich hier jemanden suchte, der wohl eher aus einem Märchen stammte. „Ich bin noch nicht lange hier“, log ich abermals ungeniert. „Ich war auf der Suche nach...“ „Arbeit?“ „Genau.“ Das war doch wenigstens eine Idee und sie kam auch noch von Corvin selbst. Sein überraschter Blick schien sich in meinen Verstand zu bohren, während er einen weiteren großen Schluck trank. „Gibt es in Italien denn keine Arbeit? Dass kann ich mir kaum vorstellen.“ Ich seufzte tief. So langsam gingen mir wirklich die Ausreden aus. „Da ist noch die Sache mit meiner Familie. Ich war gezwungen, wegzugehen, aber ich möchte bitte nicht darüber reden, wenn es möglich ist.“ „Sicher.“ Er hatte bemerkt, in welchen Unmut er mich mit dieser Fragerei gestürzt hatte und brach augenblicklich damit ab. „Ich bin immer schrecklich neugierig“, gestand er stattdessen. „Das war ich schon als kleiner Junge.“ Nach diesen Worten schenkte er mir abermals ein Lächeln. Mein Verstand begann sich zu drehen. Erst langsam, dann jedoch immer schneller. Oh verdammt! Er war doch ein Mensch. Nur ein Mensch! Er war doch gar nicht der, nach dem ich schon so lange hier suchte... Ein stechender Schmerz fuhr plötzlich in mich. Der verdammt Kaffee begann zu wirken. Dabei habe ich wohl mein Gesicht auffallend verzogen, denn Corvins Blick war mit einem Male besorgt. „Geht es Ihnen nicht gut?“ Ich stand stattdessen auf und ging in Richtung der Toiletten. „Ich bin sofort wieder da.“ Mein vages Lächeln war wohl ebenfalls schmerzdurchzogen, denn sein Blick, der mir folgte, war alles andere als fröhlich. Schnell betrat ich eine der Kabinen. Ich schloss die Tür ab und lehnte mich kurz dagegen. Mein Blick war fest an die Decke geheftet. Ich musste da jetzt durch, aber ich hatte auch keine Lust, wieder diese Krämpfe durchstehen zu müssen, also hatte ich nur eine Wahl. Ich öffnete den Toilettendeckel und steckte mir den Finger in den Hals... Nach wenigen Minuten, hatte ich diese Prozedur auch bereits hinter mir und ich spürte sofort, dass es mir besser ging. Dieses Unbehagen hatte sich zwar etwas gelegt und würde in kürzester Zeit wieder ganz verschwunden sein, doch dafür war etwas anderes wieder sehr deutlich spürbar geworden – die Gier nach Blut. Wenn ich nicht schnellstens etwas zu trinken bekam, würde ich den nächstbesten auf offener Straße einfach anfallen... Ich lauschte kurz an der Kabinentür. Weder hier in der Damentoilette noch in unmittelbarer Nähe vor der Tür in diese Sanitäranlagen, konnte ich Geräusche ausmachen. Keiner hatte meine Beschäftigung eben wohl Gehör geschenkt. Vorsichtig trat ich heraus und warf noch einen prüfenden Blick auf die Tür, bevor ich mich an das Waschbecken stellte. Über diesem gab es natürlich einen Spiegel. Sollte jetzt hier jemand hereintreten, würde ich schnellstens davon zurücktreten, doch so blickte ich hinein und sah an die Wand hinter mir. Noch immer war es ein seltsames Gefühl, darin die eigene Person nicht sehen zu können, aber es musste eben auch so gehen. Es blieb mir nichts anderes übrig. Ich drehte den Hahn auf, wusch mir das Gesicht ab und trocknete en anschließend an einem dieser grünen Papiertücher ab. An diese werde ich mich wohl nie gewöhnen. Dann zupfte ich nach besten Wissen und Gewissen noch ein bisschen an mir herum und trat schließlich wieder hinaus. Corvin erhob sich sofort von seinem Platz und blickte mich bedrückt an. „Geht es Ihnen gut? Sie sehen so bleich aus.“ Mit einem Ruck hielt ich überrascht an. Fiel ihm das jetzt erst auf? Tat ich das nicht schon die ganze Zeit, seit ich ein Vampir war? Seit mich dieses Miststück zu dem gemacht hatte, was ich jetzt war? Dennoch hätte ich am liebsten laut gelacht, seines Kommentars wegen. „Es geht mir gut. Viel besser.“ Und das war die Wahrheit – aber nur die halbe... Corvins Blick fiel auf die Bedienung und dann wieder zu mir. „Vielleicht sollte ich Sie lieber nach Hause bringen“, schlug er vor. Diese Bar zu verlassen hörte sich zwar gut an, aber mich von ihm heim begleiten lassen, war unmöglich! Aber darüber würde ich mir Gedanken machen, wenn es soweit war. Corvin bezahlte die Rechnung und half mir wieder in den Mantel, bevor wir die Bar verließen. Hier auf der Straße fühlte ich mich augenblicklich besser. Hier war zwar mein Jagdgebiet, doch in seiner Gegenwart war ich irgendwie ruhiger, obwohl ich mich mehr und mehr beherrschen musste, ihn nicht anzufallen. Wieder stieg mir der Duft seines Parfums in die Nase und ich wich einige Schritte zurück. Mit einem recht seltsamen, schiefen Lächeln beobachtete er mein erneutes zurückweichen. „Haben Sie Angst vor mir?“ Sein Strahlelächeln hätte mich ganz gewiss erröten lassen. Ich und Angst? Ganz gewiss nicht! Ich war nicht in Gefahr. Nicht vor ihm. Höchstens dabei, mein wahres Ich preiszugeben und mein Gesicht zu verlieren... „Angst? Nein.“ Ich wand mich ab und lief ein Stück die Straße entlang – Jedoch nicht in die Richtung, in welcher sich mein Unterschlupf befand. Corvin folgte mir kurzentschlossen. „Wir haben den gleichen Weg.“ Wie es schien, war er meiner Gesellschaft noch lange nicht überdrüssig geworden. Während er sein Tempo beschleunigte und schließlich neben mir lief, wagte ich einen weiteren Blick in seine braunen Augen. „Ich habe mich noch gar nicht für den Espresso bedankt.“ Mein Lächeln bei diesen Worten war ein überraschend aufrichtiges. „Das war mir eine Freude. Glauben Sie mir.“ Sein Lächeln verzog sich augenblicklich zu einer eher bedrückten Miene. „Aber er schien Ihnen nicht besonders bekommen zu sein...“ Ich hielt an und atmete tief durch, wobei ich die Augen schloss. Auch wenn ich nicht atmen musste, tat ich das immer, wenn ich mich dringend beruhigen musste. „Hör mal. Ich denke, so langsam sollten wir uns das Sie sparen.“ Ich hob keck den Blick und wartete auf seine Reaktion. Auch wenn ich es eigentlich gar nicht wollte, ließ er mir keine andere Wahl. Viel lieber war er für mich nur ein Fremder. Corvins Augen begannen seltsam zu leuchten. „Das wird mir eine noch größere Freude sein. Das er so darauf reagierte, hätte ich allerdings nicht erwartet. Jetzt saß ich so langsam wirklich in de Tinte. Ich nahm die Hände wieder in die Manteltaschen und bog um die nächste Ecke, um dem Fußweg weiter zu folgen. Ein fauchen und scheppern in einem der Hinterhöfe ließ mich mit einem Ruck anhalten. Etwas kleines, weißes kam keinen Augenblick später über den Lattenzaun gesprungen. Etwas schwarzes war der weißen Katze keinen Moment später gefolgt. Doch wie angewurzelt blieben beide vor mir kurz stehen, bis die erste den Blick auf mich gerichtet zu fauchen begann und beide im Laufschritt über die Straße flitzten. Ohne den Kopf zu drehen, blickte ich ihnen nach. Ich kannte ihre Reaktion auf mich. Diese war mir längst nicht mehr neu. „Was war das denn?“ Corvin drehte den Kopf und schaute ihnen ebenfalls nach. „Katzen mögen mich nicht“, sagte ich schulterzuckend. Warum das so war, gestand ich ihm allerdings nicht. Sollte er sich jetzt doch seinen Teil denken. Mein Grinsen auf diese Worte hin, war hoffentlich uneindeutig genug. Er wollte gerade etwas erwidern, als sein Handy zu klingeln begann. Corvin seufzte genervt. Er hatte im Augenblick nicht das geringste Interesse, an einem Telefonat. Viel lieber wollte er seine Zeit jetzt wohl mir widmen. Die kleine Unterbrechung war mir jedoch ganz recht. Er brauchte noch einen Moment, bis er es in der Hand hatte und endlich den Namen des Anrufers lesen konnte. Sein mürrischer Blick, mit dem er sein Handy daraufhin strafte, weckte sofort mein Interesse. „Ja?“, war seine recht knapp gehaltene Begrüßung. „Hallo Corvin.“ Beim Gesprächspartner auf der anderen Seite handelte es sich definitiv um eine Frau. Ich spitzte die Ohren, dass ich auch die andere Hälfte des Gespräches mitbekam. „Romina…” Bei diesem Namen blickte er zu mir und verzog das Gesicht. „Was gibt’s?“ „Ich weiß ja nicht, wo du im Augenblick steckst“, sagte sie, „Aber ich habe morgen Abend gar keine Zeit, Adriana bei dir vorbei zu bringen, weist du. Ich gebe wieder eine meiner Partys. Dieser Kerl, der das letzte Mal schon Interesse an zwei meiner Bilder hatte, wird da sein. Vielleicht werde ich ihn auch dieses Mal wieder für etwas von mir begeistern können. Das kann ich unmöglich sauen lassen wegen...“ „Ja schon klar. Ich habe dich schon verstanden...“ Sein Unterton begann gereizt zu klingen. „Ich kann sie ja auch holen kommen. Das ist doch kein Problem.“ „Am anderen Ende folgte ein kurzes Schweigen.“ „Komm doch einfach vorbei. Ich lade dich zur Party ein.“ Corvins Miene wurde noch finsterer. Er begann die andere Hand fest um den Griff seiner Aktentasche zu klammern. Was in ihm vorging, war ohne Probleme auch für einen Menschen klar zu sehen. „Aber natürlich“, gab er dabei jedoch zuckersüß zurück, ohne den grimmigen Blick je abgelegt zu haben. „Ich werde da sein.“ Dann legte er auch sofort auf, ohne sich nur ansatzweise zu verabschieden.. Mit einer ungemein wütenden Handbewegung lies er sein Telefon in der Jackettasche verschwinden. „Das glaube ich einfach nicht!“ „Was gibt es denn?“ Ich stellte mich dumm. Unmöglich hätte ich jedes Wort der anderen Person so deutlich hören können, wie ich es aber getan habe. Corvin würde es nicht verstehen. „Dieses Miststück! Das war gerade meine Exfrau. Sie versaut mir jetzt sogar schon die wenigen Treffen mit meiner Tochter, die ich noch mit ihr habe...“ Verbittert ließ er den Kopf sinken. „Sie hasst mich! Sie hasst mich abgrundtief!“ „Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Obwohl ich jedes Ihrer Worte verstanden hatte, war ich weit davon entfernt, diese einfach zu glauben.“ „Sie will mich bloßstellen. Sie will, dass ich hinkomme und mich vor ihren Leuten zum Idioten mache, aber ich kann auch nicht nicht hingehen. Es ist doch das Wochenende mit meiner Tochter...“ Der Blick, den er mir daraufhin zuwarf, hatte etwas flehendes. Er wirkte wieder so verloren. Ich war erschüttert darüber, dass er gerade mich mit diesem Blick anschaute. Sah ich vielleicht für ihn aus, wie ein Seelenklempner? War ich nicht eher alles andere als das? Ich seufzte kurz und überlegte, was ich ihm darauf noch sagen könnte. Die Beziehungsprobleme andere interessierte mich, seit ich selbst ständig auf der Flucht war, nicht mehr die Bohne, aber dieser Corvin... Neben ihm stehend, begann ich auf seine polierten Schuhe zu starren. Seine ganze Erscheinung hatte auf mich von Anfang an sehr wichtig gewirkt. Ein Mann, der ständig mit dem Flieger unterwegs war – beruflich versteht sich. Ein Mann von Welt. Und diese Frau wollte ihn vor aller Augen lächerlich machen? Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte. „Dann solltest du dieses Wochenende vielleicht aussetzten. Es gibt doch bestimmt wieder eine Gelegenheit, dass du dein Tochter...“ „Nein!“ Er unterbrach mich schroff, doch im nächsten Augenblick tat ihm sein Aufbrausen bereites wieder leid. „Ich kann nicht. Dann hat sie mich genau da, wo sie mich haben will: Auf der Verliererseite.“ Als ich wieder aufsah, hing sein Blick fest an meinen Augen. Er hatte recht. Das wusste er und das wusste jetzt auch ich. Sie wollte ihn erniedrigen. Wenn er da nicht hingehen würde und sein Gesicht zeigte, hatte er verloren. Vielleicht würde sie ihm seine Tochter immer wieder vorenthalten und er konnte sicherlich irgendwann nichts mehr dagegen tun, bis sie wohl selbst alt genug war, zu entscheiden, was sie wollte. Sein Gesicht wirkte plötzlich noch angespannter, als die ganze Zeit bereits, während des Telefonates. „Begleite mich“, platzte es schließlich aus ihm heraus. „Was?“ Erschüttert starrte ich ihn an. „Du musst mitkommen. Ich bitte dich.“ Corvin fasste mich am Arm. „Ich bezahle dich auch dafür. Das ist mein Ernst. Wenn ich dort alleine auftauche, denkst sie doch gleich wieder, sie hat die Oberhand. Ich komme angekrochen, so wie sie es gerne hätte...“ Mein Blick fiel unruhig über die Straße. Was verlangte er da denn von mir. „Ich kann doch nicht einfach...“ „Ich bitte dich...“ Corvin war ganz nah vor mich getreten und blickte von oben auf mich herab. Behutsam hatte er sich nun meine Hand gegriffen und so wie er mich jetzt anschaute, würde er mich jeden Augenblick... Ich schälte mich sofort aus seinem Griff. „Das geht doch nicht.“ „Was spricht denn dagegen? Nur ein bisschen Show. Nicht mehr.“ Seine Verzweiflung ging mir irgendwie nahe, doch ich in einem Haufen fremder Menschen? Ich könnte meine Gier ganz gewiss nicht zügeln und auch jetzt hatte ich große Probleme, sie im Zaun zu halten. „Es ist besser, ich gehe jetzt.“ Sofort machte ich kehrt. „Darf ich dich wenigstens wieder sehen?“ Meine Schritte verlangsamten sich und abermals hielt ich an. Was tat dieser Kerl da mit mir? Oder besser: Warum brachte er sich freiwillig selbst in so große Gefahr? Der plötzliche Gedanke, das Blut seiner Exfrau zu trinken, stimmte mich irgendwie ruhiger. „Na schön. Ich komme mit.“ Erst dann wand ich mich wieder zu ihm um. „Wann soll denn diese Party steigen?“ „Für gewöhnlich ab 20 Uhr. Allerdings schon morgen. Aber ich würde wirklich nur gern meine Tochter holen und dann wieder von dort verschwinden.“ „Sicher.“ Ein zaghaftes Lächeln kam mir kurz über die Lippen. Das war eine Zeit, in der ich bereits außer Gefahr war. „Wo wohnst du? Und wann soll ich da sein?“ „Vielleicht 18 Uhr?“, murmelte er nach einer kurzen Überlegung und gab mir schließlich noch seine Adresse. Als er mir daraufhin jedoch erneut folgen wollte hob ich abwehrend die Hand. „Ich werde da sein, doch jetzt laufe mir nicht länger nach. Ich habe noch etwas zu erledigen.“ Sein verdutzter Blick ließ mich abermals über meine letzten Worte nachdenken. Sie mussten sich für hin jetzt ziemlich seltsam angehört haben. „Ich finde den Weg schon nach hause. Ich will nur kein Risiko eingehen“, legte ich schnellstens noch nach. Immerhin war ich doch eine zierliche, junge Frau... Als ich mich abermals von ihm abwand, spürte ich ganz deutlich seinen Blick auf mir haften. Was ging ihm jetzt wohl gerade durch den Kopf? Hatte er wirklich immer noch allen ernstes vor, mich wiederzusehen? Ich beschleunigte meine Schritte, dass ich schnellstes von seiner Person wegkam. Er machte mich im Augenblickderartig nervös, dass ich meine spitzer werdenden Zähne, nicht länger unter Kontrolle hatte. Ich musste erst einmal einen klaren Kopf bekommen. Was verlangte er da nur von mir? Ich sollte ihn allen Ernstes auf diese Fete begleiten? Als Scheinbeziehung? Das hörte sich vielleicht ganz lustig an, aber nur für einen Menschen! Seufzend zog ich die Hände tiefer in die Taschen. Sollte ich allen Ernstes auf diese Veranstaltung gehen? Wo es nur wimmelte, von Menschen. Wo mir der Geruch dieser Meute den Verstand rauben würde? Das Pochen all dieser Herzen würde mir in den Ohren nur so rauschen. Ich konnte da unmöglich hingehen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)